Tinnitus - als Störung der glutamatergen Transmission im Innenohr
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REFERAT Apotheker Jens Bielenberg Tinnitus - als Störung der glutamatergen Transmission im Innenohr Neue Therapieansätze auf der Basis von Glutamatantagonisten Durch den Fortschritt des Verständnisses des physiologischen Hörvorgangs konnten in den letzten Jahren rationale Therapiegrundlagen bei Tinnitus erarbeitet werden. Die therapeutische Polypragmasie der vergangenen Jahre ist heute durch ein Stufenkonzept zu ersetzen: Eingesetzt werden Rheologika, neuronale Transmittersubstanzen und Membranstabilisatoren. Tinnitus ist keine Krankheit, sondern ein Symptom, hinter dem sich verschiedene Ursachen EIN REFERAT verbergen können. AUS DER PHARMAZEUTISCHEN Ca. 15% der Bevölkerung weisen zum Teil intermittie- tionsstörung im Hörsystem und können vielfäl-tige WISSENSCHAFT rend Ohrgeräusche auf. 8% leiden unter einem ständig Ursachen haben, wie aus Tab.1 zu entnehmen ist. Tin- vorhandenem Ohrgeräusch. Etwa 0,5% der Bevölke- nitus ist eine Ton- oder Geräuschsensation ohne rung ist durch Tinnitus erwerbs- und berufsunfähig. ersichtliche äußere Schallquelle. Objektive Ohrgeräu- Sekundäre Krankheitsfolgen wie Schlaflosigkeit, sche, bei denen das normal funktionierende Ohrgeräu- Angstzustände und Depressionen mit Suizid kenn- sche wahrnimmt, die tatsächlich pathologischerweise zeichnen den Circulus vitiosus. Im Vordergrund stehen vorhanden sind, lassen sich nur beseitigen, indem die beim akuten Tinnitus durchblutungsfördernde Maßnah- zugrunde liegende Krankheit behandelt wird (z.B. Blut- men, während beim chronischen Tinnitus Calciumanta- hochdruck oder Arteriosklerose, Medikamente oder gonisten, Antiarrhymika, Antikonvulsiva und Antide- arterielle Stenosen nach Erkrankungen). Subjektive pressiva angewendet werden. So können 83% der Ohrgeräusche, die bisher objektiv nicht registrierbar akut sowie 23% der chronisch von Tinnitus Betroffe- sind, können durch Mittelohrerkrankungen hervorgeru- nen geheilt bzw. die Symptomatik verbessert werden. fen werden (z.B. Tubenmittelohrkatarrh), sind jedoch Daher wandelt sich der Tinnitus heutzutage von der häufig Folge einer Innenohrerkrankung (z.B. Knalltrau- „Crux medicorum“ zum rational analysier- und behan- ma, Hörsturz) oder einer Funktionsstörung der Hörner- delbaren Problem. In jüngster Zeit häufen sich Berichte ven. in der internationalen medizinischen Literatur, dass der im Zentralnervensystem weit verbreitete Neurotrans- Allgemeine Grundlagen mitter Glutamat an der Pathogenese des Tinnitus Pathophysiologie der Ohrgeräusche beteiligt ist. Die zunehmenden klinischen Erfolge mit Objektive Ohrgeräusche können vaskuläre oder selektiven Glutamatantagonisten in der Tinnitusthera- muskuläre Ursachen haben. Im Bereich des Mitteloh- pie bestätigen die diesen Therapiekonzepten zugrunde res sind es insbesondere Spasmen und unwillkürliche liegenden Arbeitshypothesen. Der folgende Artikel ver- Kontraktionen von Muskulus tensor tympani und sta- mittelt Grundlagen über die Pathogenese des Tinnitus pedius. Die Tubenöffnungsmuskulatur im Bereich des und versucht Störungen des Glutamatstoffwechsels als Gaumen kann durch Myoklonien zu ähnlich klickenden potentielle Auslöser zu demaskieren. Tinnitus, ausge- Geräuschen führen. Ursachen sind meist extrapyrami- löst durch Arzneimittel, liefert interessante Anhalts- dal-motorische Störungen bei verschiedenen neurolo- punkte, dieser „Volkskrankheit“ auf die Spur zu kom- gischen Erkrankungen, zum Beispiel bei postencephali- men. tischen Zuständen und bei Psychopharmakaabusus. Die Geräusche haben meist klickenden, seltener rum- Einleitung pelnden Charakter (1). Zischende Geräusche sind oft- Ohrgeräusche stellen eines der häufigsten Krankheits- mals vaskulärer Genese, bedingt durch Gefäßanoma- symptome überhaupt dar. Sie sind Zeichen einer Funk- lien, arteriosklerotische Veränderungen der Arteria 8
