Systemische Haltung und störungs spezifisches Wissen - vom Entwederoder zum Sowohl-als-auch1 - Systemische Praxis Mag. Martin Ritsch

 
WEITER LESEN
S. Geyerhofer, M. Ritsch, C. Thoma, Systemische Haltung und störungsspezifisches Wissen
                                                                                           61

Systemische Haltung und störungs
spezifisches Wissen – vom Entweder-­
oder zum Sowohl-als-auch1
Stefan Geyerhofer, Martin Ritsch, Christoph Thoma

Zusammenfassung

Wir möchten in diesem Beitrag etwas fortsetzen, das in der deutsch­
sprachigen Szene Systemischer Therapie erst eine sehr kurze Tradi­
tion hat, in anderen Sprachräumen seit Langem abgeschlossen ist
– nämlich eine kritische Auseinandersetzung mit jener erkenntnis­
theoretischen Diskussion, die die Systemische Therapie der letzten
Jahre stark geprägt hat und meist mit dem Begriff „Kybernetik zwei­
ter Ordnung“ – kurz „Kybernetik 2“ – umschrieben wird. Wir wollen
uns dabei auf die noch wenig beachteten Nebenwirkungen dieser
Metatheorie oder mehr noch den Nebenwirkungen der jahrelangen
Beschäftigung damit konzentrieren und überblicksmäßig ein paar da­
von zur Diskussion stellen. Es soll unter anderem aufgezeigt wer­
den, wie diese Diskussion die Integration störungsspezifischen
­Wissens in Konzepte Systemischer Therapie im deutschsprachigen
 Raum erschwert hat.

Schlüsselwörter: störungsspezifisches Wissen, Kybernetik zweiter
Ordnung, Konzepte Systemischer Therapie im deutschsprachigen
Raum, Metatheorie und deren Nebenwirkungen

Abstract
With this article we would like to continue a discussion that has
been closed in other countries but has a rather brief tradition in Ger­
man speaking countries – a critical reflection of an epistemological
idea and its influence on Systemic Therapy known as “Second Order

1) Initiiert wurde der Beitrag ursprünglich durch eine Veranstaltung zum Thema
„Sollen wir wieder wissen, wo’s langgeht? Der Umgang mit ExpertInnenwissen in der
systemischen Therapie“, 2009 in der ÖAS in Wien. Eine gekürzte Fassung dieses Arti­
kels erschien unter dem Titel „Von den Mitteln und den Zwecken der Systemischen
Therapie: Eine kritische Auseinandersetzung mit der ,Kybernetik 2‘ – und eine Erinne­
rung an den Nutzen störungsspezifischen Wissens in der Systemischen Therapie“,
2011 in den Systemischen Notizen.
62   systeme   2018, Jg. 32 (1): 61-89                                                                        S. Geyerhofer, M. Ritsch, C. Thoma, Systemische Haltung und störungsspezifisches Wissen
                                                                                                                                                                                                        63

                            Cybernetics” or “Cybernetics 2”. We will focus on the side effects of            men menschlicher Erkenntnis beschreibt. Wir nennen sie hier
                            this Meta theory or better the side effects of the ongoing discussion            erkenntnistheoretische Modelle. Der Konstruktivismus wäre
                            about it, and specify a few of these. We want to show how this dis­              ein Beispiel dafür – neben vielen anderen. Eine zweite Ebene –
                            cussion has restrained the integration of problem specific know­                 wir nennen sie hier klinische Modelle – beschreibt das Zustan-
                            ledge and theories into systemic thinking and systemic therapy in                dekommen und die Aufrechterhaltung von Problemen, Störun-
                            the German speaking countries.                                                   gen, Krankheiten einschließlich Theorien der Veränderung. Die
                                                                                                             meisten Therapieschulen haben solche Modelle entwickelt, die
                            Keywords: problem specific knowledge, Second Order Cybernetics,                  Psychoanalyse ebenso wie die Verhaltenstherapie und auch
                            concepts systemic therapy in German speaking countries, meta­                    die Systemische Therapie. Als dritte Ebene unterscheiden wir
                            ­theory and side effects                                                         die Ebene therapeutischen Handelns – also jene Ebene in der
                                                                                                             wir beschreiben, was wir als TherapeutInnen tun, mit dem Ziel,
                                                                                                             Leidenszustände unserer KlientInnen zu reduzieren.
                            Einleitung
                            Die Geschichte dieses Beitrags ist die Geschichte eines jahre-                   Wechselseitige Einflüsse zwischen den Ebenen der Beschrei-
                            langen Hin-und-hergerissen-Seins. Immer wieder hatten wir                        bung sind möglich, trotzdem existieren sie prinzipiell unabhän-
                            uns ausgetauscht, den Artikel weiterbearbeitet, ihn wieder                       gig voneinander. Wir können nämlich ohne Probleme Kon­
                            weggelegt – je nach Ereignissen in unserem Umfeld. Als das                       struktivistInnen sein, aber uns mittels kognitiver Theorien und
                            Lehrbuch von Schweitzer und Schlippe (2006) herauskam, leg-                      Lerntheorien das Zustandekommen von Problemen oder Er-
                            ten wir ihn weg. Als wir von 2011 bis 2012 unter dem Titel „Pro-                 krankungen erklären und erfolgreiche Verhaltenstherapie ma-
                            blemspezifische Systemische Therapie“ den erfolgreichsten                        chen. Wir können glauben, die Welt da draußen existiert so,
                            Weiterbildungslehrgang in der Geschichte von ÖAS und Lasf                        wie wir sie sehen, tatsächlich und gute Systemische Therapeu-
                            organsierten, nahmen wir ihn angeregt durch die Feedbacks                        tInnen sein. Wir SystemikerInnen haben den Konstruktivismus
                            der TeilnehmerInnen wieder zur Hand. Als Hans Lieb sein Buch                     nicht gepachtet. Wir tun aber oft genug so. Und wie unabhän-
                            Störungsspezifische Systemtherapie – Konzepte und Behand-                        gig die zweite und die dritte Ebene sind, wissen all jene, die
                            lung (2014) herausbrachte, lag er wieder für Monate unberührt                    sich schon einmal in therapieschulenübergreifende Diskussio-
                            herum. „Wozu noch?“, fragten wir uns. Aber wenn wir dann so                      nen begeben haben, bei denen man oft die Erfahrung macht:
                            Sätze lasen wie: „Die Anerkennung2 rief große Freude und                         „Ah, ihr macht das eh so wie wir, ihr nennt es nur anders!“
                            Stolz ebenso wie Bedenken und Sorge hervor. Befürchtet wur-                      Denn oft sind wir uns im therapeutischen Tun sehr ähnlich, wir
                            de, dass die systemischen Konzepte sich an ein medizinisches                     beschreiben es nur auf der Ebene klinischer Erklärungsmodelle
                            Krankheitskonzept und störungsspezifische Behandlungsstra-                       in anderen Worten.
                            tegien würden anpassen müssen, also das Systemische verlie-
                            ren würden“ (Oestereich 2012), dann war die Motivation wieder
                            da. Es war und ist uns nach wie vor zu viel Entweder-oder in
                            dieser Diskussion.                                                                                                      Erkenntnistheorie

                            Drei Ebenen von Beschreibungen
                                                                                                                                                    Klinische Modelle
                            Vorweg wollen wir den Versuch einer Klärung unternehmen.
                            Man kann drei Ebenen von Beschreibungen unterscheiden.
                            Erstens eine epistemologische Ebene, die das Zustandekom-                                                           Therapeutisches Handeln

                            2) Der WBP hatte 2008 die Systemische Therapie in Deutschland als Psychothera­
                            pieverfahren anerkannt.                                                          Abbildung 1: Ebenen von Beschreibung
64   systeme     2018, Jg. 32 (1): 61-89                                                                              S. Geyerhofer, M. Ritsch, C. Thoma, Systemische Haltung und störungsspezifisches Wissen
                                                                                                                                                                                                                   65

