Systemische Haltung und störungs spezifisches Wissen - vom Entwederoder zum Sowohl-als-auch1 - Systemische Praxis Mag. Martin Ritsch
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S. Geyerhofer, M. Ritsch, C. Thoma, Systemische Haltung und störungsspezifisches Wissen 61 Systemische Haltung und störungs spezifisches Wissen – vom Entweder- oder zum Sowohl-als-auch1 Stefan Geyerhofer, Martin Ritsch, Christoph Thoma Zusammenfassung Wir möchten in diesem Beitrag etwas fortsetzen, das in der deutsch sprachigen Szene Systemischer Therapie erst eine sehr kurze Tradi tion hat, in anderen Sprachräumen seit Langem abgeschlossen ist – nämlich eine kritische Auseinandersetzung mit jener erkenntnis theoretischen Diskussion, die die Systemische Therapie der letzten Jahre stark geprägt hat und meist mit dem Begriff „Kybernetik zwei ter Ordnung“ – kurz „Kybernetik 2“ – umschrieben wird. Wir wollen uns dabei auf die noch wenig beachteten Nebenwirkungen dieser Metatheorie oder mehr noch den Nebenwirkungen der jahrelangen Beschäftigung damit konzentrieren und überblicksmäßig ein paar da von zur Diskussion stellen. Es soll unter anderem aufgezeigt wer den, wie diese Diskussion die Integration störungsspezifischen Wissens in Konzepte Systemischer Therapie im deutschsprachigen Raum erschwert hat. Schlüsselwörter: störungsspezifisches Wissen, Kybernetik zweiter Ordnung, Konzepte Systemischer Therapie im deutschsprachigen Raum, Metatheorie und deren Nebenwirkungen Abstract With this article we would like to continue a discussion that has been closed in other countries but has a rather brief tradition in Ger man speaking countries – a critical reflection of an epistemological idea and its influence on Systemic Therapy known as “Second Order 1) Initiiert wurde der Beitrag ursprünglich durch eine Veranstaltung zum Thema „Sollen wir wieder wissen, wo’s langgeht? Der Umgang mit ExpertInnenwissen in der systemischen Therapie“, 2009 in der ÖAS in Wien. Eine gekürzte Fassung dieses Arti kels erschien unter dem Titel „Von den Mitteln und den Zwecken der Systemischen Therapie: Eine kritische Auseinandersetzung mit der ,Kybernetik 2‘ – und eine Erinne rung an den Nutzen störungsspezifischen Wissens in der Systemischen Therapie“, 2011 in den Systemischen Notizen.
62 systeme 2018, Jg. 32 (1): 61-89 S. Geyerhofer, M. Ritsch, C. Thoma, Systemische Haltung und störungsspezifisches Wissen 63 Cybernetics” or “Cybernetics 2”. We will focus on the side effects of men menschlicher Erkenntnis beschreibt. Wir nennen sie hier this Meta theory or better the side effects of the ongoing discussion erkenntnistheoretische Modelle. Der Konstruktivismus wäre about it, and specify a few of these. We want to show how this dis ein Beispiel dafür – neben vielen anderen. Eine zweite Ebene – cussion has restrained the integration of problem specific know wir nennen sie hier klinische Modelle – beschreibt das Zustan- ledge and theories into systemic thinking and systemic therapy in dekommen und die Aufrechterhaltung von Problemen, Störun- the German speaking countries. gen, Krankheiten einschließlich Theorien der Veränderung. Die meisten Therapieschulen haben solche Modelle entwickelt, die Keywords: problem specific knowledge, Second Order Cybernetics, Psychoanalyse ebenso wie die Verhaltenstherapie und auch concepts systemic therapy in German speaking countries, meta die Systemische Therapie. Als dritte Ebene unterscheiden wir theory and side effects die Ebene therapeutischen Handelns – also jene Ebene in der wir beschreiben, was wir als TherapeutInnen tun, mit dem Ziel, Leidenszustände unserer KlientInnen zu reduzieren. Einleitung Die Geschichte dieses Beitrags ist die Geschichte eines jahre- Wechselseitige Einflüsse zwischen den Ebenen der Beschrei- langen Hin-und-hergerissen-Seins. Immer wieder hatten wir bung sind möglich, trotzdem existieren sie prinzipiell unabhän- uns ausgetauscht, den Artikel weiterbearbeitet, ihn wieder gig voneinander. Wir können nämlich ohne Probleme Kon weggelegt – je nach Ereignissen in unserem Umfeld. Als das struktivistInnen sein, aber uns mittels kognitiver Theorien und Lehrbuch von Schweitzer und Schlippe (2006) herauskam, leg- Lerntheorien das Zustandekommen von Problemen oder Er- ten wir ihn weg. Als wir von 2011 bis 2012 unter dem Titel „Pro- krankungen erklären und erfolgreiche Verhaltenstherapie ma- blemspezifische Systemische Therapie“ den erfolgreichsten chen. Wir können glauben, die Welt da draußen existiert so, Weiterbildungslehrgang in der Geschichte von ÖAS und Lasf wie wir sie sehen, tatsächlich und gute Systemische Therapeu- organsierten, nahmen wir ihn angeregt durch die Feedbacks tInnen sein. Wir SystemikerInnen haben den Konstruktivismus der TeilnehmerInnen wieder zur Hand. Als Hans Lieb sein Buch nicht gepachtet. Wir tun aber oft genug so. Und wie unabhän- Störungsspezifische Systemtherapie – Konzepte und Behand- gig die zweite und die dritte Ebene sind, wissen all jene, die lung (2014) herausbrachte, lag er wieder für Monate unberührt sich schon einmal in therapieschulenübergreifende Diskussio- herum. „Wozu noch?“, fragten wir uns. Aber wenn wir dann so nen begeben haben, bei denen man oft die Erfahrung macht: Sätze lasen wie: „Die Anerkennung2 rief große Freude und „Ah, ihr macht das eh so wie wir, ihr nennt es nur anders!“ Stolz ebenso wie Bedenken und Sorge hervor. Befürchtet wur- Denn oft sind wir uns im therapeutischen Tun sehr ähnlich, wir de, dass die systemischen Konzepte sich an ein medizinisches beschreiben es nur auf der Ebene klinischer Erklärungsmodelle Krankheitskonzept und störungsspezifische Behandlungsstra- in anderen Worten. tegien würden anpassen müssen, also das Systemische verlie- ren würden“ (Oestereich 2012), dann war die Motivation wieder da. Es war und ist uns nach wie vor zu viel Entweder-oder in dieser Diskussion. Erkenntnistheorie Drei Ebenen von Beschreibungen Klinische Modelle Vorweg wollen wir den Versuch einer Klärung unternehmen. Man kann drei Ebenen von Beschreibungen unterscheiden. Erstens eine epistemologische Ebene, die das Zustandekom- Therapeutisches Handeln 2) Der WBP hatte 2008 die Systemische Therapie in Deutschland als Psychothera pieverfahren anerkannt. Abbildung 1: Ebenen von Beschreibung