Tinnitus carotis interna, arteriovenöse genannte Leckströme auftreten. Fisteln, Glomustumoren des Mittel- Diese Leckströme setzen ständig ● Hörsturz ohres, sowie Abflussstörungen des Transmitter frei und erzeugen damit ● Morbus Ménière zerebralen Sinus. Atemsynchrone Aktionspotenziale, wie Tab. 1 ver- ● Akutes Lärmtrauma Ohrgeräusche kommen bei klaffen- anschaulicht (2). ● Lärmschwerhörigkeit der Tube vor, da respiratorische Abb. 2 zeigt, wie die peripheren ● Altersschwerhörigkeit Strömungsphänomene über die Tinnitusmechanismen im Bereich ● Hereditäre sensorineurale Schwerhörigkeit Tube in das Mittelohr übertragen der zentralen Hörbahn zu kreisen- (vererbte Schwerhörigkeit) werden. Den meisten Hörstörungen den elektrischen Erregungen füh- ● Schädelhirntrauma mit/ohne Felsenbeinfraktur liegen Fehlfunktionen äußerer ren, deren repetetive Aktivität ● Akustikusneurinom (gutartiger Tumor der Haarzellen zugrunde. Aufgrund einen Kreisprozess bildet, der sich Hör- oder Gleichgewichtsnerven) ihres großen Sauerstoffverbrauchs selbst unterhält. So ist verständ- ● Intoxikationen mit Chinin, Acetylsalicylsäure, sind sie sehr empfindlich gegenü- lich, dass Ohrgeräusche auch nach Diuretika (Furosemid, Etacrynsäure), Aminoglykosid- ber verschiedenen Schädigungsme- Zerstörung des Innenohrs oder antibiotika, Cisplatin chanismen wie ototoxischen Medi- nach Durchtrennung des Hörnervs ● Immunogene Innenohrschwerhörigkeit bei kamenten, Lärm, Alterseinflüssen weiter bestehen. Autoimmunkrankheit und direkter mechanischer Schädi- ● Sensorineurale Schwerhörigkeit unklarer Genese gung. Rezeptorpharmakologische ● Otosklerose Geschädigte Haarzellen können Modelle für die Pathogenese ● Herz-Kreislauf-Krankheiten unkontrollierte Kontraktionen aus- und Therapie des Tinnitus ● Stoffwechselkrankheiten führen und damit die zugehörigen Anfang der 80er Jahre wurde zum ● Nierenkrankheiten inneren Haarzellen stimulieren, ersten Mal die These publiziert, ● ZNS-Krankheiten wodurch Nervenaktionspotenziale dass subjektiver Tinnitus in der ● Degenerative Veränderungen und funktionelle ausgelöst und zum Hirn weiterge- Mehrzahl der Fälle an der Synapse Blockierungen der Halswirbelsäule leitet werden. Innere Haarzellen zwischen inneren Haarzellen (IHC) ● Myoarthropathie des Kiefergelenks können ebenfalls als Tinnitusgene- und afferenten Neuronen generiert rator infrage kommen. Die für die werde (3). Tabelle 1: Mögliche Ursachen subjektiver normale Funktion notwendigen Diese Assoziation drängte sich auf- Ohrgeräusche (Tinnitus aurium) Ionenkanäle können bei pathologi- grund der Kenntnisse der cochleä- schen Zuständen permanent akti- ren Transmission und empirisch viert und offen sein, so dass so gewonnener klinischer Daten auf. ›› EIN REFERAT AUS DER PHARMAZEUTISCHEN WISSENSCHAFT 8 Fax-Formblatt Ihre Anliegen, Kommentare, Anregungen und Fragen sind uns wichtig. Um die Kommunikation zu erleichtern, können Sie das mit dem Apothekenstempel versehene Formblatt an den entsprechenden Gesprächspartner des Herausgeberbeirates faxen. Für jede der vier pharmazeutischen Disziplinen steht Ihnen ein Kollege zur Verfügung. Wir werden unser Bestes tun, Ihnen schnellstmöglich zu antworten. Ihr Anliegen: Apothekenstempel Chemie Biologie Technologie Pharmakologie PD Dr. K.-J. Schleifer PD Dr. C. Passreiter Prof. Dr. C. Leopold PD Dr. G. Kojda Fax: 0211-81-13847 Fax: 0211-81-11923 Fax: 0341-4123007 Fax: 0211-81-14781 Tel. 0211-81-12532 Tel. 0211-81-14172 Tel. 0341-4229745 Tel: 0211-81-12518 Email: kjs@pharm.uni-duesseldorf.de Email: passreit@uni-duesseldorf.de Email: cleopold@uni-leipzig.de Email: kojda@uni-duesseldorf.de
