Twin Peaks - JUN/JUL.17 - Musikzeitung Loop

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Twin Peaks - JUN/JUL.17 - Musikzeitung Loop
JUN/JUL.17

Twin Peaks
Twin Peaks - JUN/JUL.17 - Musikzeitung Loop
EINSCHLAUFEN
Betrifft: Verwirrt von einer verworrenen Erzählung
Die junge Frau ist bereits seit einer Weile tot,          Memos an seine Sekretärin Diane ins Diktierge-        Impressum Nº 05.17
doch nun ist ihre Leiche aufgetaut. Sie steckt in         rät spricht. Seine Nachforschungen auf dem Land       DER MUSIKZEITUNG LOOP 20. JAHRGANG
einer Plastiktüte, und unter ihren Fingernägeln           werden ihn an die Grenzen der geistigen Gesund-
ziehen die Ermittler mit Pinzetten ein winziges           heit bringen, denn hier draussen scheint die All-     P.S./LOOP Verlag
Zettelchen mit dem Buchstaben R drauf hervor.             tagslogik aufgehoben.                                 Langstrasse 64, 8004 Zürich
Der Sheriff ist vor Ort, sein Gehilfe schiesst an         Als «Twin Peaks» ausgestrahlt wurde, war die          Tel. 044 240 44 25, Fax. …27
der Fundstelle mit zittriger Hand ein paar Bilder,        Welt noch eine andere. Mobiltelefonie und In-         www.loopzeitung.ch
dann bricht er in Tränen aus. Sie finden keine            ternet waren unerschwinglich oder unbekannt,
Erklärung dafür, wer Laura Palmer – die junge             was die Zuschauer vor einige Herausforderungen        Verlag, Layout: Thierry Frochaux
Frau in der Tüte – ermordet haben könnte, der             stellte. Um dem verworrenen Plot folgen und den       inserate@loopzeitung.ch
Fall scheint eine Nummer zu gross zu sein für die         Überblick über das verwirrend zahlreiche Perso-
Kleinstadtpolizisten. Kurze Zeit später erhalten          nal behalten zu können, benötigte man eine Liste      Administration, Inserate: Manfred Müller
sie Verstärkung: Das FBI schickt Special Agent            und einen Plan. Die entsprechenden Informatio-        admin@loopzeitung.ch
Dale B. Cooper, der das Verbrechen in ländlicher          nen lieferten die Fernsehzeitschriften – oder das
Idylle aufklären soll.                                    Booklet der Soundtrack-CD. Es konnte auch nie         Redaktion: Philippe Amrein (amp),
Mit dieser Ausgangslage lancierte David Lynch im          schaden, Papier und Bleistift zur Hand zu haben.      Benedikt Sartorius (bs), Koni Löpfe
Frühling 1990 seine Fernsehserie «Twin Peaks»,            Entsprechend ausgerüstet sassen wir dann also
in der er über zwei Staffeln hinweg eine aufwüh-          vor dem Fernseher, Woche für Woche. Auf dem           Mitarbeit: Philipp Anz (anz), Yves Baer,
lende, dunkle und beklemmende Geschichte er-              Bildschirm flackerte die Titelsequenz auf, und aus    Thomas Bohnet (tb), Chrigel Fisch (fis),
zählte, die so ziemlich alles enthält, was einem          den Lautsprechern erklang die Bariton-Gitarre         Christian Gasser (cg), Michael Gasser (mig),
Nachts den Schlaf rauben kann: Grenzerfahrun-             des Eröffnungsstücks. Es war die perfekte musi-       Christa Helbling (hel), Hanspeter Künzler (hpk),
gen und geheime Tagebücher, rückwärts gedrehte            kalische Untermalung: dräuende Synthesizer und        Tony Lauber (tl), Philipp Niederberger,
Szenen, schummrig ausgeleuchtete Traumsequen-             tremolierende Akkorde, Raschelschlagzeug, Vib-        Jürg Odermatt, Sarah Sartorius, Stefan Zihlmann
zen, Augenklappen, einen Einarmigen, einen                rafon und Fingerschnippen.
Riesen, einen Zwerg, Doppelleben und Drogen-              Nun folgt also – ein Vierteljahrhundert später –      Druck: Tagblatt Print, St. Gallen
sucht, Parapsychologie, Schwarze Magie und ein            die dritte Staffel. Wir holen die alten Unterlagen
tödliches Schachspiel. Das Leben in der Klein-            aus dem Privatarchiv, legen sie auf dem Fernseh-      Das nächste LOOP erscheint am 7.7.2017
stadt Twin Peaks ist geprägt von permanentem              tischchen bereit, giessen Kaffee ein und lassen uns
Misstrauen, auch gegenüber dem Ermittler von              von David Lynch noch einmal den Schlaf rauben.        Titelbild: Audrey Horne & Dale B. Cooper
der Bundespolizei, der sich vom lokalen Kaffee
zu Komplimenten hinreissen lässt und detaillierte         Deputy Guido

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LOOP Musikzeitung, Langstrasse 64, 8004 Zürich, Tel. 044 240 44 25, admin@loopzeitung.ch
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julee cruise

                                                                                              DIE STIMME
Als Julee Cruise 1985 auf Angelo                                     dem Soundtrack zu «Twin
                                                                     Peaks» auftauchen sollten.
                                                                                                     Pop Instrumental» gewann, und der Soundtrack mit Beteili-
                                                                                                     gung von Julee Cruise verkaufte sich alleine in den USA über

Badalamenti und David Lynch traf,                                    «Ich war mir nicht sicher
                                                                     über diesen Stil, als wir den
                                                                                                     eine halbe Million mal. 1993 spannte das Trio für das Al-
                                                                                                     bum «The Voice of Love» erneut zusammen und machte in

nahm die Laufbahn der Sängerin                                       Plattenvertrag bekamen»,
                                                                     erzählte Cruise dem «Rol-
                                                                                                     ähnlichem Stil weiter. Aus der Instrumentalversion von «She
                                                                                                     Would Die for Love» wurde das Titelthema des Films «Twin