64 systeme 2018, Jg. 32 (1): 61-89 S. Geyerhofer, M. Ritsch, C. Thoma, Systemische Haltung und störungsspezifisches Wissen 65 Konstruktivismus In der Entwicklung der Systemischen Therapie haben sich die Erklärungsmodelle eben nur Modelle – also Konstruktionen und Kybernetik 2 Ebenen vermischt. Der Konstruktivismus und in seiner Ge- sind? Oder soll der Begriff schon im Namen Implikationen für wurden fast zum folgschaft die Kybernetik 2 wurden fast zum klinischen Modell unser therapeutisches Handeln aufzeigen? Oder was sonst klinischen Modell ernannt und viele Jahre lang befassten wir uns mehr mit Fra- wollten wir damit kundtun? Vor allem in welchem Kontext? Was ernannt gen nach dem Status von BeobachterInnen, der prinzipiellen ist eine konstruktivistische systemische Therapie im Unter- Veränderbarkeit von Systemen und generellen Fragen der schied zu einer nicht konstruktivistischen systemischen Thera- Machbarkeit von Aussagen in und über Therapie. Schwer aus- pie? Was unterscheidet sie von einer z. B. konstruktivistischen zumachen, wo die Initialzündung für diese Entwicklung war. Verhaltenstherapie? Unsere Befürchtung ist mehr die Folgen- Vielleicht war es schon ganz zu Beginn, als Paul Dell 1981 die de: Wir haben über Jahre hinweg die Ebene klinischer Modell- Ideen von Maturana und Varela am Züricher Kongress erstmals bildung übersprungen, ignoriert oder zumindest vernachläs- einer breiteren TherapeutInnenschaft vorstellte und so zur sigt und haben direkte Schlüsse aus der Erkenntnistheorie auf „epistemologischen Wende“ im deutschsprachigen Raum bei- unser Handeln im Therapieraum gezogen. Diese Entwicklung trug? Dell hat seinen Beitrag später (1987) unter dem Titel „Kli- hatte einige nicht unbeachtliche Nebenwirkungen, auf die wir nische Erkenntnis“ publiziert, was schon im Titel eine Vermi- im Folgenden eingehen wollen. schung der beiden ersten Ebenen implizieren könnte. Es ist schwer zu sagen, wo die Vermischungen begannen, aber es Es geht nicht darum, erkenntnistheoretische Überlegungen aus Solange unsere besteht kein Zweifel darüber, dass die irgendwann entfachte dem Therapieraum zu verbannen. Es geht uns darum, sie am Erklärungsmodelle Diskussion jene therapeutische Haltung unterstützt und gefes- richtigen Platz – nämlich einer metatheoretischen Ebene – zu für KlientInnen Sinn tigt hat, die zwar auch vorher schon existierte, aber nun in den belassen. Der Konstruktivismus hilft uns an einer wichtigen machen, dürfen wir Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückte und in einem viel grö- Stelle im Therapieprozess, nämlich dann wenn wir mit unseren auf sie vertrauen ßeren Ausmaß Teil unserer systemischen Identität wurde. Aber Erklärungen und Beschreibungen (klinische Modelle) nicht diese steht nach all den Jahrzehnten unserer Meinung nach mehr weiterkommen, wenn sie für die KlientInnen keinen Sinn außer Frage, niemand rüttelt an dieser Haltung – weder irgend- ergeben, wenn sie uns nicht mehr neugierig sein lassen, uns wer in den eigenen Kreisen noch außerhalb unserer Thera- nicht mehr Leitlinien sind für weitere Fragen oder Interventio- pieschule, auch nicht die Versicherungsträger3. Wir dürfen nen. Dann ist der Moment gekommen, diese Erklärungen in daher die Entwicklung auch einer kritischen Evaluation unter- Frage zu stellen und uns daran zu erinnern, dass sie nicht Abbil- ziehen und uns ihre Nebenwirkungen vor Augen führen. der der Wirklichkeit sind, sondern Konstruktionen und dass un- sere Erklärungen für die Realität unserer KlientInnen nicht pas- send sein könnten und wir daher von ihnen ablassen sollten. Vermischung der Ebenen Solange unsere Erklärungsmodelle jedoch für KlientInnen Sinn Da fällt zuerst eine begriffliche Verwirrung auf. Denn in dem machen, uns unterstützen bei der Formulierung von Fragen Begriff „konstruktivistische systemische Therapie“ werden und Interventionen, solange sie uns helfen die erwünschten eben jene Ebenen miteinander verknüpft, die zwei oder sogar Veränderungen zu erreichen, solange dürfen wir auf sie ver- drei völlig unterschiedliche Beschreibungen darstellen (siehe trauen. So wie wir unserer Wahrnehmung im Alltag vertrauen, Abbildung 1). Wollten wir mit dem Begriff darauf hinweisen, die uns „vorgaukelt“, es gäbe einen dreidimensionalen Raum. dass wir uns im Klaren sind, dass auch unsere systemischen Wie uns unsere Wahrnehmung täuscht, wissen alle, die sich gerne mit optischen Täuschungen beschäftigen, einmal die Gelegenheit hatten mit Umkehrbrillen zu leben oder in San 3) An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Autoren ihren Beitrag aus Sicht Francisco das „Exploratorium“ besucht haben. Spätestens der österreichischen Therapiesituation heraus verfasst haben, in der die Systemi dann stellen sie ihre Wahrnehmung in Frage. Trotzdem vertrau- sche Therapie so wie alle anderen großen Therapieschulen seit vielen Jahren aner kannt ist und eine direkte Rückverrechnung mit den Versicherungsträgern – Kassen en wir im Alltag auf sie – so als ob sie Abbild der Wirklichkeit vertrag, genauso möglich ist wie eine Teilrefundierung bei privat niedergelassenen wäre. Ähnliches gilt vielleicht auch für den Alltag im Therapie- TherapeutInnen. raum. Störungsspezifisches Wissen, unsere therapeutischen
66 systeme 2018, Jg. 32 (1): 61-89 S. Geyerhofer, M. Ritsch, C. Thoma, Systemische Haltung und störungsspezifisches Wissen 67 Erfahrungen, die Erfahrungen betroffener KlientInnen und an- Für uns ist spannend zu sehen, welche Initialzündung das Lehr- derer TherapeutInnen, unsere Hypothesen über das Zustande- buch von Schweitzer und von Schlippe (2006) aber ausgelöst kommen und die Chronifizierung von Problemen, Störungen haben dürfte. 11 Jahre später ist die Situation auch im deut- oder Krankheiten können uns Leitlinie sein im oft nicht leicht zu schen Sprachraum eine komplett andere. Es gibt systemische strukturierenden Prozess therapeutischen Tuns – so als ob sie Bücher zu fast allen Störungsgruppen, Hans Liebs Buch zur die Wirklichkeit abbilden. Sind sie uns und unseren KlientInnen Störungsspezifischen Systemtherapie (2014) hat das „Tabu“ keine Hilfe mehr, wenn wir mit ihnen „anstehen“, dann sind sie auch im Carl-Auer Verlag gebrochen und unter seiner und in Frage zu stellen. Wilhelm Rotthaus Herausgeberschaft erscheint seit 2015 eine ganze Buchreihe mit dem Übertitel „Störungen systemisch be- handeln“. Wir hätten das nicht für möglich gehalten, als wir vor Mangel an Störungsspezifischen Erklärungsmodellen vielen Jahren begannen diesen Beitrag zusammenzustellen. In Aber welche Nebenwirkungen hatte die intensive Auseinan- der Reihe finden sich mittlerweile Bücher zur Depression und dersetzung mit diesen Metatheorien im deutschsprachigen Dysthymia (Ruf 2015), zur Suizidalität von Kindern und Jugendli Raum? Erstens richtete der jahrelange „Epistobabel“ (ein chen (Rotthaus 2017), zu Posttraumatischen Belastungsstörun- Ausdruck, den Ludwig Reiter einmal verwendete) unseren Fo- gen (Korittko 2016), Persönlichkeitsstörungen (Wagner, Henz u. kus im