Traditionelle Fragen, neue Verbindlichkeiten: Hochschullehre digital und leiblich - Zenodo
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Traditionelle Fragen, neue Verbindlichkeiten: Hochschullehre digital und leiblich Peter Tremp* und Marija Stanisavljevic* 1. Lernen prinzipiell überall möglich Strömungen spiegeln sich in Ordnungen, Program- Lernen kann man prinzipiell überall. Auch, ohne dass men, normativen Rahmungen oder gar in architekto- Lehre stattfindet. Wir können uns Lernziele selber nischen Lösungen der Bildungsinstitutionen. So mar- vornehmen. Und auch das Leben lehrt – wie es der schiert auch die Digitalisierung seit einiger Zeit durch Volksmund weiss. Oftmals Hilfreiches und Nützliches, die Landschaft der Bildungsinstitutionen und prägt sie bisweilen auch Schmerzhaftes und Verstörendes. massgeblich. Und die schlagartigen Umstellungen im Frühjahrsemester 2020 führten vor Augen, wie weit- Das Lernen in Bildungsinstitutionen wird damit zur reichend eigentlich die Digitalisierung an den Hoch- Spezialform, die sich allgemein durch einige Charak- schulen schon vorgedrungen ist. Denn nur weil die teristiken beschreiben lässt. Beispielsweise, dass Lern- entsprechende digitale Infrastruktur vorhanden war, prozesse und Lernergebnisse begutachtet werden. war es auch möglich, so rasch – genauer binnen vier bis Und vor allem auch: Dass nicht der Zufall das Lernen fünf Tage (!) – von Präsenz komplett auf Fernstudium steuert, vielmehr Lehre und Didaktik beabsichtigen, umzustellen. Eine der Implikationen der Umstellung ist fruchtbare Zufälle nicht-zufällig herbeizuführen, also zweifelsohne auch die räumliche Entkopplung der Leh- Situationen systematisch zu planen und beispielswei- re von Bildungsinstitutionen. Nun kann man nicht nur se Lehrprozesse in eine stimmige Abfolge zu bringen. überall lernen, sondern auch überall lehren. Eine der nicht intendierten Folgen dabei ist, dass die Lernenden Bildungsinstitutionen sind gesellschaftliche Einrichtun- endlich der strengen bürgerlichen Norm entkommen gen zum Zweck des Lernens. Hier zeigen sich bestimm- können und tatsächlich hinter dem verdunkelten Fens- te Formen des Lernens kultiviert – auch wenn die Kul- ter der Konferenztools auch mit Beinen auf dem Pult tur bisweilen kritisierbar ist. So schreibt beispielsweise lernen können – auch wenn man nach wie vor nicht Siegfried Bernfeld (1925/1990) in seiner Schrift «Sisy- mit den Beinen auf dem Tisch lehren kann. phos oder die Grenzen der Erziehung» – bezogen auf den schulischen Unterricht – in pointierter Weise: 2. Lehren: ein Absichtsbegriff Also kann man neuerdings überall lernen und lehren. Die Schüler sitzen in Bänken, die nicht allein unbe- Vielleicht gelingt es bald auch, die Lehre im digitalen quem sind, sondern deren eigenartige Form mit dem Dazwischen gleichermassen zu kultivieren wie dies vor Zweck des Unterrichts beinahe nichts zu tun hat; man kann auf unpatentierten Pritschen lernen und in Klub- * Pädagogische Hochschule Luzern, Zentrum für Hochschuldidaktik, fauteuils. Aber in der Schule sind nun eben ‚Gesund- Sentimatt 1, 6003 Luzern. heitsbänke‘. Die Schüler sitzen darin in einer bestimm- E-mail: peter.tremp@phlu.ch ten Sitzordnung, die dauernd festgelegt ist, obgleich marija.stanisavljevic@phlu.ch Abwechslung am Lernprozess nichts ändern würde; es