eine unerwartete Wendung.                                            ling Stone». «Ich spielte die
                                                                     Demos Freunden vor, und
                                                                     jemand meinte: ‹Weisswein-
                                                                                                     Peaks: Fire Walk with Me», doch die Platte konnte nicht
                                                                                                     mehr vom – bereits abflachenden – «Twin Peaks»-Hype pro-
                                                                                                     fitieren. Anschliessend trennten sich die Wege. Julee Cruise
In den ersten zwei Staffeln von «Twin Peaks» hatte Julee             Muzak.› Aaaahh!» Aber sie       ging zurück zum Theater, als Ersatz von Cindy Wilson mit
Cruise nur zwei Auftritte als namenlose Nachtclub-Sängerin           erkannte, dass Badalamenti      den B 52’s auf Tournee und verschwand dann länger von der
in der Bang Bang Bar. Doch ihr traumhafter, sphärischer              unverwechselbare «mood          Bildfläche. Erst zu Beginn der Nullerjahre tauchte sie wieder
Gesang und der Song «Falling» sind für immer mit der Se-             pieces» komponierte, und        auf, etwa als Sängerin für Khan auf dem Track «Say Good-
rie verbunden. Cruise wurde damit zu einer Pionierin des             sie liebte die Lyrics von       bye». Mit ihm und anderen Elektronikern entstand 2002 ihr
Dream Pop, und noch heute wird Sängerinnen gerne das                 Lynch. Die Resonanz auf         drittes Album «The Art of Being a Girl», auf dem sie stimm-
Attribut einer «Julee-Cruise-Stimme» zugeschrieben. Dabei            Platte und Konzerte hinge-      lich eine andere Bandbreite präsentierte und sich mehr im
war sie früher mehr in der Belting-Gesangstechnik zuhause,           gen war anfänglich beschei-     Trip-Hop, Cabaret und Bossa Nova als im früheren Lynch/
schmetterte ihre Lieder mit Soul und Eindringlichkeit. «Ich          den. Ein Vertreter der Plat-    Badalamenti-Sound bewegte. Dann wieder nur sporadische
sang mit viel Kraft», sagt sie über ihre frühen Tage als The-        tenfirma sagte zu Cruise,       Lebenszeichen auf Tonträgern, vor allem im elektronischen
ater- und Revue-Sängerin in New York, wo sie auch einmal             die zu der Zeit nebenbei        Umfeld – etwa mit Pluramon, Moby oder 2011 mit dem
Janis Joplin spielte. Der Wandel der damals 29-Jährigen              noch als Kellnerin arbeitete,   ehemaligen Dee-Lite-Mitglied DJ Dmitry als Produzent für
begann 1985 mit David Lynchs Film «Blue Velvet». Lynch               unmissverständlich: «Für        ihr viertes Album «My Secret Life», das jedoch wenig Be-
engagierte Angelo Badalamenti als Gesangscoach für Schau-            dich ist es vorbei.» Rückbli-   achtung fand.
spielerin Isabella Rosellini und wollte im Film eigentlich Tim       ckend hat das Album aber
Buckleys «Song to the Siren» in der Version von This Mor-            bis heute nichts von seinem                        «ICH HABE KEINE AHNUNG»
tal Coil verwenden. Doch er bekam die Rechte dafür nicht.            Reiz eingebüsst und be-
Stattdessen entstand zusammen mit Badalamenti das Lied               sticht durch die Kombinati-     Dazwischen wurde sie auch immer mal wieder für «Twin
«Mysteries of Love». Cruise, die Badalamenti vom Theater             on von Cruises schläfrigem      Peaks»-Abende gebucht. In einem Interview erinnert sie sich
her kannte, wurde mit dem Casting einer Sängerin beauf-              Gesang, Lynchs Spiel mit        an einen besonders denkwürdigen in einem 5-Sterne-Hotel
tragte, aber keine der Kandidatinnen überzeugte. Schliesslich        Klischees und Badalamentis      in St. Petersburg, das für den Anlass komplett im «Lynch-
versuchte sie es selber. «Es war Liebe auf den ersten Ton», so       Verbindung von Retro-Sti-       Stil» dekoriert wurde: «Ich sang sieben Lieder und verdiente
Badalamenti. Und für Julee Cruise der Beginn der Hinwen-             len mit – für damals – mo-      an einem Abend mehr als sonst mit einer ganzen Tour.» Für
dung zum Dream Pop: «Im Studio sagte David immer: ‹Sing              derner Studiotechnik.           die dritte Staffel gehört sie nun ebenfalls zum Ensemble und
wie ein Engel, sing wie ein Engel...›», erinnerte sie sich später.   Dann kam «Twin Peaks».          arbeitete nach 25 Jahren erstmals wieder mit Lynch und Ba-
                                                                     Zeitgleich mit «Floating        dalamenti zusammen. Wie ihr Auftritt in Ton und/oder Bild
                 WEISSWEIN-MUZAK UND ELEKTRONIK                      in the Night» arbeiteten        aussehen wird, weiss aber noch niemand, und die 60-Jähri-
                                                                     Lynch und Badalamenti           ge hat ihm Vorfeld auch nichts verraten: «Ich habe wirklich
Es war der Beginn einee äusserst fruchtbaren siebenjäh-              auch an der Entwicklung         keine Ahnung, es ist ein echtes Enigma, das nur David Lynch
rigen Zusammenarbeit mit Lynch als Texter, Badalamen-                der TV-Serie und ihrer Be-      auflösen und erklären kann.» Auch was danach kommt, ob
ti als Komponist und Cruise als Sängerin und Muse. Im                gleitmusik. Aus «Falling»       sie auf die Bühne zurückkehrt oder eine neue Platte auf-
September 1989 erschien ihr Debütalbum «Floating in the              machte der Komponist das        nimmt, weiss Julee Cruise nicht. Nur eines ist sicher: Ihre
Night» mit den Stücken «Falling», «The Nightingale» oder             «Twin Peaks Thema», das         Stimme wird für immer diejenige von «Twin Peaks» bleiben.
«Into the Night», die ein halbes Jahr später alle auch auf           den Grammy für das «Best                                                         Philipp Anz
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SZENE

                                                         KULTUR
                                                         STIMME
                         Kindergeschichten CD/mp3
                         Bezahlung nach Gutdünken
                                                         FÜR ALLE
                                                         Das Monatsmagazin mit Kulturkalender
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                                                             D ER AC FSTAND
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                  2017
                                                  N
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xenix.ch
Twin Peaks - JUN/JUL.17 - Musikzeitung Loop
DER TOD IST ECHT
                                                                                                                                      phil elverum
Als Mount Eerie veröffentlichte
Phil Elverum Musik, in der ähnliche
Mysterien wohnten wie in David Lynchs
«Twin Peaks». Dann starb seine Frau –
und alles wurde anders.
                    «Twin Peaks» könnte auch       dem immer wieder Nebel-
                    in Anacortes spielen. Denn     hörner zu hören sind, die
                    dort, am äussersten nord-      auch aus «Twin Peaks»
                    westlichen Zipfel der USA      stammen könnten.
                    – nur unweit vom Drehort
                    in Snoqualmie Valley ent-         ZWISCHEN DEN MYSTERIEN
                    fernt –, existiert ebenfalls
                    alles, was ein Setting für     Zurück im provinziellen
                    eine      klaustrophobische    Anacortes, radikalisierte
                    und mysteriöse TV-Serie        Elverum seine damals be-
                    benötigt. Es gibt neben        reits insulare Musik, die
                    dem Kleinstadtleben ewige      experimentelle Perkussion,
                    Wälder, einen mysteriösen      LoFi-Rock und Folkele-
                    Berg namens Mount Eerie,       mente vereint und von