Schreiben, Denken und Forschen auf eben jene schein- Kilian 2016), Bipolare Störungen (Ruf 2017), Schizophrenie und bar direkt vorhandene Verbindung zwischen Epistemologie schizoaffektive Störungen (Ruf 2014), kindlichen Ängsten (Rott- und therapeutischem Tun und verhinderte zugleich in be- haus 2015), Alkoholabhängigkeit (Klein u. Schmidt 2017) und trächtlichem Maße die Weiterentwicklung klinischer Erklä- ebenfalls bereits angekündigt zu sozialen Ängsten (Schweitzer, rungsmodelle in der Systemischen Therapie – zumindest im Hunger, Hilzinger 2017). Die Entwicklung überrascht uns nicht. deutschsprachigen Raum. Das viel diskutierte Handbuch von Immerhin hatten wir 2011 schon riesigen Zulauf, als wir in Ko- Schweitzer und Schlippe (2006) zeigt zwar zum einen auf, wel- operation ÖAS und Lasf 4 einen 13-teiligen Lehrgang zur stö- che Entwicklungen auf dieser Ebene es zu diesem Zeitpunkt rungsspezifischen Systemischen Therapie organisierten. Wir sehr wohl gab. Es zeigt aber ebenso deutlich, wenn nicht deut- trafen damals mit unseren Inhalten auf ein großes Interesse licher auf, was alles nicht passiert ist in den letzten 20 bis 25 unter systemischen KollegInnen. „Das ist das, was in der Aus- Jahren. Als Hans Lieb (2015) exemplarisch störungsspezifi- bildung zu kurz gekommen ist“, war der Tenor zahlreicher sche Konzepte aus der älteren und jüngeren Geschichte der Rückmeldungen. Christoph Thoma hatte schon einige Jahre Systemischen Therapie auflistet, spannt er den Bogen von zuvor (Thoma 2009) ein Buch zum systemischen Verständnis den Forschungsarbeiten der Bateson Gruppe zur Schizophre- von Ängsten herausgegeben, am Institut für Systemische nie über Minuchins Arbeiten zur Psychosomatik, die Arbeiten Therapie in Wien hatten Carmen Unterholzer und Stefan Geyer- der Mailänder Gruppe zur Magersucht, die frühen Arbeiten der hofer (Geyerhofer u. Unterholzer 2008, 2009, 2009) ein systemi- Heidelberger Gruppe bis zu Kleins Arbeiten zur Sucht (2002), sches Konzept zu Burnout und Erschöpfungssyndrom erar den Ansätzen zur Depression von Jones und Asen (2002) bis beitet, und mit seinen DVD Projekten versucht das IST seit zu den Arbeiten von Schweitzer und von Schlippe (2006) und Jahren systemische Konzepte für die Psychoedukation zur Ma- Schumacher (2008). Der Absatz bleibt trotzdem kurz. Und lässt gersucht (2008), Depression (2011), Schizophrenie (2013) und man die Beiträge aus der Zeit vor der „kybernetischen Wen- zum ADHS (2016) umzusetzen – angeregt durch eine Idee von de“ weg, wird es noch überschaubarer. Die deutschsprachi- Yasunaga Komori und aufbauend auf der Idee des Externalisie- gen AutorInnen danach lassen sich fast an einer Hand abzäh- rens (White 1988; White und Epston 2002), die uns hilft Person len und wiederholen sich. Einschränkend muss erwähnt und Krankheit (Diagnose) zu trennen und ihre wechselseitigen werden, dass Liebs Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit Einflussmöglichkeiten aufzuzeigen. erhebt und er sie vor allem in der jüngeren Vergangenheit auf den deutschsprachigen Raum beschränkt. Aber die Relation bleibt verblüffend. 4) Zwei der drei österreichischen Ausbildungsvereine für Systemische Therapie
68 systeme 2018, Jg. 32 (1): 61-89 S. Geyerhofer, M. Ritsch, C. Thoma, Systemische Haltung und störungsspezifisches Wissen 69 Den Sessel, der Faszinieren tut uns aber die Geschwindigkeit, in der jetzt stö- done, Verbitz und Milanese (2005) oder das Externalisieren der einem im Weg steht, rungsspezifische systemische Konzepte publiziert werden. Magersucht sind fast schon Standards geworden, um KlientIn- ein Stück weit auf „Die Rehabilitation störungsspezifischen Wissens findet gera- nen möglichst früh zu motivieren den Kampf gegen die Krank- die Seite zu schie- de statt“, waren sich zahlreiche ExpertInnen am „Diagnosen heit aufzunehmen (vergleiche Sanders 1996; Institut für Syste- ben, schafft Platz Kongress“ („Was ist der Fall? Und was steckt dahinter?“) in mische Therapie 2008). Die Systemische Therapie hat dazu für mehr Bewe- Heidelberg im späten Frühling dieses Jahres einig. Es scheint beigetragen, dass die ambulanten und stationären Therapien gungsfreiheit nur mehr Unterscheidungen zu geben zwischen jenen, die mit- für Magersucht heute besser sind als noch vor 20 Jahren und machen, aber die Kybernetik 2 mit hinüberretten wollen, und die Sterblichkeit trotz steigender Erkrankungszahlen gesunken jenen, die entweder immer schon eine größere Distanz zu die- ist. Es macht Sinn, unser Fachwissen bei der Entwicklung stö- sen Metakonzepten hatten oder sie sich nun geschaffen ha- rungsspezifischer Therapieprogramme einzubringen. ben. Den Sessel, der einem im Weg steht, ein Stück weit auf die Seite zu schieben, schafft Platz für mehr Bewegungsfrei- Aber noch einmal einen Schritt zurück. Was hat uns eigentlich Entweder-oder- heit. Und wie frei man sich bewegen kann, wenn die Distanz im deutschen Sprachraum gehindert, das was jetzt so blüht, Denken als zur Kybernetik 2 größer ist, zeigen die Arbeiten von Nardone schon früher zu machen? Spätestens mit der „kybernetischen Problem (1997, 2003, 2005) und seinem Team in Italien, die zu zahlrei- Wende“ in der Systemischen Therapie mussten wir uns von aufrechterhaltung chen Störungsbildern sowohl systemische Erklärungsmodelle der Idee verabschieden, als PsychotherapeutInnen unabhängi- als auch daraus resultierende spezifische Fragetechniken und ge BeobachterInnen der KlientenInnen sein zu können. Konse- Interventionen entwickelt haben, oder im deutschsprachigen quenterweise war dies zugleich ein Abschied vom herkömmli- Raum das Systemische Lehrbuch von Kirsten von Sydow (2015) chen KlientInnen-Diagnosen-Interventions-System: wenn ich oder Wagner, Henz & Kilians Buch zu Persönlichkeitsstörungen weiß, welche Diagnose meine KlientInnen haben, muss ich nur (2016). mehr die richtigen Interventionen setzen, damit sie geheilt wer- den. Ist bei dieser Verabschiedung möglicherweise ein folgen- Wir brauchen uns nicht zu verstecken. International und auch schwerer Irrtum passiert? Haben wir aufgrund dieser Einsicht bei uns ist einiges passiert! In der Therapie von Burnout zum auf die Weiterentwicklung klinischer Modelle verzichtet, weil Beispiel gilt es heute auf Grund klinischer Erfahrungen, aber sie so eng mit herkömmlichem Diagnoseverständnis verbun- auch auf Grund der Forschung fast schon als fahrlässig, in der den sind? Haben wir kein Augenmerk mehr darauf gelegt, pas- Diagnose und Behandlung auf Kontextfaktoren (Belastungs- sende Alternativen zu suchen und zu finden? Möglicherweise faktoren im Job, private Zusatzbelastungen wie Pflegefälle, sind wir an dem Punkt