REFERAT Abbildung 1: extrazelluläres Glutamat in die Zelle transportieren. Als Funktionsweise der Haarzellen. zellschädigend gilt ein extrazellulärer Glutamatspiegel Basilarmembran in Ruhe (a); von 2–5 mmol/L. Bei Zellschädigungen gelangt somit Basilarmembran gelenkt (b). viel Glutamat in den Extrazellularraum, wo dann rasch Die Scherbewegung an den toxische Konzentrationen dieser exzizatorischen Ami- Haarzellen mit Ablenkung der nosäure erreicht werden können. Glutamat ist über die Sinneshärchen, der so genann- Interaktion mit Membranrezeptoren an physiologi- ten Stereozilien, führt zur schen Prozessen wie Kognition, Erinnerung, Bewegung Öffnung von Ionenkanälen mit a b und Empfindung beteiligt. Eine Überstimulation der Einstrom von Kaliumionen. Rezeptoren kann zum neuronalen Tod führen. Dies Das dabei aufgebaute Rezeptor- geschieht durch einen bei der Rezeptorstimulation Ablenkung potenzial setzt am unteren K+ ausgelösten massiven Ca-Einstrom. Da dies zu einer Zellende Transmitterquanten in Depolarisation der Zelle führt, werden spannungsab- den synaptischen Spalt frei, Endolymphe hängige Ca-Kanäle aktiviert und so der Einstrom des wodurch in der angekoppelten Ions noch verstärkt. Agonisten wie Glutamat öffnen afferenten Hörnervenfaser ein Perilymphe den für Natrium-Kalium- und Kalzium-Ionen-permea- Depolarisation Aktionspotenzial aufgebaut blen Kanal. Dieser ist bei Ruhepotenzial durch Magne- wird (c) (nach Boenninghaus, 2+ sium verschlossen und kann erst wieder durch Depola- Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde Ca risation der Zelle und gleichzeitiger Bindung von Gluta- für Medizinstudenten, Transmittervesikel mat an der NMDA-Bindungsstelle geöffnet werden. Die Synaptischer Spalt Springer Verlag, Berlin/ Gamma-Aminobuttersäure, ein Metabolit des Glutamat, Heidelberg/New York 1990). Generatorpotenzial der durch Decarboxylierung entsteht, erhöht die Durch- Nervenfaser lässigkeit des Cl-Kanals und wirkt so hyperpolarisie- c Lidocain Die akustische Signalübertragung und Signalkonvertierung an der Synapse zwischen Normal Phase Locking IHC und afferentem Neuron Basilarmembran und äußere Haarzellen des Innenoh- res (OHC) sortieren teils passiv (Basilarmembran), teils Zentral-auditorische Oszillationen kreisende Erregungen EIN REFERAT aktiv (OHC) Frequenzen und Intensitäten der ankom- AUS DER menden Schallwellen und übertragen sie durch vonein- PHARMAZEUTISCHEN ander unterschiedlichen mechanischen Wellen mithilfe WISSENSCHAFT der Tektorialmembran auf die IHC, wie Abb. 3 zeigt. Die Lidocain IHC bauen ein Generatorpotenzial auf, dessen Gleit- und Wechselspannungskomponenten die Schallinten- sität und zum Teil auch die Schallfrequenz widerspie- geln. Das Generatorpotenzial steuert an der Basis der Abbildung 2: Neurales Tinnitusmodell IHC die chemische Neurotransmission. Die in Zeit- und Dargestellt sind afferente Nervenfasern mit ihrer Intensitätsverlauf reizkorreliert von der IHC freigesetz- Ruheaktivität in Form einzelner Aktionspotenziale ten Glutamatmoleküle erregen nach Diffusion in den (II) im Normalzustand und im geschädigten Zustand synaptischen Spalt an der postsynaptischen Membran mit Verlust der stochastischen zeitlichen Abfolge. Die der peripheren Dendriten des primären akustischen abnorme Rhythmisierung (Phase Locking) ohne Neurons spezifische Glutamatrezeptoren, die teils über akustischen Reiz wird von der zentralen Hörbahn als Ionenkanäle (ionotrope Rezeptoren), teils über mem- auditorische Information fehlinterpretiert. Zentral branspezifische Signalproteine (metabotrope Rezepto- manifestiert sich die abnorme neurale Aktivität in ren) die Erregungsfolgen der Nervenfasern auslösen. Form sich selbst erhaltender kreisender Erregungen An der Synapse zwischen IHC und afferentem Neuron (nach 12). Durch Lidocain (Xylocain®) werden erfolgt also die Konvertierung