Peter Tremp, Dr. phil., Professor für Bildungswissenschaften, ist ihnen vorgeschrieben, ‚ordentlich‘ zu sitzen, obwohl leitet seit 2019 das Zentrum für Hochschuldidaktik an es erwiesenermassen das Denken fördert, wenn man der Pädagogischen Hochschule Luzern. Von 2011–2018 die Beine aufs Pult legt, liegt, auf und ab geht. ‚Selbst- war er Leiter der Abteilung Forschung und Entwicklung verständlich‘ muss der Fussboden sauber sein, dürfen an der Pädagogischen Hochschule Zürich, von 2004–2011 Leiter der Hochschuldidaktik an der Universität Zürich. die Wände nicht beschmiert werden, weil – nun weil Mitglied des Editorial Board der Zeitschrift für Hochschulentwicklung. das zur bürgerlichen Gesittung gehört, gewiss aber Arbeitsschwerpunkte: Hochschuldidaktik, Akademische Bildung, nicht, weil es dem Unterricht förderlich ist. Forschungsorientierung in Studium und Lehre. Man wird also überall und jederzeit lernen können. Marija Stanisavljevic, Dr. phil., Soziologin, ist seit dem Corona-Semester 2020 als wissenschaftliche Mitarbeiterin Die Spezifika der Lehrkultur entfaltet sich jedoch an am Zentrum für Hochschuldidaktik der Pädagogischen Orten, die in besonderer Weise die Lehre kultivieren Hochschule Luzern tätig. Von 2013–2020 arbeitete sie als und sie entsprechend kontextualisieren: in Bildungs- wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Koblenz- institutionen. Allerdings sind diese nicht nur einem, Landau, Campus Landau und zwischen 2017 und 2020 leitete wie von Bernfeld lakonisch bemerkt, bürgerlichen Bil- sie das deutsch-israelische Kooperationsprojekt «Theresienstadt». dungsimpetus verpflichtet. Nahezu alle weitreichen- Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Methoden der Sozialforschung, Mediensoziologie und Gesellschaftsdiagnosen. den gesellschaftliche Änderungen, Phänomene oder VSH-Bulletin Nr. 3/4, November 2020 | AEU-Bulletin no 3/4, novembre 2020 47
Peter Tremp und Marija Stanisavljevic | Traditionelle Fragen, neue Verbindlichkeiten: Hochschullehre digital und leiblich Ort möglich ist. Aktuell fehlt es jedoch grosso modo an Die Tradition des Wissens, das angehäuft und kommen- notwendigen Lehrerfahrungen, um adäquate Verglei- tiert wird, stand im Zentrum. Wissenschaft in einem che anstellen zu können – aber Erfahrungen stellen sich modernen Sinne, die sich eng mit Forschung verbin- sinngemäss mit der Zeit ein, also seien wir geduldig. det, ist daher kein Konzept der mittelalterlichen Uni- versität, wohl aber Tradierung eines anerkannten – und Vergessen werden sollte dabei jedoch nicht, dass Leh- insofern: gesicherten – Wissens. Studieren meint hier ren zunächst ein Absichtsbegriff und kein Wirkungsbe- die Aneignung und Durchdringung eines bestehenden griff darstellt: Lernen kann nicht bewerkstelligt werden. Wissensbestandes. Die Vorlesung – so liesse sich verein- Wir kennen zudem alle die Erfahrung, dass zwar gelernt fachend sagen – diente dazu, diesen Wissensbestand wird, nicht aber das Intendierte. Gleichwohl macht Leh- überhaupt darzustellen und zu erklären, die Disputation ren nur Sinn, wenn Lernen auch tatsächlich beabsich- beabsichtigte die Anwendung und Vertiefung durch tigt ist. Lehren ist also ein Absichtsbegriff, aber kein Er- Diskussion in einer stark mündlich geprägten Lernkultur. folgsbegriff, denn der Erfolg der Bemühungen ist