                    Dampf, der aus den pop-        seiner dünnen, sanften,
                    ulären Saunen hinausweht,      doch überaus einnehmen-
                    Holzverarbeitungswerke –       den Stimme zusammenge-
                    und die Grenze zu Kanada       halten wird. Er gründete
                    für allerlei Schmuggelge-      sein eigenes Label, nannte     er mit der kanadischen Comiczeichnerin und Musikerin
                    schäfte ist auch sehr nah.     sich nach dem mysteriösen      Geneviève Castré zusammenlebte.
                    In Anacortes, Washing-         Hausberg Mount Eerie,
                    ton, lebt Phil Elverum.        während der Einfluss von                                DIE VERHEERUNG
                    Seine Urahnen zogen hier       Black Metal, Naturele-
                    einen Gorilla auf, den sie     menten,      Wikingersagen     2015 – nur vier Monate nach der Geburt ihrer Tochter
                    in einen Zoo schicken          und Zenmotiven stärker         – wurde bei Castré Krebs diagnostiziert. Sie starb im ver-
                    mussten, nachdem er ih-        wurde.       Unüberhörbar      gangenen Sommer. Wie geht nun ein Musiker, der bislang
                    nen das Haus zerstörte,        wurden auch die Spuren,        private Befindlichkeiten in seinen Songs soweit wie möglich
                    und sie waren gross im         die Angelo Badalamentis        gemieden hat, mit einer solchen Tragödie um? Phil Elverum
                    Fischereigeschäft tätig, von   «Twin Peaks»-Soundtrack        wählte den wohl radikalsten und schmerzhaftesten Weg:
                    dem nicht mehr viel übrig      bei Elverum hinterliessen.     Er spielte im Zimmer, in dem seine Frau verstorben ist, mit
                    geblieben ist. Nur noch die    Am Explizitesten geschah       ihren Instrumenten und Aufnahmegeräten Songs ein, die di-
                    Fähren fahren fort, verlas-    dies auf «Wind’s Poem»,        rekt an Geneviève gerichtet sind, in denen er erzählt, wie er
                    sen den Ort, an dem nie-       dem Album aus dem Jahr         ihre Asche verstreut, wie der Pöstler Post bringt, die an sie
                    mand mehr leben will. El-      2009, das zu den ein-          adressiert ist, wie er den Ort besucht, wo sie ein Haus bauen
                    verum ist einer der wenigen    drücklichsten Arbeiten im      wollten, wie er Naturausflüge mit der Tochter unternimmt.
                    Rückkehrer – nach Jahren       Mount-Eerie-Katalog zu         Und wie er immer wieder zusammenbricht.
                    in der Bundeshauptstadt        zählen ist. Im Song «Be-       «Why share so much?», fragt er im Text, der die Platte «A
                    Olympia, wo er unter dem       tween Two Mysteries»           Crow Looked at Me» begleitet, «why tell you, stranger,
                    Alias The Microphones          baut Elverum ein Sample        about these personal moments, the devastation and the
                    einige der aufregendsten       aus dem Laura-Palmer-          hanging love?» Seine Antwort: «I make these songs and put
                    Alben der jüngeren Indi-       Thema ein und singt: «The      them out into the world just to multiply my voice saying
                    egeschichte eingespielt hat.   town rests in the valley be-   that I love her.» Als musikalische Blaupause für «A Crow
                    Er war zur Jahrtausend-        neath twin peaks, buried in    Looked at Me» nennt Elverum «Arise Therefore», ein Al-
                    wende Aufnahmetechniker        space. What goes up here       bum, das Will Oldham noch unter dem Palace-Music-Alias
                    bei K Records und genoss       in the night, in that dark,    eingespielt hat. «I tried to make it simple and pretty»,
                    freien Zugang zum hausei-      blurry place?» Ja, was         schreibt Elverum.
                    genen Studio: «Ich wachte      passiert? Ein Sänger stirbt    Entstanden ist eine Platte, in der die Verheerung, die der Tod
                    jeweils auf und ging direkt    mit dem Ausfaden des           seiner Frau bei ihm hinterlassen hat, selbst für den entfernten
                    ans Aufnehmen. Dort drin       Songs, doch Elverum bleibt     Zuhörer schmerzlich und beinahe körperlich spürbar wird.
                    war meine eigene Welt,         und sagt: «So here I am».      Anders als bei aktuellen Songzyklen über den Tod wie etwa
                    nur ich, am Herumspielen       «So here I am», zurück in      Sufjan Stevens «Carrie & Lowell» gibts keine Erlösung,
                    mit Sound», erinnert er        Anacortes also, von wo aus     keine Filter wie bei Nick Caves «Skeleton Tree», und schon
                    sich in einem Interview an     er immer wieder Platten        gar keinen Trost, denn: «When real death enters the house,
                    diese Zeit, in der auch sein   in die Welt hinausschickte     all poetry is dumb». Was bleibt, ist unermessliche Trauer,
                    klassisches Microphones-       – darunter auch die Auto-      und die Worte: «I love you.»
                    Album «The Glow, Pt. 2»        tune-Explorationen «Pre-                                                  Benedikt Sartorius
                    (2001) entstanden ist, auf     Human Ideas» –, und wo                     Mount Eerie: «A Crow Looked at Me» (P.W. Elverum & Sun)
FLACKERNDE FRAGMENTE
                                                                                Billie Holiday den jungen «Little» Jimmy. Er sang in den
                                                                                Bands von Lionel Hampton und Charlie Parker; er sang bei
                                                                                der Inauguration von Präsident Eisenhower (und 40 Jah-
                                                                                re später bei jener von Bill Clinton). Ray Charles, Dinah
                                                                                Washington oder Marvin Gaye bewunderten ihn. Es gab
                                                                                wundervoll jazzige Scott-Alben in den Sixties, aber es gab
                                                                                auch zermürbende Rechtsstreitigkeiten. Jimmy Scott gab
                                                                                die Musik auf, arbeitete lange Jahre als Krankenpfleger, im
                                                                                Warenlager, als Liftboy. Am Begräbnis seines Freundes Doc
                                                                                Pomus 1991 sang er «Someone To Watch Over Me», und
                                                                                seine Unglaublichkeit fiel Leuten wie dem Sire-Records-
                                                                                Labelboss Seymour Stein oder Lou Reed auf. Scott gelang,
                                                                                schon tief in seinen Sechzigern, eine zweite Karriere. David
                                                                                Lynchs Gespür für aussergewöhnliche Musiker und seine
                                                                                Performance in «Twin Peaks» halfen ihm dabei. Ihre Kol-
                                                                                laboration mündete in eine der (alb)traumhaftesten Filmse-
                                                                                quenzen ever. Der Anfang vom Ende von Agent Cooper as
                                                                                we knew him...
                                                                                                                             Jürg Odermatt