     Konstruktivismus         In der Entwicklung der Systemischen Therapie haben sich die                            Erklärungsmodelle eben nur Modelle – also Konstruktionen
     und Kybernetik 2         Ebenen vermischt. Der Konstruktivismus und in seiner Ge-                               sind? Oder soll der Begriff schon im Namen Implikationen für
     wurden fast zum          folgschaft die Kybernetik 2 wurden fast zum klinischen Modell                          unser therapeutisches Handeln aufzeigen? Oder was sonst
     ­klinischen Modell       ernannt und viele Jahre lang befassten wir uns mehr mit Fra-                           wollten wir damit kundtun? Vor allem in welchem Kontext? Was
      ernannt                 gen nach dem Status von BeobachterInnen, der prinzipiellen                             ist eine konstruktivistische systemische Therapie im Unter-
                              Veränderbarkeit von Systemen und generellen Fragen der                                 schied zu einer nicht konstruktivistischen systemischen Thera-
                              Machbarkeit von Aussagen in und über Therapie. Schwer aus-                             pie? Was unterscheidet sie von einer z. B. konstruktivistischen
                              zumachen, wo die Initialzündung für diese Entwicklung war.                             Verhaltenstherapie? Unsere Befürchtung ist mehr die Folgen-
                              Vielleicht war es schon ganz zu Beginn, als Paul Dell 1981 die                         de: Wir haben über Jahre hinweg die Ebene klinischer Modell-
                              Ideen von Maturana und Varela am Züricher Kongress erstmals                            bildung übersprungen, ignoriert oder zumindest vernachläs-
                              einer breiteren TherapeutInnenschaft vorstellte und so zur                             sigt und haben direkte Schlüsse aus der Erkenntnistheorie auf
                              „epistemologischen Wende“ im deutschsprachigen Raum bei-                               unser Handeln im Therapieraum gezogen. Diese Entwicklung
                              trug? Dell hat seinen Beitrag später (1987) unter dem Titel „Kli-                      hatte einige nicht unbeachtliche Nebenwirkungen, auf die wir
                              nische Erkenntnis“ publiziert, was schon im Titel eine Vermi-                          im Folgenden eingehen wollen.
                              schung der beiden ersten Ebenen implizieren könnte. Es ist
                              schwer zu sagen, wo die Vermischungen begannen, aber es                                Es geht nicht darum, erkenntnistheoretische Überlegungen aus         Solange unsere
                              besteht kein Zweifel darüber, dass die irgendwann entfachte                            dem Therapieraum zu verbannen. Es geht uns darum, sie am             ­Erklärungsmodelle
                              Diskussion jene therapeutische Haltung unterstützt und gefes-                          richtigen Platz – nämlich einer metatheoretischen Ebene – zu          für KlientIn­nen Sinn
                              tigt hat, die zwar auch vorher schon existierte, aber nun in den                       belassen. Der Konstruktivismus hilft uns an einer wichtigen           machen, dürfen wir
                              Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückte und in einem viel grö-                           Stelle im Therapieprozess, nämlich dann wenn wir mit unseren          auf sie vertrauen
                              ßeren Ausmaß Teil unserer systemischen Identität wurde. Aber                           Erklärungen und Beschreibungen (klinische Modelle) nicht
                              diese steht nach all den Jahrzehnten unserer Meinung nach                              mehr weiterkommen, wenn sie für die KlientInnen keinen Sinn
                              außer Frage, niemand rüttelt an dieser Haltung – weder irgend-                         ergeben, wenn sie uns nicht mehr neugierig sein lassen, uns
                              wer in den eigenen Kreisen noch außerhalb unserer Thera-                               nicht mehr Leitlinien sind für weitere Fragen oder Interventio-
                              pieschule, auch nicht die Versicherungsträger3. Wir dürfen                             nen. Dann ist der Moment gekommen, diese Erklärungen in
                              ­daher die Entwicklung auch einer kritischen Evaluation unter-                         Frage zu stellen und uns daran zu erinnern, dass sie nicht Abbil-
                               ziehen und uns ihre Nebenwirkungen vor Augen führen.                                  der der Wirklichkeit sind, sondern Konstruktionen und dass un-
                                                                                                                     sere Erklärungen für die Realität unserer KlientInnen nicht pas-
                                                                                                                     send sein könnten und wir daher von ihnen ablassen sollten.
                              Vermischung der Ebenen
                                                                                                                     Solange unsere Erklärungsmodelle jedoch für KlientInnen Sinn
                              Da fällt zuerst eine begriffliche Verwirrung auf. Denn in dem                          machen, uns unterstützen bei der Formulierung von Fragen
                              Begriff „konstruktivistische systemische Therapie“ werden                              und Interventionen, solange sie uns helfen die erwünschten
                              eben jene Ebenen miteinander verknüpft, die zwei oder sogar                            Veränderungen zu erreichen, solange dürfen wir auf sie ver-
                              drei völlig unterschiedliche Beschreibungen darstellen (siehe                          trauen. So wie wir unserer Wahrnehmung im Alltag vertrauen,
                              Abbildung 1). Wollten wir mit dem Begriff darauf hinweisen,                            die uns „vorgaukelt“, es gäbe einen dreidimensionalen Raum.
                              dass wir uns im Klaren sind, dass auch unsere systemischen                             Wie uns unsere Wahrnehmung täuscht, wissen alle, die sich
                                                                                                                     gerne mit optischen Täuschungen beschäftigen, einmal die
                                                                                                                     Gelegenheit hatten mit Umkehrbrillen zu leben oder in San
                              3) An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Autoren ihren Beitrag aus Sicht   Francisco das „Exploratorium“ besucht haben. Spätestens
                              der österreichischen Therapiesituation heraus verfasst haben, in der die Systemi­      dann stellen sie ihre Wahrnehmung in Frage. Trotzdem vertrau-
                              sche Therapie so wie alle anderen großen Therapieschulen seit vielen Jahren aner­
                              kannt ist und eine direkte Rückverrechnung mit den Versicherungsträgern – Kassen­
                                                                                                                     en wir im Alltag auf sie – so als ob sie Abbild der Wirklichkeit
                              vertrag, genauso möglich ist wie eine Teilrefundierung bei privat niedergelassenen     wäre. Ähnliches gilt vielleicht auch für den Alltag im Therapie-
                              TherapeutInnen.                                                                        raum. Störungsspezifisches Wissen, unsere therapeutischen
66   systeme   2018, Jg. 32 (1): 61-89                                                            S. Geyerhofer, M. Ritsch, C. Thoma, Systemische Haltung und störungsspezifisches Wissen
                                                                                                                                                                                            67

                            Erfahrungen, die Erfahrungen betroffener KlientInnen und an-         Für uns ist spannend zu sehen, welche Initialzündung das Lehr-
                            derer TherapeutInnen, unsere Hypothesen über das Zustande-           buch von Schweitzer und von Schlippe (2006) aber ausgelöst
                            kommen und die Chronifizierung von Problemen, Störungen              haben dürfte. 11 Jahre später ist die Situation auch im deut-
                            oder Krankheiten können uns Leitlinie sein im oft nicht leicht zu    schen Sprachraum eine komplett andere. Es gibt systemische
                            strukturierenden Prozess therapeutischen Tuns – so als ob sie        Bücher zu fast allen Störungsgruppen, Hans Liebs Buch zur
                            die Wirklichkeit abbilden. Sind sie uns und unseren KlientInnen      Störungsspezifischen Systemtherapie (2014) hat das „Tabu“
                            keine Hilfe mehr, wenn wir mit ihnen „anstehen“, dann sind sie       auch im Carl-Auer Verlag gebrochen und unter seiner und
                            in Frage zu stellen.                                                 ­Wilhelm Rotthaus Herausgeberschaft erscheint seit 2015 eine
                                                                                                  ganze Buchreihe mit dem Übertitel „Störungen systemisch be-
                                                                                                  handeln“. Wir hätten das nicht für möglich gehalten, als wir vor
                            Mangel an Störungsspezifischen Erklärungsmodellen
                                                                                                  vielen Jahren begannen diesen Beitrag zusammenzustellen. In
                            Aber welche Nebenwirkungen hatte die intensive Auseinan-              der Reihe finden sich mittlerweile Bücher zur Depression und
                            dersetzung mit diesen Metatheorien im deutschsprachigen               Dysthymia (Ruf 2015), zur Suizidalität von Kindern und Jugendli­
                            Raum? Erstens richtete der jahrelange „Epistobabel“ (ein              chen (Rotthaus 2017), zu Posttraumatischen Belastungsstörun-
                            ­Ausdruck, den Ludwig Reiter einmal verwendete) unseren Fo-           gen (Korittko 2016), Persönlichkeitsstörungen (Wagner, Henz u.
                             kus im Schreiben, Denken und Forschen auf eben jene schein-          Kilian 2016), Bipolare Störungen (Ruf 2017), Schizophrenie und
                             bar direkt vorhandene Verbindung zwischen Epistemologie              schizoaffektive Störungen (Ruf 2014), kindlichen Ängsten (Rott-
                             und therapeutischem Tun und verhinderte zugleich in be-              haus 2015), Alkoholabhängigkeit (Klein u. Schmidt 2017) und
                             trächtlichem Maße die Weiterentwicklung klinischer Erklä-            ebenfalls bereits angekündigt zu sozialen Ängsten (Schweitzer,
                             rungsmodelle in der Systemischen Therapie – zumindest im             Hunger, Hilzinger 2017). Die Entwicklung überrascht uns nicht.
                             deutschsprachigen Raum. Das viel diskutierte Handbuch von            Immerhin hatten wir 2011 schon riesigen Zulauf, als wir in Ko-
                             Schweitzer und Schlippe (2006) zeigt zwar zum einen auf, wel-        operation ÖAS und Lasf 4 einen 13-teiligen Lehrgang zur stö-
                             che Entwicklungen auf dieser Ebene es zu diesem Zeitpunkt            rungsspezifischen Systemischen Therapie organisierten. Wir
                             sehr wohl gab. Es zeigt aber ebenso deutlich, wenn nicht deut-       trafen damals mit unseren Inhalten auf ein großes Interesse
                             licher auf, was alles nicht passiert ist in den letzten 20 bis 25    unter systemischen KollegInnen. „Das ist das, was in der Aus-
                             Jahren. Als Hans Lieb (2015) exemplarisch störungsspezifi-           bildung zu kurz gekommen ist“, war der Tenor zahlreicher
                             sche Konzepte aus der älteren und jüngeren Geschichte der            Rückmeldungen. Christoph Thoma hatte schon einige Jahre
                             Systemischen Therapie auflistet, spannt er den Bogen von             zuvor (Thoma 2009) ein Buch zum systemischen Verständnis
                             den Forschungsarbeiten der Bateson Gruppe zur Schizophre-            von Ängsten herausgegeben, am Institut für Systemische
                             nie über Minuchins Arbeiten zur Psychosomatik, die Arbeiten          ­Therapie in Wien hatten Carmen Unterholzer und Stefan Geyer-
                             der Mailänder Gruppe zur Magersucht, die frühen Arbeiten der          hofer (Geyerhofer u. Unterholzer 2008, 2009, 2009) ein systemi-
                             Heidelberger Gruppe bis zu Kleins Arbeiten zur Sucht (2002),          sches Konzept zu Burnout und Erschöpfungssyndrom erar­
                             den Ansätzen zur Depression von Jones und Asen (2002) bis             beitet, und mit seinen DVD Projekten versucht das IST seit
                             zu den Arbeiten von Schweitzer und von Schlippe (2006) und            Jahren systemische Konzepte für die Psychoedukation zur Ma-
                             Schumacher (2008). Der Absatz bleibt trotzdem kurz. Und lässt         gersucht (2008), Depression (2011), Schizophrenie (2013) und
                             man die Beiträge aus der Zeit vor der „kybernetischen Wen-            zum ADHS (2016) umzusetzen – angeregt durch eine Idee von
                             de“ weg, wird es noch überschaubarer. Die deutschsprachi-             Yasunaga Komori und aufbauend auf der Idee des Externalisie-
                             gen AutorInnen danach lassen sich fast an einer Hand abzäh-           rens (White 1988; White und Epston 2002), die uns hilft Person
                             len und wiederholen sich. Einschränkend muss erwähnt                  und Krankheit (Diagnose) zu trennen und ihre wechselseitigen
                             werden, dass Liebs Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit          Einflussmöglichkeiten aufzuzeigen.
                             erhebt und er sie vor allem in der jüngeren Vergangenheit auf
                             den deutschsprachigen Raum beschränkt. Aber die Relation
                             bleibt verblüffend.                                                 4) Zwei der drei österreichischen Ausbildungsvereine für Systemische Therapie
68   systeme    2018, Jg. 32 (1): 61-89                                                          S. Geyerhofer, M. Ritsch, C. Thoma, Systemische Haltung und störungsspezifisches Wissen
                                                                                                                                                                                           69