einem Entweder-oder-Denken verfallen, Krankheit, Schulden etc.) kein Augenmerk zu legen (vergleiche das wir im therapeutischen Kontext oft als Muster von Pro dazu: Geyerhofer u. Unterholzer 2008, 2009, 2009). In die Thera- blemaufrechterhaltung kennen: Wenn wir schon keine unab- pie von Magersucht haben systemische Konzepte und Inter- hängigen TherapeutInnen sein können, müssen wir auf alle Er- ventionen schon vor Jahren Einzug gehalten und haben einen klärungsmodelle von Störungen verzichten. fixen Bestandteil in ambulanten und stationären Therapiepro- grammen weltweit. Auch außerhalb unserer eigenen Thera- Dabei gibt es in der Systemischen Therapie jede Menge Störungsbilder als pieschule wissen KollegInnen um die Bedeutung von Kontext- brauchbare Ideen und Ansätze, die uns aus diesem Schwarz- Landkarten faktoren dieser Erkrankung (Beziehungsgestaltung in der Weiß-Denken befreien können. Die Metapher oder das Modell, Familie, gesellschaftlicher Druck auf Mädchen und Burschen, Störungsbilder als Landkarten zu begreifen, ist ein gutes Bei- Diätwahnsinn, Peergruppe usw.) Bescheid, was dazu geführt spiel dafür. Michael White und David Epston (White u. Epston hat, dass wir in der Behandlung von Magersucht zumeist Kom- 2002; White 2007) haben uns aufgezeigt, wie strukturiert wir in binationstherapien von Einzel- und Familientherapien finden – der Therapie arbeiten können, ohne auf unser Erfahrungswis- sinnvollerweise auch deshalb, weil die KlientInnen immer jün- sen verzichten zu müssen und trotzdem eine konsequent sys ger werden und die Kontextfaktoren daher an Bedeutung temische Haltung einnehmen zu können. Sie verwenden als gewonnen haben. Die systemischen Interventionen von Nar erkenntnistheoretische Grundlage die Diskurstheorie von
70 systeme 2018, Jg. 32 (1): 61-89 S. Geyerhofer, M. Ritsch, C. Thoma, Systemische Haltung und störungsspezifisches Wissen 71 Foucault, bleiben aber nicht dabei stehen, sondern entwickeln In ganz ähnliche Richtung argumentieren hypnosystemische darauf klinische Modelle der Entstehung von Störungen. Sie KollegInnen, allen voran Gunther Schmidt, wenn sie uns auf verzichten zwar auf störungsspezifisches Wissen, benennen zeigen, wie man Probleme als Lösungsversuche verstehen Störungsfelder als Landkarten, die uns TherapeutInnen helfen, kann, die deshalb chronifizieren, weil sie funktionieren. Die einen Therapie-Weg zu finden, ganz ähnlich wie es Lieb (2014) Idee ist nicht neu. Sie ist schon in den Arbeiten von Erickson zu vorschlägt. finden und wurde von Haley (1976), Weakland, Fisch, Watzla- wick, Segal (1974, 1982) und anderen VertreterInnen der prob- Nardone und Portelli (2005) haben uns mit der Idee „Knowing lemorientierten Systemischen Therapie als versuchte Lösun- through changing“ einen eleganten Ausweg aus dem schein- gen beschrieben – jene Lösungsversuche, die KlientInnen, baren Dilemma gezeigt. Im therapeutischen Handeln gewinnen Angehörige, aber auch oft TherapeutInnen entwickeln, um das wir durch Fragen und Interventionen mehr und mehr Erkennt- Problem in den Griff zu bekommen. Oftmals sind es eben diese nisse über das Zustandekommen und die Chronifizierung von Versuche, die dazu beitragen, dass ein Problem aufrecht bleibt Problemen und „Störungen“. Die Diagnose steht plötzlich nicht und chronifiziert. Bei Ängsten, Zwängen und Panikattacken, bei mehr am Anfang, sondern am Ende des Prozesses. Die erkennt- Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie oder bei Suchter- nistheoretische Grundhaltung dient ihnen dazu, die wissen- krankungen macht ein solches Verständnis jede Menge Sinn schaftliche Arbeit der Erkenntnisgewinnung umzudrehen und und hilft uns, zu weiteren Hypothesen und Fragen zu kommen. ein Modell zu entwickeln, wie wir im therapeutischen Arbeiten Und dass Psychotherapie eine von Hypothesen geleitete Be- konsequent systemisch arbeiten können, ohne darauf verzich- handlungsform ist, wurde in Österreich sogar gesetzlich veran- ten zu müssen, spezielles Wissen über bestimmte Störungsbil- kert. Das Gesetz schreibt vor, dass TherapeutInnen ihr Handeln der zu erarbeiten. auf Hypothesen und theoretische Modelle über das Entstehen und die Aufrechterhaltung von Problemen, Störungen oder Ideen interaktiver Aus jedem Einzelfall kann ich durch Reflexion Wissen generie- Krankheiten stützen. Unabhängig von gesetzlichen Regelun- Diagnostik ren, das in der Gesamtschau Muster und Grunddynamiken von gen finden wir das vor allem fachlich sinnvoll. einzelnen Störungen aufzeigen kann. Natürlich werden da- durch auch bestehende Diagnose-Schemata wie das DSM Die Frage der Diagnosen oder das ICD in Frage gestellt, da diese die Benennung und Beschreibung von Symptomen und oft nicht ausreichend Die Kritik am ICD und am DSM ist berechtigt und oft diskutiert grundlegenden Dynamiken der Entstehung und Chronifizie- (gut zusammengefasst z. B. bei Tomm 2001). Die Kritik an der rung von Störungen darstellen. In einer italienisch-französi- Einseitigkeit dieser Kritik ist wahrscheinlich ebenso berechtigt schen Koproduktion haben Wittezaele und Nardone (2016) die und noch weniger gut dokumentiert (Spitczok von Brisinski Idee dieser „systemisch operativen Diagnostik“ weiterentwi- 1999; Borst 2003; Geyerhofer 2011; Lieb 2014). Es macht Sinn, ckelt. Das Verstehen spezifischer Logiken rund um das Zustan- zwischen Diagnosen an sich und Diagnosemanualen zu unter- dekommen und die Chronifizierung von Störungsbildern kann scheiden. Wobei wahrscheinlich weder das eine noch das an- helfen zu klinischen Erklärungsmodellen zu kommen, aber dere per se schlecht vs. gut oder hilfreich vs. gefährlich ist. In auch konkrete Ideen zur Unterbrechung dieser Muster aufzei- erster Linie sind Diagnosen Benennungen, Beschreibungen, gen. Was am Anfang oft notwendige Adaptionen auf die kon manchmal auch mit Erklärungen versehen. Zur Gefahr werden stanten Umweltveränderungen waren (Vermeidung oder Kon- sie erst durch den Umgang damit. Lassen sich TherapeutInnen trollversuche der Situation, Emotion oder Bewertungsversuche in ihrer Neugier einschränken, indem vorgefasste Meinungen durch andere …) kreiert durch die rigide Fortsetzung oft noch als unumstößliche Wahrheiten im Therapieraum stehen, dann größeres Leid. Diese Idee interaktiver Diagnostik haben die sind sie schlecht. Werden sie zur Stigmatisierung, zur Bewer- Autoren versucht auf möglichst viele Störungsgruppen umzu- tung verwendet, so ist unsere Kritik berechtigt, denn dann tra- setzen. Wir warten dringend auf die Übersetzung des Buches gen sie zur Erkrankung oder zur Chronifizierung bei oder neh- ins Deutsche oder Englische. men Hoffnung auf Veränderung.