                                                                                Die ultimative Zerstückelung
                                                                                Alles begann mit der «Twin Peaks»-Ausstrahlung im fran-
                                                                                zösischen Fernsehen am Montagabend. Ich nahm mir vor,
                                jimmy scott                                     keine Folge zu verpassen, doch geriet ich schon bald aus
                                                                                dem Takt – und stieg wieder ein, als das Fernsehen der

Die originalen Staffeln von «Twin Peaks»                                        Suisse Romande Lynchs Serie in sein Programm hievte.
                                                                                Aber auch da unterliefen Leben und Arbeit den Vorsatz des

gewährten beklemmende Einblicke in                                              nahtlosen Seriengenusses: Als Redaktor und Moderator ei-
                                                                                ner abendlichen Radiosendung war ich immer mal wieder

eine seltsame Kleinstadt – und wirken                                           auch am «Twin Peaks»-Abend beschäftigt, und ich hatte
                                                                                weder Fernsehgerät noch Videorekorder, um die Lücken

noch immer nach. Vier Erinnerungen.                                             zu schliessen. Und Streaming? Unter Streaming verstanden
                                                                                wir damals allenfalls das sich in der Flussströmung Trei-
                                                                                benlassen.
                                                                                «Twin Peaks» habe ich fragmentiert wahrgenommen. Ge-
                                                                                wisse Episoden sah ich mehrmals, andere habe ich bis heu-
                                                                                te nie gesehen.
Unglaublich unter Platanen                                                      Ein Urlaub in Portugal erlaubte mir einen Zeitsprung: Aus
«David Lynch hatte mich gesehen und wollte mich in sei-                         dem ersten Staffeldrittel hüpfte ich unvermittelt in die Spät-
ner Serie. Er mochte meine Aura. Die Storyline verstand
ich überhaupt nicht. Er stellte mich in Anzug und Krawatte
in einen dunklen Raum, wo ich einen Zwerg ansingen soll-
te.» Jimmy Scott musste lachen, als er erzählte, wie es zu
seinem denkwürdigen Auftritt in der finalen Episode von
«Twin Peaks» gekommen war. Das surreal-unheimliche
Ambiente in der Black Lodge, der Gang mit roten Vorhän-
gen und gezackten Bodenmustern, das flackernde Licht,
die pseudogriechische Statue, der rückwärts vorwärts spre-
chende Zwerg (diesmal als entrückter Tänzer) – das gan-
ze Nachtmahr-Szenario ist wieder da. Wie ein Lufthauch
durch den Raum schweben Angelo Badalamentis Synthie-
fahnen zusammen mit einer jazzy Instrumentierung feat.
Saxsolo, gebeseltes Schlagzeug, gestrichener plus gezupfter
Kontrabass – und über allem schwebt dieser Sänger: «I’ll
see you in the trees, under the sycamore trees.» Stimme
und Performance, die ungewohnte Lage und Phrasierung,
ausgestreckte Arme, altes Handmikrofon – das alles ver-
schob die Szenerie weit in eine spooky Parallelrealität. Der
Sänger war Jimmy Scott, und seine Stimme fand auch hier
die Direttissima zu allen sorgsam weggesperrten hellen und
dunkleren Gefühlen.
Eine seltene Erbkrankheit führte dazu, dass der 1925 Ge-
borene keine Pubertät, keinen Stimmbruch hatte. Zeitle-
bens war Scott ein Aussenseiter, er war speziell – und es
gab Leute, die Ohren und ein Herz hatten und das realisier-
ten: «Ich höre, was du tust, und du tust es richtig», lobte
                                                               dale b. cooper
log lady
phase der zweiten Staffel. Ohne Angst vor einem Spoiler       Woher diese Obsession rührt, ist schwer zu sagen – abgese-       einen verdammt guten Kaf-
blieb ich, die Augen gebannt auf den kleinen Bildschirm       hen davon, dass in der Serie eine Horde «cheese eaters» das      fee trinkt, Nadine Hurley
fixiert, im Restaurant sitzen, ich verspeiste meinen Bacal-   Great Northern Hotel aufsuchen (diese heissen «Vikings»          mit ihren Vorhängen – You
hao und trank meinen Vinho verde und hörte die Prota-         sind aber nicht einmal Dänen, sondern Norweger). «Viel-          name it, Diane. Doch was
gonisten von Ausserirdischen (hä? sagte ich zu meiner         leicht ist es einfach deshalb, weil wir alle die Serie viel zu   wäre «Twin Peaks» ohne
damaligen Freundin, Ausserirdische?) fabulieren. Ein paar     früh gesehen haben, als sie in den Neunzigern im Fernsehen       den feinen Humor: Wer
Tage später, an einem Sonntag, verlustierten wir uns auf      lief», meint meine dänische Freundin. Niemand ahnte, wie         kann heute ein Glacé von
der Promenade eines Fischerdorfs, die von schick schep-       gruselig die Serie tatsächlich sein würde, also liess man den    Ben & Jerrys kaufen, ohne
pernden Mono-Lautsprechern beschallt wurde. Und was           Nachwuchs einfach mal schauen. In Dänemark laufen alle           an die ungleichen Brüder
tröpfelte zwischen zwei portugiesischen Schlagern in die-     Filme und Serien im Fernsehen in der Originalversion – der       Ben & Jerry Horn zu den-
sen sonnigen Frühsommertag? Richtig, die «Twin Peaks»-        Ausdruck «damn good coffee» gehört seither zur däni-             ken, die das Sägewerk ver-
Titelmelodie…                                                 schen Umgangssprache dazu, wenn man zusammen einen               kaufen möchten? «Twin
Irgendwann – mit gebührender Verspätung – schaltete sich      Kaffee trinkt (und die Dänen trinken sehr viel Kaffee).          Peaks» überforderte in sei-
auch das Deutschschweizer Fernsehen ein, und ich war wie-     Die Serie sah damals auch ein gewisser Lars von Trier. Ein       ner radikalen Erzählart das
der dabei. Weil ich mich in gewissen Episoden an bestimm-     paar Jahre später schuf er, inspiriert von «Twin Peaks»,         Publikum – und nahm Se-
te Szenen erinnerte, nicht aber an andere, beschlich mich     mit der Serie «Riget» das dänische Pendant: eine Kranken-        rien wie «24» vorweg. Für
der Verdacht, David Lynch habe die Serie für jeden Sender     hausserie mit absurden Wendungen, seltsamem Humor                das Storytelling meiner lite-
anders geschnitten. Recherchen ergaben, dass er das nicht     und Momenten des Unheimlichen, des «Uhygge».                     rarischen Texte war Twin
gemacht hatte. Schade. Diese bewusste Zerstückelung und       Die Twin-Peaks-Obsession meiner dänischen Freundin               Peaks elementar: Denn je-
beliebige Montage wäre ein konzeptioneller Geniestreich       führte so weit, dass sie sich auf dem Klassenfoto in der         der Autor steht grundsätz-
gewesen, spielt doch «Twin Peaks» mit Fragmentierung,         Oberstufe als Log Lady verkleidete. Die neue Staffel will sie    lich einmal vor der Frage,
Lückenhaftigkeit und Unlogik und stellt Atmosphäre über       sich via Skype mit ihrer Schulfreundin, die mittlerweile in      wie man eine Geschichte
Narration, Vermutungen über Fakten, Assoziationen über        London lebt, ansehen: «Twin Peaks» gehört zur Jugend in          über mehrere Kapitel ent-
Chronologie.                                                  Dänemark dazu wie das gemeinsame Pflicht-Betrinken nach          wickelt, ohne den Span-
Ich habe «Twin Peaks» bis heute nie komplett und chrono-      der bestandenen Schulabschlussprüfung.                           nungsbogen zu verlieren
logisch korrekt gesehen. Ehrlich gesagt habe ich nur eine                                                   Sarah Sartorius    – nach dramatischem Ein-
sehr vage Ahnung, wie sich der Plot tatsächlich entwickelt.                                                                    bruch der Zuschauerzah-
Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich die Schluss-Episoden                                                                     len musste Lynch sich aus
überhaupt je gesehen habe. Ich habe jedoch der Versu-                                                                          der Story stehlen, weshalb
chung, mir die DVDs für ein Binge-«Twin Peaks»-Watching       Eine Ampel in der Dunkelheit                                     die Serie so lange unfertig
zu besorgen, bis heute widerstanden. Denn ich bin über-       Diane, in meiner Jugend gab es den «Twin Peaks»-Mo-              blieb. «Akte X» wäre ohne
zeugt, mit meiner erratischen und zerstückelten Rezeption     ment, nach dem nichts mehr so war wie zuvor. Zusammen            Twin Peaks undenkbar ge-
die ultimative «Twin Peaks»-Erfahrung gemacht zu haben.       mit meinem Vater schaute ich damals jede Folge. Und in           wesen – neben der Mystery
                                                              der Schule gab es nur pro oder contra «Twin Peaks». Es           und dem ermittelnden FBI
                                         Christian Gasser     sollte das neue Jahrtausend anbrechen, bis ich die Serie er-     gibt es noch mehr Berüh-
                                                              neut im Fernsehen sah und kurz darauf die DVDs kaufte.           rungspunkte: Don Davies,
                                                              Seither habe ich die Serie zweimal integral geschaut. Beim       der Major Briggs spielt, ist
                                                              ersten Wiedersehen staunte ich, wie viel mir in Erinnerung       in den X-Akten Dana Scul-
Dänemarks «Uhygge»-Obsession                                  geblieben war, Szenen wie das Ergrauen von Leland Palmer         lys Vater. David Duchovny
Es gibt «Twin Peaks»-Fans – und es gibt dänische «Twin        oder die einsam im Dunkeln hängende Ampel.                       ermittelt in Twin Peaks als
Peaks»-Fans. In Dänemark ist David Lynchs Serie omni-         «Twin Peaks» blieb aber vor allem wegen den Charakte-            Special Agent Dennis Bry-
präsent. Und zwar nicht nur, wie jetzt bei uns, kurz vor      ren in Erinnerung: James Hurley, der an Larry Mullen Jr.         son, ein Transvestit. Doch
der Ausstrahlung der dritten Staffel. In Kopenhagen fin-      erinnert, Dr. Jacoby mit den verschiedenfarbigen Brillen-        ich schweife ab… Bevor
den regelmässig «Twin Peaks»-Themenpartys in Musik-           gläsern, die Log Lady, die mit ihrem Holzscheit spricht,         ichs aber vergesse, Diane,
clubs statt, und seit ein paar Jahren gibt es das Log Lady    der arrogante Pathologe Albert Rosenfield, Hawk, der             bitte bestellen Sie schon
Café. Ein bis zur Toilette durchgestyltes Lokal mit «Twin     indianische Sheriff-Deputy. Aus den Figuren ergaben sich         mal die neue Staffel auf
Peaks»-Reminiszenzen, schwarzweiss-gemustertem Boden,         die Running Gags: Deputy Andy, der bei jeder Leiche ei-          DVD vor.
schwarzem Kaffee und Cherry Pie.                              nen Weinkrampf kriegt, Agent Cooper, der in jeder Folge                            Yves Baer
SZENE                                                                                            Palace
                                                                                                 St.Gallen
                                                                                                 Palace
                                                                                                 Palace
                                                                                                           Ein Palast ist auch nur
                                                                                                                           eine
                                                                                                                           Hütte.

                                                                                                 St.Gallen
                                                                                                 palace.sg

                                                                                                                                E
                                                                                                                         KURS

                                                                                                 Perspektiven?
                                                                                                 Standortbestimmung
                                                                                                 Laufbahnberatung

                                                                                                   klippklang.ch info@klippklang.ch

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                                                                           AU S AB E
                                                                     10

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            ab November 2017 bis 2021
MUSIK ZUM FILM IM KOPF
Neben dem Regisseur gibt es auch den                             david lynch

Musiker David Lynch. Dessen Zweitling
«The Big Dream» (2013) lässt den
Zuhörer frösteln und staunen.
Was macht ein Regisseur, der keinen Film plant? David
Lynch hat für sich eine Antwort gefunden. Statt surrealisti-
sches Kino zu kreieren, malt er vermehrt und veröffentlicht
seine zweite Platte, «The Big Dream». Aber egal welcher
Kunstform Lynch gerade nachgeht, stets ist Düsterheit mit
im Spiel.
Gestartet hat der Amerikaner seine Laufbahn als Schüler der
Pennsylvania Academy of Fine Arts, Mitte der 60er-Jahre.
Eines seiner ersten Gemälde trug den Titel «The Bride» und
zeigte die abstrakte Figur einer Braut bei der Selbstabtrei-
bung. Weil ihm bei seiner Kunst Ton und Bewegung fehlten,
begann Lynch 1970 in Los Angeles Film zu studieren. Eines
seiner frühesten Projekte hiess «Eraserhead». Von der ersten
Drehbuchfassung bis zur Fertigstellung sollten zwar über
fünf Jahre verstreichen, doch Lynchs Beharrlichkeit zahlte
sich aus. Der Film, der Horror mit surrealen Bildern vereint,
gilt unterdessen als Klassiker.
Mit «Blue Velvet», «Wild at Heart» und der TV-Serie «Twin
Peaks» feierte der Regisseur und Drehbuchautor, der vier-
mal für einen Oscar nominiert wurde, seine grössten Erfol-
ge. Nachdem sich 1992 «Twin Peaks – der Spielfilm» als
Flop erwies, geriet die Karriere von Lynch ins Trudeln. In
der Branche haftete ihm der Ruf eines Risikofaktors an. Mit
«Lost Highway» (1997) und «Mulholland Drive» (2001)
durfte er nochmals am kommerziellen wie künstlerischen
Erfolg schnuppern, doch: Sein bis dato letzter Film – «Inland
Empire» – spielte am ersten Kino-Wochenende nur magere
27 508 Dollar ein. Trotz positiver Kritiken. Seither lässt der
Allround-Künstler seine Finger von der Kamera.

