Gerrit Prießnitz Süchtig nach Klängen...

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Gerrit Prießnitz Süchtig nach Klängen...
Vereinsmagazin der Wiener Volksopernfreunde

                                                       Dezember 2020
                       Gerrit Prießnitz
                             Süchtig nach Klängen...
Gerrit Prießnitz Süchtig nach Klängen...
Vereinsmagazin der Wiener Volksopernfreunde

Inhalt                                           Liebe Volksopernfreunde!
                                                 Mit der Nicht-Verlängerung des Ver-
2       Editorial und Kommentar                  trages unseres geschätzten Direktors
                                                 Robert Meyer durch die neue Kul-
4       Gerrit Prießnitz im Porträt              turstaatssekretärin Andrea Mayer im
                                                 Sommer folgte im Oktober mit der
        Zwischen Pest und Corona –               Bestellung der Holländerin Lotte de
8       Gedanken zu Brittens „Der                Beer ein erster überraschender Pau-
        Tod in Venedig“                          kenschlag für die Volksoper und alle
                                                 Volksopernfreunde.
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        Emanuel Schikaneder und „Die             Diesen „schwarzen Herbst 2020“ wer-
        Zauberflöte“                             den wir wohl nie vergessen: wie alle
                                                 anderen Theater in Österreich musste
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        Lotte de Beer – „Brücken                 auch die Volksoper ab 3. November
        bauend die Welt inspirieren“             ihren Vorstellungsbetrieb einstellen –
                                                 noch dazu überschattet vom unfassba-
        Ur- und Erstaufführungen an              ren Terroranschlag in Wien am letzten
16      der Volksoper nach dem 2.Welt-           Spieltag. Es folgte ein zweiter Lock-
        krieg – Teil 1                           down, der nun für die Theaterbetriebe
                                                 sogar bis 6. Jänner verlängert wurde…     Fest der Tanzkunst bot im Septem-
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        Im Porträt: Chie Ishimoto –              Dabei startete man an der Volksoper       ber auch die erste Volksopernpremie-
        Korrepetitorin                           am 6. September mit einem vorbildhaft     re des Wiener Staatsballetts unter der
20      Buchhandlung Volksoper                   durchdachten Corona-Sicherheitskon-       neuen Leitung von Martin Schläpfer.
                                                 zept. Quasi als „Versuchskaninchen“       Der neue Ballettdirektor kombinierte
21      Teenorissimo                             nahm die Volksoper als erstes der
                                                 Bundestheater wieder ihren regulären
                                                                                           dabei drei erprobte Werke der Ballett-
                                                                                           Moderne. Das Publikum honorierte
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        „Sternensplitter“ der Vergan-            Spielbetrieb auf – mit Abstand, stren-    “Hollands Meister”, das drei Stücke
        genheit                                  gen Hygiene-Maßnahmen, personali-         der ehemaligen Leiter des Nederlands
                                                 sierten Karten, getrennten Eingängen,     Dans Theaters zu Musik von Rossi-
24      Sir Falstaff unterwegs: „Zum             Maskenpflicht bis zum Platz, Gratis-      ni, Beethoven und Strawinski vereint,
        Reznicek“                                Garderoben, mit Pausen, ohne Büffet,      mit Jubel und frenetischem Applaus.
                                                 dafür mit Gratis-Vöslauer. Nach dem       Eine wundersame, märchenhaft-be-
                                                 traditionellen Auftaktfest, das diesmal   glückende Regie bescherte dem Pub-
                                                 ins Haus verlegt wurde, konnte sich       likum der in London geborene Regis-
                                                 das Publikum an rund 60 Vorstellun-       seur Henry Mason mit seiner neuen
Impressum:                                       gen erfreuen, darunter drei Premie-       „Zauberflöte“. Ein buntes, übervolles
Wiener Volksopernfreunde (VOF)
                                                 ren und die beiden Wiederaufnahmen        Regie-Schmuckkästchen mit Puppen-,
Medieninhaber:
Wiener Volksopernfreunde                         „Kiss me Kate“ und „Die Lustige Wit-      Menschen- und Musiktheater nach
c/o Präsident Dr. Oliver Thomandl                we“. „Sweet Charity“ war im Septem-       allen Regeln der Kunst, detail- und fi-
Goldschlagstraße 84 / 1 / 37                     ber die erste Premiere. Johannes von      gurenverliebt, ein wahrer Kirtag der
1150 Wien
                                                 Matuschka inszenierte das frühe Werk      An- und Ausdeutungen: eine fliegende
e-mail: volksopernfreunde@outlook.com
Telefon: 0676 / 3407464                          des Komponisten Cy Coleman und            Zauberflöte, ein wanderndes Glocken-
Vereinskonto:                                    des Dramatikers Neil Simon, die dafür     spiel, die Drei Knaben als schweben-
Erste Bank                                       Federico Fellinis Film „Die Nächte der    de Puppen, tanzende Löwen in einer
IBAN: AT16 2011 1283 2213 9901                   Cabiria“ für den Broadway adaptierten.    tropischen Bananenrepublik Sarastros,
BIC: GIBAATWWXXX
                                                 In der Hauptrolle der gutherzigen Cha-    Pinguine, Papageien-Taucher-Puppen,
Druck: druck.at                                  rity Hope Valentine war die gebürtige     tutuberockte Ballett-Hunde und zau-
Layout, Satz & Grafik:                           zauberhafte Linzerin Lisa Habermann       berhafte Tier-Puppen – vom Wüsten-
Dipl.-Ing. Gerfried Mikusch - content design
                                                 zu erleben, die in dieser Rolle erfolg-   fuchs bis zum Chamäleon und Gürtel-
Redaktion:
Felix Brachetka, Michael Koling, Gerhard R.      reich in die Fußstapfen einer Shirley     tier tummelten sich da allerlei bedrohte
Menhard, Erich Ruthner, Dr. Oliver Thomandl      McLane und Dagmar Koller tritt. Eine      Tierarten auf der Bühne! Eine wahre
Fotos:                                           opulente Show mit schwungvollen Re-       Märchenstunde mit Mozart, die dies-
alferink.org, Archiv, Barbara Pálffy/Volksoper   vuenummern! Das VOP-Orchester             mal ohne Freimaurer-Symbolik aus-
Wien, Buchhandlung Volksoper, Zum Reznicek,      unter Lorenz C. Aichner widmete sich      kommt, aber trotzdem ihre Wirkung
tanzmuseum.at, Teenorissimo, Oliver Thomandl,
tripadvisor, vindobona.org                       dem Werk mit all seinen Stil-Rich-        nicht verfehlt. Die deutsche Dirigentin
Coverfoto:
                                                 tungen wie Jazz, Swing und Latin mit      Anja Bihlmaier sorgt dabei am Pult
Barbara Pálffy/Volksoper Wien                    Verve und hörbarer Spielfreude. Ein       des Volksopernorchesters für ein gutes