nicht Die Schlüsselfigur war dabei der Professor, der im Sinne bereits mit dem Begriff der Lehre verknüpft. Oder wie eines Mediums das Wissen an die Studenten vermittel- Jürgen Oelkers es ausdrückt: «Man kann lehren, ohne te. Die Professoren «stellten die kanonischen Aussagen Erfolg zu haben, aber man kann nicht lehren, ohne es zu der Disziplin vor, systematisierten und sicherten auf die- intendieren.» (Oelkers, zitiert nach Terhart 2009, S. 19) se Weise die Überlieferung» (Apel, 1999, S. 20). Die Absicht mündet also nicht zwangsläufig in einem Eine fundamentale Veränderung erfährt sowohl die Handlungsvollzug und dieser erzeugt seinerseits nicht professorale Rolle als auch das gesamte universitäre zwangsläufig eine wie auch immer wahrnehmbare Lehr-/Lerngefüge mit der Erfindung und Verbreitung Wirkung. Diese Feststellung mag trivial klingen – umso des Buchdrucks. Schleiermacher beschreibt diese Ver- überraschender die (Kurzschluss-)Reaktionen seitens schiebung in der gelebten Lehr- und Vermittlungspra- etlicher Hochschuldozierender und Hochschuldidak xis überaus pointiert: tiker, wenn es um die Beurteilung des vergangenen digitalen Corona(!)-Semesters geht. Denn: Weder Nichts Jämmerlicheres zu denken als dieses. Ein wird die Präsenzlehre infolge notwendiger Massnah- Professor, der ein ein- für allemal geschriebenes men vergangener Monate verschwinden, noch kann Heft immer wieder abliest und abschreiben lässt, die digitale (zutreffender: digitalisierte) Lehre anhand mahnt uns sehr ungelegen an jene Zeit, wo es ebensolcher kurzfristiger Umstellungen als das Non- noch keine Druckerei gab und es schon viel wert Plus-Ultra bewertet werden. Voreilig mahnende oder war, wenn ein Gelehrter seine Handschrift vielen lobende Bewertungen, welche die Lehre als monokau- auf einmal diktiert, und wo der mündliche Vor- sale Kette von Absichten und Wirkungen verstehen, trag zugleich statt der Bücher dienen musst. Jetzt sind wohl fehl am Platz. aber kann niemand einsehn, warum der Staat ei- nige Männer leidglich dazu besoldet, damit sie Auf der Suche nach möglichen Beurteilungen gilt es viel- sich des Privilegiums erfreuen sollen, die Wohltat mehr, die gesamte Komplexität der Bedingungen und der Druckereien ignorieren zu dürfen, oder wes- Kontexte guter Lehre analytisch zu entfalten, die sich halb wohl sonst ein solcher Mann die Leute zu zwischen der Absicht, gute Lehre zu machen, und den sich bemüht und ihnen nicht lieber seine ohne- Auswirkungen solcher Absichten aufspannen. Ein Blick hin mit stehenbleibenden Schriften abgefasste auf frühere gesellschaftliche Entwicklungen und Kon- Weisheit auf dem gewöhnlichen Wege schwarz zeptionen der Hochschullehre kann hier hilfreich sein. auf weiß verkauft. Denn bei solchem Werk und Wesen von dem wunderbaren Eindruck der le- 3. Buchdruck als Herausforderung für bendigen Stimme zu reden, möchte wohl lächer- die Hochschullehre lich sein. (Schleiermacher, 2000/1808, S. 130) Die Bildungsinstitutionen und die Lehrformen, wel- che sie auszeichnen, sind nichts Selbstverständliches. Nun also ist der Professor nicht das einzige Medium, Vielmehr entsteht die Selbstverständlichkeit, mit der das Wissen vermittelt, Bücher tun es auch. Und man unsere Gesellschaft Bildungsinstitutionen als Orte des ahnt es schon: Auch Bücher gehen mit der Vorstellung Lehrens