des kontinuierlich aku- beide Formen pathologischer Aktivität passager nor- stisch-analogen akustischen Signals in die Signalspra- malisiert. che des Nervs. L-Glutamat gilt heute als einer der wichtigsten erregen- rend mit dem Korrelat der Erhöhung des Schwellenpo- den Überträgersubstanzen im Zentralnervensystem von tenzials für ein Aktionspotenzial. Es wirkt damit mem- Säugetieren. Aus elektrophysiologischen Untersuchun- branstabilisierend. Interessant ist in diesem Zusam- gen an neokortikalen Hirnschnitten ist bekannt, dass menhang, dass Taurin, ein inhibitorischer Neurotrans- die erregbarkeitssteigernde Wirkung von Glutamat an mitter im ZNS, die Aktivität der Glutamatdecarboxylase Pyramidenzellen auf einer Zunahme der postsynapti- erhöht und damit den Quotienten Glutamat/GABA schen Leitfähigkeit für Kationen (vorwiegend für Natri- reduziert mit dem Korrelat der Senkung exzitatorischer umionen) beruht. Im Gegensatz zu L-Glutamat führt die und der Erhöhung inhibitorischer Äquivalente. Applikation von NMDA (spannungs- und magnesium- abhängig) nicht zu repetetiven, sondern zu „burstarti- Cochleäre Glutamatrezeptoren im afferenten gen“ Entladungen. Die intrazelluläre Konzentration von akustischen Informationsfluss Glutamat beträgt 10 mmol/L, die extrazelluläre Konzen- Man unterscheidet zwei große Gruppen von postsy- tration aber liegt nur bei 0,6 mmol/L. Aufrechterhalten wird diese enorme Konzentrationsdifferenz durch 10 Transportmoleküle, die unter Verbrauch von Energie FORTSETZUNG AUF SEITE 12 ››
REFERAT Abbildung 3: semid. Man nimmt an, dass durch Veränderung des Signalkonvertierung an der IHC Na+ und Ka+ Gehalts die Aufrechterhaltung des Ruhe- Das mechanische Signal enthält kontinuierlich- potenzials der Haarzellen moduliert wird (5). Auch die akustische Information analog andere Sulfonamide sowie die Chinoline Chloroquin kontinuierlich-analog codiert und Mefloquin und Penicillamin lösen Tinnitus aus. (Beispiel Sinuston). Reizkorre- Stress stellt ebenfalls einen Risikofaktor dar. Interes- liert setzt die IHC Glutamat- IHC sant ist auch das L-Tryptophan als Auslöser von Ohrge- Moleküle frei, die unterschiedli- räuschen. Allen diesen auslösenden Faktoren ist eines che Subgruppen von Glutamat- gemeinsam: Sie beeinflussen den Tryptophanstoff- rezeptoren der postsynaptischen wechsel bzw. den Tryptophanabbau als Vitamin B6- Membran der Afferenz (A) Glutamat Antagonisten mit dem Korrelat einer vermehrten Xan- erregen, nämlich die ionotro- thurensäurebiosynthese. Aus dem Tryptophanabbau phen AMPA- und NMDA- AMPA NMDA entsteht das 8-Hydroxychinolin Xanthurensäure. Der GP Rezeptoren und die metabotro- Tryptophanabbau wird durch Cortisol (also Stressfakto- phen Signalproteine (G-Protei- ren) induziert. Auch Tryptophangabe induziert den diskret- Na+ Ca++ ne). Zusammen und einander analog Tryptophanabbau mit dem Korrelat steigender Konzen- modulierend lösen diese Rezeptorsubgruppen durch A tration von Xanthurensäure. Mefloquin und Chloroquin sind ebenso wie Xanthurensäure-Chinoline, die Zink- Membranpolarisation die und Magnesiumionen komplexieren. Penicillamin und elektrophysiologisch ableitbaren, Sulfonamide sind Vitamin-B6-Antagonisten, die den nervalen Signalfolgen aus, die, Tryptophanabbau auf der Stufe der Kynureninase hem- diskret analog codiert, die men und ebenfalls die Xanthurensäurebiosynthese sti- ursprüngliche akustische naptischen Glutamatrezeptoren: mulieren. Mit dem Korrelat einer Xanthurenacidurie. Information zum Zentralner- 1) Ionotrope Glutamat-rezeptoren. Binden sich Gluta- Zink und Magnesium sind als Bestandteile der Pyrido- vensystem fortleiten (nach 3). matrezeptoren an diese Rezeptoren, öffnen sich Kanä- xalphosphatkinase essenziell für den Vitamin-B6-Stoff- le für ein- und zweiwertige Kationen, die aus dem wechsel. Auf die