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Gerrit Prießnitz Süchtig nach Klängen...
Dezember 2020

Tempo und bringt Solisten, Chor und        menschliche Abgründe begleitet wird       Reinthaller, Publikumsliebling Vin-
den Graben in ein stimmiges musika-        er dabei von Martin Winkler und Ger-      cent Schirrmacher und Opernstar KS
lisches Gesamtbild, das mit der Insze-     rit Prießnitz am Pult.                    Herbert Lippert. Voraussichtlich wer-
nierung perfekt harmoniert.                Zum Abschluss der Saison können           den diese im Theater Tribüne im Café
Dann kehrte coronabedingt wieder be-       sich Ballett-Fans auf die Premiere        Landtmann stattfinden. Auch hoffen
drückende Stille am Währinger Gürtel       von „Promethean Fire“ freuen. Mit         wir, dass wir ab Jänner wieder unsere
ein…aber dennoch bietet das Haus in        dieser Premiere präsentiert das Wie-      beliebten Soiréen mit Überraschungs-
Zusammenarbeit mit „fidelio“, dem          ner Staatsballett zwei herausragen-       gästen starten können. Halten Sie uns
digitalen Klassik-Treffpunkt des ORF       de Künstler des American Modern           weiterhin die Treue!
mit Unitel, dem Publikum im Dezem-         Dance: Paul Taylor und Mark Morris.       Diesmal haben wir mit der neuen Aus-
ber einen umfassenden Programm-            Ein Ballett-Programm, das als Reakti-     gabe unseres „Souffleur“ wieder jede
schwerpunkt. Auf dem Programm              on auf die Anschläge von „Nine Ele-       Menge Lesestoff für die Feiertage für
stehen insgesamt sieben Erfolgspro-        ven“ entstanden sein soll – zwischen      Sie zusammengestellt: Im Interview
duktionen der Direktionszeit Robert        Hybris und Menschlichkeit, Schönheit      stellen wir Ihnen diesmal den Studi-
Meyers. Apropos Corona: diesen             und Katastrophe, Schöpfung und Ver-       enleiter, Kapellmeister und neuen Be-
„Teufel auf Erden“ brauchen wir bei        gänglichkeit.                             rater in künstlerischen Fragen, Gerrit
Gott nicht, wohl aber Franz von Sup-       Hoffentlich erlaubt es die Pandemie,      Prießnitz vor. In einem weiteren Port-
pés Operette „Der Teufel auf Erden“,       dass wir uns bald wieder an der Mu-       rät präsentieren wir ebenso die reizen-
die am 5. Dezember Premiere haben          sik erfreuen dürfen, dass die Künstler    de Korrepetitorin Chie Ishimoto, die
sollte und nun auf unbestimmte Zeit        endlich wieder das Scheinwerferlicht      höchstwahrscheinlich die musikalische
verschoben wird. Die Künstler haben        erblicken, Theater-Boden unter den        Leitung der künftigen Konzerte der
jedoch schon die Klavierhauptprobe         Füßen haben und die so oft und lang       Volksopernfreunde übernehmen wird.
hinter sich und sind jederzeit „startbe-   entbehrte Theater-Luft wieder atmen       Natürlich finden Sie auch ein erstes
reit“…                                     können….                                  Porträt der neu bestellten Direktorin
Apropos Premieren: ein zutiefst be-        Wir „Volksopernfreunde“ mussten           Lotte de Beer in diesem Heft. Michael
rührender und begeisternder Ballett-       auch diesen Herbst alle unsere Veran-     Koling machte sich in seinem höchst
abend verspricht sicherlich Martin         staltungen absagen beziehungsweise        aktuellen Artikel „Zwischen Pest und
Schläpfers „Ein Deutsches Requiem“         verschieben. Im September durften wir     Corona“ Gedanken zu Benjamin Brit-
nach der Musik von Johannes Brahms         unser Ehrenmitglied KS Josef Luften-      tens Oper „Der Tod in Venedig“, die