und Lernens wahrnimmt, mit der Entstehung einher, die Lehre von Bildungsinstitutionen räumlich der Universitäten im Mittelalter. Die ersten, mittel- zu entkoppeln. alterlichen Universitäten sind stark geprägt von einer mündlichen Kultur. Die beiden hauptsächlichen Lehr- Schon mit der Durchsetzung des Buchdrucks und in formen – die Vorlesung und die Disputation – dien- der Folge mit der Etablierung der technischen Verbrei- ten insbesondere der Aneignung eines Wissensbe- tungsmedien (vgl. Luhmann 1998) beginnt also jener standes und seiner Erörterung. Prozess, dessen neusten Schub wir nun beobachten 48 VSH-Bulletin Nr. 3/4, November 2020 | AEU-Bulletin no 3/4, novembre 2020
Peter Tremp und Marija Stanisavljevic | Traditionelle Fragen, neue Verbindlichkeiten: Hochschullehre digital und leiblich können: «der Trend von hierarchischer zu heterarchi- So wollen wir folglich die angestrebte und faktische scher Ordnung und der Verzicht auf räumliche Integ- Digitalisierung der Lehre als einen neuen Medienschub ration gesellschaftlicher Operationen» (ebd.: 312). Der verstehen, der mit traditionsreichen Erwartungshal- Buchdruck bringt also nicht nur die Möglichkeit, die tungen einhergeht: die Entkopplung der Lehre von Bil- Lehre – genauer: die Wissensvermittlung – von kon- dungsinstitutionen, die Verbreitung und die Demokra- kreten Orten abzulösen. Darüber hinaus entsteht die tisierung des Wissens, die Veränderung der Rolle der heute noch wirksame Vorstellung von Medien, welche Lehrenden sowie Individualisierung des Lernens. die Demokratisierung der Wissensverteilung voran- treiben. Dank des Buchdrucks kann das Wissen nun Die Lehre verändert sich unter den veränderten gesell- losgelöst von konkreten Lehrsettings oder Personen schaftlichen Bedingungen und unter dem Einfluss neu- vermittelt (oder zumindest weiter transportiert) wer- er Medien. Und trotz grosser und kleiner, folgenreicher den. Doch die Entbindung der Lehre von räumlicher und folgenloser medialer Entwicklungen ist die tradi- und zeitlicher Sychnonizität steigerte den Deutungs- tionsreiche Präsenzlehre von den Hochschulen nicht bedarf geschriebener Texte (vgl. Ziemann 2012). verschwunden. Im Gegenteil: nach wie vor kann die Hochschule als eine der Präsenzinstitutionen verstan- Lesen wir das Zitat Schleiermachers nochmals, so den werden (vgl. Stichweh 2015). Denn, wie einführend wird folglich auch klar, dass die Lehrenden dadurch dargelegt, erschöpft sich die Funktion der Hochschule nicht marginalisiert wurden. Vielmehr wurde das Rol- nicht in der Vermittlung des Wissens und in der An- lenverständnis als Lehrende entsprechend medialer häufung spezifischer Kompetenzen und Skills. Für die Entwicklung neu ausgehandelt, die Lehre bekam eine Hochschulsozialisation genauso notwendig sind leibli- andere Bedeutung. che Erfahrungen der Anwesenheit Anderer, insbeson- dere der Hochschullehrenden und Kommilitoninnen. 