Traditionelle Fragen, neue Verbindlichkeiten: Hochschullehre digital und leiblich - Zenodo

Die Seite wird erstellt Silvia Mann
 
WEITER LESEN
Traditionelle Fragen, neue Verbindlichkeiten:
               Hochschullehre digital und leiblich
               Peter Tremp* und Marija Stanisavljevic*

1. Lernen prinzipiell überall möglich                        Strömungen spiegeln sich in Ordnungen, Program-
Lernen kann man prinzipiell überall. Auch, ohne dass         men, normativen Rahmungen oder gar in architekto-
Lehre stattfindet. Wir können uns Lernziele selber           nischen Lösungen der Bildungsinstitutionen. So mar-
vornehmen. Und auch das Leben lehrt – wie es der             schiert auch die Digitalisierung seit einiger Zeit durch
Volksmund weiss. Oftmals Hilfreiches und Nützliches,         die Landschaft der Bildungsinstitutionen und prägt sie
bisweilen auch Schmerzhaftes und Verstörendes.               massgeblich. Und die schlagartigen Umstellungen im
                                                             Frühjahrsemester 2020 führten vor Augen, wie weit-
Das Lernen in Bildungsinstitutionen wird damit zur           reichend eigentlich die Digitalisierung an den Hoch-
Spezialform, die sich allgemein durch einige Charak-         schulen schon vorgedrungen ist. Denn nur weil die
teristiken beschreiben lässt. Beispielsweise, dass Lern-     entsprechende digitale Infrastruktur vorhanden war,
prozesse und Lernergebnisse begutachtet werden.              war es auch möglich, so rasch – genauer binnen vier bis
Und vor allem auch: Dass nicht der Zufall das Lernen         fünf Tage (!) – von Präsenz komplett auf Fernstudium
steuert, vielmehr Lehre und Didaktik beabsichtigen,          umzustellen. Eine der Implikationen der Umstellung ist
fruchtbare Zufälle nicht-zufällig herbeizuführen, also       zweifelsohne auch die räumliche Entkopplung der Leh-
Situationen systematisch zu planen und beispielswei-         re von Bildungsinstitutionen. Nun kann man nicht nur
se Lehrprozesse in eine stimmige Abfolge zu bringen.         überall lernen, sondern auch überall lehren. Eine der
                                                             nicht intendierten Folgen dabei ist, dass die Lernenden
Bildungsinstitutionen sind gesellschaftliche Einrichtun-     endlich der strengen bürgerlichen Norm entkommen
gen zum Zweck des Lernens. Hier zeigen sich bestimm-         können und tatsächlich hinter dem verdunkelten Fens-
te Formen des Lernens kultiviert – auch wenn die Kul-        ter der Konferenztools auch mit Beinen auf dem Pult
tur bisweilen kritisierbar ist. So schreibt beispielsweise   lernen können – auch wenn man nach wie vor nicht
Siegfried Bernfeld (1925/1990) in seiner Schrift «Sisy-      mit den Beinen auf dem Tisch lehren kann.
phos oder die Grenzen der Erziehung» – bezogen auf
den schulischen Unterricht – in pointierter Weise:           2. Lehren: ein Absichtsbegriff
                                                             Also kann man neuerdings überall lernen und lehren.
Die Schüler sitzen in Bänken, die nicht allein unbe-         Vielleicht gelingt es bald auch, die Lehre im digitalen
quem sind, sondern deren eigenartige Form mit dem            Dazwischen gleichermassen zu kultivieren wie dies vor
Zweck des Unterrichts beinahe nichts zu tun hat; man
kann auf unpatentierten Pritschen lernen und in Klub-         * Pädagogische Hochschule Luzern, Zentrum für Hochschuldidaktik,
fauteuils. Aber in der Schule sind nun eben ‚Gesund-            Sentimatt 1, 6003 Luzern.
heitsbänke‘. Die Schüler sitzen darin in einer bestimm-       E-mail: peter.tremp@phlu.ch
ten Sitzordnung, die dauernd festgelegt ist, obgleich                  marija.stanisavljevic@phlu.ch
Abwechslung am Lernprozess nichts ändern würde; es                       Peter Tremp, Dr. phil., Professor für Bildungswissenschaften,
ist ihnen vorgeschrieben, ‚ordentlich‘ zu sitzen, obwohl                 leitet seit 2019 das Zentrum für Hochschuldidaktik an
es erwiesenermassen das Denken fördert, wenn man                         der Pädagogischen Hochschule Luzern. Von 2011–2018
die Beine aufs Pult legt, liegt, auf und ab geht. ‚Selbst-               war er Leiter der Abteilung Forschung und Entwicklung
verständlich‘ muss der Fussboden sauber sein, dürfen                     an der Pädagogischen Hochschule Zürich, von 2004–2011
                                                                         Leiter der Hochschuldidaktik an der Universität Zürich.
die Wände nicht beschmiert werden, weil – nun weil            Mitglied des Editorial Board der Zeitschrift für Hochschulentwicklung.
das zur bürgerlichen Gesittung gehört, gewiss aber            Arbeitsschwerpunkte: Hochschuldidaktik, Akademische Bildung,
nicht, weil es dem Unterricht förderlich ist.                 Forschungsorientierung in Studium und Lehre.