zu werden, der am 30. Jänner Premi-        steiner noch bei der letzten Soirée als   im kommenden April Premiere haben
ere feiert. Vergangenen März feierte       unseren Gast begrüßen. Am 18. Sep-        wird. Gerhard R. Menhard betrach-
der Musical-Gigant Stephen Sondheim        tember ging unsere Generalversamm-        tet in seinem Beitrag das spannende
sein 90. Lebensjahr. Im März 2021          lung im Grand Café am Alsergrund          Leben und Werk des „Zauberflöten“-
zeigt die Volksoper nach „Sweeney          über die Bühne. Es stand diesmal auch     Librettisten und Multitalentes Ema-
Todd“ und „Die spinnen, die Römer!“        die Neuwahl des Vorstandes an: Ge-        nuel Schikaneder, der es vom Char-
mit „Into the Woods“ bereits das dritte    wählt wurden: Dr. Oliver Thomandl         gendarsteller zum vielbeachteten
Musical des Großmeisters. Ein musi-        (Präsident), Gerhard R. Menhard (Vi-      Theaterdirektor brachte. Felix Brachet-
kalisches Märchen für Erwachsene in        zepräsident), Mag. Paul Janauschek        ka beleuchtet im 1. Teil der „Ur- und
einer spannenden Inszenierung von          (Finanzreferent), Eva Janauschek          Erstaufführungen an der Volksoper in
Olivier Tambosi mit Lisa Habermann         (Schriftführerin) und Angelika Kovarik    der Nachkriegszeit“ den Zeitraum zwi-
in der Rolle des Aschenputtels. Im         (Beirätin). Als Rechnungsprüfer wer-      schen 1945 bis 1955 – die Direktions-
zweiten Teil dieses modernen Meister-      den wiederum Dkfm. Dr. Fritz Pfister      zeit des legendären Hermann Juch. In
werks erfahren wir, was mit den Mär-       und Mag. Ernst Kopica agieren. Auf        seiner Kolumne „Sternensplitter“ ent-
chengestalten nach dem Happy End           Wunsch schicken wir das Protokoll der     führt uns Erich Ruthner ebenfalls in
denn eigentlich passiert…                  Generalversammlung auch gerne per         die Vergangenheit und ist diesmal dem
Eine Hommage an Benjamin Britten           mail oder Post.                           Tenor Alois Aichhorn auf der Spur, an
gibt es dann im April mit seiner Oper      Leider mussten wir unser traditionel-     den sich sicherlich noch viele gerne er-
„Der Tod in Venedig“ – eines seiner        les Adventkonzert ebenso absagen          innern werden. Wir stellen weiters die
wohl beklemmendsten, dichtesten und        wie den Wienerlied-Abend mit Mi-          Buchhandlung Volksoper vor und ma-
abgründigsten Werke, dessen Stoff ak-      chael Havlicek und diverse Künstler-      chen danach einen Abstecher ins ent-
tueller ist denn je… Das Werk wird an      gespräche. Aber wir lassen uns nicht      zückende Hietzinger Teehaus „Teeno-
der Volksoper in einer Inszenierung        unterkriegen und planen für unser         rissimo“, in dem Volksoperntenor
des schottischen Regisseurs David          20er-Jubiläumsjahr bereits ein wun-       Alexander Pinderak seine Gattin Sandy
McVicar zu sehen sein. Der vielseiti-      derbares Konzert! Geplant sind neben      tatkräftig unterstützt. Einen Abstecher
ge deutsche Tenor Rainer Trost wird        den schon erwähnten Konzerten auch        ins Alsergrunder Lichtental macht zum
als alternder Schriftsteller Gustav von    Künstlergespräche wie etwa mit Chris-     Abschluss „Sir Falstaff“ mit einem
Aschenbach zu erleben sein. Auf sei-       tian Kolonovits, Musical-Star Drew        Besuch des legendären Bilderbuch-
ner Reise mit der Epidemie und durch       Sarich, Alfred Eschwé, KS Sebastian       Wirtshauses „Zum Reznicek“, in dem