4. Digitalisierung der Lehre: Was sich aber immer wieder verändert und neu aus- ein weiterer Medienschub gehandelt wird, sind die unterschiedlichen Lehrformen Ähnlich wie die Organisationen des Religionssystems und die Möglichkeiten, gute Lehre zu machen. implementieren auch die Bildungs- und Wissen- schaftsinstitutionen von ihren Anfängen an Medien in 5. Hochschulstudium als ihrem Sinne. Medien werden zur Wissensvermittlung, Wissenschaftssozialisation zur Veranschaulichung, zu Beweisführung etc. einge- Hochschulen sind Einrichtungen der Wissenschaft, setzt. Besucht man die altehrwürdige Medizinfakultät akademische Sozialisation meint die Auseinander- in Bologna, kann man wunderprächtige anatomische setzung mit Wissenschaft. Beabsichtigt sind nicht Präparate bestaunen, die zur Veranschaulichung me- nur fundierte fachliche Kenntnisse, sondern auch ein dizinischer Zusammenhänge und des medizinischen Wissen über die Generierung wissenschaftlicher Wis- Wissens dienten. Die Erfindung der Fotografie und sensbestände und deren Reichweite. Vor allem geht es später des Films trieb solche Vorstellungen von «reali- auch darum, einen begründeten wissenschaftlichen tätsgetreuen» Abbildbarkeit der natürlichen und der Standpunkt einzunehmen im Wissen um andere Per- sozialen Wirklichkeit auf die Spitze (vgl. Hörisch 2004). spektiven und Positionen. Rhetorisches Geschick, stringente Logik und charis- matische Persönlichkeit reichten nicht mehr aus, um Während ich vieles auch alleine resp. mit schriftlichen argumentativ zu überzeugen. Fortan musste der Pro- Anleitungen oder e-Tutorials lernen kann (wie ich mei- fessor auch mit und gegen die vermeintliche, bildba- nen Gartenschlauch installiere oder mein Fahrrad fli- sierte Objektivierbarkeit der Welt konkurrieren. cke), setzt dieses Verständnis akademischer Bildung notwendigerweise den Austausch mit anderen voraus. Schaut man sich die digitalen Anwendungen und Ein akademisches Studium im allein-Modus ist schlicht- Tools, welche aktuell vermehrt in die Hochschullehre weg nicht denkbar. Dem entspricht auch die Konzep- ihren Einsatz finden (Moodle, Olat, Illias, Padlet, Zoom tion von Bildung als gesellschaftliche Institution. etc.), an, so wird man rasch feststellen, dass sie alle pri- mär dafür da sind und aktuell dafür genutzt werden, Das Hochschulstudium ist mehr als eine Anhäufung die schon bestehenden Wissensbestände zu vermit- von Skills, Bildung ist nicht bloss eine abrufbare und teln. An den Inhalten einer Geografie-Prüfung hat sich im Arbeitsprozess nutzbare Ressource. Entsprechend wenig geändert, nur weil sie mithilfe von Moodle statt- ist auch die Hochschullehre etwas anderes als ledig- findet – einmal abgesehen davon, dass sich selbst die lich Wissensvermittlung. Die beteiligten Personen und Prüfungsform nur in den wenigsten Fällen ändert. Im ihr Beziehungsgeflecht spielen dabei ebenso eine Rolle Rahmen der aktuellen Lehrpraxis sind digitale Anwen- wie die soziodemografischen Koordinaten und habi- dungen folglich als Medien der Wissensvermittlung zu tuellen Konstellationen der Beteiligten, die materiel- verstehen, welche den Studienprozess unterstützen. len Ausstattungen und räumlichen Begebenheiten. VSH-Bulletin Nr. 3/4, November 2020 | AEU-Bulletin no 3/4, novembre 2020 49