Bedeutung von Zink und Magnesium extrazellulären, synaptischen Milieu in das Zellinnere für die glutamaterge Transmission wird im folgenden strömen. Durch die so genannte AMPA-(α-Amino-3- Text ausführlich eingegangen. Interessant sind diese hydroxy-5-methyl-4-isoxazolpropion-säure) Rezeptor- biochemischen Zusammenhänge in Bezug auf den Glu- Subgruppe, die eine schnelle Depolarisation an den tamat-, Taurin-, Glycin-, GABA- und Homocysteinstoff- meisten glutamatergen Synapsen im Gehirn und Rück- wechsel. Homocystein, dessen exzitatorische Effekte EIN REFERAT enmark vermitteln, strömen vor allem Natrium-Ionen, aufgrund der hohen Affinität zu NMDA-Rezeptoren 12- AUS DER durch die NMDA-Rezeptor-Subgruppe vor allem Cal- mal stärker sind als die des Glutamats, wird unter PHARMAZEUTISCHEN cium-Ionen. AMPA-Rezeptoren öffnen und schließen anderem durch Vitamin-B6-abhängige Enzyme (Cysta- WISSENSCHAFT rasch, NMDA-Rezeptoren reagieren dagegen erheblich thion-Synthase und Gamma-Lyase) abgebaut. Vitamin- langsamer. B6 ist ebenfalls in die Biosynthese inhibitorischer und 2) Die metabotrope Signaltransduktion über das Gluta- in den Abbau weiterer exzitatorischer Neurotransmitter mat erfolgt über G-Proteine, die unter Glutamat-Ein- involviert. Vitamin-B6-Defizite führen zu einer Hem- fluss einen langsamen und langanhaltenden, intrazel- mung des Glutamatabbaus durch Transaminasen und lulären Signalfluss auslösen, der schließlich ebenfalls Decarboxylasen. Vitamin-B6-Defizite modifizieren den zur Membrandepolarisation führt. Der glutamaterge Glycin- und Taurin-Stoffwechsel, da Pyridoxalphosphat Erregungs- und Informationsfluss wird stabilisiert Coenzym der Glycindecarboxylase und Serinhydroxy- durch Stickstoffmonoxyd (NO), das in den synapti- methyltransferase sowie der Cysteinsulfinsäuredecar- schen Spalt diffundiert und die Erregbarkeit von Gluta- boxylase ist. matrezeptoren, vor allem der NMDA-Rezeptoren herab- setzt (4). Neben Taurin und GABA (Gamma-Aminobut- Rezeptorgebundene, patho-physiologische tersäure) ist NO (Stickoxyd) also ein weiterer Faktor, Phänomene des Innenohres der die glutamaterge Transmission modulieren kann. Die glutamatergen Afferenzen erweisen sich als die Auf diesem Pathomechanismus beruhen neue Thera- stärksten Innenohrstrukturen. Übermäßig starke und pieansätze, die Otoneurotoxizität hoher Glutamatkon- lange Erregungen des postsynaptischen Glutamatre- zentrationen zu beeinflussen. Dies ist prinzipiell mög- zeptors führen zu reversiblen bis irreversiblen Schäden lich durch: der peripheren Dendriten der Afferenzen (6). Übermä- • Reduktion der exzessiven Transmitterfreisetzung ßige Erregung der NMDA-Rezeptoren gefährden auf- an der präsynaptischen Membran grund der Beschleunigung der toxischen intrazellulären • Kompetetiven oder nicht kompetetiven Rezeptor- Calciumüberladung die Nervenzelle, deren Schädigung antagonismus an der postsynaptischen Membran sich klinisch in vorübergehenden bis bleibenden Hör- • Intrazelluläre Blockade der glutamatabhängigen schäden äußert. Insbesondere dem Tinnitus scheint Calciumspeicher das gestörte Zusammenspiel der unabhängig vonein- ander und im unterschiedlichen Ausmaß geschädigten Arzneimittel als Auslöser von Tinnitus Glutamatrezeptor-Subtypen zugrunde zu liegen. Vor der Einleitung therapeutischer Maßnahmen sollten Dadurch treten pathologische Depolarisationen auf, jedoch Arzneimittel als Auslöser des Tinnitus in Erwä- die die Erregungsfolgen von Tönen simulieren und zen- gung gezogen werden. Interessant ist, dass Arzneistof- tral als Signale peripherer Töne missgedeutet werden. fe verschiedener Stoffgruppen Tinnitus auslösen kön- Es drängt sich daraus die Assoziation auf, dass Störun- nen. Reversible Funktionsstörungen des Cortischen gen des Glutamatstoffwechsels, Substrate des interme- Organs (Sinusepithel der Gehörschnecke) verursachen diären Stoffwechsels wie Homocystein oder Verände- 12 z.B. Diuretika wie Bumetanid, Etacrynsäure und Furo- rung im Stoffwechsel von Glutamatantagonisten an der