Man wird also überall und jederzeit lernen können.                        Marija Stanisavljevic, Dr. phil., Soziologin, ist seit dem
                                                                          Corona-Semester 2020 als wissenschaftliche Mitarbeiterin
Die Spezifika der Lehrkultur entfaltet sich jedoch an
                                                                          am Zentrum für Hochschuldidaktik der Pädagogischen
Orten, die in besonderer Weise die Lehre kultivieren                      Hochschule Luzern tätig. Von 2013–2020 arbeitete sie als
und sie entsprechend kontextualisieren: in Bildungs-                      wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Koblenz-
institutionen. Allerdings sind diese nicht nur einem,                     Landau, Campus Landau und zwischen 2017 und 2020 leitete
wie von Bernfeld lakonisch bemerkt, bürgerlichen Bil-         sie das deutsch-israelische Kooperationsprojekt «Theresienstadt».
dungsimpetus verpflichtet. Nahezu alle weitreichen-           Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Methoden der Sozialforschung,
                                                              Mediensoziologie und Gesellschaftsdiagnosen.
den gesellschaftliche Änderungen, Phänomene oder

                                                                   VSH-Bulletin Nr. 3/4, November 2020 | AEU-Bulletin no 3/4, novembre 2020   47
Peter Tremp und Marija Stanisavljevic | Traditionelle Fragen, neue Verbindlichkeiten: Hochschullehre digital und leiblich

                 Ort möglich ist. Aktuell fehlt es jedoch grosso modo an                     Die Tradition des Wissens, das angehäuft und kommen-
                 notwendigen Lehrerfahrungen, um adäquate Verglei-                           tiert wird, stand im Zentrum. Wissenschaft in einem
                 che anstellen zu können – aber Erfahrungen stellen sich                     modernen Sinne, die sich eng mit Forschung verbin-
                 sinngemäss mit der Zeit ein, also seien wir geduldig.                       det, ist daher kein Konzept der mittelalterlichen Uni-
                                                                                             versität, wohl aber Tradierung eines anerkannten – und
                 Vergessen werden sollte dabei jedoch nicht, dass Leh-                       insofern: gesicherten – Wissens. Studieren meint hier
                 ren zunächst ein Absichtsbegriff und kein Wirkungsbe-                       die Aneignung und Durchdringung eines bestehenden
                 griff darstellt: Lernen kann nicht bewerkstelligt werden.                   Wissensbestandes. Die Vorlesung – so liesse sich verein-
                 Wir kennen zudem alle die Erfahrung, dass zwar gelernt                      fachend sagen – diente dazu, diesen Wissensbestand
                 wird, nicht aber das Intendierte. Gleichwohl macht Leh-                     überhaupt darzustellen und zu erklären, die Disputation
                 ren nur Sinn, wenn Lernen auch tatsächlich beabsich-                        beabsichtigte die Anwendung und Vertiefung durch
                 tigt ist. Lehren ist also ein Absichtsbegriff, aber kein Er-                Diskussion in einer stark mündlich geprägten Lernkultur.
                 folgsbegriff, denn der Erfolg der Bemühungen ist nicht                      Die Schlüsselfigur war dabei der Professor, der im Sinne
                 bereits mit dem Begriff der Lehre verknüpft. Oder wie                       eines Mediums das Wissen an die Studenten vermittel-
                 Jürgen Oelkers es ausdrückt: «Man kann lehren, ohne                         te. Die Professoren «stellten die kanonischen Aussagen
                 Erfolg zu haben, aber man kann nicht lehren, ohne es zu                     der Disziplin vor, systematisierten und sicherten auf die-
                 intendieren.» (Oelkers, zitiert nach Terhart 2009, S. 19)                   se Weise die Überlieferung» (Apel, 1999, S. 20).