                   PSYCHOTISCH UND VERZERRT
In den Werken des 67-Jährigen hatte die Musik stets eine
wichtige Rolle inne. Sie half, rätselhafte Sequenzen zu ei-
nem stimmigen Ganzen zu verbinden. Nicht, dass der
vierfache Vater die Soundtracks je selbst generiert hätte,
aber seine Vorstellungen bestimmten die Arbeiten stets mit.
Auch jene von Hauskomponist Angelo Badalamenti. Ob-
schon sich Lynch etliche Male an Pop-Projekten von Julee
Cruise oder Danger Mouse beteiligte, kam es einer mitt-
leren Überraschung gleich, als er 2011 seine Debütplatte
«Crazy Clown Time» veröffentlichte.                              guren, die den American Dream einzig vom Hörensagen
Auch der Nachfolger «The Big Dream» beinhaltet moder-            kennen. Lynch lässt es rauschen, knarren und den Synthe-
nen Blues. Und ein Dutzend kauzige Lieder voller Elekt-          sizer schier endlos schlaufen. Statt Film noir fertigt er nun
robeats, hallender Gitarren und voll von verfrotzeltem           Music noir.
Sprechgesang. Die Stücke seien beim Jammen entstanden,           Im Vergleich mit dem Vorgänger muten die Songs auf «The
sagte Lynch gegenüber dem Branchenblatt «Billboard».             Big Dream» souveräner an, gefasster. Aber nicht weniger
Das passt. Die akkordarme Musik wirkt, als ob sie in             verschroben. Mit irgendwelchen Wohlklängen hat das alles
einem solitären Bunker in der Wüste aufgezeichnet wor-           nichts zu tun. Das Album erschreckt nicht, doch es lässt
den wäre. Alles staubtrocken, alles ein wenig psychotisch,       frösteln. Die launische Single «I’m Waiting Here» mit der
vieles verzerrt. Auf Melodisches wird verzichtet, ganz zu-       schwedischen Sängerin Lykke Li soll es als Bonustrack ge-
gunsten des Monochromen. Mit dünner, aber hypnotisie-            ben. Fürs eigentliche Set muss Lynch das Stück jedoch als
render Stimme, die bisweilen nach absentem Gebiss klingt,        zu hell, zu freundlich und zu melancholisch befunden ha-
erzählt Lynch von gefährlichen Frauen, Antihelden oder           ben. Es hätte die albtraumartige Atmosphäre auf «The Big
verschwundener Glace.                                            Dream» unterbrochen. Und Lynch wäre nicht Lynch, hätte
In «We Rolled Together» zitiert Lynch den Blues-Klassiker        er das zugelassen. Eigensinnig war er schon immer. Meist
«Mystery Train», und mit «The Ballad of Hollis Brown»            zu Recht.
covert er Bob Dylan. Damit stellt er sich ganz in die Folk-                                                  Michael Gasser
Tradition. Sein bevorzugtes Thema sind geschundene Fi-                                      David Lynch: «The Big Dream» (Pias/MV)
NEU VERKLEBT
                Eigentlich braucht kein Mensch                                dieser Aufführung um eine Auftragsarbeit handeln könnte
                                                                              (tatsächlich haben Stewart und seine Band den Soundtrack

                eine Neubearbeitung von Angelo                                erstmals als Auftrag für die Gallery of Modern Art im aus-
                                                                              tralischen Brisbane gespielt). Vielmehr war hier eine bewe-

                Badalamentis klassischem «Twin                                gende Musik der Angst und der Schönheit zu entdecken,
                                                                              in welcher der Originalscore noch gut erkennbar durch-

                Peaks»-Score. Doch dann kamen Xiu Xiu                         schimmerte, aber eben doch in etwas Neues transformiert
                                                                              wurde. In ein Werk nämlich, das für sich steht und auch

                – und bewiesen das Gegenteil.                                 ohne Kenntniss der Vorlage funktioniert.

                                                                                                 ÄRGER MIT DEM VIDEOTAPE
                Ein Frühlingstag in Den Haag war zu Ende, als wir noch
                einmal in die örtliche Kathedrale pilgerten. Man lauschte     Das war vor einem Jahr, und ich war noch nicht sonderlich
                erst den Deklamationen von Blixa Bargeld, schnappte sich      vertraut mit der TV-Serie: Zu lange hatte ich Angst vor
                das vorletzte Bier des Festivalwochenendes und wartete,       dieser Reise mit all den Eulen, Intrigen, mysteriösen Mord-
                bis die Baumwipfel von «Twin Peaks» auf der Leinwand          fällen und lustigen Absurditäten. Die Umsetzung von Xiu
                erschienen und die Band Xiu Xiu den Soundtrack von            Xiu um Jamie Stewart war aber sicherlich mitentscheidend
                Angelo Badalamenti mit ihren eigenen Mitteln neu inter-       dafür, dass ich die Furcht vor «Twin Peaks» verloren habe,
                pretierte: Mit Xylo- und Vibraphon, elektrischen Gitarren,    auch wenn in der Aktualisierung der kalifornischen Kunst-
                Keyboard, Fistelgesängen und erschütternden Noises. Die       pop-Band alles noch einmal verschärft ist: Der Horror, die
                Musikerinnen und Musiker wechselten immer wieder die          lauernden Gefahren, aber auch der Humor, denn die Serie
                Instrumente, mal gaben sie «Audrey’s Dance» in einem un-      ist ja zuweilen auch einfach hochkomisch.
                heimlich verschleppten Swing, mal «Laura Palmer’s The-        Jamie Stewart ist bekannt für seine «Twin Peaks»-Obsessi-
                me» mit Klavier und schwerer Perkussion, und natürlich        on, doch als die Serie ursprünglich ausgestrahlt wurde, sei
                – gegen Schluss – «Falling», das in der grossen Kirche eine   er noch ein bisschen zu jung und zu uncool gewesen, um al-
                zusätzliche Dimension erhielt.                                les zu begreifen, sagte er in einem Interview mit «Vice». Er
                Das Erstaunliche: Hier war nie Nostalgie im Spiel, und        hatte aber ältere Freunde, die ihn zu einer «Twin Peaks»-
jamie stewart   schon gar nicht kam je der Gedanke auf, dass es sich bei      Party mitschleppten, wo er dann allen auf den Geist fiel
                                                                              mit seinem ständigen Geplapper, während die Serie über
                                                                              den Bildschirm flimmerte. Er wusste aber: Da steckte ei-
                                                                              niges drin, dem er nachgehen wollte. Sobald er alt genug
                                                                              war, lieh er wie ein Besessener die einzelnen Staffeln in der
                                                                              Videothek auf VHS-Kassetten aus. Als die finale Episode
                                                                              lief, riss das Band und zerstörte seinen Videoplayer. «Ich
                                                                              habe das Tape sorgfältig zusammengeklebt, ging in den La-
                                                                              den und kaufte einen neuen Videorecorder auf Kredit – ich
                                                                              war damals total pleite. Zu meiner Erleichterung hielt das
                                                                              Band», sagt Stewart.
                                                                              Seither kam er nie mehr richtig los von «Twin Peaks»,
                                                                              denn: «Es gibt keine andere Show, die so schrecklich,
                                                                              amüsant, kreativ, ungewöhnlich, lustig, schwierig, schön,
                                                                              seltsam, berührend, inspirierend oder detailliert wie ‹Twin
                                                                              Peaks› ist.» Mehr noch: «Es hat die besten Charaktere
                                                                              überhaupt, den besten Soundtrack, die besten Dialoge, die
                                                                              beste Handlung und die besten magischen Wesen.» Nun
                                                                              mag Stewart übertreiben, denn es ist ja nicht so, dass die
                                                                              Serie frei von Ärgernissen im Plot oder mässigen Schau-
                                                                              spielerleistungen wäre. Folgen in der Mitte der Serie, die
                                                                              eher an eine kommune TV-Soap denn an ein Meisterwerk
                                                                              der Popkultur erinnern. Aber abseits dieser Einschränkung
                                                                              kann man in «Twin Peaks» all die Themen orten, die Ste-
                                                                              wart einst für seine Songs ausgemacht hat: Familie, Politik,
                                                                              Sex, Liebe und Lieblosigkeit, Suizid, und wie alles mitein-
                                                                              ander verbunden ist.
                                                                              Mittlerweile ist «Xiu Xiu Plays Twin Peaks» auch als Plat-
                                                                              te regulär erschienen, und wie bereits das Konzert funkti-
                                                                              oniert die Adaption auf dem Abspielgerät der Wahl: Als
                                                                              eigenständiges Werk, das klassische Melodien und Songs
                                                                              wie «Sycamore Trees» – im Original gesungen von Jimmy
                                                                              Scott, die hier nun eingetauscht ist mit der Angstfalsett-
                                                                              Stimme Stewarts – und «Into the Night» in den Xiu-Xiu-
                                                                              Katalog überführt. Berückend schön ist das, und unheim-
                                                                              lich beängstigend. Bleibt nur noch offen, was Stewart von
                                                                              der Log Lady wissen möchte. Seine Frage: «Why am I such
                                                                              a loser?»
                                                                                                                        Benedikt Sartorius

                                                                                                     Xiu Xiu: «Xiu Xiu Plays Twin Peaks» (Polyvinyl)
AUSSERIRDISCH SCHÖN
chrysta bell                                                                                                                 empfohlen, ein Stück aus
                                                                                                                             der Feder von Lynch und
                                                                                                                             seinem Hauskomponisten
                                                                                                                             Angelo Badalamenti, das
                                                                                                                             «Twin Peaks»-Fans in der
                                                                                                                             Version von Jimmy Scott
                                                                                                                             kennen.