Peter Tremp und Marija Stanisavljevic | Traditionelle Fragen, neue Verbindlichkeiten: Hochschullehre digital und leiblich Auch disziplinäre Besonderheiten und Gepflogenhei- Curriculare Planung besteht dann u.a. darin, die ver- ten sind bedeutsam. Und ja, Lehre hängt auch davon schiedenen didaktischen Funktionen in eine sinnvol- ab, ob Lehrende und Lernende im Modus der körper- le Choreografie zu bringen, die Lehrtätigkeit in Mo- lichen Kopräsenz leiblich anwesend sind oder ob sich dulen und Veranstaltungen darin, diese Funktionen technische Produktions- und Reproduktionsmedien nach den Regeln der Lehrkunst zu realisieren. In wel- dazwischenschieben. Die Frage der medialen Vermitt- chem Virtualisierungsgrad dies dann auch sein mag. lung bzw. der leiblichen Anwesenheit stellt folglich nur ein Aspekt des hochgradig komplexen sozialen Phä- «Präsenz», so schreibt Falk Scheidig, sei «ein polydimen- nomens akademische Lehre dar. Töricht also, wer die sionales Konstrukt, dessen Facetten und hochschuldi- Lehrbedingungen des Corona-bedingten digitalen Se- daktischen Relationen – etwa zur Hochschule als Ort mesters 2020 als ein quasiexperimentelles Szenario zur und Idee, der Lehrveranstaltung als Gemeinschaft, dem Erforschung monokausaler Wirkungsketten versteht. Lernen als kognitiver Aktivität, der Sichtbarkeit von Lernprozessen, der Kommunikation unter Studieren- Hochschulen sind Orte der Wissensproduktion, -re- den und mit Lehrenden – nur unzureichend in einer produktion und -vermittlung und zugleich Orte Gleichsetzung mit ‹bloßer› physischer Anwesenheit einer sehr spezifischen Art der Sozialisation. Für bei- Rechnung getragen wird.» (Scheidig, 2020, S. 255). de Funktionen der Hochschule waren seit deren Aus- differenzierung als Horte der Wissensproduktion und Die Person bleibt wichtig – gerade in forschungsorien- der Bildung sowohl Aspekte der Anwesenheit und tierten Hochschulen, in denen die Dozierenden an der Präsenz, als auch Aspekte der medialen Vermittlung Generierung des «Lehr-Stoffes» wesentlich beteiligt von Wissen essentiell. sind. Wir können dafür bei obigen Zitat von Schleier- macher und der «Herausforderung Buchdruck» an- 6. Lehre: Didaktische Funktionen kombinieren schliessen: Für Schleiermacher muss der Kathedervor- Universitäre Lehre stellt eine besondere Kultivie- trag «die Natur des alten Dialogs» (Schleiermacher, rung des Lernens dar, die sich beispielsweise in 2000/1808, S. 129) haben. In einem produktiven Sinne: den etablierten Veranstaltungsformaten abbildet. So ist zum Beispiel die Vorlesung (Lernort: Hör- «Der Lehrer muss alles, was er sagt, vor den Zu saal) die klassische universitäre Lehrform für die hörern entstehen lassen; er muss nicht erzählen, Vermittlung von systematischem Grundlagen- und was er weiss, sondern sein eignes Erkennen, die Orientierungswissen. Demgegenüber dominiert im Tat selbst, reproduzieren, damit sie beständig Seminar (Lernort: Seminarraum) der Wechsel von nicht etwa nur Kenntnisse sammeln, sondern die Information und Verarbeitung resp. Vertiefung. Ein Tätigkeit der Vernunft im Hervorbringen der Er- Seminar eignet sich für die Präsentation und mass kenntnis unmittelbar anschauen und anschauend stabbildende gemeinsame Bewertung und Beurteilung nachbilden.» (Schleiermacher, 2000/1808, S. 129). von Problembearbeitungen. Übungen (Lernort: Labor und Übungsraum) bieten Gelegenheit erprobender Notwendige Voraussetzung sind zwei «Tugenden», und übender Tätigkeit in einer geschützten und auf die sich vereinigen müssen: «Lebendigkeit und Be- Lernen und kontrollierte Erfahrung hin gestalteten geisterung auf der einen Seite … ebenso notwendig ist Lernumgebung. Der Raum stellt hier eine Art Mate- ihm aber auch Besonnenheit und Klarheit» (Schleier- rialiensammlung, Methodenrepertoire und