72 systeme 2018, Jg. 32 (1): 61-89 S. Geyerhofer, M. Ritsch, C. Thoma, Systemische Haltung und störungsspezifisches Wissen 73 „Knowing through Aber Diagnosen können auch Hoffnung geben. Eine Klientin natürlichen Sehnsucht nach Verstehen, nach Erklärungen und changing“ von mir (SG) war sofort beruhigt, als ich ganz ruhig und gelas- nach Sicherheit begeben sich KlientInnen auf die Suche und sen sagte, dass die furchterregenden Zustände, die sie bereits werden heutzutage schnell fündig. Früher musste man sich ein einige Male erleben musste und die sie mir gerade beschrieben ICD, ein Fachbuch oder zumindest ein Selbsthilfebuch kaufen, hatte, in unserer Fachsprache Panikattacken heißen. Später ge- heute ist alles online – und das mit jeder Menge Kommentaren. stand sie: „Ab diesem Moment wusste ich, ich bin in den rich- Gespräche rund um Diagnosen bieten auch eine Chance der tigen Händen. So wie Sie das gesagt haben, klang es so, als wür- Beziehungsgestaltung in frühen Phasen der Therapie. Es kann den Sie solche Sachen jede Woche hören!“ Und dass Hoffnung gelingen Ängste zu nehmen, Vertrauen zu schaffen oder wie und positive Veränderungserwartung zu einem der wichtigsten oben erwähnt Hoffnung zu generieren. Erfolgsfaktoren in der Therapie zählen, wissen wir spätestens seit den Arbeiten von Hubble, Duncan & Miller (2000, 2001). Verantwortungsbewusst eingesetzt, glauben wir, dass stö- Und natürlich machen auch differentialdiagnostische Überle- rungsspezifisches Wissen hilfreich sein kann im Prozess der gungen Sinn. Dass zum Beispiel Zwangsrituale Lösungsversu- Psychotherapie. Wir glauben auch, dass Diagnosen nicht per che für Ängste sein können und deshalb chronifizieren, weil sie se gut oder schlecht sind. Erst durch ihre Anwendung können kurzzeitig zur Reduktion der Angst5 führen, aber auch zur ver- sie Schaden zufügen oder auch hilfreich sein. Allzu großer Re- meintlichen Kontrolle wahnhafter Vorstellungen6 oder zum Ab- spekt vor Diagnosen und ihren Manualen ist fehl am Platz. Man bau von Spannungen7 dienen können. Das therapeutische Vor- erinnere sich nur an die geringe Reliabilität und Validität des gehen wird sich unterscheiden, abhängig davon, wofür die ICD oder des DSM oder an die extremen Unterschiedlichkeiten Rituale ursprünglich oder aktuell die versuchten Lösungen dar- verschiedener Diagnosen in verschiedenen Ländern/Kulturen. stellen. Dass Panikattacken hoch mit Überlastungssituationen Es handelt sich um Listen mit Namen, dazugehörigen Beschrei- korrelieren und daher auch mit Burnout, hilft uns, über die The- bungen und eventuell auch Erklärungskonstruktionen. Natür- rapie des Symptoms hinauszuschauen und KlientInnen auch lich sind die Namen oft mit Bildern verbunden – sowohl in uns bei der Veränderung überlastender Lebensumstände zu unter- TherapeutInnen als auch bei KlientInnen. Deshalb ist sorgfältig stützen, und kann Therapie somit nachhaltiger machen. Und und verantwortungsvoll damit umzugehen, wie mit Sprache über Zusammenhänge zwischen Depression oder Paranoia insgesamt. Scheu aber ist nicht angebracht. Vielleicht wollte und Schwerhörigkeit Bescheid zu wissen, kann die Wahl thera- uns Tom Levold auch in diese Richtung motivieren, als er in peutischer Mittel durchaus beeinflussen. Gerade diese diffe- seinem Eröffnungsvortrag am Kongress in Heidelberg das rentialdiagnostischen Beispiele sind schöne Beispiele für die Publikum an ein Zitat Karl Menningers aus dem Jahr 1958 erin- zuvor diskutierte systemische Idee eines „Knowing through nerte: „Namen bezeichnen keine Krankheitsformen, sie beruhi- changing“, bei dem Diagnosen nicht am Beginn eines Thera- gen nur die Ärzte und beeindrucken die Verwandten.“ Wir erin- pieprozesses stehen, sondern irgendwo dazwischen oder so- nern uns diesbezüglich besonders gerne an Aussagen von gar erst am Ende. Simon (1990, 2012) oder Cecchin et al. (1993), die uns neben einem 100-prozentigen Respekt vor unseren KlientInnen und Und dass wir uns der Diagnosen-Frage nicht entziehen können, ihren Leidenszuständen wenig bis kaum Respekt vor Diagno- zeigt auch die Beobachtung, dass immer mehr KlientInnen be- sen gelehrt haben. reits mit Diagnosen ins Erstgespräch kommen – nicht aus ir- gendeinem Diagnosemanual oder aus einem Befund, sondern Es wäre außerdem naiv anzunehmen, KlientInnen machen sich aus dem Internet oder sozialen Netzwerken. Aus einer vielleicht kein Bild von uns. Manche dieser Bilder haben vielleicht sogar Namen – eventuell auch mit Beschreibungen und dazu passen- den Erklärungen. Wer weiß, vielleicht sind sogar Diagnosen 5) Z. B. Waschzwang 6) Ein Klient von mir musste in regelmäßigen Abständen am „handy“ einen „code“ dabei? eingeben, um die Verbindung zum chinesischen Geheimdienst zu unterbrechen. 7) Z. B. Ritzen, Haut aufkratzen
74 systeme 2018, Jg. 32 (1): 61-89 S. Geyerhofer, M. Ritsch, C. Thoma, Systemische Haltung und störungsspezifisches Wissen 75 Zudem birgt die Fokussierung auf ein Element eines kyberne Verunsicherung dem eigenen Wissen gegenüber tischen Prozesses die Gefahr, den einzelnen Systembestand Eine zweite Nebenwirkung aus der Vermischung der Erklä- teilen Macht und Eigenschaften zuzuschreiben, die sie nicht rungsebenen scheint die Verunsicherung Systemischer Thera- besitzen. peutInnen bezüglich ihres bereits vorhandenen Fachwissens und ihrer klinischen Erfahrung zu sein. Sollte das auf einmal Begreift man Klientensysteme als autopoietische Systeme, so alles nichts mehr wert sein? War es uns mehr hinderlich als können im Therapiekontext TherapeutInnen zu KlientInnen nur nutzbringend? Sollten wir so „tun, als ob“ wir nichts wussten eine Umwelt darstellen, nachdem sich Klient/in und Thera - oder sollten wir auf einmal wirklich nichts mehr wissen? Eine peut/in „strukturell gekoppelt“ haben. Er/sie ist aber nicht radikale Ablehnung von Diagnosen und störungsspezifischem ohne Einfluss auf ihn/sie – und umgekehrt. Und diesen Einfluss Wissen ist für KollegInnen in den meisten Kliniken kaum mach- gilt es, nutzbringend im Sinne des vereinbarten Therapiezieles bar, erschwert auch für andere die Kooperation mit Zuweise einzusetzen. D. h., der relevante Fokus gemäß Systemtheorie rInnen und Kostenträgern. Lieb (2014) zeigt in einem netten und den Annahmen der Kybernetik 2. Ordnung wäre weder Beispiel auf, wie diese Ankoppelungsprobleme auch die Arbeit der/die Therapeut/in noch der/die Klient/in mit seinen/ihren mit KlientInnen erschweren können. Möglichkeiten/Nicht-Möglichkeiten, sondern die Beziehung zwischen beiden. Der Beziehungsgestaltung durch Therapeu- Systemische Aber sind wir hier nicht schon wieder in einem Entweder-oder tInnen kommt so zentrale Bedeutung zu. Heinz von Foersters TherapeutInnen verstrickt? Ein Ausweg scheint so einfach: Systemische Thera- ethischer Imperativ „Handle stets so, dass die Anzahl der wissen nicht, sie peutInnen wissen nicht, sie „nehmen an“. Das „vorhandene Wahlmöglichkeiten größer wird!