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Gerrit Prießnitz Süchtig nach Klängen...
Vereinsmagazin der Wiener Volksopernfreunde

man sowohl vor als auch nach einem
Volksopernbesuch nach Herzenslust
schlemmen kann, oder einfach bei ei-
nem Gläschen über Zukunft und Ver-
gangenheit des Musiktheaters philoso-
phiert.
Wir wünschen allen unseren Mitglie-
dern und Freunden, der Direktion des
Hauses, den Künstlern und der gesam-
ten „Familie Volksoper“ vor allem Ge-
sundheit, ein friedvolles Weihnachts-
fest sowie ein glücklich(er)es neues
Jahr 2021, in dem die Scheinwerfer die
Bühne wieder erhellen mögen und in
dem wieder mehr Licht in unser aller
Herzen dringt!

                Dr. Oliver Thomandl, Präsident

Geplante Soréen
(falls bis dahin gestattet jeweils am 2.
Freitag des Monats)
8. Jänner, 12. Februar, 12. März,
9. April, 14. Mai, 18.(!) Juni
Gasthaus „Lechner“
Wilhelm-Exner-Gasse 28, 1090 Wien)
Beginn: ab 16:30 Uhr

Hinweis zum Datenschutz:
Hiermit wollen wir unsere ge-
                                                 Gerrit Prießnitz
schätzten Mitglieder über die neuen
Datenschutzregelungen        (DSGVO)
informieren:
Ihre Daten (Name, Adresse, e-mail                Süchtig nach Klängen…
etc.) werden ausschließlich für Ver-
einszwecke verarbeitet und automa-
tisiert gespeichert. Die Daten dienen            Oliver Thomandl im Gespräch mit          mit 9 Jahren erst, Musik spielte keine
ausschließlich zur Information über              dem Studienleiter und künstlerischen     besondere Rolle daheim; aber die ers-
unsere Veranstaltungen, Koopera-                 Berater                                  ten Orchesterkonzerte, die ich dann
tionsveranstaltungen,        Mitglieder-                                                  hörte – darunter eine 6. Mahler mit
Verwaltung und zur Einhebung des                 O.T.: Wie war denn die erste Berüh-
                                                                                          meinem späteren Lehrer Dennis Rus-
Mitgliedsbeitrages. Sie werden nicht             rung mit Musik? Sind Sie in einem mu-
                                                                                          sell Davies – haben mich auf geradezu
an andere Vereine oder Firmen wei-               sikalischen Elternhaus aufgewachsen?
                                                                                          magische Weise berührt und verführt.
tergegeben und sind bis auf Widerruf             Gab´s ein „musikalisches Erweckungs-
digital gespeichert. Sie haben jederzeit                                                  Dieses Verschmelzen der Farben und
                                                 erlebnis“ zum Beruf ?
die Möglichkeit, ihre Daten schriftlich          G.P.: Ich bin ein klassischer Spätzün-
oder per e-mail zu ändern bzw. diese             der – ein geerbtes Klavier führte zu         Foto: Barbara Pálffy / Volksoper Wien
streichen zu lassen.                             ersten musikalischen Gehversuchen

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Gerrit Prießnitz Süchtig nach Klängen...
Dezember 2020