Problem- macher, 2000/1808, S. 129). archiv dar. Schleiermacher selber war – glauben wir dem Zeitge- Selbstverständlich sind Mischformen denkbar: So fin- nossen Diesterweg, der Vorlesungen bei ihm besucht den auch in Vorlesungen kleine Diskussionen statt, im hatte – ein hervorragender Universitätslehrer mit Labor werden Inhalte frontal vermittelt oder die Pro- elaborierter Lehrmethode, die seinem expliziten An- jektarbeit wird im Seminar vorgestellt. Vermittlung, spruch der Universität entsprach: «Seit Sokrates‘ Tod Vertiefung, Einübung, Anwendung, aber auch bei- hatte, soweit meine Kunde reicht, also seit 22 Jahr- spielsweise Leistungsrückmeldungen sind didaktische hunderten hatte die Welt nichts Ähnliches oder Glei- Funktionen, die sich in einem Studiengang verbinden. ches gesehen.» (Diesterweg, 1959/1834, S. 252) Gerade die traditionelle Verknüpfung von Vorlesung und Seminar zeigt, dass Vermittlung sinnvollerweise Und Diesterweg begründet dies dann einer Beson- sowohl mit individueller Vertiefung als auch mit Aus- derheit der Lehrmethode Schleiermachers: «Es war tausch gekoppelt sein soll. ein lebendiger Denkprozess; … man sah denken, man hörte denken, man fühlte es. … Wer von ihm nicht denken lernte, konnte es nirgends lernen.» (Diester- weg, 1959/1834, S. 256) 50 VSH-Bulletin Nr. 3/4, November 2020 | AEU-Bulletin no 3/4, novembre 2020
Peter Tremp und Marija Stanisavljevic | Traditionelle Fragen, neue Verbindlichkeiten: Hochschullehre digital und leiblich Diesterweg beschreibt Schleiermachers Lehre als eine Ein (Studien-)Buch kann dabei bestimmte Funktionen leibliche Erfahrung, für die die Person der Lehrenden übernehmen, ebenso eine Lernplattform. Die physi- von zentraler Bedeutung ist. Schleiermacher vermittelt sche Kopräsenz in demselben Raum ermöglicht aller- nicht nur, er verkörpert die Lehre, das Wissen, die For- dings andere Bildungserfahrungen. Um dies mit einem schung und die Institution. Er verkörpert damit das Ver- Vergleich zu illustrieren: Selbstverständlich können Sie sprechen, welches mit Bildung eingehergeht: der habitu- auch zu Hause alleine über einen Witz lachen, den Sie ellen Veränderung und der persönlichen Positionierung. in der Zeitung lesen. Sie werden aber in vergnüglicher Runde anders über denselben Witz lachen können. 7. Bedeutsame Phase Studienbeginn Das Hochschulstudium intendiert und unterstützt 8. Neue Aushandlungsprozesse beobachten die Wissenschaftssozialisation. Dabei spielt der Ein- Weder steht Präsenzlehre für ein antiquiertes oder stieg eine bedeutsame Rolle. Die Studieneingangs- einzig richtiges Verständnis von Bildung, noch wird phase kann als (hochschuldidaktische) Antwort auf digitale Lehre die Präsenz vollständig ablösen können. die Frage verstanden werden, wie der Beginn eines Vielmehr erhöht der Einsatz neuer Medien die Kom- Studiums konzipiert sein kann, damit das Studium plexität der Lehr-/Lernbedingungen und wird sich, gelingt. Insbesondere geht es in dieser Phase um die so möchten wir in durchaus prognostischer Manier Gestaltung der Passung zwischen individuellen Vor- schlussfolgern, als eine weitere legitime Form der Wis- aussetzungen und Erwartungen und institutionellen senserschliessung und -vermittlung etablieren. Das Ansprüchen und Zielsetzungen. Mit dieser Passung Glück, in der Zeit medialer Umbrüche lehren und