“, ist somit eine Aufforderung „nehmen an“ Wissen“ dient zunächst uns TherapeutInnen, um allgemeine zur Varianz in der Beziehungsgestaltung durch uns Therapeu- und spezielle Annahmen in Form von Hypothesen für uns und tInnen. Einzelne Positionen, wie etwa jene des „Nichtwissens“, den Therapiekontext zu formulieren und auf Brauchbarkeit – sind ebenso wie bestimmte Interventionstechniken zwar a pri- nicht auf Gültigkeit im Sinne von Wahrheit – zu überprüfen. ori weder „falsch“ noch „richtig“ noch „gut“ noch „böse“, sie stellen jedoch entlang des Spektrums der Möglichkeiten nur Wir generieren Fragen aus unseren Hypothesen, entwickeln jeweils eine von vielen therapeutischen Umwelt parametern vielleicht sogar Interventionen. Wir überprüfen sie im laufen- dar! Therapeutisches Handeln verlangt also Flexibilität. In die- den Prozess des Arbeitens und verwerfen sie als unpassende sem Sinne wären klinische Erkenntnisse und Modellbildungen Konstrukte, wenn sie uns nicht weiterhelfen. Solange sie uns lediglich als Angebot für Varianz zu verstehen. und damit den KlientInnen helfen, warum ihnen nicht ein Stück weit folgen? Und natürlich kommen unsere Hypothesen nicht Unter dieser Prämisse wären TherapeutInnen als „Beobachte- einfach aus dem Nichts oder basieren auf purer Intuition, son- rInnen“ gemäß Kybernetik 2 nicht als passive „beteiligte Beob- dern aus Erfahrungen aus vergangenen Therapien, aus Fortbil- achterInnen“ im ursprünglichen Wortsinn zu verstehen, son- dungen, Büchern, Artikeln, aus Gesprächen mit KollegInnen im dern als „flexibel und variant Handelnde“, als sich stets Rahmen von Supervision und Intervision. Und was war auf ein- verändernde Umwelt, als variantes „Rauschen“, aus dem die mal mit all den Interventionen, die wir gelernt hatten? Sie soll- KlientInnen ihre jeweilige eigene Realität erzeugen – um eine ten nutzlos sein, weil man doch ein sich selbstorganisierendes Metapher von Heinz von Foerster zu verwenden. System eh nicht verändern konnte? Wie wir aus der Psychologie wissen, verliert ein invarianter Diese Argumentation hat auch auf metatheoretischer Ebene Dauerreiz mit der Zeit seinen Reizcharakter. Zur Erzeugung von die Struktur eines Paradoxons: Therapie also als Versuch, das Erstmaligkeit, eines „Unterschieds, der einen Unterschied Unmögliche herzustellen – entlang einer Annahme, dass dies macht“, ist also von Seiten der TherapeutInnen ein permanen- nicht möglich sei! Man könnte in Anlehnung an Seligman et- ter Anpassungsprozess an die Wirklichkeitsbildung der Klien- was polemisch von „selbstauferlegter Hilflosigkeit“ sprechen. tInnen und gleichzeitig ein permanenter Unterscheidungs
76 systeme 2018, Jg. 32 (1): 61-89 S. Geyerhofer, M. Ritsch, C. Thoma, Systemische Haltung und störungsspezifisches Wissen 77 prozess zur Ermöglichung von Erstmaligkeit, abseits von Einschränkung therapeutischer Möglichkeiten reduktionistischen, selbstbeschränkenden Beschreibungen, notwendig. Um einen Unterschied zu kreieren, könnten wir in Mit der „Kybernetik 2“ entwickelte sich eine gewisse Interventi- diesem Zusammenhang von einer „Kybernetik pi“ sprechen. onsfeindlichkeit. Sogar die Begriffe „Intervention“, „Abschluss intervention“ oder die Verwendung von „Hausaufgaben“ beka- Die kritische Einstellung störungsspezifischen Wissens gegen- men einen negativen Beigeschmack, waren auf einmal „out“, über hatte starke Konsequenzen im Ausbildungskontext. Für wenig sinnvoll und nutzbringend und wurden mancherorts im erfahrene TherapeutInnen war das natürlich wesentlich leich- deutschsprachigen Raum zu systemischen „Unwörtern“ de- ter, klinische Modelle in Frage zu stellen, sie aber trotzdem im klassiert. Die Folgen dieser Verunsicherung auf der Ebene Hinterkopf zu behalten. Angehende TherapeutInnen hingegen therapeutischen Tuns waren nicht zu übersehen. Systemische haben diesen Verzicht als Mangel erlebt. In zahlreichen Lehrthe- TherapeutInnen begannen sich in ihren Möglichkeiten einzu- rapie- oder Supervisionsstunden wurde deutlich, wie verunsi- schränken. Statt ihre Mittel zu erweitern, verabschiedeten sie chert sie viele Ausbildungsstunden erlebten, weil ihnen kon- sich von jenen Fragetechniken und therapeutischen Methoden, krete klinische Erklärungsmodelle gefehlt haben oder alte, die die auf einmal nicht mehr theoriekonform oder in diesem Fall sie z. B. aus dem Psychologiestudium mitgenommen und in eigentlich „epistemologiekonform“ waren. Bei der Auswahl der ihrer bisherigen Praxis erprobt hatten, auf einmal in Frage stan- Methoden schien nicht entscheidend, wie effizient diese waren, den, ohne aber eine systemische Alternative angeboten zu be- wie sehr sie mit klinischen Erklärungsmodellen konform gin- kommen. Das hat in vielen Fällen zu einem Vertrauensverlust gen, sondern eher ob sie einen Hauch von Ungleichheit in der gegenüber Ausbildungsinstitutionen geführt. Verantwortungsaufteilung zwischen TherapeutIn und KlientIn andeuteten, Ausdruck von ExpertInnentum und daraus direkt Wir können Wissen Ein Vorteil dieser kritischen Haltung jeden Störungswissens abgeleiteter Machbarkeit von Veränderung waren oder Macht- nutzen, ohne dabei gegenüber war nicht unbedeutend. Wir mussten keine klini- verhältnisse und Hierarchie im Therapieraum unterstützten. jene Haltung zu schen Fachbücher mehr schreiben, ja nicht einmal mehr lesen verlassen, die uns und konnten die Weiterentwicklung störungsspezifischer Mo- Warum diese Reduktion in unseren therapeutischen Mitteln? eigen ist – die der delle der Medizin und anderen Therapieschulen überlassen. Sie waren doch über viele Jahre erfolgreich gewesen? Wurden neugierig Unwis- Nach dem Motto: Wenn es eh nur hinderlich ist, warum darü- sie hintangestellt, weil sie nicht mehr effizient oder weil sie, wie senden ber nachdenken, darüber schreiben oder es gar beforschen? oben vermutet, nicht „epistemologiekonform“ waren? Dabei Immerhin sind es ja alles nur Konstrukte. Inwieweit diese Kon- wollen unsere KlientInnen eines mit großer Sicherheit: Thera- strukte auch hilfreich sein können, wurde nicht mehr diskutiert peutInnen, denen ein möglichst großer, mit klinischen Erklä- – oder nur mehr unter vorgehaltener Hand. Was blieb, war die rungsmodellen konformer Handlungsspielraum zur Verfügung Verunsicherung bei jenen KollegInnen, die das Gefühl hatten steht. Und dass umso mehr als wir als TherapeutInnen in der oder in ihrer bisherigen Laufbahn auch die Erfahrung gemacht Beziehung mit unseren KlientInnen doch die Verantwortung hatten, man kann dieses Wissen nutzbringend in Therapien über die Mittel der Therapie tragen. einbringen oder sogar mit ausreichendem Wissen bestimmte Fehler vermeiden. Wie es Borst (2003) schon formuliert hat: In extremen Ausprägungen schien sich Systemische Therapie In extremen Aus- Vielleicht ist die Frage nicht, „ob schon“ oder „ob nicht“, son- fast schon auf bloße Haltung zu reduzieren. Jede Frage, die prägungen schien dern „wie viel“ an störungsspezifischem Wissen wir auch in eine Einflussnahme auf das KlientInnensystem implizierte, sich Systemische der Systemischen Therapie brauchen können und wie wir es wurde als interventionistisch oder manipulativ erkannt. Man- Therapie fast schon dann zum Nutzen unserer KlientInnen zur Anwendung bringen che von uns wurden an Watzlawick et al. (1969) erinnert, die auf bloße Haltung können. Wir können dieses Wissen haben und nutzen, ohne uns in den Gründungszeiten der Systemischen Therapie schon zu reduzieren dabei jene Haltung zu verlassen, die uns eigen ist – die der neu- aufgezeigt hatten, dass es ganz und gar unmöglich sei, nicht zu gierig Unwissenden. beeinflussen, wenn zwei Menschen in Interaktion treten. Dass diese Einflussnahme eine wechselseitige ist (vergleiche Geyer-