Tinnitus Pathogenese des Tinnitus beteiligt Homocystein fördert und die Bio- CH2 CH2 MAO Indolylessigsäure sind. Interessant sind in diesem synthese von Glycin, Taurin und HO NH3 Zusammenhang wieder Arzneistof- GABA stimuliert. H N fe, die Tinnitus auslösen und B6 Tryptamin Anhaltspunkte geben, welche Fak- Partielle toren an der Pathogenese des Tin- Glutamatantagonisten COO CH2 CH COO CH2 CH nitus teilhaben. Wie bereits er- Eine Reihe weiterer partieller Gluta- HO B6 NH3 NH3 Serotonin wähnt, sind 8-Hydroxychinoline wie matantagonisten sind erfolgreich in H H N N Chloroquin und Mefloquin Auslöser die Tinnitustherapie eingeführt wor- Tryptophan 5-Hydroxy-tryptophan von Tinnitus. Es ist ja bereits da- den. Ihr Vorteil liegt darin, dass sie Tryptophan- B6 rauf hingewiesen worden, dass die glutamaterge Transmission nur pyrrolase Hydroxychinoline des intermediä- abschwächen, aber nicht unterbre- O O OH ren Stoffwechsels wie Xanthuren- chen. Sie hemmen damit nicht die c CH2 CH COO c CH2 CH COO B6 NH3 NH3 säure als Zink- und Magnesium- Kontinuität des akustischen Infor- H C O NH3 N COO N H Komplexbildner fungieren (in der mationsflusses. Die folgenden Sub- Formyl-kynurenin Kynurenin Kynurensäure analytischen Chemie dient 8-Hydro- stanzen sind liquorgängig und kön- COO xychinolin zum Magnesiumnach- nen systemisch appliziert werden: H2N c H weis: Magnesium-Oxin-Komplexe). CH2 Interessanterweise lösen auch die Glutaminsäurediethylester c O HO COO O OH anderen Komplexbildner für Zink Glutaminsäurediethylester (GDEE) N N c CH2 CH COO B6 und Magnesium wie Penicillamin, hemmt sowohl den Natriumein- NH3 NH3 Kynurenin- O O N COO Sulfonamide, Penicilline, Gyrase- strom durch geöffnete AMPA- OH Transaminase OH hemmer vom Chinolon-Typ und Rezeptoren, als auch die Aktivie- Xanthommatin 3-Hydroxy-kynurenin Xanthurensäure Diuretika Hörstörungen aus. Auch rung der metabotropen Rezepto- der Zink-Komplexbildner L-Thyroxin ren. NMDA-Rezeptoren werden COO B6 kann Tinnitus auslösen. durch GDEE nur geringfügig beein- H3C CH COO NH2 Kynureninase flusst. In einer Untersuchung an NH3 OH Magnesium und Zink als 130 Patienten trat eine Tinnitusre- 3-Hydroxy-anthranilsäure Alanin partielle Glutamatantagonisten duktion bei 77% um mindestens Schon seit längerem werden Mag- 50% auf. Empfohlen wird eine COO COO COO nesiumdefizite mit Innenohrerkran- Lösung von 20 mg GDEE in 100 ml C C kungen in Zusammenhang gebracht O,9% Kochsalzlösung, die jedoch NH3 N COO Phosphoribosyl- N COO H O COOH Chirolinsäure diphosphat (7). Bereits 1988 wurde Magnesium frisch zubereitet werden sollte (10). CO2 Rib P als Therapeutikum bei Tinnitus CO2 empfohlen (8). Dabei scheint Mag- Quinoxalindione nesium selektiv die Aktivität der Diese Stoffgruppe blockiert bereits HC C COO NH3 O COO NMDA-Rezeptoren zu hemmen und in geringsten Dosen die Aktivität NADH NAD N lässt AMPA- und metabotrope von AMPA-Rezeptoren, in einer in OOC C OOC C O NH4 Rib P NH3 Rezeptoren weitgehend unbeein- Zehnerpotenzen höheren Dosierung Picolinsäure COO Nicotinsäure- COO H2O mononucleotid flusst. Ferner setzt Magnesium die zusätzlich die Aktivität von NMDA- a -Amino-muconsäure a-Ketoadipinsäure präsynaptische Glutamatfreisetzung Rezeptoren. Das Caroverin, ein Qui- herab, wie Abbildung 5 zeigt. noxalindion, ist als zentral wirksa- Auch Zink-Ionen hemmen die Akti- mes Spasmolytikum zugelassen. zentrationen, die ebenfalls exzita- Abbildung 4: vität der NMDA-Rezeptoren, setzen Caroverin führt zu einem vermin- torische Glutamateffekte antagoni- Tryptophanabbau aber gleichzeitig die Erregungs- derten Ca-Einstrom in neutrale