                 Die Absicht mündet also nicht zwangsläufig in einem                         Eine fundamentale Veränderung erfährt sowohl die
                 Handlungsvollzug und dieser erzeugt seinerseits nicht                       professorale Rolle als auch das gesamte universitäre
                 zwangsläufig eine wie auch immer wahrnehmbare                               Lehr-/Lerngefüge mit der Erfindung und Verbreitung
                 Wirkung. Diese Feststellung mag trivial klingen – umso                      des Buchdrucks. Schleiermacher beschreibt diese Ver-
                 überraschender die (Kurzschluss-)Reaktionen seitens                         schiebung in der gelebten Lehr- und Vermittlungspra-
                 etlicher Hochschuldozierender und Hochschuldidak­                           xis überaus pointiert:
                 tiker, wenn es um die Beurteilung des vergangenen
                 digitalen Corona(!)-Semesters geht. Denn: Weder                                Nichts Jämmerlicheres zu denken als dieses. Ein
                 wird die Präsenzlehre infolge notwendiger Massnah-                             Professor, der ein ein- für allemal geschriebenes
                 men vergangener Monate verschwinden, noch kann                                 Heft immer wieder abliest und abschreiben lässt,
                 die digitale (zutreffender: digitalisierte) Lehre anhand                       mahnt uns sehr ungelegen an jene Zeit, wo es
                 ebensolcher kurzfristiger Umstellungen als das Non-                            noch keine Druckerei gab und es schon viel wert
                 Plus-Ultra bewertet werden. Voreilig mahnende oder                             war, wenn ein Gelehrter seine Handschrift vielen
                 lobende Bewertungen, welche die Lehre als monokau-                             auf einmal diktiert, und wo der mündliche Vor-
                 sale Kette von Absichten und Wirkungen verstehen,                              trag zugleich statt der Bücher dienen musst. Jetzt
                 sind wohl fehl am Platz.                                                       aber kann niemand einsehn, warum der Staat ei-
                                                                                                nige Männer leidglich dazu besoldet, damit sie
                 Auf der Suche nach möglichen Beurteilungen gilt es viel-                       sich des Privilegiums erfreuen sollen, die Wohltat
                 mehr, die gesamte Komplexität der Bedingungen und                              der Druckereien ignorieren zu dürfen, oder wes-
                 Kontexte guter Lehre analytisch zu entfalten, die sich                         halb wohl sonst ein solcher Mann die Leute zu
                 zwischen der Absicht, gute Lehre zu machen, und den                            sich bemüht und ihnen nicht lieber seine ohne-
                 Auswirkungen solcher Absichten aufspannen. Ein Blick                           hin mit stehenbleibenden Schriften abgefasste
                 auf frühere gesellschaftliche Entwicklungen und Kon-                           Weisheit auf dem gewöhnlichen Wege schwarz
                 zeptionen der Hochschullehre kann hier hilfreich sein.                         auf weiß verkauft. Denn bei solchem Werk und
                                                                                                Wesen von dem wunderbaren Eindruck der le-
                 3. Buchdruck als Herausforderung für                                          bendigen Stimme zu reden, möchte wohl lächer-
                    die Hochschullehre                                                          lich sein. (Schleiermacher, 2000/1808, S. 130)
                 Die Bildungsinstitutionen und die Lehrformen, wel-
                 che sie auszeichnen, sind nichts Selbstverständliches.                      Nun also ist der Professor nicht das einzige Medium,
                 Vielmehr entsteht die Selbstverständlichkeit, mit der                       das Wissen vermittelt, Bücher tun es auch. Und man
                 unsere Gesellschaft Bildungsinstitutionen als Orte des                      ahnt es schon: Auch Bücher gehen mit der Vorstellung
                 Lehrens und Lernens wahrnimmt, mit der Entstehung                           einher, die Lehre von Bildungsinstitutionen räumlich
                 der Universitäten im Mittelalter. Die ersten, mittel-                       zu entkoppeln.
                 alterlichen Universitäten sind stark geprägt von einer
                 mündlichen Kultur. Die beiden hauptsächlichen Lehr-                         Schon mit der Durchsetzung des Buchdrucks und in
                 formen – die Vorlesung und die Disputation – dien-                          der Folge mit der Etablierung der technischen Verbrei-
                 ten insbesondere der Aneignung eines Wissensbe-                             tungsmedien (vgl. Luhmann 1998) beginnt also jener
                 standes und seiner Erörterung.                                              Prozess, dessen neusten Schub wir nun beobachten