     Den Sessel, der         Faszinieren tut uns aber die Geschwindigkeit, in der jetzt stö-    done, Verbitz und Milanese (2005) oder das Externalisieren der
     einem im Weg steht,     rungsspezifische systemische Konzepte publiziert werden.           Magersucht sind fast schon Standards geworden, um KlientIn-
     ein Stück weit auf      „Die Rehabilitation störungsspezifischen Wissens findet gera-      nen möglichst früh zu motivieren den Kampf gegen die Krank-
     die Seite zu schie-     de statt“, waren sich zahlreiche ExpertInnen am „Diagnosen         heit aufzunehmen (vergleiche Sanders 1996; Institut für Syste-
     ben, schafft Platz      Kongress“ („Was ist der Fall? Und was steckt dahinter?“) in        mische Therapie 2008). Die Systemische Therapie hat dazu
     für mehr Bewe-          Heidelberg im späten Frühling dieses Jahres einig. Es scheint      beigetragen, dass die ambulanten und stationären Therapien
     gungsfreiheit           nur mehr Unterscheidungen zu geben zwischen jenen, die mit-        für Magersucht heute besser sind als noch vor 20 Jahren und
                             machen, aber die Kybernetik 2 mit hinüberretten wollen, und        die Sterblichkeit trotz steigender Erkrankungszahlen gesunken
                             jenen, die entweder immer schon eine größere Distanz zu die-       ist. Es macht Sinn, unser Fachwissen bei der Entwicklung stö-
                             sen Metakonzepten hatten oder sie sich nun geschaffen ha-          rungsspezifischer Therapieprogramme einzubringen.
                             ben. Den Sessel, der einem im Weg steht, ein Stück weit auf
                             die Seite zu schieben, schafft Platz für mehr Bewegungsfrei-       Aber noch einmal einen Schritt zurück. Was hat uns eigentlich         Entweder-oder-­
                             heit. Und wie frei man sich bewegen kann, wenn die Distanz         im deutschen Sprachraum gehindert, das was jetzt so blüht,            Denken als
                             zur Kybernetik 2 größer ist, zeigen die Arbeiten von Nardone       schon früher zu machen? Spätestens mit der „kybernetischen            Problem­
                             (1997, 2003, 2005) und seinem Team in Italien, die zu zahlrei-     Wende“ in der Systemischen Therapie mussten wir uns von               aufrechterhaltung
                             chen Störungsbildern sowohl systemische Erklärungsmodelle          der Idee verabschieden, als PsychotherapeutInnen unabhängi-
                             als auch daraus resultierende spezifische Fragetechniken und       ge BeobachterInnen der KlientenInnen sein zu können. Konse-
                             Interventionen entwickelt haben, oder im deutschsprachigen         quenterweise war dies zugleich ein Abschied vom herkömmli-
                             Raum das Systemische Lehrbuch von Kirsten von Sydow (2015)         chen KlientInnen-Diagnosen-Interventions-System: wenn ich
                             oder Wagner, Henz & Kilians Buch zu Persönlichkeitsstörungen       weiß, welche Diagnose meine KlientInnen haben, muss ich nur
                             (2016).                                                            mehr die richtigen Interventionen setzen, damit sie geheilt wer-
                                                                                                den. Ist bei dieser Verabschiedung möglicherweise ein folgen-
                             Wir brauchen uns nicht zu verstecken. International und auch       schwerer Irrtum passiert? Haben wir aufgrund dieser Einsicht
                             bei uns ist einiges passiert! In der Therapie von Burnout zum      auf die Weiterentwicklung klinischer Modelle verzichtet, weil
                             Beispiel gilt es heute auf Grund klinischer Erfahrungen, aber      sie so eng mit herkömmlichem Diagnoseverständnis verbun-
                             auch auf Grund der Forschung fast schon als fahrlässig, in der     den sind? Haben wir kein Augenmerk mehr darauf gelegt, pas-
                             Diagnose und Behandlung auf Kontextfaktoren (Belastungs-           sende Alternativen zu suchen und zu finden? Möglicherweise
                             faktoren im Job, private Zusatzbelastungen wie Pflegefälle,        sind wir an dem Punkt einem Entweder-oder-Denken verfallen,
                             Krankheit, Schulden etc.) kein Augenmerk zu legen (vergleiche      das wir im therapeutischen Kontext oft als Muster von Pro­
                             dazu: Geyerhofer u. Unterholzer 2008, 2009, 2009). In die Thera-   blemaufrechterhaltung kennen: Wenn wir schon keine unab-
                             pie von Magersucht haben systemische Konzepte und Inter-           hängigen TherapeutInnen sein können, müssen wir auf alle Er-
                             ventionen schon vor Jahren Einzug gehalten und haben einen         klärungsmodelle von Störungen verzichten.
                             fixen Bestandteil in ambulanten und stationären Therapiepro-
                             grammen weltweit. Auch außerhalb unserer eigenen Thera-            Dabei gibt es in der Systemischen Therapie jede Menge                Störungsbilder als
                             pieschule wissen KollegInnen um die Bedeutung von Kontext-         ­brauchbare Ideen und Ansätze, die uns aus diesem Schwarz-           Landkarten
                             faktoren dieser Erkrankung (Beziehungsgestaltung in der             Weiß-Denken befreien können. Die Metapher oder das Modell,
                             Familie, gesellschaftlicher Druck auf Mädchen und Burschen,         Störungsbilder als Landkarten zu begreifen, ist ein gutes Bei-
                             Diätwahnsinn, Peergruppe usw.) Bescheid, was dazu geführt           spiel dafür. Michael White und David Epston (White u. Epston
                             hat, dass wir in der Behandlung von Magersucht zumeist Kom-         2002; White 2007) haben uns aufgezeigt, wie strukturiert wir in
                             binationstherapien von Einzel- und Familientherapien finden –       der Therapie arbeiten können, ohne auf unser Erfahrungswis-
                             sinnvollerweise auch deshalb, weil die KlientInnen immer jün-       sen verzichten zu müssen und trotzdem eine konsequent sys­
                             ger werden und die Kontextfaktoren daher an Bedeutung               temische Haltung einnehmen zu können. Sie verwenden als
                             gewonnen haben. Die systemischen Interventionen von Nar­            erkenntnistheoretische Grundlage die Diskurstheorie von
                                                                                                 ­
70   systeme     2018, Jg. 32 (1): 61-89                                                       S. Geyerhofer, M. Ritsch, C. Thoma, Systemische Haltung und störungsspezifisches Wissen
                                                                                                                                                                                         71