Stimmen im Orchester hat mich in sei-        sie einen Chefdirigenten engagieren        sibilität gegenüber einem Kollektiv aus
nen Bann gezogen. Und tut es bis heu-        wird. Beide Modelle können spannend        individuellen Künstlern ist man verlo-
te ungebrochen!                              und fruchtbar sein, ich persönlich finde   ren. Und das lernt man nicht im Stu-
O.T.: Ist Gerrit Prießnitz ein guter         die kontinuierliche künstlerische Hand-    dium, das lernt man nur im Umgang
Schüler gewesen? Was waren in der            schrift eines GMD wichtig. Die Quali-      mit diesen wunderbaren Menschen im
Schulzeit die Lieblingsfächer? Gab´s         tät eines Repertoiretheaters muss indes    Orchester.
als Bub andere Berufswünsche als Mu-         jeden Abend neu unter Beweis gestellt      O.T.: Wie findet man seine eigene In-
siker?                                       werden, ob nun der „Chef“ bzw. die         terpretation eines Werkes bei hunder-
G.P.: Im Großen und Ganzen war               „Chefin“, ein Kapellmeister des Hau-       ten von Aufnahmen?
ich ein guter Schüler, aber ziemlich         ses oder ein Gast am Pult steht.           G.P.: Am besten, indem man über-
schwach in sämtlichen Naturwissen-           O.T.: Gab´s ein Lieblingsstück, das Sie    haupt nur die Partitur liest … Wenn
schaften. Geschichte und Englisch wa-        besonders gerne am Haus dirigiert ha-      man gerne eine Aufnahme zurate zieht,
ren meine Lieblingsfächer. Tatsächlich       ben?                                       würde ich ganz altmodisch sagen: Gut,
hätten mich, wäre es nicht die Musik         G.P.: Ja, das kann ich relativ klar be-    dass Karajan so viel aufgenommen
geworden, Jus und katholische Theolo-        nennen: Die Zusammenarbeit mit der         hat, er hat gewisse Standards nie unter-
gie auch sehr interessiert.                  Regisseurin Brigitte Fassbaender an        schritten.
O.T.: Wie gestaltete sich die erste „Be-     Brittens „Albert Herring“ war einfach      O.T.: Welche Werke hat Gerrit Prieß-
rührung“ mit der Volksoper? Wie sind         herrlich, die Besetzung ein einziger       nitz persönlich am Liebsten? Gibt es
Sie an das Haus gekommen?                    Glücksfall und ich hoffe bei aller Be-     einen Lieblingskomponisten?
G.P.: 2005 suchte ich nach Anfänger-         scheidenheit sagen zu dürfen, dass ich     G.P.: Auch hier ein klares „Ja“! Richard
jahren am Theater Erfurt eine neue           da auch ganz in meinem Element war.        Wagner ist mein unangefochtener
Herausforderung und fand sie, als ich        O.T.: Gibt´s Dirigenten-Vorbilder?         Lieblingskomponist, er ist der Grund,
von der Vakanz an der Volksoper hör-         G.P.: Ich komme um einen Namen             warum ich Dirigent bin. Ich bin ge-
te, auf die ich mich erfolgreich bewarb.     nicht herum, dessen Karriere(ende)         radezu süchtig nach seinen Klängen,
2006 bis 2013 war ich bereits einmal         für immer unter dem Schatten massi-        nach diesen feinen psychologischen
Studienleiter und Kapellmeister, dann        ver Vorwürfe gravierenden persönli-        Verästelungen in seinen Partituren,
von 2013 bis 2020 regelmäßiger Gast-         chen Fehlverhaltens stehen wird. Dies      Hans Sachs mein Lieblingscharakter in
dirigent und nun bin ich im Herbst auf       blende ich keinesfalls aus! Dennoch:       der ganzen Opernliteratur. Das ganze
meine frühere Position, erweitert um         künstlerisch hat mich James Levi-          Leben – jedenfalls das eines Mannes