48   VSH-Bulletin Nr. 3/4, November 2020 | AEU-Bulletin no 3/4, novembre 2020
Peter Tremp und Marija Stanisavljevic | Traditionelle Fragen, neue Verbindlichkeiten: Hochschullehre digital und leiblich

können: «der Trend von hierarchischer zu heterarchi-                      So wollen wir folglich die angestrebte und faktische
scher Ordnung und der Verzicht auf räumliche Integ-                       Digitalisierung der Lehre als einen neuen Medienschub
ration gesellschaftlicher Operationen» (ebd.: 312). Der                   verstehen, der mit traditionsreichen Erwartungshal-
Buchdruck bringt also nicht nur die Möglichkeit, die                      tungen einhergeht: die Entkopplung der Lehre von Bil-
Lehre – genauer: die Wissensvermittlung – von kon-                        dungsinstitutionen, die Verbreitung und die Demokra-
kreten Orten abzulösen. Darüber hinaus entsteht die                       tisierung des Wissens, die Veränderung der Rolle der
heute noch wirksame Vorstellung von Medien, welche                        Lehrenden sowie Individualisierung des Lernens.
die Demokratisierung der Wissensverteilung voran-
treiben. Dank des Buchdrucks kann das Wissen nun                          Die Lehre verändert sich unter den veränderten gesell-
losgelöst von konkreten Lehrsettings oder Personen                        schaftlichen Bedingungen und unter dem Einfluss neu-
vermittelt (oder zumindest weiter transportiert) wer-                     er Medien. Und trotz grosser und kleiner, folgenreicher
den. Doch die Entbindung der Lehre von räumlicher                         und folgenloser medialer Entwicklungen ist die tradi-
und zeitlicher Sychnonizität steigerte den Deutungs-                      tionsreiche Präsenzlehre von den Hochschulen nicht
bedarf geschriebener ­Texte (vgl. Ziemann 2012).                          verschwunden. Im Gegenteil: nach wie vor kann die
                                                                          Hochschule als eine der Präsenzinstitutionen verstan-
Lesen wir das Zitat Schleiermachers nochmals, so                          den werden (vgl. Stichweh 2015). Denn, wie einführend
wird folglich auch klar, dass die Lehrenden dadurch                       dargelegt, erschöpft sich die Funktion der Hochschule
nicht marginalisiert wurden. Vielmehr wurde das Rol-                      nicht in der Vermittlung des Wissens und in der An-
lenverständnis als Lehrende entsprechend medialer                         häufung spezifischer Kompetenzen und Skills. Für die
Entwicklung neu ausgehandelt, die Lehre bekam eine                        Hochschulsozialisation genauso notwendig sind leibli-
andere Bedeutung.                                                         che Erfahrungen der Anwesenheit Anderer, insbeson-
                                                                          dere der Hochschullehrenden und Kommilitoninnen.
4. Digitalisierung der Lehre:                                            Was sich aber immer wieder verändert und neu aus-
   ein weiterer Medienschub                                               gehandelt wird, sind die unterschiedlichen Lehrformen
Ähnlich wie die Organisationen des Religionssystems                       und die Möglichkeiten, gute Lehre zu machen.
implementieren auch die Bildungs- und Wissen-
schaftsinstitutionen von ihren Anfängen an Medien in                      5. Hochschulstudium als
ihrem Sinne. Medien werden zur Wissensvermittlung,                           Wissenschaftssozialisation