                              Foucault, bleiben aber nicht dabei stehen, sondern entwickeln   In ganz ähnliche Richtung argumentieren hypnosystemische
                              darauf klinische Modelle der Entstehung von Störungen. Sie      KollegInnen, allen voran Gunther Schmidt, wenn sie uns auf­
                              verzichten zwar auf störungsspezifisches Wissen, benennen       zeigen, wie man Probleme als Lösungsversuche verstehen
                              Störungsfelder als Landkarten, die uns TherapeutInnen helfen,   kann, die deshalb chronifizieren, weil sie funktionieren. Die
                              einen Therapie-Weg zu finden, ganz ähnlich wie es Lieb (2014)   Idee ist nicht neu. Sie ist schon in den Arbeiten von Erickson zu
                              vorschlägt.                                                     finden und wurde von Haley (1976), Weakland, Fisch, Watzla-
                                                                                              wick, Segal (1974, 1982) und anderen VertreterInnen der prob-
                              Nardone und Portelli (2005) haben uns mit der Idee „Knowing     lemorientierten Systemischen Therapie als versuchte Lösun-
                              through changing“ einen eleganten Ausweg aus dem schein-        gen beschrieben – jene Lösungsversuche, die KlientInnen,
                              baren Dilemma gezeigt. Im therapeutischen Handeln gewinnen      Angehörige, aber auch oft TherapeutInnen entwickeln, um das
                              wir durch Fragen und Interventionen mehr und mehr Erkennt-      Problem in den Griff zu bekommen. Oftmals sind es eben diese
                              nisse über das Zustandekommen und die Chronifizierung von       Versuche, die dazu beitragen, dass ein Problem aufrecht bleibt
                              Problemen und „Störungen“. Die Diagnose steht plötzlich nicht   und chronifiziert. Bei Ängsten, Zwängen und Panikattacken, bei
                              mehr am Anfang, sondern am Ende des Prozesses. Die erkennt-     Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie oder bei Suchter-
                              nistheoretische Grundhaltung dient ihnen dazu, die wissen-      krankungen macht ein solches Verständnis jede Menge Sinn
                              schaftliche Arbeit der Erkenntnisgewinnung umzudrehen und       und hilft uns, zu weiteren Hypothesen und Fragen zu kommen.
                              ein Modell zu entwickeln, wie wir im therapeutischen Arbeiten   Und dass Psychotherapie eine von Hypothesen geleitete Be-
                              konsequent systemisch arbeiten können, ohne darauf verzich-     handlungsform ist, wurde in Österreich sogar gesetzlich veran-
                              ten zu müssen, spezielles Wissen über bestimmte Störungsbil-    kert. Das Gesetz schreibt vor, dass TherapeutInnen ihr Handeln
                              der zu erarbeiten.                                              auf Hypothesen und theoretische Modelle über das Entstehen
                                                                                              und die Aufrechterhaltung von Problemen, Störungen oder
     Ideen interaktiver       Aus jedem Einzelfall kann ich durch Reflexion Wissen generie-   Krankheiten stützen. Unabhängig von gesetzlichen Regelun-
     Diagnostik               ren, das in der Gesamtschau Muster und Grunddynamiken von       gen finden wir das vor allem fachlich sinnvoll.
                              einzelnen Störungen aufzeigen kann. Natürlich werden da-
                              durch auch bestehende Diagnose-Schemata wie das DSM
                                                                                              Die Frage der Diagnosen
                              oder das ICD in Frage gestellt, da diese die Benennung und
                              Beschreibung von Symptomen und oft nicht ausreichend            Die Kritik am ICD und am DSM ist berechtigt und oft diskutiert
                              grundlegenden Dynamiken der Entstehung und Chronifizie-         (gut zusammengefasst z. B. bei Tomm 2001). Die Kritik an der
                              rung von Störungen darstellen. In einer italienisch-französi-   Einseitigkeit dieser Kritik ist wahrscheinlich ebenso berechtigt
                              schen Koproduktion haben Wittezaele und Nardone (2016) die      und noch weniger gut dokumentiert (Spitczok von Brisinski
                              Idee dieser „systemisch operativen Diagnostik“ weiterentwi-     1999; Borst 2003; Geyerhofer 2011; Lieb 2014). Es macht Sinn,
                              ckelt. Das Verstehen spezifischer Logiken rund um das Zustan-   zwischen Diagnosen an sich und Diagnosemanualen zu unter-
                              dekommen und die Chronifizierung von Störungsbildern kann       scheiden. Wobei wahrscheinlich weder das eine noch das an-
                              helfen zu klinischen Erklärungsmodellen zu kommen, aber         dere per se schlecht vs. gut oder hilfreich vs. gefährlich ist. In
                              auch konkrete Ideen zur Unterbrechung dieser Muster aufzei-     erster Linie sind Diagnosen Benennungen, Beschreibungen,
                              gen. Was am Anfang oft notwendige Adaptionen auf die kon­       manchmal auch mit Erklärungen versehen. Zur Gefahr werden
                              stanten Umweltveränderungen waren (Vermeidung oder Kon-         sie erst durch den Umgang damit. Lassen sich TherapeutInnen
                              trollversuche der Situation, Emotion oder Bewertungsversuche    in ihrer Neugier einschränken, indem vorgefasste Meinungen
                              durch andere …) kreiert durch die rigide Fortsetzung oft noch   als unumstößliche Wahrheiten im Therapieraum stehen, dann
                              größeres Leid. Diese Idee interaktiver Diagnostik haben die     sind sie schlecht. Werden sie zur Stigmatisierung, zur Bewer-
                              Autoren versucht auf möglichst viele Störungsgruppen umzu-      tung verwendet, so ist unsere Kritik berechtigt, denn dann tra-
                              setzen. Wir warten dringend auf die Übersetzung des Buches      gen sie zur Erkrankung oder zur Chronifizierung bei oder neh-
                              ins Deutsche oder Englische.                                    men Hoffnung auf Veränderung.
72   systeme   2018, Jg. 32 (1): 61-89                                                                        S. Geyerhofer, M. Ritsch, C. Thoma, Systemische Haltung und störungsspezifisches Wissen
                                                                                                                                                                                                        73