Zel- sieren. In cerebellärem Gewebe des durch Vitamin B6- schwelle für AMPA-Rezeptoren len und damit zur Normalisierung Meerschweinchens und der Ratte abhängige Enzyme deutlich herab. Die Wirkung von der Reizweiterleitung. Erste klini- beeinflusst Taurin geringfügig die Zink ist jedoch umstritten. Es wird sche Studien mit dem Präparat Freisetzung des Glutamats. In ver- in der internationalen medizini- scheinen aussichtsreich zu sein. In schiedenen Hirnbereichen hemmt schen Literatur auch über eine Stei- einer placebokontrollierten, pro- Taurin die Glutamat-induzierte De- gerung der latenten Erregungsbe- spektiven Studie konnte bei 63,3% polarisation glutamaterger Neuro- reitschaft durch Zink diskutiert. Die der mit Caroverin behandelten ne. Der inhibierende Effekt bezog Wirkung bei Tinnitus ist umstritten. Patienten (N=30) eine Tinnitus- sich dabei besonders auf NMDA- Zink und Magnesium besitzen Reduktion beobachtet werden (13). Rezeptoren und weniger auf Kainat neben Kobalt und Mangan für den Caroverin ist in der Schweiz als Cal- und Quisqualat-Rezeptoren. Taurin Vitamin-B6-Stoffwechsel eine wich- maverin und in Österreich als Tinni- interagiert nicht mit der Rezeptor- tige Bedeutung. So lässt sich die tin bzw. Spasmium im Handel. bindung des Kainats. Der Antago- Modifikation des Glutamatstoff- nismus gegenüber anderen Gluta- wechsels durch Zink und Magnesi- Taurin mat-Rezeptoren ist nicht kompete- umionen nicht nur unter neurophy- Die Glutamat-Spiegel im Zentralner- tiv (11). Interessant ist in diesem siologischen, sondern auch unter vensystem korrelieren stark mit Zusammenhang, dass die Biosyn- biochemischen Aspekten betrach- den Taurin-Spiegeln (11). Taurin these des Taurins analog dem ten. Wie bereits ausgeführt, ist beeinflusst den Glutamat-GABA- Abbau über die Glutamatdecarbo- Pyridoxalphosphat an der Umwand- Stoffwechsel, indem es die Gluta- xylase und Transaminase Vitamin lung exzitatorischer in inhibitori- minsäuredecarboxylase im Hirn von B6-abhängig ist. Störungen im Vita- sche Neurotransmitter beteiligt, da epileptischen Ratten induziert, mit min-B6-Stoffwechsel rufen damit es den Abbau von Glutamat und dem Korrelat erhöhter GABA-Kon- potenzierte Effekte auf die Exzita- ›› 13
Tinnitus Abbildung 5: Schematische Darstellung des selektiven Glutamatantagonismus von IHC IHC GDEE, Caroverin, Magnesium und Zink an der afferenten, glutamatergen Synapse der IHC (nach Lit.9). Glutamat Glutamat AMPA NMDA AMPA NMDA GP GP GDEE Caroverin verschiedene Angriffspunkte im Innenohr diskutiert: Na+ Ca++ Na+ Ca++ • Ionenkanäle der Haarzellmembran A A • Beeinflussung der Ionentransportprozesse in Zellen der Stria vascularis und • Rezeptor-assoziierte Ionenkanäle von afferenten Nervenfasern der inneren Haarzellen. IHC IHC Abkürzungen: NO Stickoxyd Glutamat IHC innere Haarzellen Glutamat OHC Haarzellen des Innenohres AMPA NMDA GP AMPA GP NMDA NMDA N-Methyl-D-Aspartatat Mg++ ++ GABA Gamma-Amino-Buttersäure Zn Na+ Ca++ Na+ Ca++ AMPA (Amino-3-Hydroxy-5-methyl-4- A A isoxazol-Aminosäure) Zusammenfassung tion aus. Es drängt sich damit die Assoziation auf, dass In der jüngsten Zeit häufen sich die Berichte in der Taurin die glutamaterge Transmission und damit den internationalen medizinischen Literatur, dass der im Tinnitus positiv beeinflussen kann. Zentralnervensystem weit verbreitete Neurotransmitter an der Pathogenese des Tinnitus beteiligt ist. Cochleä- Memantine re Glutamatrezeptoren sind in den afferenten akusti- Nach dem bisher Gesagten ist es nicht verwunderlich, schen Informationsfluss involviert. Die zunehmenden EIN REFERAT dass auch andere NMDA-Rezeptorantagonisten wie klinischen Erfolge mit selektiven Glutamatantagonisten AUS DER zum Beispiel das bei Parkinson-Erkrankungen und De- in der Tinnitustherapie bestätigen die, diesen Thera- PHARMAZEUTISCHEN