zur Veranschaulichung, zu Beweisführung etc. einge-                       Hochschulen sind Einrichtungen der Wissenschaft,
setzt. Besucht man die altehrwürdige Medizinfakultät                      akademische Sozialisation meint die Auseinander-
in Bologna, kann man wunderprächtige anatomische                          setzung mit Wissenschaft. Beabsichtigt sind nicht
Präparate bestaunen, die zur Veranschaulichung me-                        nur fundierte fachliche Kenntnisse, sondern auch ein
dizinischer Zusammenhänge und des medizinischen                           Wissen über die Generierung wissenschaftlicher Wis-
Wissens dienten. Die Erfindung der Fotografie und                         sensbestände und deren Reichweite. Vor allem geht es
später des Films trieb solche Vorstellungen von «reali-                   auch darum, einen begründeten wissenschaftlichen
tätsgetreuen» Abbildbarkeit der natürlichen und der                       Standpunkt einzunehmen im Wissen um andere Per-
sozialen Wirklichkeit auf die Spitze (vgl. Hörisch 2004).                 spektiven und Positionen.
Rhetorisches Geschick, stringente Logik und charis-
matische Persönlichkeit reichten nicht mehr aus, um                       Während ich vieles auch alleine resp. mit schriftlichen
argumentativ zu überzeugen. Fortan musste der Pro-                        Anleitungen oder e-Tutorials lernen kann (wie ich mei-
fessor auch mit und gegen die vermeintliche, bildba-                      nen Gartenschlauch installiere oder mein Fahrrad fli-
sierte Objektivierbarkeit der Welt konkurrieren.                          cke), setzt dieses Verständnis akademischer Bildung
                                                                          notwendigerweise den Austausch mit anderen voraus.
Schaut man sich die digitalen Anwendungen und                             Ein akademisches Studium im allein-Modus ist schlicht-
Tools, welche aktuell vermehrt in die Hochschullehre                      weg nicht denkbar. Dem entspricht auch die Konzep-
ihren Einsatz finden (Moodle, Olat, Illias, Padlet, Zoom                  tion von Bildung als gesellschaftliche Institution.
etc.), an, so wird man rasch feststellen, dass sie alle pri-
mär dafür da sind und aktuell dafür genutzt werden,                       Das Hochschulstudium ist mehr als eine Anhäufung
die schon bestehenden Wissensbestände zu vermit-                          von Skills, Bildung ist nicht bloss eine abrufbare und
teln. An den Inhalten einer Geografie-Prüfung hat sich                    im Arbeitsprozess nutzbare Ressource. Entsprechend
wenig geändert, nur weil sie mithilfe von Moodle statt-                   ist auch die Hochschullehre etwas anderes als ledig-
findet – einmal abgesehen davon, dass sich selbst die                     lich Wissensvermittlung. Die beteiligten Personen und
Prüfungsform nur in den wenigsten Fällen ändert. Im                       ihr Beziehungsgeflecht spielen dabei ebenso eine Rolle
Rahmen der aktuellen Lehrpraxis sind digitale Anwen-                      wie die soziodemografischen Koordinaten und habi-
dungen folglich als Medien der Wissensvermittlung zu                      tuellen Konstellationen der Beteiligten, die materiel-
verstehen, welche den Studienprozess unterstützen.                        len Ausstattungen und räumlichen Begebenheiten.

                                                                                  VSH-Bulletin Nr. 3/4, November 2020 | AEU-Bulletin no 3/4, novembre 2020   49
Peter Tremp und Marija Stanisavljevic | Traditionelle Fragen, neue Verbindlichkeiten: Hochschullehre digital und leiblich