     „Knowing through       Aber Diagnosen können auch Hoffnung geben. Eine Klientin                         natürlichen Sehnsucht nach Verstehen, nach Erklärungen und
     changing“              von mir (SG) war sofort beruhigt, als ich ganz ruhig und gelas-                  nach Sicherheit begeben sich KlientInnen auf die Suche und
                            sen sagte, dass die furchterregenden Zustände, die sie bereits                   werden heutzutage schnell fündig. Früher musste man sich ein
                            einige Male erleben musste und die sie mir gerade beschrieben                    ICD, ein Fachbuch oder zumindest ein Selbsthilfebuch kaufen,
                            hatte, in unserer Fachsprache Panikattacken heißen. Später ge-                   heute ist alles online – und das mit jeder Menge Kommentaren.
                            stand sie: „Ab diesem Moment wusste ich, ich bin in den rich-                    Gespräche rund um Diagnosen bieten auch eine Chance der
                            tigen Händen. So wie Sie das gesagt haben, klang es so, als wür-                 Beziehungsgestaltung in frühen Phasen der Therapie. Es kann
                            den Sie solche Sachen jede Woche hören!“ Und dass Hoffnung                       gelingen Ängste zu nehmen, Vertrauen zu schaffen oder wie
                            und positive Veränderungserwartung zu einem der wichtigsten                      oben erwähnt Hoffnung zu generieren.
                            Erfolgsfaktoren in der Therapie zählen, wissen wir spätestens
                            seit den Arbeiten von Hubble, Duncan & Miller (2000, 2001).                      Verantwortungsbewusst eingesetzt, glauben wir, dass stö-
                            Und natürlich machen auch differentialdiagnostische Überle-                      rungsspezifisches Wissen hilfreich sein kann im Prozess der
                            gungen Sinn. Dass zum Beispiel Zwangsrituale Lösungsversu-                       Psychotherapie. Wir glauben auch, dass Diagnosen nicht per
                            che für Ängste sein können und deshalb chronifizieren, weil sie                  se gut oder schlecht sind. Erst durch ihre Anwendung können
                            kurzzeitig zur Reduktion der Angst5 führen, aber auch zur ver-                   sie Schaden zufügen oder auch hilfreich sein. Allzu großer Re-
                            meintlichen Kontrolle wahnhafter Vorstellungen6 oder zum Ab-                     spekt vor Diagnosen und ihren Manualen ist fehl am Platz. Man
                            bau von Spannungen7 dienen können. Das therapeutische Vor-                       erinnere sich nur an die geringe Reliabilität und Validität des
                            gehen wird sich unterscheiden, abhängig davon, wofür die                         ICD oder des DSM oder an die extremen Unterschiedlichkeiten
                            Rituale ursprünglich oder aktuell die versuchten Lösungen dar-                   verschiedener Diagnosen in verschiedenen Ländern/Kulturen.
                            stellen. Dass Panikattacken hoch mit Überlastungssituationen                     Es handelt sich um Listen mit Namen, dazugehörigen Beschrei-
                            korrelieren und daher auch mit Burnout, hilft uns, über die The-                 bungen und eventuell auch Erklärungskonstruktionen. Natür-
                            rapie des Symptoms hinauszuschauen und KlientInnen auch                          lich sind die Namen oft mit Bildern verbunden – sowohl in uns
                            bei der Veränderung überlastender Lebensumstände zu unter-                       TherapeutInnen als auch bei KlientInnen. Deshalb ist sorgfältig
                            stützen, und kann Therapie somit nachhaltiger machen. Und                        und verantwortungsvoll damit umzugehen, wie mit Sprache
                            über Zusammenhänge zwischen Depression oder Paranoia                             insgesamt. Scheu aber ist nicht angebracht. Vielleicht wollte
                            und Schwerhörigkeit Bescheid zu wissen, kann die Wahl thera-                     uns Tom Levold auch in diese Richtung motivieren, als er in
                            peutischer Mittel durchaus beeinflussen. Gerade diese diffe-                     seinem Eröffnungsvortrag am Kongress in Heidelberg das
                            rentialdiagnostischen Beispiele sind schöne Beispiele für die                    ­Publikum an ein Zitat Karl Menningers aus dem Jahr 1958 erin-
                            zuvor diskutierte systemische Idee eines „Knowing through                         nerte: „Namen bezeichnen keine Krankheitsformen, sie beruhi-
                            changing“, bei dem Diagnosen nicht am Beginn eines Thera-                         gen nur die Ärzte und beeindrucken die Verwandten.“ Wir erin-
                            pieprozesses stehen, sondern irgendwo dazwischen oder so-                         nern uns diesbezüglich besonders gerne an Aussagen von
                            gar erst am Ende.                                                                 Simon (1990, 2012) oder Cecchin et al. (1993), die uns neben
                                                                                                              ­einem 100-prozentigen Respekt vor unseren KlientInnen und
                            Und dass wir uns der Diagnosen-Frage nicht entziehen können,                       ihren Leidenszuständen wenig bis kaum Respekt vor Diagno-
                            zeigt auch die Beobachtung, dass immer mehr KlientInnen be-                        sen gelehrt haben.
                            reits mit Diagnosen ins Erstgespräch kommen – nicht aus ir-
                            gendeinem Diagnosemanual oder aus einem Befund, sondern                          Es wäre außerdem naiv anzunehmen, KlientInnen machen sich
                            aus dem Internet oder sozialen Netzwerken. Aus einer vielleicht                  kein Bild von uns. Manche dieser Bilder haben vielleicht sogar
                                                                                                             Namen – eventuell auch mit Beschreibungen und dazu passen-
                                                                                                             den Erklärungen. Wer weiß, vielleicht sind sogar Diagnosen
                            5) Z. B. Waschzwang
                            6) Ein Klient von mir musste in regelmäßigen Abständen am „handy“ einen „code“
                                                                                                             dabei?
                            eingeben, um die Verbindung zum chinesischen Geheimdienst zu unterbrechen.
                            7) Z. B. Ritzen, Haut aufkratzen
74   systeme     2018, Jg. 32 (1): 61-89                                                           S. Geyerhofer, M. Ritsch, C. Thoma, Systemische Haltung und störungsspezifisches Wissen
                                                                                                                                                                                             75

                                                                                                  Zudem birgt die Fokussierung auf ein Element eines kyberne­
                              Verunsicherung dem eigenen Wissen gegenüber
                                                                                                  tischen Prozesses die Gefahr, den einzelnen Systembestand­
                              Eine zweite Nebenwirkung aus der Vermischung der Erklä-             teilen Macht und Eigenschaften zuzuschreiben, die sie nicht
                              rungsebenen scheint die Verunsicherung Systemischer Thera-          besitzen.
                              peutInnen bezüglich ihres bereits vorhandenen Fachwissens
                              und ihrer klinischen Erfahrung zu sein. Sollte das auf einmal       Begreift man Klientensysteme als autopoietische Systeme, so
                              alles nichts mehr wert sein? War es uns mehr hinderlich als         können im Therapiekontext TherapeutInnen zu KlientInnen nur
                              nutzbringend? Sollten wir so „tun, als ob“ wir nichts wussten       eine Umwelt darstellen, nachdem sich Klient/in und Thera­      -
                              oder sollten wir auf einmal wirklich nichts mehr wissen? Eine       peut/in „strukturell gekoppelt“ haben. Er/sie ist aber nicht
                              radikale Ablehnung von Diagnosen und störungsspezifischem           ohne Einfluss auf ihn/sie – und umgekehrt. Und diesen Einfluss
                              Wissen ist für KollegInnen in den meisten Kliniken kaum mach-       gilt es, nutzbringend im Sinne des vereinbarten Therapiezieles
                              bar, erschwert auch für andere die Kooperation mit Zuweise­         einzusetzen. D. h., der relevante Fokus gemäß Systemtheorie
                              rInnen und Kostenträgern. Lieb (2014) zeigt in einem netten         und den Annahmen der Kybernetik 2. Ordnung wäre weder
                              Beispiel auf, wie diese Ankoppelungsprobleme auch die Arbeit        der/die Therapeut/in noch der/die Klient/in mit seinen/ihren
                              mit KlientInnen erschweren können.                                  Möglichkeiten/Nicht-Möglichkeiten, sondern die Beziehung
                                                                                                  zwischen beiden. Der Beziehungsgestaltung durch Therapeu-
     Systemische              Aber sind wir hier nicht schon wieder in einem Entweder-oder        tInnen kommt so zentrale Bedeutung zu. Heinz von Foersters
     TherapeutInnen           verstrickt? Ein Ausweg scheint so einfach: Systemische Thera-       ethischer Imperativ „Handle stets so, dass die Anzahl der
     wissen nicht, sie        peutInnen wissen nicht, sie „nehmen an“. Das „vorhandene            Wahlmöglichkeiten größer wird!“, ist somit eine Aufforderung
     „nehmen an“              Wissen“ dient zunächst uns TherapeutInnen, um allgemeine            zur Varianz in der Beziehungsgestaltung durch uns Therapeu-
                              und spezielle Annahmen in Form von Hypothesen für uns und           tInnen. Einzelne Positionen, wie etwa jene des „Nichtwissens“,
                              den Therapiekontext zu formulieren und auf Brauchbarkeit –          sind ebenso wie bestimmte Interventionstechniken zwar a pri-
                              nicht auf Gültigkeit im Sinne von Wahrheit – zu überprüfen.         ori weder „falsch“ noch „richtig“ noch „gut“ noch „böse“, sie
                                                                                                  stellen jedoch entlang des Spektrums der Möglichkeiten nur
                              Wir generieren Fragen aus unseren Hypothesen, entwickeln            jeweils eine von vielen therapeutischen Umwelt­    parametern
                              vielleicht sogar Interventionen. Wir überprüfen sie im laufen-      dar! Therapeutisches Handeln verlangt also Flexibilität. In die-
                              den Prozess des Arbeitens und verwerfen sie als unpassende          sem Sinne wären klinische Erkenntnisse und Modellbildungen
                              Konstrukte, wenn sie uns nicht weiterhelfen. Solange sie uns        lediglich als Angebot für Varianz zu verstehen.
                              und damit den KlientInnen helfen, warum ihnen nicht ein Stück
                              weit folgen? Und natürlich kommen unsere Hypothesen nicht           Unter dieser Prämisse wären TherapeutInnen als „Beobachte-
                              einfach aus dem Nichts oder basieren auf purer Intuition, son-      rInnen“ gemäß Kybernetik 2 nicht als passive „beteiligte Beob-
                              dern aus Erfahrungen aus vergangenen Therapien, aus Fortbil-        achterInnen“ im ursprünglichen Wortsinn zu verstehen, son-
                              dungen, Büchern, Artikeln, aus Gesprächen mit KollegInnen im        dern als „flexibel und variant Handelnde“, als sich stets
                              Rahmen von Supervision und Intervision. Und was war auf ein-        verändernde Umwelt, als variantes „Rauschen“, aus dem die
                              mal mit all den Interventionen, die wir gelernt hatten? Sie soll-   KlientInnen ihre jeweilige eigene Realität erzeugen – um eine
                              ten nutzlos sein, weil man doch ein sich selbstorganisierendes      Metapher von Heinz von Foerster zu verwenden.
                              System eh nicht verändern konnte?
                                                                                                  Wie wir aus der Psychologie wissen, verliert ein invarianter
                              Diese Argumentation hat auch auf metatheoretischer Ebene            Dauerreiz mit der Zeit seinen Reizcharakter. Zur Erzeugung von
                              die Struktur eines Paradoxons: Therapie also als Versuch, das       Erstmaligkeit, eines „Unterschieds, der einen Unterschied
                              Unmögliche herzustellen – entlang einer Annahme, dass dies          macht“, ist also von Seiten der TherapeutInnen ein permanen-
                              nicht möglich sei! Man könnte in Anlehnung an Seligman et-          ter Anpassungsprozess an die Wirklichkeitsbildung der Klien-
                              was polemisch von „selbstauferlegter Hilflosigkeit“ sprechen.       tInnen und gleichzeitig ein permanenter Unterscheidungs­
76   systeme     2018, Jg. 32 (1): 61-89                                                            S. Geyerhofer, M. Ritsch, C. Thoma, Systemische Haltung und störungsspezifisches Wissen
                                                                                                                                                                                                77