78 systeme 2018, Jg. 32 (1): 61-89 S. Geyerhofer, M. Ritsch, C. Thoma, Systemische Haltung und störungsspezifisches Wissen 79 hofer und Komori 1999, 2004, 2005) und dass KlientInnen gar der jeweiligen Fachrichtung – die Vertrauenswürdigkeit von „Nichtwissen“ als nicht selten sogar mit der Erwartung in Therapie kommen, bei TherapeutInnen ist. Sie ist auch nach Hubble, Duncan und Intervention und erwünschten Veränderungen unterstützt und damit explizit be- Miller (2000, 2001) zentrales Element jenes Wirkfaktors, den sie nicht als kognitiver einflusst zu werden, schien vergessen zu sein. Sie kommen als „therapeutische Beziehung“ zusammenfassen. Wenn ich Zustand auch, weil sie diese Veränderungen nicht alleine schaffen konn- KlientInnen nicht vermitteln kann, dass ich ihnen mit meinen ten. Wir ließen KlientInnen mit diesen berechtigten Erwartun- Mitteln helfen kann, wird mein Erfolg in der Therapie sicherlich gen oft alleine, wenn sie uns am Ende einer Stunde um Rat- geringer sein. Auch hier könnte uns ein ausgeprägtes Entwe- schläge baten. So als wäre es verboten, jemandem direkt zu der-oder-Denken in die falsche Richtung lenken: wenn ich als sagen, was sie/er machen soll – auch wenn sie/er es gerne hö- Therapeut/in nicht auch Experte/in sein darf, muss ich eine ren würde und vielleicht gerade deshalb zu einem/r Experten/in konsequente Haltung des Nichtwissens einnehmen. Damit ver- gekommen war. „So wie jemand nicht nicht kommunizieren wechseln wir, wie oben beschrieben, eine systemische Grund- kann, können wir auch nicht nicht beeinflussen. Beeinflussung haltung mit dem kognitiven Zustand der Hilflosigkeit oder der wohnt jeder menschlichen Kommunikation inne“, schreibt Konfusion. Weakland (1995). „Unabweichlich beeinflussen wir unsere Kli- entInnen, unabweichlich beeinflussen sie uns. Die einzige Und warum auch diese Scheu und dieses Herumdrücken? Na- Wahlmöglichkeit, die uns bleibt, ist, es unreflektiert oder sogar türlich wissen unsere KlientInnen über ganz vieles Bescheid, mit versuchter Leugnung zu tun oder bewusst und mit Verant- einschließlich ihrer Lösungen. Natürlich kennen sie ihr Prob- wortung“ (Weakland 1995). lem besser als alle anderen. Natürlich haben sie Ressourcen, die es gilt zu nutzen. Aber wenn wir auf Grund unserer Erfah- rung, unserer Aus- und Weiterbildung, unserer Überlegungen Die Mittel und die Zwecke in der Systemischen Therapie nicht wirklich einen Wissensvorsprung und eine Expertise über Zur Frage des „Nichtwissens“ schreibt Niel-Dolzer (2008) treff- das Zustandekommen, die Aufrechterhaltung und die Redukti- lich: „Wir werden nicht versuchen, es besser zu wissen als un- on von Leidenszuständen haben, sollten wir dann nicht, so wie sere KlientInnen, aber wir brauchen dazu nicht unwissender zu es Kaimer (1990) in seinem Schlusssatz fordert, „konsequenter sein als sie“. „Es macht einen Unterschied, ob ich ,nichts weiß‘, Weise aufhören für diese Arbeit Geld zu nehmen, aufhören uns oder ob ich auf Grundlage von langjähriger, theoretischer Aus- TherapeutInnen oder BeraterInnen zu nennen, aufhören in einandersetzung und praktischen Lernprozessen so tue, als ob Fachzeitschriften Artikel zu schreiben?“ Ein Eingestehen dieses ich nichts wüsste“. „Nichtwissen“ bleibt damit eine Haltung, Wissens und dieses ExpertInnentums verhindert ein Abdriften eine Intervention und wird nicht zum kognitiven Zustand der in Beliebigkeit und erleichtert uns auch die Verantwortungsauf- TherapeutInnen (Niel-Dolzer 2008). Den „Eiertanz“ rund um teilung im Prozess einer Psychotherapie. Denn während „die dieses ExpertInnenwissen kennt Kaimer (1990) auch von sich KlientInnen die Zwecke der Behandlung bestimmen, sind wir selbst. „Ich glaube etwas zu wissen, glaube aber, nicht glau- TherapeutInnen die ExpertInnen in den Mitteln, diese zu errei- ben zu dürfen, dass dieses Wissen besser oder nützlicher ist, chen“ (Weakland 1995). als das Wissen anderer. Das geht in Fachzeitschriften oder mit KollegInnen noch gerade mal gut. Mit StudentInnen, Super Vakuum hat Tendenzen sich zu füllen … visandInnen und KlientInnen muss das zu widersprüchlichen Botschaften (und damit möglicherweise zu ,double binds‘) Der stattgefundene Verzicht auf die Entwicklung oder Weiter- führen.“ Er schlägt vor, „sich ruhig offen zu unserer Erfahrung entwicklung eigener klinischer Modelle hat ein Vakuum er- und unseren Fähigkeiten zu bekennen, um so auch angreifba- zeugt, das sich an so mancher Stelle systemischer Entwick- rer und kritisierbarer zu werden“ (Kaimer 1990). lungsgeschichte von selbst wieder gefüllt hat. Teilbereiche der Systemischen Therapie haben sich mehr und mehr verselbst- Dabei sollten wir auch nicht übersehen, dass ein wesentlicher ständigt und treten als eigenständige Ansätze auf. Denken wir Wirkungsfaktor im therapeutischen Arbeiten – unabhängig von an die Institutionalisierung der Aufstellungsarbeit, an trauma-
80 systeme 2018, Jg. 32 (1): 61-89 S. Geyerhofer, M. Ritsch, C. Thoma, Systemische Haltung und störungsspezifisches Wissen 81 therapeutische Ansätze, narrative oder „kooperative“ Ansätze, Forschung auf. Die Theorien und Annahmen aus der Neurobio- die Arbeit mit Teilen und die Entwicklung der hypnosystemi- logie werden leichtfertig ohne Prüfung übernommen. Da schen Ansätze in der Therapie. Dabei könnten all diese Metho- scheint ein starkes Bedürfnis nach Rechtfertigung eigener An- den oder Richtungen einen integrativen Bestandteil einer Sys- nahmen im Spiel zu sein. Fast scheint es, als ob ein neuer „Bio- temischen Therapie bilden. In der individuellen Praxis muss logismus“ durch die Hintertür eingeführt werden soll. jede/r interessierte PsychotherapeutIn diese Integrationsleis- tung derzeit selber leisten. Jede Theorie ist gewissermaßen eine Konstruktion und extrem Eine Theorie sollte formuliert auch eine Art Selbsttäuschung oder Selbstbetrug, so gebaut sein, dass Möglicherweise liegt der Grund für eine solche Zersplitterung ein notwendiger Betrug, um bestimmte Annahmen machen zu sie durch Erfahrung in der fehlenden Stütze, die ein klinisches Modell auf einer können. Dabei sollte aus einer wissenschaftlichen Herange- verändert oder kor- sicheren erkenntnistheoretischen Grundlage bieten könnte. hensweise eine Theorie so gebaut sein, dass sie durch Erfah- rigiert werden kann Die Erkenntnistheorie soll mir als Wissenschaftler eine sichere rung verändert oder korrigiert werden kann. Bei vielen neuro- Basis bieten, um Forschung zu betreiben. Eine gute klinische biologischen Annahmen können wir diese Möglichkeit noch Theorie hat den Vorteil, Sicherheit im alltäglichen therapeuti- nicht entdecken. schen Handeln zu erleben. Die Erkenntnisse aus der Forschung bieten die Grundlage für ein professionelles Arbeiten in der Man ist fast erinnert an die Rezeption der Freud‘schen Theorien Praxis. Die Erkenntnistheorie für sich allein kann dies nicht leis- in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie von Ritsch (1991) ten, sonst müsste auch jede/r Psychotherapeut/in konsequen- beschrieben, waren die neuen Annahmen von Freud damals so terweise ein philosophisches Grundstudium absolvieren, um reizvoll, dass man sie vorerst total abgelehnt, dann aber meist diese sichere Basis zu erhalten. Der Konstruktivismus oder ein doch alle sehr unkritisch übernommen hatte. Ludwig Wittgen- kybernetisches Denken können diese Stütze nicht bieten, ein stein (1984) hat dazu treffend bemerkt: „Freud hat uns durch sicheres Auftreten gegenüber KlientInnen zu erreichen. Es ist seine phantastischen Pseudo-Erklärungen, gerade weil sie auch nicht ihre Aufgabe! Sie sollen Erkenntnisgewinn erklären geistreich sind, einen schlimmen Dienst erwiesen. Jeder Esel – und sind keine klinischen Erklärungsmodelle. Mit dem Verlust hat diese Bilder nun zur Hand, mit ihrer Hilfe Krankheitserschei- oder durch den Verzicht auf klinische Modelle ist für viele The- nungen zu ,erklären‘.