                 Auch disziplinäre Besonderheiten und Gepflogenhei-                          Curriculare Planung besteht dann u.a. darin, die ver-
                 ten sind bedeutsam. Und ja, Lehre hängt auch davon                          schiedenen didaktischen Funktionen in eine sinnvol-
                 ab, ob Lehrende und Lernende im Modus der körper-                           le Choreografie zu bringen, die Lehrtätigkeit in Mo-
                 lichen Kopräsenz leiblich anwesend sind oder ob sich                        dulen und Veranstaltungen darin, diese Funktionen
                 technische Produktions- und Reproduktionsmedien                             nach den Regeln der Lehrkunst zu realisieren. In wel-
                 dazwischenschieben. Die Frage der medialen Vermitt-                         chem Virtualisierungsgrad dies dann auch sein mag.
                 lung bzw. der leiblichen Anwesenheit stellt folglich nur
                 ein Aspekt des hochgradig komplexen sozialen Phä-                           «Präsenz», so schreibt Falk Scheidig, sei «ein polydimen-
                 nomens akademische Lehre dar. Töricht also, wer die                         sionales Konstrukt, dessen Facetten und hochschuldi-
                 Lehrbedingungen des Corona-bedingten digitalen Se-                          daktischen Relationen – etwa zur Hochschule als Ort
                 mesters 2020 als ein quasiexperimentelles Szenario zur                      und Idee, der Lehrveranstaltung als Gemeinschaft, dem
                 Erforschung monokausaler Wirkungsketten versteht.                           Lernen als kognitiver Aktivität, der Sichtbarkeit von
                                                                                             Lernprozessen, der Kommunikation unter Studieren-
                 Hochschulen sind Orte der Wissensproduktion, -re-                           den und mit Lehrenden – nur unzureichend in einer
                 produktion und -vermittlung und zugleich Orte                               Gleichsetzung mit ‹bloßer› physischer Anwesenheit
                 einer sehr spezifischen Art der Sozialisation. Für bei-                     Rechnung getragen wird.» (Scheidig, 2020, S. 255).
                 de Funktionen der Hochschule waren seit deren Aus-
                 differenzierung als Horte der Wissensproduktion und                         Die Person bleibt wichtig – gerade in forschungsorien-
                 der Bildung sowohl Aspekte der Anwesenheit und                              tierten Hochschulen, in denen die Dozierenden an der
                 Präsenz, als auch Aspekte der medialen Vermittlung                          Generierung des «Lehr-Stoffes» wesentlich beteiligt
                 von Wissen essentiell.                                                      sind. Wir können dafür bei obigen Zitat von Schleier-
                                                                                             macher und der «Herausforderung Buchdruck» an-
                 6. Lehre: Didaktische Funktionen kombinieren                                schliessen: Für Schleiermacher muss der Kathedervor-
                 Universitäre Lehre stellt eine besondere Kultivie-                          trag «die Natur des alten Dialogs» (Schleiermacher,
                 rung des Lernens dar, die sich beispielsweise in                            2000/1808, S. 129) haben. In einem produktiven Sinne:
                 den etablierten Veranstaltungsformaten abbildet.
                 So ist zum Beispiel die Vorlesung (Lernort: Hör-                               «Der Lehrer muss alles, was er sagt, vor den Zu­
                 saal) die klassische universitäre Lehrform für die                             hörern entstehen lassen; er muss nicht erzählen,