                              prozess zur Ermöglichung von Erstmaligkeit, abseits von
                                                                                                   Einschränkung therapeutischer Möglichkeiten
                              reduktionistischen, selbstbeschränkenden Beschreibungen,
                              notwendig. Um einen Unterschied zu kreieren, könnten wir in          Mit der „Kybernetik 2“ entwickelte sich eine gewisse Interventi-
                              diesem Zusammenhang von einer „Kybernetik pi“ sprechen.              onsfeindlichkeit. Sogar die Begriffe „Intervention“, „Abschluss­
                                                                                                   intervention“ oder die Verwendung von „Hausaufgaben“ beka-
                              Die kritische Einstellung störungsspezifischen Wissens gegen-        men einen negativen Beigeschmack, waren auf einmal „out“,
                              über hatte starke Konsequenzen im Ausbildungskontext. Für            wenig sinnvoll und nutzbringend und wurden mancherorts im
                              erfahrene TherapeutInnen war das natürlich wesentlich leich-         deutschsprachigen Raum zu systemischen „Unwörtern“ de-
                              ter, klinische Modelle in Frage zu stellen, sie aber trotzdem im     klassiert. Die Folgen dieser Verunsicherung auf der Ebene
                              Hinterkopf zu behalten. Angehende TherapeutInnen hingegen            ­therapeutischen Tuns waren nicht zu übersehen. Systemische
                              haben diesen Verzicht als Mangel erlebt. In zahlreichen Lehrthe-      TherapeutInnen begannen sich in ihren Möglichkeiten einzu-
                              rapie- oder Supervisionsstunden wurde deutlich, wie verunsi-          schränken. Statt ihre Mittel zu erweitern, verabschiedeten sie
                              chert sie viele Ausbildungsstunden erlebten, weil ihnen kon-          sich von jenen Fragetechniken und therapeutischen Methoden,
                              krete klinische Erklärungsmodelle gefehlt haben oder alte, die        die auf einmal nicht mehr theoriekonform oder in diesem Fall
                              sie z. B. aus dem Psychologiestudium mitgenommen und in               eigentlich „epistemologiekonform“ waren. Bei der Auswahl der
                              ihrer bisherigen Praxis erprobt hatten, auf einmal in Frage stan-     Methoden schien nicht entscheidend, wie effizient diese waren,
                              den, ohne aber eine systemische Alternative angeboten zu be-          wie sehr sie mit klinischen Erklärungsmodellen konform gin-
                              kommen. Das hat in vielen Fällen zu einem Vertrauensverlust           gen, sondern eher ob sie einen Hauch von Ungleichheit in der
                              gegenüber Ausbildungsinstitutionen geführt.                           Verantwortungsaufteilung zwischen TherapeutIn und KlientIn
                                                                                                    andeuteten, Ausdruck von ExpertInnentum und daraus direkt
     Wir können Wissen        Ein Vorteil dieser kritischen Haltung jeden Störungswissens           abgeleiteter Machbarkeit von Veränderung waren oder Macht-
     nutzen, ohne dabei       gegenüber war nicht unbedeutend. Wir mussten keine klini-             verhältnisse und Hierarchie im Therapieraum unterstützten.
     jene Haltung zu          schen Fachbücher mehr schreiben, ja nicht einmal mehr lesen
     ­verlassen, die uns      und konnten die Weiterentwicklung störungsspezifischer Mo-           Warum diese Reduktion in unseren therapeutischen Mitteln?
      eigen ist – die der     delle der Medizin und anderen Therapieschulen überlassen.            Sie waren doch über viele Jahre erfolgreich gewesen? Wurden
      neugierig Unwis-        Nach dem Motto: Wenn es eh nur hinderlich ist, warum darü-           sie hintangestellt, weil sie nicht mehr effizient oder weil sie, wie
      senden                  ber nachdenken, darüber schreiben oder es gar beforschen?            oben vermutet, nicht „epistemologiekonform“ waren? Dabei
                              Immerhin sind es ja alles nur Konstrukte. Inwieweit diese Kon-       wollen unsere KlientInnen eines mit großer Sicherheit: Thera-
                              strukte auch hilfreich sein können, wurde nicht mehr diskutiert      peutInnen, denen ein möglichst großer, mit klinischen Erklä-
                              – oder nur mehr unter vorgehaltener Hand. Was blieb, war die         rungsmodellen konformer Handlungsspielraum zur Verfügung
                              Verunsicherung bei jenen KollegInnen, die das Gefühl hatten          steht. Und dass umso mehr als wir als TherapeutInnen in der
                              oder in ihrer bisherigen Laufbahn auch die Erfahrung gemacht         Beziehung mit unseren KlientInnen doch die Verantwortung
                              hatten, man kann dieses Wissen nutzbringend in Therapien             über die Mittel der Therapie tragen.
                              einbringen oder sogar mit ausreichendem Wissen bestimmte
                              Fehler vermeiden. Wie es Borst (2003) schon formuliert hat:          In extremen Ausprägungen schien sich Systemische Therapie              In extremen Aus-
                              Vielleicht ist die Frage nicht, „ob schon“ oder „ob nicht“, son-     fast schon auf bloße Haltung zu reduzieren. Jede Frage, die            prägungen schien
                              dern „wie viel“ an störungsspezifischem Wissen wir auch in           eine Einflussnahme auf das KlientInnensystem implizierte,              sich Systemische
                              der Systemischen Therapie brauchen können und wie wir es             wurde als interventionistisch oder manipulativ erkannt. Man-           Therapie fast schon
                              dann zum Nutzen unserer KlientInnen zur Anwendung bringen            che von uns wurden an Watzlawick et al. (1969) erinnert, die           auf bloße Haltung
                              können. Wir können dieses Wissen haben und nutzen, ohne              uns in den Gründungszeiten der Systemischen Therapie schon             zu reduzieren
                              ­dabei jene Haltung zu verlassen, die uns eigen ist – die der neu-   aufgezeigt hatten, dass es ganz und gar unmöglich sei, nicht zu
                               gierig Unwissenden.                                                 beeinflussen, wenn zwei Menschen in Interaktion treten. Dass
                                                                                                   diese Einflussnahme eine wechselseitige ist (vergleiche Geyer-
78   systeme   2018, Jg. 32 (1): 61-89                                                           S. Geyerhofer, M. Ritsch, C. Thoma, Systemische Haltung und störungsspezifisches Wissen
                                                                                                                                                                                            79