“ Dabei möchten wir gar nicht die grundle- rapeutInnen eine wichtige Stütze weggefallen. genden Errungenschaften der Freud‘schen Theorien in Frage stellen. Viele seiner „reizvollen“, aber mittlerweile überkom- Aus diesem Defizit heraus hat der Verzicht auf klinische Mo menen Annahmen jedoch spuken noch immer in den Köpfen delle wahrscheinlich sogar dazu beigetragen, die systemische nicht nur analytischer TherapeutInnen herum. Grundhaltung ins Wackeln zu bringen. Denken wir an den eso- terischen Boom in der psychotherapeutischen Szene, an zuge- Und ähnlich scheint jetzt die Rezeption neurobiologischer geben oft reizvollen, fast mythischen Zugängen zur Realitätser- Theorien zu funktionieren. Aber welchen Preis müssen wir klärung. Denken wir an den enormen Zuspruch, den Hellingers möglicherweise dafür zahlen? Geben wir nicht viel von den Er- Art der Aufstellungsarbeit in unserer Szene (vor allem oder fast rungenschaften jahrelanger psychotherapeutischer Arbeit und ausschließlich im deutschsprachigen Raum) hatte und der Erkenntnis auf? Werden dadurch nicht zentrale systemische nicht nur frei von jeder wissenschaftlichen systemischen Theo Annahmen über Störungsdynamiken, die Möglichkeit der Ver- riebildung, sondern auch fern ab unserer systemischen Hal- änderung von Beziehungsdynamiken im familiären Bereich tung war. Oder aktuell das Auftauchen einer neuen „wissen- oder anderen relevanten Systemen relativiert? Nehmen wir da schaftlichen Religion“, der Neurobiologie. Plötzlich taucht an nicht auch viel zurück, von dem was uns als eine sichere Grund- allen Ecken und Enden neurobiologisches Wissen auf, um psy- lage in der psychotherapeutischen Praxis bisher hilfreich war? chotherapeutische Annahmen, systemisches Denken, Empa- Derzeit scheint die Neurobiologie die wesentlichen Annahmen thie usw. biologisch zu erklären. Dabei fällt vor allem der unkri- wie die zentrale Funktion von Empathie, aber auch ethische tische Umgang mit Ergebnissen aus der neurobiologischen Grundhaltungen der Achtsamkeit und des gegenseitigen Res-
82 systeme 2018, Jg. 32 (1): 61-89 S. Geyerhofer, M. Ritsch, C. Thoma, Systemische Haltung und störungsspezifisches Wissen 83 pekts zu unterstützen. Wären diese Theorien aber nicht genau- TherapeutInnen, in die Beziehung zu KlientInnen, oder Einfluss so verwendbar für Annahmen, die unseren Grundhaltungen nehmen auf das Ergebnis der Therapie (Lieb 2011, 2015). und moralischem Denken konträr wären? Diese Einschätzung belegen auch Beobachtungen aus dem Konsequent Uns erscheint hingegen jenes Wissen wesentlich sicherer und englischen Sprachraum. Dort hat die kritische Auseinanderset- systemisch, streng sinnvoller, das aus der direkten therapeutischen Tätigkeit und zung mit der „Kybernetik 2“ bereits vor vielen Jahren stattge- methodisch nah der Lösung von Problemen gewonnen werden kann: konse- funden. Family Process zum Beispiel widmet sich seit Langem am therapeutischen quent systemisch, streng methodisch nah am therapeutischen wieder mehr der Weiterentwicklung und auch Beforschung Geschehen Geschehen. störungsspezifischen Wissens und klinischer Erklärungsmo- delle sowie der Implikation dessen auf die therapeutische Handlungsebene. Eine Motivation dafür war die ausstehende Systemische Therapie und Psychiatrie – die Frage der Integration systemischer Therapiekonzepte in die Kinder- und Anschlussfähigkeit Jugendlichenpsychiatrie sowie in zunehmendem Maße auch in Ein weiterer „Vorteil“ dieser kritischen Haltung gegen jegliches die Erwachsenenpsychiatrie. Wir wollen damit zwei Dinge nicht Störungswissen war die Möglichkeit, damit die bereits zu Grün- sagen: Erstens, dass eine kritische Haltung der traditionellen dungszeiten der Systemischen Therapie begonnene Opposi Psychiatrie gegenüber fehl am Platz ist. Im Gegenteil. Auch tion zur traditionellen Psychiatrie weiterzuführen und ange- dort ist noch ein langer Weg zu gehen. Und zweitens, dass bei sammeltem Fachwissen aus diesem Gebiet mit kritischer uns gar nichts passiert sei. Das Gegenteil ist der Fall. Gerade Ablehnung entgegenzutreten. Dabei hat sich die Systemische aus dem Bereich Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie ist die Therapie weltweit, und auch im deutschsprachigen Raum, be- Systemische Therapie (Ausnahmen gibt es auch in Österreich) Radikale Ablehnung reits in eben jenem Feld zu etablieren begonnen. Eine radikale heute nicht mehr wegzudenken. Immer wieder werden auch in allen klinischen Ablehnung allen klinischen Fachwissens wie zur Blütezeit der der Erwachsenenpsychiatrie ganze Programme, Stationen, so- Fachwissens, ver- „Kybernetik 2“ war für die Integration wenig förderlich, son- gar Kliniken – Psychiatrische Rehabilitations- ebenso wie Akut- schärfte die Isolati- dern verschärfte eher die Isolation Systemischer TherapeutIn- kliniken – von SystemikerInnen mitgestaltet und „umgebaut“. on systemischer nen im Gesundheitswesen. Wir waren und sind damit kaum Die systemische Wühlmaus, wie Harry Merl (1997), der früher TherapeutInnen im anschlussfähig. In seiner Leitunterscheidung zwischen Syste- eine systemische Station auf der Erwachsenenpsychiatrie in Gesundheitswesen mischer Therapie und Gesundheitswesen spricht sich auch Linz leitete, unsere Einflussnahme im System Psychiatrie ein- Lieb (2015) für eine Ankoppelung aus und weist auf die Not- mal nannte, ist aktiv. Natürlich wird sie dort besonders erfolg- wendigkeit von systemischen Konzepten für Krankheit, Stö reich sein, wo ihr von der Leitung Wohlwollen und Platz zuer- rungen, Symptome im Allgemeinen, aber auch für spezifische kannt wird. Aber Hans Liebs Hoffnung (Lieb 2015) und die Störungsbilder hin. Beobachtungen von Jochen Schweitzers Forschungsgruppe (Haun et al. 2012), dass sich Teile des Gesundheitssystems Unsere Befürchtung ist, dass wir uns mit so mancher extre- durch die Begegnung mit Systemischer Therapie verändern, men, erkenntnistheoretischen Position die Chance auf wech- können wir aus österreichischen Beobachtungen bestätigen. selseitige Anerkennung und ein Voneinander-Lernen erschwert haben. Hans Lieb (2011, 2014, 2015) sieht diese Chance auch, Erst vor wenigen Monaten haben wir das Konzept für die sys wenn er vom „Wirkfaktor Kontextsensibilität“ schreibt. Wir ha- temische Neuausrichtung eines der größten psychiatrischen ben als SystemikerInnen einen „fast angeborenen“ Blick auf Krankenhäuser Österreichs und der angeschlossenen Rehabili- Kontextfaktoren. Das kann helfen mit einem kritischen Blick auf tations-Klinik erhalten. Für solche Projekte müssen wir uns jene Umweltfaktoren im Gesundheitssystem zu achten, die wir aber anschlussfähig machen und uns von ein paar radikalen oft allzu schnell übernehmen, jene Konstrukte, Erwartungen Metapositionen distanzieren. Das Entweder-oder, das sich auf aus der Welt des Gesundheitssystems, die in das aktuelle erkenntnistheoretischer Ebene in einigen Punkten aufzeigt, Geschehen in der Therapie hineinspielen – in die Köpfe der verhindert so ein gutes Sowohl-als-auch auf Ebene klinischer
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