                 Vermittlung von systematischem Grundlagen- und                                 was er weiss, sondern sein eignes Erkennen, die
                 Orientierungswissen. Demgegenüber dominiert im                                 Tat selbst, reproduzieren, damit sie beständig
                 Seminar (Lernort: Seminarraum) der Wechsel von                                 nicht etwa nur Kenntnisse sammeln, sondern die
                 Information und Verarbeitung resp. Vertiefung. Ein                             Tätigkeit der Ver­nunft im Hervorbringen der Er-
                 Seminar eignet sich für die Präsentation und mass­                             kenntnis unmittelbar anschauen und anschauend
                 stabbildende gemeinsame Bewertung und Beurteilung                              nachbilden.» (Schleiermacher, 2000/1808, S. 129).
                 von Problembearbeitungen. Übungen (Lernort: Labor
                 und Übungsraum) bieten Gelegenheit erprobender                              Notwendige Voraussetzung sind zwei «Tugenden»,
                 und übender Tätigkeit in einer geschützten und auf                          die sich vereinigen müssen: «Lebendigkeit und Be-
                 Lernen und kontrollierte Erfahrung hin gestalteten                          geisterung auf der einen Seite … ebenso notwendig ist
                 Lernumgebung. Der Raum stellt hier eine Art Mate-                           ihm aber auch Besonnenheit und Klarheit» (Schleier-
                 rialiensammlung, Methodenrepertoire und Problem-                            macher, 2000/1808, S. 129).
                 archiv dar.
                                                                                             Schleiermacher selber war – glauben wir dem Zeitge-
                 Selbstverständlich sind Mischformen denkbar: So fin-                        nossen Diesterweg, der Vorlesungen bei ihm besucht
                 den auch in Vorlesungen kleine Diskussionen statt, im                       hatte – ein hervorragender Universitätslehrer mit
                 Labor werden Inhalte frontal vermittelt oder die Pro-                       elaborierter Lehrmethode, die seinem expliziten An-
                 jektarbeit wird im Seminar vorgestellt. Vermittlung,                        spruch der Universität entsprach: «Seit Sokrates‘ Tod
                 Vertiefung, Einübung, Anwendung, aber auch bei-                             hatte, soweit meine Kunde reicht, also seit 22 Jahr-
                 spielsweise Leistungsrückmeldungen sind didaktische                         hunderten hatte die Welt nichts Ähnliches oder Glei-
                 Funktionen, die sich in einem Studiengang verbinden.                        ches gesehen.» (Diesterweg, 1959/1834, S. 252)
                 Gerade die traditionelle Verknüpfung von Vorlesung
                 und Seminar zeigt, dass Vermittlung sinnvollerweise                         Und Diesterweg begründet dies dann einer Beson-
                 sowohl mit individueller Vertiefung als auch mit Aus-                       derheit der Lehrmethode Schleiermachers: «Es war
                 tausch gekoppelt sein soll.                                                 ein lebendiger Denkprozess; … man sah denken, man
                                                                                             hörte denken, man fühlte es. … Wer von ihm nicht
                                                                                             denken lernte, konnte es nirgends lernen.» (Diester-
                                                                                             weg, 1959/1834, S. 256)