                                                                                                                                    IN SAMTVORHÄNGEN
                                                                                                                             Mit ihrem neuen Album
                                                                                                                             emanzipiert sich Bell mu-
                                                                                                                             sikalisch von Lynch. Auf
                                                                                                                             dem clever getimten «We
                                                                                                                             Dissolve» ist der Regisseur
                                                                                                                             nicht mit von der Partie,
                                                                                                                             dafür John Parish (PJ Har-
                                                                                                                             vey) als Produzent, sowie
                                                                                                                             Geoff Downes (Asia, Yes),
                                                                                                                             Stephen O’Malley von Sunn
                                                                                                                             O))) und Adrian Utley (Por-
                                                                                                                             tishead) als Gastmusiker.
                                                                                                                             Portishead bilden denn
                                                                                                                             auch die offensichtlichste
                                                                                                                             Referenz, denn deren nacht-
                                                                                                                             schattigen Balladen kom-
                                                                                                                             men auch jemandem in den
                                                                                                                             Sinn, der das Promo-Sheet
                                                                                                                             nicht gelesen hat. Chrys-
                                                                                                                             ta Bell singt mit dunkler
                                                                                                                             Stimme und viel, aber nicht
                                                                                                                             übertriebener Emphase, die
                                                                                                                             Bühne mit Samtvorhang
                                                                                                                             denkt man sich automatisch

Mit Chrysta Bell hat David Lynch eine                         Souvenirs blieb ihr Erfolg auf die Umgebung von Austin
                                                              begrenzt. «This Train», ein Gemeinschaftswerk mit Lynch,
                                                                                                                             dazu.
                                                                                                                             Das Album enthält eine Rei-

seiner typischen Frauenfiguren                                sorgte 2011 dann international für Aufhorchen. Dass der
                                                              Texanerin dabei öfter Attribute wie «dark» und «sexy» an-
                                                                                                                             he bemerkenswerter Stücke.
                                                                                                                             Etwa «Over You», dessen

geschaffen. Sie spielt ihre Rolle gut,                        gehängt wurden, liegt in der Natur der Sache.
                                                              Auch ausserhalb des Aufnahmestudios hilft der Regisseur
                                                                                                                             eleganter Groove der Weh-
                                                                                                                             klage einer Frischgetrennten