                            hofer und Komori 1999, 2004, 2005) und dass KlientInnen gar         der jeweiligen Fachrichtung – die Vertrauenswürdigkeit von           „Nichtwissen“ als
                            nicht selten sogar mit der Erwartung in Therapie kommen, bei        TherapeutInnen ist. Sie ist auch nach Hubble, Duncan und             Intervention und
                            erwünschten Veränderungen unterstützt und damit explizit be-        ­Miller (2000, 2001) zentrales Element jenes Wirkfaktors, den sie    nicht als kognitiver
                            einflusst zu werden, schien vergessen zu sein. Sie kommen            als „therapeutische Beziehung“ zusammenfassen. Wenn ich             Zustand
                            auch, weil sie diese Veränderungen nicht alleine schaffen konn-      KlientInnen nicht vermitteln kann, dass ich ihnen mit meinen
                            ten. Wir ließen KlientInnen mit diesen berechtigten Erwartun-        Mitteln helfen kann, wird mein Erfolg in der Therapie sicherlich
                            gen oft alleine, wenn sie uns am Ende einer Stunde um Rat-           geringer sein. Auch hier könnte uns ein ausgeprägtes Entwe-
                            schläge baten. So als wäre es verboten, jemandem direkt zu           der-oder-Denken in die falsche Richtung lenken: wenn ich als
                            sagen, was sie/er machen soll – auch wenn sie/er es gerne hö-        Therapeut/in nicht auch Experte/in sein darf, muss ich eine
                            ren würde und vielleicht gerade deshalb zu einem/r Experten/in       konsequente Haltung des Nichtwissens einnehmen. Damit ver-
                            gekommen war. „So wie jemand nicht nicht kommunizieren               wechseln wir, wie oben beschrieben, eine systemische Grund-
                            kann, können wir auch nicht nicht beeinflussen. Beeinflussung        haltung mit dem kognitiven Zustand der Hilflosigkeit oder der
                            wohnt jeder menschlichen Kommunikation inne“, schreibt               Konfusion.
                            Weak­land (1995). „Unabweichlich beeinflussen wir unsere Kli-
                            entInnen, unabweichlich beeinflussen sie uns. Die einzige           Und warum auch diese Scheu und dieses Herumdrücken? Na-
                            Wahlmöglichkeit, die uns bleibt, ist, es unreflektiert oder sogar   türlich wissen unsere KlientInnen über ganz vieles Bescheid,
                            mit versuchter Leugnung zu tun oder bewusst und mit Verant-         einschließlich ihrer Lösungen. Natürlich kennen sie ihr Prob-
                            wortung“ (Weakland 1995).                                           lem besser als alle anderen. Natürlich haben sie Ressourcen,
                                                                                                die es gilt zu nutzen. Aber wenn wir auf Grund unserer Erfah-
                                                                                                rung, unserer Aus- und Weiterbildung, unserer Überlegungen
                            Die Mittel und die Zwecke in der Systemischen Therapie
                                                                                                nicht wirklich einen Wissensvorsprung und eine Expertise über
                            Zur Frage des „Nichtwissens“ schreibt Niel-Dolzer (2008) treff-     das Zustandekommen, die Aufrechterhaltung und die Redukti-
                            lich: „Wir werden nicht versuchen, es besser zu wissen als un-      on von Leidenszuständen haben, sollten wir dann nicht, so wie
                            sere KlientInnen, aber wir brauchen dazu nicht unwissender zu       es Kaimer (1990) in seinem Schlusssatz fordert, „konsequenter
                            sein als sie“. „Es macht einen Unterschied, ob ich ,nichts weiß‘,   Weise aufhören für diese Arbeit Geld zu nehmen, aufhören uns
                            oder ob ich auf Grundlage von langjähriger, theoretischer Aus-      TherapeutInnen oder BeraterInnen zu nennen, aufhören in
                            einandersetzung und praktischen Lernprozessen so tue, als ob        Fachzeitschriften Artikel zu schreiben?“ Ein Eingestehen dieses
                            ich nichts wüsste“. „Nichtwissen“ bleibt damit eine Haltung,        Wissens und dieses ExpertInnentums verhindert ein Abdriften
                            eine Intervention und wird nicht zum kognitiven Zustand der         in Beliebigkeit und erleichtert uns auch die Verantwortungsauf-
                            TherapeutInnen (Niel-Dolzer 2008). Den „Eiertanz“ rund um           teilung im Prozess einer Psychotherapie. Denn während „die
                            dieses ExpertInnenwissen kennt Kaimer (1990) auch von sich          KlientInnen die Zwecke der Behandlung bestimmen, sind wir
                            selbst. „Ich glaube etwas zu wissen, glaube aber, nicht glau-       TherapeutInnen die ExpertInnen in den Mitteln, diese zu errei-
                            ben zu dürfen, dass dieses Wissen besser oder nützlicher ist,       chen“ (Weakland 1995).
                            als das Wissen anderer. Das geht in Fachzeitschriften oder mit
                            KollegInnen noch gerade mal gut. Mit StudentInnen, Super­
                                                                                                Vakuum hat Tendenzen sich zu füllen …
                            visandInnen und KlientInnen muss das zu widersprüchlichen
                            Botschaften (und damit möglicherweise zu ,double binds‘)            Der stattgefundene Verzicht auf die Entwicklung oder Weiter-
                            ­führen.“ Er schlägt vor, „sich ruhig offen zu unserer Erfahrung    entwicklung eigener klinischer Modelle hat ein Vakuum er-
                             und unseren Fähigkeiten zu bekennen, um so auch angreifba-         zeugt, das sich an so mancher Stelle systemischer Entwick-
                             rer und kritisierbarer zu werden“ (Kaimer 1990).                   lungsgeschichte von selbst wieder gefüllt hat. Teilbereiche der
                                                                                                Systemischen Therapie haben sich mehr und mehr verselbst-
                            Dabei sollten wir auch nicht übersehen, dass ein wesentlicher       ständigt und treten als eigenständige Ansätze auf. Denken wir
                            Wirkungsfaktor im therapeutischen Arbeiten – unabhängig von         an die Institutionalisierung der Aufstellungsarbeit, an trauma-
80   systeme   2018, Jg. 32 (1): 61-89                                                             S. Geyerhofer, M. Ritsch, C. Thoma, Systemische Haltung und störungsspezifisches Wissen
                                                                                                                                                                                              81

                            therapeutische Ansätze, narrative oder „kooperative“ Ansätze,         Forschung auf. Die Theorien und Annahmen aus der Neurobio-
                            die Arbeit mit Teilen und die Entwicklung der hypnosystemi-           logie werden leichtfertig ohne Prüfung übernommen. Da
                            schen Ansätze in der Therapie. Dabei könnten all diese Metho-         scheint ein starkes Bedürfnis nach Rechtfertigung eigener An-
                            den oder Richtungen einen integrativen Bestandteil einer Sys-         nahmen im Spiel zu sein. Fast scheint es, als ob ein neuer „Bio-
                            temischen Therapie bilden. In der individuellen Praxis muss           logismus“ durch die Hintertür eingeführt werden soll.
                            jede/r interessierte PsychotherapeutIn diese Integrationsleis-
                            tung derzeit selber leisten.                                          Jede Theorie ist gewissermaßen eine Konstruktion und extrem          Eine Theorie sollte
                                                                                                  formuliert auch eine Art Selbsttäuschung oder Selbstbetrug,          so gebaut sein, dass
                            Möglicherweise liegt der Grund für eine solche Zersplitterung         ein notwendiger Betrug, um bestimmte Annahmen machen zu              sie durch Erfahrung
                            in der fehlenden Stütze, die ein klinisches Modell auf einer          können. Dabei sollte aus einer wissenschaftlichen Herange-           verändert oder kor-
                            sicheren erkenntnistheoretischen Grundlage bieten könnte.
                            ­                                                                     hensweise eine Theorie so gebaut sein, dass sie durch Erfah-         rigiert werden kann
                            Die Erkenntnistheorie soll mir als Wissenschaftler eine sichere       rung verändert oder korrigiert werden kann. Bei vielen neuro-
                            Basis bieten, um Forschung zu betreiben. Eine gute klinische          biologischen Annahmen können wir diese Möglichkeit noch
                            Theorie hat den Vorteil, Sicherheit im alltäglichen therapeuti-       nicht entdecken.
                            schen Handeln zu erleben. Die Erkenntnisse aus der Forschung
                            bieten die Grundlage für ein professionelles Arbeiten in der          Man ist fast erinnert an die Rezeption der Freud‘schen Theorien
                            Praxis. Die Erkenntnistheorie für sich allein kann dies nicht leis-   in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie von Ritsch (1991)
                            ten, sonst müsste auch jede/r Psychotherapeut/in konsequen-           beschrieben, waren die neuen Annahmen von Freud damals so
                            terweise ein philosophisches Grundstudium absolvieren, um             reizvoll, dass man sie vorerst total abgelehnt, dann aber meist
                            diese sichere Basis zu erhalten. Der Konstruktivismus oder ein        doch alle sehr unkritisch übernommen hatte. Ludwig Wittgen-
                            kybernetisches Denken können diese Stütze nicht bieten, ein           stein (1984) hat dazu treffend bemerkt: „Freud hat uns durch
                            sicheres Auftreten gegenüber KlientInnen zu erreichen. Es ist         seine phantastischen Pseudo-Erklärungen, gerade weil sie
                            auch nicht ihre Aufgabe! Sie sollen Erkenntnisgewinn erklären         geistreich sind, einen schlimmen Dienst erwiesen. Jeder Esel
                            – und sind keine klinischen Erklärungsmodelle. Mit dem Verlust        hat diese Bilder nun zur Hand, mit ihrer Hilfe Krankheitserschei-
                            oder durch den Verzicht auf klinische Modelle ist für viele The-      nungen zu ,erklären‘.“ Dabei möchten wir gar nicht die grundle-
                            rapeutInnen eine wichtige Stütze weggefallen.                         genden Errungenschaften der Freud‘schen Theorien in Frage
                                                                                                  stellen. Viele seiner „reizvollen“, aber mittlerweile überkom-
                            Aus diesem Defizit heraus hat der Verzicht auf klinische Mo­          menen Annahmen jedoch spuken noch immer in den Köpfen
                            delle wahrscheinlich sogar dazu beigetragen, die systemische          nicht nur analytischer TherapeutInnen herum.
                            Grundhaltung ins Wackeln zu bringen. Denken wir an den eso-
                            terischen Boom in der psychotherapeutischen Szene, an zuge-           Und ähnlich scheint jetzt die Rezeption neurobiologischer
                            geben oft reizvollen, fast mythischen Zugängen zur Realitätser-       Theorien zu funktionieren. Aber welchen Preis müssen wir
                                                                                                  ­
                            klärung. Denken wir an den enormen Zuspruch, den Hellingers           möglicherweise dafür zahlen? Geben wir nicht viel von den Er-
                            Art der Aufstellungsarbeit in unserer Szene (vor allem oder fast      rungenschaften jahrelanger psychotherapeutischer Arbeit und
                            ausschließlich im deutschsprachigen Raum) hatte und der               Erkenntnis auf? Werden dadurch nicht zentrale systemische
                            nicht nur frei von jeder wissenschaftlichen systemischen Theo­        Annahmen über Störungsdynamiken, die Möglichkeit der Ver-
                            riebildung, sondern auch fern ab unserer systemischen Hal-            änderung von Beziehungsdynamiken im familiären Bereich
                            tung war. Oder aktuell das Auftauchen einer neuen „wissen-            oder anderen relevanten Systemen relativiert? Nehmen wir da
                            schaftlichen Religion“, der Neurobiologie. Plötzlich taucht an        nicht auch viel zurück, von dem was uns als eine sichere Grund-
                            allen Ecken und Enden neurobiologisches Wissen auf, um psy-           lage in der psychotherapeutischen Praxis bisher hilfreich war?
                            chotherapeutische Annahmen, systemisches Denken, Empa-                Derzeit scheint die Neurobiologie die wesentlichen Annahmen
                            thie usw. biologisch zu erklären. Dabei fällt vor allem der unkri-    wie die zentrale Funktion von Empathie, aber auch ethische
                            tische Umgang mit Ergebnissen aus der neurobiologischen               Grundhaltungen der Achtsamkeit und des gegenseitigen Res-
82   systeme     2018, Jg. 32 (1): 61-89                                                          S. Geyerhofer, M. Ritsch, C. Thoma, Systemische Haltung und störungsspezifisches Wissen
                                                                                                                                                                                            83