50   VSH-Bulletin Nr. 3/4, November 2020 | AEU-Bulletin no 3/4, novembre 2020
Peter Tremp und Marija Stanisavljevic | Traditionelle Fragen, neue Verbindlichkeiten: Hochschullehre digital und leiblich

Diesterweg beschreibt Schleiermachers Lehre als eine                      Ein (Studien-)Buch kann dabei bestimmte Funktionen
leibliche Erfahrung, für die die Person der Lehrenden                     übernehmen, ebenso eine Lernplattform. Die physi-
von zentraler Bedeutung ist. Schleiermacher vermittelt                    sche Kopräsenz in demselben Raum ermöglicht aller-
nicht nur, er verkörpert die Lehre, das Wissen, die For-                  dings andere Bildungserfahrungen. Um dies mit einem
schung und die Institution. Er verkörpert damit das Ver-                  Vergleich zu illustrieren: Selbstverständlich können Sie
sprechen, welches mit Bildung eingehergeht: der habitu-                   auch zu Hause alleine über einen Witz lachen, den Sie
ellen Veränderung und der persönlichen Positionierung.                    in der Zeitung lesen. Sie werden aber in vergnüglicher
                                                                          Runde anders über denselben Witz lachen können.
7. Bedeutsame Phase Studienbeginn
Das Hochschulstudium intendiert und unterstützt                           8. Neue Aushandlungsprozesse beobachten
die Wissenschaftssozialisation. Dabei spielt der Ein-                     Weder steht Präsenzlehre für ein antiquiertes oder
stieg eine bedeutsame Rolle. Die Studieneingangs-                         einzig richtiges Verständnis von Bildung, noch wird
phase kann als (hochschuldidaktische) Antwort auf                         digitale Lehre die Präsenz vollständig ablösen können.
die Frage verstanden werden, wie der Beginn eines                         Vielmehr erhöht der Einsatz neuer Medien die Kom-
Studiums konzipiert sein kann, damit das Studium                          plexität der Lehr-/Lernbedingungen und wird sich,
gelingt. Insbesondere geht es in dieser Phase um die                      so möchten wir in durchaus prognostischer Manier
Gestaltung der Passung zwischen individuellen Vor-                        schlussfolgern, als eine weitere legitime Form der Wis-
aussetzungen und Erwartungen und institutionellen                         senserschliessung und -vermittlung etablieren. Das
Ansprüchen und Zielsetzungen. Mit dieser Passung                          Glück, in der Zeit medialer Umbrüche lehren und for-
sind auch Fragen der Studienzufriedenheit, Studien-                       schen zu dürfen, liegt in der Möglichkeit, ebendiese
engagement und Studienleistung verbunden.                                 Prozesse der Transformation mit notwendiger analy-
                                                                          tischer Distanz beobachten zu können. Und schon ein
Der Studienbeginn ist aber insbesondere auch eine                         Blick auf eine per Zoom übertragene Veranstaltung
bedeutsame Phase der Wissenschafts- und Hoch-                             bestätigt uns, dass wir uns gerade in einer Übergangs-
schulsozialisation: Studierende tauchen in eine Welt                      und Umbruchsphase befinden: Während die Lehren-
ein, die im Vergleich mit vorangehenden Bildungsein-                      den vor heimischen Kulissen sitzend mit der Technik
richtungen einen anderen Umgang mit Wissen pflegt                         hantieren, begegnen ihnen die schwarzen Kästen der
und spezifische Lehr-/Lernkulturen kennt. Oder sehr                       «anwesenden» Studierenden, die ihre Kameras und
konkret: Die schulischen Hausaufgaben werden durch                        Mikrophone ausgeschaltet haben. Schlussfolgern
das Selbststudium abgelöst.                                               kann man, dass die minimale Verbindlichkeit der klas-
                                                                          sischen Vorlesungssituation, die aus gegenseitigem
Wie finden sich Studienanfängerinnen und -anfänger                        Augenschein besteht, im digitalen Setting zu ver-
in dieser Wissenschaftswelt ein, wie sie in Hochschulen                   schwinden droht. Jedoch soll deswegen nicht der vor-
repräsentiert wird? Wie gelingt es, eine wissenschaft-                    eilige Schluss gezogen werden, dass die neuen Settings
lich-disziplinäre Identität aufzubauen und in die Denk-                   gar keine Verbindlichkeiten mehr erfordern. Sehr wohl
weise einer Disziplin hineinzufinden mit ihrem spezifi-                   wird es neue geben. Unter hochschuldidaktischen As-
schen Wissenskorpus sowie hinsichtlich der Methoden                       pekten und mithilfe des soziologisches Theorie- und
und Zugänge der Disziplin? Wie wird die Besonderheit                      Methodenrepertoires können die gesellschaftlichen
des wissenschaftlichen Wissens und damit auch der                         Aushandlungsprozesse, welche zur Etablierung neu-
Hochschulen erfahrbar, also das, was Humboldt als                         er Wissensordnungen und sozialen Verbindlichkeiten
«Eigenthümlichkeit der höheren wissenschaftlichen                         führen, beobachtet und analysiert werden. n
Anstalten» festgehalten hat, «dass sie die Wissenschaft
immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem be-
handeln und daher immer im Forschen bleiben»?

Literatur
Apel, Hans-Jürgen (1999): Die Vorlesung. Einführung in eine akademische Lehrform. Köln: Böhlau.
Bernfeld, Siegfried (1925/1990): Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Hörisch, Jochen (2004): Eine Geschichte der Medien. Von der Oblate zum Internet. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Terhart, Ewald (2009): Didaktik. Eine Einführung. Stuttgart: Reclam.
Scheidig, Falk (2020): Digitale Transformation der Hochschullehre und der Diskurs über Präsenz in Lehrveranstaltungen. In:
Reinhard Bauer, Jörg Hafer, Sandra Hofhues, Mandy Schiefner-Rohs, Anne Thillosen, Benno Volk & Klaus Wannemacher (Hrsg.):
Vom E-Learning zur Digitalisierung. Mythen, Realitäten, Perspektiven. Münster: Waxmann, S. 243–259.
Stichweh, Rudolf (2015): Die Universität als Anwesenheitsinstitution. In: Forschung und Lehre 22 (2), S. 85.
Ziemann, Andreas (2012): Soziologie der Medien. Bielefeld: transcript.

                                                                                  VSH-Bulletin Nr. 3/4, November 2020 | AEU-Bulletin no 3/4, novembre 2020   51
Sie können auch lesen