menz eingesetzte Memantine (1-amino-3,5-dimethyl- piekonzepten zugrunde liegenden Arbeitshypothesen. WISSENSCHAFT Adamantan) co-chleäre Funktionen über Glutamat- Diese Therapieansätze bestehen darin, die Otoneuroto- Effekte an NMDA-Rezeptoren beeinflusst. An den Uni- xizität hoher Glutamatkonzentrationen zu beeinflus- versitäten von Bern, München und Wien wurden einige sen. Versuche durchgeführt, das spasmolytisch wirksame Memantine auf Wirksamkeit bei Tinnitus zu testen. Mit- Literatur: 1. Lenarz,T; Ohrgeräusche Med.Mo.Pharm, 14(10), 1991:292-300 hilfe der Microiontophorese konnten Effekte von 2. Feldmann, H; Pathophysiology of Tinnitus. In: Kitahara, M; Tin- Memantine auf die Neurotransmission innerer Haarzel- nitus. Pathophysiology and management 7-35, Igaku-Shoin, Tokyo/New York 1988 len sowohl hinsichtlich spontaner Entladungen, als 3. Ehrenberger, K; Brix R auch bezüglich antiglutamaterger Effekte nachgewie- Glutamic acis and glutamic acid diethylester in tinnitus treatment sen werden. Memantine zeigte dabei einen starken Acta otolaryngol 1983; 95:599-605 4. Heiniger-Bürki, CB; Ehrenberger, K; Felix, D; Is nitricoxyd involved hemmenden Effekt auf NMDA-Rezeptoren, während in the inner ear neurotransmission? Primary Sensory neuron, in press. AMPA-Rezeptoren unbeeinflusst blieben. Da nach the- 5. Ammon, HPT Arzneimittelwechselwirkungen 3. Auflage, S.28 rapeutischer Anwendung von Memantine für die Blo- 6. Liptou, SA; Rosenberg, PA; Exzitatory aminoacids as a final common pathway for neurologic ckade von NMDA-Rezeptoren ausreichende Konzentra- disorders. tionen in der cerebrospinalen Flüssigkeit gefunden N Engl J Med 1994; 330:613-622 7.Newcomb, R; Palma, A; Effects of diverse omega-conopeptids on wurden und da Memantine ein sicherer und gut ver- the in vitro release of glutamic and gamma-Amino-butyricacids träglicher Arzneistoff ist, ergeben sich interessante Per- Brain Research 1994; 638;95-102. spektiven hinsichtlich der Anwendung bei Tinnitus (12). 8. Claussen, E und C; Patil, NP; On the effect of magnesiumaspartat in the neurootological therapy for vertigo and tinnitus Excerpta medica 1988: 529-32 Lidocain 9. Ehrenberger, K; Denk, DM, Felix, D; Rezeptorpharmakologische Eine Linderung des Tinnitus konnte bei 75% der Modelle für eine kausale Tinnitustherapie; Otorhinolaryngol Nova (1995; 5:148-1529) Patienten mit einer Lidocain-Therapie erzielt werden 10. Ehrenberger, K; Brix, R; Glutamic acid and glutamicacid diethy- (14). Die Einführung von Lidocain in die Therapie geht lester in tinnitus treatment Acta laryngol 1983; 95:599-605 11. Huxtable, R; Taurine in Central nervous system and the mam- auf eine Zufallsentdeckung zurück, dass bei einer malian actions of Taurine Progress in Neurobiology 1989, 32:471- Patientin bei einer Operation der Nasenschleimhaut 533 unter Lokalanästhesie mit 1% Procain-Adrenalin- 12. Oestreicher, E; Arnold, W; Ehrenberger, K.; Felix, D; Memantine supress the glutamatergic Neurotransmission of Mamillian inner Lösung das jahrelang bestehende Ohrensausen der Pa- Haircells Otorginolaryngal tientin verschwand. Das therapeutische Potenzial der 1998, 60:18-21 Lidocain-Infusionen wird übereinstimmend von zahlrei- 13. Lenarz,T; Schwab, B; Caroverin-Infusion HNO 1998; 46:73 14. Melding, PS; Goodey, RJ; Thorne, PR; chen Autoren bestätigt (15). Die Wirkung des Lido- The use of intravenous Lignocain in the diagnosis and treatment cains, wie auch die der anderen Lokalanästhetika, wird of Tinnitus J Laryng Otol 1978, 92:115-121 15. Wilhelm, T; Seidl, R; Ernst, A; durch die Blockade des Natriumionen-Einstroms an der 14 Zellmembran der Neuronen interpretiert. Es werden 3 Rationale Grundlagen der Tinnitus-Therapie; Med Monatsschrift Pharm 1998, 21(11):336-344 ı¨‹
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