for- sind auch Fragen der Studienzufriedenheit, Studien- schen zu dürfen, liegt in der Möglichkeit, ebendiese engagement und Studienleistung verbunden. Prozesse der Transformation mit notwendiger analy- tischer Distanz beobachten zu können. Und schon ein Der Studienbeginn ist aber insbesondere auch eine Blick auf eine per Zoom übertragene Veranstaltung bedeutsame Phase der Wissenschafts- und Hoch- bestätigt uns, dass wir uns gerade in einer Übergangs- schulsozialisation: Studierende tauchen in eine Welt und Umbruchsphase befinden: Während die Lehren- ein, die im Vergleich mit vorangehenden Bildungsein- den vor heimischen Kulissen sitzend mit der Technik richtungen einen anderen Umgang mit Wissen pflegt hantieren, begegnen ihnen die schwarzen Kästen der und spezifische Lehr-/Lernkulturen kennt. Oder sehr «anwesenden» Studierenden, die ihre Kameras und konkret: Die schulischen Hausaufgaben werden durch Mikrophone ausgeschaltet haben. Schlussfolgern das Selbststudium abgelöst. kann man, dass die minimale Verbindlichkeit der klas- sischen Vorlesungssituation, die aus gegenseitigem Wie finden sich Studienanfängerinnen und -anfänger Augenschein besteht, im digitalen Setting zu ver- in dieser Wissenschaftswelt ein, wie sie in Hochschulen schwinden droht. Jedoch soll deswegen nicht der vor- repräsentiert wird? Wie gelingt es, eine wissenschaft- eilige Schluss gezogen werden, dass die neuen Settings lich-disziplinäre Identität aufzubauen und in die Denk- gar keine Verbindlichkeiten mehr erfordern. Sehr wohl weise einer Disziplin hineinzufinden mit ihrem spezifi- wird es neue geben. Unter hochschuldidaktischen As- schen Wissenskorpus sowie hinsichtlich der Methoden pekten und mithilfe des soziologisches Theorie- und und Zugänge der Disziplin? Wie wird die Besonderheit Methodenrepertoires können die gesellschaftlichen des wissenschaftlichen Wissens und damit auch der Aushandlungsprozesse, welche zur Etablierung neu- Hochschulen erfahrbar, also das, was Humboldt als er Wissensordnungen und sozialen Verbindlichkeiten «Eigenthümlichkeit der höheren wissenschaftlichen führen, beobachtet und analysiert werden. n Anstalten» festgehalten hat, «dass sie die Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem be- handeln und daher immer im Forschen bleiben»? Literatur Apel, Hans-Jürgen (1999): Die Vorlesung. Einführung in eine akademische Lehrform. Köln: Böhlau. Bernfeld, Siegfried (1925/1990): Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hörisch, Jochen (2004): Eine Geschichte der Medien. Von der Oblate zum Internet. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Terhart, Ewald (2009): Didaktik. Eine Einführung. Stuttgart: Reclam. Scheidig, Falk (2020): Digitale Transformation der Hochschullehre und der Diskurs über Präsenz in Lehrveranstaltungen. In: Reinhard Bauer, Jörg Hafer, Sandra Hofhues, Mandy Schiefner-Rohs, Anne Thillosen, Benno Volk & Klaus Wannemacher (Hrsg.): Vom E-Learning zur Digitalisierung. Mythen, Realitäten, Perspektiven. Münster: Waxmann, S. 243–259. Stichweh, Rudolf (2015): Die Universität als Anwesenheitsinstitution. In: Forschung und Lehre 22 (2), S. 85. Ziemann, Andreas (2012): Soziologie der Medien. Bielefeld: transcript. VSH-Bulletin Nr. 3/4, November 2020 | AEU-Bulletin no 3/4, novembre 2020 51
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