und singen kann sie auch.                                     gern: Bells Stück «Polish Poem» lief am Ende von Lynchs Ki-
                                                              nofilm «Inland Empire», und für die neue Staffel von «Twin
                                                              Peaks» hat sie eine der über 200 Rollen übernommen.
                                                                                                                             ein bisschen Luft verschafft.
                                                                                                                             Oder «Monday», das zeigt,
                                                                                                                             dass Bell und ihre Mitstrei-
David Lynch und die Frauen. Ein schwieriges Thema. Wer                                                                       ter auch eingängigen Pop
einmal gesehen hat, wie er in einem der widerwärtigsten                           MIT DEM KÖRPER SINGEN                      können, wenn sie wollen.
Übergriffe der Filmgeschichte Willem Dafoe auf Laura                                                                         Das Titelstück könnte
Dern loslässt, wird nie mehr unbefangen auf eine lynch’sche   Beim ersten Treffen mit Lynch war Bell gerade mal 19.          künftig die Art Filmszenen
Frauenfigur blicken können. Ob «Wild At Heart», «Twin         Doch täte es ihr Unrecht, wenn man sie als reine Erfindung     untermalen, für die bisher
Peaks» oder «Blue Velvet» – am liebsten inszeniert Lynch      des Regisseurs werten würde. Musikalisch geprägt wurde         gerne Caves «Red Right
Frauen als Fantasiewesen aus einer guten alten Zeit, die es   sie von ihrer Mutter, die selber Sängerin ist. Das Posieren    Hand» genommen wurde.
nie gab. Es sind Vamps, verführerisch und verzweifelt einen   vor einer Kamera lernte sie spätestens bei Model-Jobs,         Und «Beautiful» gefällt mit
Retter suchend, der sie aus ihrer Abhängigkeit von miesen     etwa für die italienische «Vogue». Auch beim Musizieren        der Sorte Soul, die Texas
Typen, Drogen und Schlimmerem holt.                           versteckte sie sich noch nie: «Ich war immer eine dieser       mit «Black Eyed Boy» zele-
Der Mann, auf der anderen Seite, ist bei Lynch entweder       Sängerinnen, die mit ihren Händen arbeitet und mit ihrem       brierten.
ein Psychopath, ein Trottel oder aber ein grundsätzlich       Körper singen», erklärte sie in einem Interview.               Auch wenn er seine Finger
anständiger Kerl, der sich von der Femme fatale an Orte       Chrysta Bell ist kein Dummchen. Sie weiss, mit Alben lässt     bei «We Dissolve» nicht
und in Zustände führen lässt, in denen er seine eigenen De-   sich heutzutage kaum noch Geld machen, aber sex sells im-      im Spiel hatte: Lynch dürf-
fizite an einer hilfsbedürftigen Frau gesundstösst. Lynchs    mer. Darum lockt sie in einem Video auf ihrer Website, den     te das Album gefallen.
Frauen sind Projektionsflächen, die Männer selbstgerechte     «Red Diamond Insider Access» für 3.99 Dollar im Monat          Und weil unsereiner trotz
Schlappschwänze.                                              zu kaufen, um «Bilder, die ich selbst gemacht habe» und        Vorbehalten gegen Lynchs
Über Chrysta Bell sagt Lynch: «Als ich sie das erste Mal      andere «Schätze» zu entdecken. Sie hat dabei etwas mehr        Frauenbild die Faszination
bei einem Auftritt sah, kam sie mir vor wie eine Ausserir-    an und ist auch die bessere Schauspielerin, ansonsten aber     für fremde, seltsame Wel-
dische. Die schönste Ausserirdische aller Zeiten.» Anders     erinnert das Filmchen an Werbeclips, die spät nachts im        ten nicht verloren hat, sind
gesagt: Sie passt perfekt in sein Schema – atemberaubend,     Fernsehen laufen.                                              auch wir der Fantasiefigur
nicht von dieser Welt und ein bisschen verloren.              Die ganze Inszenierung würde wenig nützen, wenn Chrysta        Chrysta Bell verfallen.
Bell dient Lynch als Muse, und sie übernimmt diese alt-       Bell nichts drauf hätte. Und wer nicht nur Augen hat, son-
modische Frauenrolle mit viel Einsatz – und nicht zu ih-      dern auch Ohren, merkt schnell, dass sie eine tolle Sängerin              Reto Aschwanden
rem Nachteil. Als Sängerin der Gypsy-Swing-Band 8 1/2         ist. Neuentdeckern sei ihre Version von «Sycamore Trees»       Chrysta Bell: «We Dissolve» (Meta Hari)
DIE NEUEN PLATTEN
                                                                                               Sound Surprisen
                                                                                               Vierzehn Tracks aus der Frühzeit des Rap und kein
                                                                                               «household name» in Sicht! So bewirbt das Londoner La-
                                                                                               bel Soul Jazz Records seinen Sampler «Boombox 2: Early
                                                                                               Independent Hip Hop, Electro and Disco Rap 1979-83».
                                                                                               Die Werbung lügt nicht; Namen wie Harlem World Crew,
Der Plan                       Julian Sartorius                Ozomatli                        Lonnie Love, Zoot II, Manujothi, Eddie Cheba und Grand
Unkapitulierbar                Hidden Tracks                   Non-Stop: Mexico                Master Chilly T dürften nur Fachleuten und Sammlern be-
(Bureau B)                     (Everest Records/Irascible)     to Jamaica                      kannt sein – historische Grössen wie die Sugarhill Gang
                                                               (Cleopatra Records)             und Grandmaster Flash, Kurtis Blow und Africa Bam-
Das ist eine Überraschung:     Allein das Konzept ist be-                                      baataa sucht man auf dieser Doppel-CD vergeblich.
26 Jahre nach dem letzten      stechend: Da wandert ein        Die Idee, populären Latin-      Wie schon auf dem erfolgreichen ersten Boombox-Sam-
Album «Die Peitsche des        Schlagzeuger auf dem Jura-      Stücken einen Reggae-Touch      pler tauchen wir tief ein in die Gründer- und Pionierzeit
Lebens» hat sich das ur-       Höhenweg von Basel nach         zu verpassen, ist nicht neu,    des Rap. In den Siebzigerjahren war New York so gut wie
sprünglich in Düsseldorf       Genf und trommelt, haut,        wird aber selten so zün-        bankrott, und während in Manhattans Lower East Side der
ansässige, inzwischen zwi-     klöppelt, klopft, poltert,      dend umgesetzt wie von          Punk entstand, entwickelten in der South Bronx DJs wie
schen Berlin und Überlin-      schabt, schrammt, kratzt        Ozomatli. Die Truppe aus        Kool Herc, African Bambaataa und Grandmaster Flash
gen am Bodensee verstreut      mit zwei Schlagzeugstö-         Los Angeles lässt Oldies in     eine neue Form schwarzer Tanzmusik und schwarzen
lebende Trio Der Plan          cken auf alles und allem,       neuem Gewand erstrahlen         Selbstbewusstseins. In Diskotheken, aber vor allem draus-
wieder für ein Album zu-       was ein aufmerksamer            und animiert – dank mitwir-     sen, an den Block Partys der desolaten Gettos, duellierten
sammengefunden.        1979    Wandertrommler auf einer        kenden Latin-Stars wie Jua-     sich die Soundsystems. Je grösser die Skills der DJs und
gegründet, gehörte die         solchen Tour antrifft. Das      nes, Régulo Caro und Gaby       MCs, je schärfer und obskurer die eingesetzten Breaks und
Band mit zu den Vorrei-        ist nichts anderes als der      Moreno – eine junge Gene-       je fetter die Anlage, desto besser. Diese Geschichte zeich-
tern des deutschsprachigen     unendliche Klangreichtum        ration, ihre Party mit diesen   net übrigens der amerikanische Comic-Autor Ed Piskor in
Pop. Minimalistisch, elek-     der ländlichen Welt. Noch       Klassikern zu feiern. «Non-     «Hip Hop Family Tree: 1970s-1981» (Papa Guédé) auf
tronisch, verspielt, dadais-   wunderbarer als das Kon-        Stop: Mexico to Jamaica»        stimmige und anekdotenreiche Weise nach.
tisch, aufregend: Die «deut-   zept ist indes seine Umset-     zeigt die Beziehung zwi-        Rap war lange ein Live-Ding, bis die umstrittene Labelbe-
schen Residents» sorgten       zung: Zurück im Studio          schen mexikanischen und         sitzerin Silvia Robinson ein Trio castete und mit überall ge-
damals für tolle Songs und     bearbeitete Julian Sartorius    karibischen Sounds auf. In      klauten Ideen den Track «Rapper’s Delight» zimmerte. Das
eigenwillige Konzerte.         seine Feldaufnahmen; er         «Eres» schwebt Asdrubal Si-     war 1979, ein Jahr später schaffte es die Sugarhill Gang
Seit Anfang der Neunziger      schnitt, zerstückelte und       erras Gesang über den Dub-      auch in der Schweiz auf den zweiten Platz der Single-Hit-
verfolgten sie eigene Wege.    loopte sie, fügte sie zusam-    Elementen im Mix. Herb          parade – «Rapper’s Delight» war der erste Rap-Welthit in
Frank Fenstermacher und        men, schichtete sie auf- und    Alperts Trompete veredelt       einer Zeit, in der noch kaum jemand ausserhalb der South
Kurt Dahlke alias Pyro-        untereinander, verknüpfte       ein von Cumbia-Rhythmen         Bronx wusste, was Rap war. 1982 erschien «The Message»
lator waren beim Come-         rhythmische Impulse zu          und Dub-Echos geprägtes         von Grandmaster Flash & The Furious Five – und damit
back der Fehlfarben dabei,     mal sperrigen, mal swin-        «Bésame Mucho». Stark ist       etablierte sich Rap auch in Europa als ernstzunehmender
Moritz Reichelt ist weiter-    genden Rhythmen und liess       die Version von «Oye Mi         und auch gesellschaftlich höchst relevanter Stil. Auch kom-
hin als malender Künstler      auch der Natur viel Raum,       Amor» – mit rollenden Sna-      merziell: In der Schweiz landete «The Message» immerhin
aktiv. Nachdem die drei        dem Wind, dem Wasser,           res, Flöte und funkig-blue-     auf Platz 11 der Single-Hitparade.
2014 bei Andreas Doraus        den Kuhglocken. Dann            sigen Gitarren. Ska liefert     «Boombox 2: Early Independent Hip Hop, Electro and
fünfzigstem      Geburtstag    und wann zerschneidet ein       das Rückgrat von «Como la       Disco Rap 1979-83» erforscht die Zeit zwischen «Rapper’s
zusammengespielt hatten,       Automotor die Idylle. Ob        Flor», Gaby Morenos seidi-      Delight» und «The Message». Es ist die Frühzeit des New
hat Der Plan wieder Blut       damit gleich «die Schweiz       ge Stimme dominiert «Sola-      Yorker Raps aus der Bronx und Harlem, die Bands (denn
geleckt und dieses schöne      jenseits der gängigen Kli-      mente una Vez». Sly & Rob-      hier sind vielfach noch Bands am Werk; die DJs setzten sich
Album eingespielt – mit        schees     neu    vermessen     bie verpassen «Evil Ways»       erst im Fahrwasser Grandmaster Flashs als Namensgeber