                              pekts zu unterstützen. Wären diese Theorien aber nicht genau-      TherapeutInnen, in die Beziehung zu KlientInnen, oder Einfluss
                              so verwendbar für Annahmen, die unseren Grundhaltungen             nehmen auf das Ergebnis der Therapie (Lieb 2011, 2015).
                              und moralischem Denken konträr wären?
                                                                                                 Diese Einschätzung belegen auch Beobachtungen aus dem
     Konsequent               Uns erscheint hingegen jenes Wissen wesentlich sicherer und        englischen Sprachraum. Dort hat die kritische Auseinanderset-
     ­systemisch, streng      sinnvoller, das aus der direkten therapeutischen Tätigkeit und     zung mit der „Kybernetik 2“ bereits vor vielen Jahren stattge-
      methodisch nah          der Lösung von Problemen gewonnen werden kann: konse-              funden. Family Process zum Beispiel widmet sich seit Langem
      am therapeutischen      quent systemisch, streng methodisch nah am therapeutischen         wieder mehr der Weiterentwicklung und auch Beforschung
      Geschehen               Geschehen.                                                         störungsspezifischen Wissens und klinischer Erklärungsmo-
                                                                                                 delle sowie der Implikation dessen auf die therapeutische
                                                                                                 Handlungsebene. Eine Motivation dafür war die ausstehende
                              Systemische Therapie und Psychiatrie – die Frage der
                                                                                                 Integration systemischer Therapiekonzepte in die Kinder- und
                              Anschlussfähigkeit
                                                                                                 Jugendlichenpsychiatrie sowie in zunehmendem Maße auch in
                              Ein weiterer „Vorteil“ dieser kritischen Haltung gegen jegliches   die Erwachsenenpsychiatrie. Wir wollen damit zwei Dinge nicht
                              Störungswissen war die Möglichkeit, damit die bereits zu Grün-     sagen: Erstens, dass eine kritische Haltung der traditionellen
                              dungszeiten der Systemischen Therapie begonnene Opposi­            Psychiatrie gegenüber fehl am Platz ist. Im Gegenteil. Auch
                              tion zur traditionellen Psychiatrie weiterzuführen und ange-       dort ist noch ein langer Weg zu gehen. Und zweitens, dass bei
                              sammeltem Fachwissen aus diesem Gebiet mit kritischer              uns gar nichts passiert sei. Das Gegenteil ist der Fall. Gerade
                              Ablehnung entgegenzutreten. Dabei hat sich die Systemische         aus dem Bereich Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie ist die
                              Therapie weltweit, und auch im deutschsprachigen Raum, be-         Systemische Therapie (Ausnahmen gibt es auch in Österreich)
     Radikale Ablehnung       reits in eben jenem Feld zu etablieren begonnen. Eine radikale     heute nicht mehr wegzudenken. Immer wieder werden auch in
     allen klinischen         Ablehnung allen klinischen Fachwissens wie zur Blütezeit der       der Erwachsenenpsychiatrie ganze Programme, Stationen, so-
     Fachwissens, ver-        „Kybernetik 2“ war für die Integration wenig förderlich, son-      gar Kliniken – Psychiatrische Rehabilitations- ebenso wie Akut-
     schärfte die Isolati-    dern verschärfte eher die Isolation Systemischer TherapeutIn-      kliniken – von SystemikerInnen mitgestaltet und „umgebaut“.
     on systemischer          nen im Gesundheitswesen. Wir waren und sind damit kaum             Die systemische Wühlmaus, wie Harry Merl (1997), der früher
     TherapeutInnen im        anschlussfähig. In seiner Leitunterscheidung zwischen Syste-       eine systemische Station auf der Erwachsenenpsychiatrie in
     Gesundheitswesen         mischer Therapie und Gesundheitswesen spricht sich auch            Linz leitete, unsere Einflussnahme im System Psychiatrie ein-
                              Lieb (2015) für eine Ankoppelung aus und weist auf die Not-        mal nannte, ist aktiv. Natürlich wird sie dort besonders erfolg-
                              wendigkeit von systemischen Konzepten für Krankheit, Stö­          reich sein, wo ihr von der Leitung Wohlwollen und Platz zuer-
                              rungen, Symptome im Allgemeinen, aber auch für spezifische         kannt wird. Aber Hans Liebs Hoffnung (Lieb 2015) und die
                              Störungsbilder hin.                                                Beobachtungen von Jochen Schweitzers Forschungsgruppe
                                                                                                 (Haun et al. 2012), dass sich Teile des Gesundheitssystems
                              Unsere Befürchtung ist, dass wir uns mit so mancher extre-         durch die Begegnung mit Systemischer Therapie verändern,
                              men, erkenntnistheoretischen Position die Chance auf wech-         können wir aus österreichischen Beobachtungen bestätigen.
                              selseitige Anerkennung und ein Voneinander-Lernen erschwert
                              haben. Hans Lieb (2011, 2014, 2015) sieht diese Chance auch,       Erst vor wenigen Monaten haben wir das Konzept für die sys­
                              wenn er vom „Wirkfaktor Kontextsensibilität“ schreibt. Wir ha-     temische Neuausrichtung eines der größten psychiatrischen
                              ben als SystemikerInnen einen „fast angeborenen“ Blick auf         Krankenhäuser Österreichs und der angeschlossenen Rehabili-
                              Kontextfaktoren. Das kann helfen mit einem kritischen Blick auf    tations-Klinik erhalten. Für solche Projekte müssen wir uns
                              jene Umweltfaktoren im Gesundheitssystem zu achten, die wir        aber anschlussfähig machen und uns von ein paar radikalen
                              oft allzu schnell übernehmen, jene Konstrukte, Erwartungen         Metapositionen distanzieren. Das Entweder-oder, das sich auf
                              aus der Welt des Gesundheitssystems, die in das aktuelle           erkenntnistheoretischer Ebene in einigen Punkten aufzeigt,
                              ­Geschehen in der Therapie hineinspielen – in die Köpfe der        verhindert so ein gutes Sowohl-als-auch auf Ebene klinischer
Sie können auch lesen