verschrobenen Popstudien       wird» (Pressetext), ist nicht   (bekannt von Santana) eine      der Soundsystems durch) bedienten sich schamlos in Disco
und echten Popsongs. Mit       wirklich relevant; relevant     bedrohliche Dringlichkeit.      und Funk, klauten Melodien und Basslinien wie Queens
«Lass die Katze stehn»         ist, dass Sartorius mit die-    «Andar Conmingo» kommt          «Another One Bites the Dust», die sie sich wiederum ge-
ist ihnen sogar ein kleiner    ser kühnen und verspielten      als Mix aus Banda, Lovers       genseitig ausliehen oder streitig machten wie gewisse Rei-
Hit und der beste Katzen-      Klangcollage ein betören-       Rock, Cumbia und Pop, die       me, so das oft gehörte «hip hop hippy di hop». Die Tracks
song seit Helge Schneiders     des Stück ungewöhnlicher        Mariachi-Hymne «Volver,         sind – tanzbodenfreundlich – selten unter fünf Minuten
«Katzenklo»        gelungen.   Musik geschaffen hat, das       Volver» als Dub-Reggae. Im      lang und geben den MCs genügend Raum für durchaus
Alte Fans erkennen den         auch       Nicht-Wanderern      «Land of a Thousand Dan-        noch gemächlich rundumschlagende Sprechgesänge. Party-
Plan aufs erste Ohr, und       gefallen dürfte. Die Wan-       ces» gastieren G. Love und      mucke war das, «rock that body, rock rock that body»
auch heute klingt das nicht    derer – das Album gibt es       Rapper Chali 2na, «Come         oder «Keep the beat, the beat, the beat, the beat, the step
angestaubt, trotz gelegent-    auch als Wanderkarte mit        and Get Your Love» erfährt      and your step, don’t don’t you don’t, don’t don’t you don’t,
lich hörbarer Patina. «Der     Download-Code – werden          mit jazzigen Bläsern, Cum-      don’t don’t you don’t stop», überschäumende, lebensfro-
Plan 2017 ist nicht mehr so    künftig der Natur und ihrer     bia-Perkussion und einem        he, mitreissende Partymusik. Oder, in den Worten von
eckig und swingt besser»,      Umgebung aktiver zuhö-          Mariachi-Dreh in der Me-        T.J. Swann und Pee Wee Mel: «Partytime is anytime and
sagt Moritz R. Da ist was      ren: Musik ist überall, und     lodie das Ozomatli-Styling.     anytime is partytime.»
dran.                          alles kann Musik sein.          Der Sommer kann kommen!
                                                                                               Christian Gasser
tb.                            cg.                             tl.
DIE NEUEN PLATTEN
London Hotline
Das gewaltige Victoria & Albert-Museum in Kensington
riecht förmlich nach Imperialgeschichte: Überall stehen
schöne, in Marmor gemeisselte Griechen herum, filigran
gearbeitetes Silberbesteck beweist, dass es dekadente Rei-
che gab, lange bevor sich Popstars Schlösser leisten konn-
ten und Fussballer Kunst sammelten. Das V&A ist den            Sophia                          Slowdive                       Perfume
dekorativen Künsten und dem Kunsthandwerk gewidmet,            Kennedy                         Slowdive                       Genius
und dazu wird inzwischen auch die Popkultur gezählt. Mit       Sophia Kennedy                  (Dead Oceans/Irascible)        No Shape
der grossartigen, noch heute durch die Welt wandernden         (Pampa Records)                                                (Matador/MV)
David-Bowie-Ausstellung setzte das Museum vor vier                                             Kaum hatten Slowdive
Jahren neue Massstäbe. Fast 312 000 Besucher zog das           Mit «Build Me a House»          1995 ihr drittes Album,        Eine herrschaftliche Park-
Ereignis an. Interessanterweise war aber die nachfolgende      eröffnet Sophia Kennedy         «Pygmalion»,      veröffent-   anlage aus dem 17. Jahr-
Ausstellung zum Werk des Mode-Designers Alexander Mc-          ihr Debütalbum. Das darin       licht, wurden sie von ih-      hundert. Darin flaniert ein
Queen noch populärer. Was einem den Schluss aufzwingt,         eingesetzte Piano erinnert      rem Label Creation fal-        Liebender. Der Himmel
dass der heutige Zeitgeist einen avantgardistischen Mode-      durchaus an House, den          lengelassen. Worauf sich       färbt sich mal rosa, mal
schöpfer spannender findet als einen Musikanten, der den       Musikstil. Doch wer ein         die Band alsbald auflöste.     graugelb. Ein diffuses Un-
Sountrack einer Epoche schuf.                                  reines Tanzalbum erwartet,      Auch weil die Musikpres-       behagen liegt in der Luft.
Die Bowie-Ausstellung war insofern wegweisend, als dar-        sieht sich getäuscht, obwohl    se ihren Shoegaze-Sound        Perfume Genius’ viertes
in nicht nur ein bisschen Memorabilia zu bewundern war.        die Platte auf DJ Kozes         zu ignorieren begonnen         Studioalbum «No Shape»
Mittels vielen anderen Objekten wurden Verbindungen            Pampa-Label erschienen ist.     hatte, um ganz auf den         erzählt die Geschichte ei-
zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen, Zeitgeist und       Die Amerikanerin aus Ham-       aufkommenden         Britpop   ner gereiften Liebe. Einer
kreativem Schaffen aufgezeigt, die weit über das Phänomen      burg, die bis jetzt vor allem   zu fokussieren. Einige der     Liebe, die einhergeht mit
Bowie hinaus reichten. Bowie selber stellte zahllose Doku-     fürs Theater komponierte,       Mitglieder von Slowdive,       dem Gefühl des Angekom-
mente zur Verfügung. Klar, dass ein solches Erfolgsrezept      zeigt sich mit Produzent        darunter Neil Halstead         menseins im Leben und bei
nicht so schnell eingemottet wird. Drum jetzt dasselbe in      Mense Reents nun als Pop-       und Rachel Goswell, for-       sich selbst. Dass sich Mike
Grün mit Pink Floyd.                                           und Vaudeville-Künstlerin       mierten sich in der Folge zu   Hadreas aka Perfume Ge-
Das ist nicht unlogisch. Keine andere Band beschäftigte sich   und Sängerin. «Bewährtes        Mojave 3 und frönten fünf      nius dies hart erkämpft
intensiver mit der visuellen Komponente ihrer Präsentation     aufgreifen und es durchein-     Platten lang countrygefärb-    hat, ist hör- und spürbar.
als sie. Ausgehend vom psychedelischen Farbgetümmel der        anderwirbeln» möchte Ken-       ten Liedern. 2014 fanden       Jahrelang rang der Musi-
Sixties entwickelte man ein vielschichtiges Bildvokabular,     nedy. So hat es neben dem       Slowdive für eine Serie von    ker aus Seattle um Akzep-
das die Grundlage schuf für die gigantischen Multimedia-       Piano auch für Maultrom-        Live-Auftritten wieder zu-     tanz als Homosexueller,
Shows von heute und überhaupt die Sprache der Pop-             meln Platz, für Akustisches     sammen, zwei Jahre später      kämpft mit seiner chroni-
videos. Angesichts der spektakulären Kulisse, vor der sich     wie Elektronisches, für         wurde verkündet: ein neues     schen     Darmerkrankung,
die Geschichte von Pink Floyd abspielte, wäre es geradezu      Latin-Rhythmen und Dubs-        Werk ist in Arbeit. «Noch      gegen seine Depressionen
unmöglich, daraus eine langweilige Ausstellung zu ma-          tep-Anklänge. Ihre Stimme       bevor wir uns wiederver-       und Drogensucht. Seit acht
chen. «Pink Floyd – Their Mortal Remains» ist denn auch        ist dunkel und herb, dann       einigten, dachten wir über     Jahren ist er clean und in ei-
durchaus unterhaltsam. Natürlich bekommt der Besucher          schichtet sie diese zu kos-     neues Material nach», sag-     ner festen Beziehung – seit
am Eingang einen Empfänger samt Kopfhörer um den Hals          mischen Chören auf, phra-       te Drummer Nick Chaplin        seinem letzten Album «Too
gehängt, der ihn durch die Räume begleitet. Je nach Po-        siert in «Dizzy Izzy» mit       dem «Guardian». Jetzt liegt    Bright» (2014) wirkt der
sition dringen daraus Musik, die zum Ausstellungsobjekt        kindlicher Reimlust oder        das schlicht «Slowdive»        Musiker selbstbewusster
passt, oder Interviews mit allen lebenden Bandmitgliedern      erweist in «Baltimore» ihrer    genannte Œuvre vor. Neu        denn je. Auf «No Shape»
zu all den roten Fäden, die durch das Leben der Band füh-      Heimatstadt eine melancho-      erfunden haben sich die        glänzt er mit einem gekonn-
ren: die Anfänge im Blues, das Zusammenspiel von Bild          lische Reverenz. «Mit mei-      Briten nicht: Die Gitarren     ten Stilmix zwischen Pop,
und Musik in der Psychedelik, das tragische Leben von Syd      ner Stimme stelle ich immer     wirken immer noch intro-       R’n’B und Klassik, über-
Barrett, der Zorn, der die Motivation für «The Wall» und       einen anderen Charakter         spektiv, obschon Slowdive      schreitet die Grenze zum
«Animals» kreierte, und viele andere Aspekte mehr.             dar», sagt Kennedy. Unter-      ihr Tempo minimal erhöht       Kitsch und Pomp stilsicher
Wie Bowie haben auch die Floyds in ihren Archiven gegra-       wegs in den experimentier-      haben und dennoch nicht        und zeigt seine Stimme in
ben und viele faszinierende Souvenirs zusammengetragen.        freudigen Soundwelten von       dringlicher, dafür resolu-     vollem Variantenreichtum.
Ganz anders als bei Bowie hört bei Floyd die musikalische      «Sophia Kennedy» lernt          ter klingen. Während sich      Dennoch, die Zweifel am
Experimentierlust ungefähr in dem Moment auf, da ihnen         man jeden einzelnen davon       «Go Get It» in räumlicher      Glück steigen zwischenzeit-
der Erfolg gewaltige Konzertlokalitäten aufzwingt. Bowie       gerne kennen.                   Üppigkeit aalt, kehrt «Eve-    lich immer wieder hoch. Es
reflektierte in seiner Musik und seiner Selbstarstellung bis                                   rybody Knows» die perlen-      ist die Angst, dass aus dem
am Schluss den Geist der Zeit. Pink Floyd ungefähr ab          anz.                            den Seiten des Dream-Pop       Rosa vielleicht doch wieder
«Wish You Were Here» reflektieren nur noch die Mauern,                                         hervor. Im Kern sind Slow-     ein Graugelb oder Schwarz
in denen sie als Superstars gefangen waren. So vermittelt                                      dive ihren Musikrezepten       werden könnte. Und diese
der erste, bedeutend umfassendere Teil der Ausstellung                                         treu geblieben, haben diese    lässt auf «No Shape» er-
einen ausgezeichneten Eindruck von den Freuden der                                             jedoch dergestalt aufge-       drückend starke Stimmun-
Psychedelik und der grauen Umgebung, in welcher diese                                          frischt, dass das Ergebnis     gen entstehen.
florierte. Beim Rest geht es nur noch ums technologische                                       aktuell wirkt und sogar
Staunen. Ist aber auch ganz lustig. Eigentlich.                                                berührt.                       hel.

Hanspeter Künzler                                                                              mig.
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