die Funktion als „Berater in künstleri-      ne immer in besonderer Weise durch         – hat Wagner in diese Figur gelegt, ich
schen Fragen“, zurückgekehrt.                sein energetisches, geschmackvolles,       kenne kaum etwas Facettenreicheres.
O.T.: Was zählt zu den Aufgaben eines        zutiefst musikalisches Dirigieren und      O.T.: Wirkt sich eine „Abneigung“ ge-
Studienleiters?                              „Spielen-Lassen“ fasziniert. Es gibt ge-   gen ein Stück negativ auf die Auffüh-
G.P.: Das kommt sehr auf das Haus            radezu diametral konträre Charaktere       rung aus?
an! Grundsätzliche Kernaufgabe ist die       unter den Dirigenten wie etwa Herbert      G.P.: Abneigung ist ein starkes Wort.
Verantwortung für die kompetente und         Blomstedt oder Bernard Haitink, die        Natürlich kann einem mal subjektiv et-
zeitgerechte Einstudierung des Soliste-      ich nicht minder faszinierend finde,       was gegen den Strich gehen, aber auch
nensembles, die der Studienleiter ko-        aber Levine war prägend. Unter den         dann muss man Profi bleiben. Ich erin-
ordiniert. In meinem Fall kommen die         Dirigenten, die derzeit im Rampenlicht     nere mich zum Glück nur an eine einzi-
Aufgaben als Kapellmeister hinzu, der        stehen, halte ich Christian Thielemann     ge Produktion in meinem Dirigenten-
für Neuproduktionen ebenso wie für           für einen herausragenden, mitreißen-       leben, bei der ich nicht gerne abends
Repertoirestücke auch dirigentisch ver-      den, inspirierenden Künstler.              in den Graben gegangen bin, weil ich
antwortlich ist. Es ist eine spannende       O.T.: Welche Eigenschaften muss ein        das Werk tatsächlich gar nicht mochte
Mischung zwischen Dirigaten, „Coa-           Dirigent mitbringen? Ist es die Gabe       und auch die szenische Umsetzung für
chings“ am Klavier und auch einer            einer besonderen Sensibilität, besonde-    gründlich misslungen hielt. Aber wo
Menge Administration.                        re Menschenkenntnis?                       das war und bei welchem Stück, bleibt
O.T.: Wäre es für das Haus am Währin-        G.P.: Nun, Sie nehmen die Antwort          mein Geheimnis.
ger Gürtel von Vorteil, einen GMD zu         gewissermaßen vorweg. Denn Sensi-          O.T.: Was geht in einem Dirigenten
haben?                                       bilität würde ich an erster Stelle nen-    nach Ende einer Aufführung bzw. ei-
G.P.: Unter Robert Meyer gab es nach         nen. Penible Vorbereitung, ein gutes       nes Konzerts vor? Braucht man lange
Leopold Hager keinen Chefdirigenten          Ohr, glasklare, im besten Fall virtuose    um „runterzukommen“?
mehr, die designierte Direktorin Lotte       Schlagtechnik sind Voraussetzungen,        G.P.: Hm, jetzt wird’s sehr persönlich
de Beer hat bereits klar artikuliert, dass   aber ohne vor allem menschliche Sen-       ... Bei mir ist das unterschiedlich, es

                                                                                                                              5
Gerrit Prießnitz Süchtig nach Klängen...
Vereinsmagazin der Wiener Volksopernfreunde

                                                                                         Foto: Barbara Pálffy / Volksoper Wien

                                                                                     zu können, weil der Dirigent / die Di-
                                                                                     rigentin künstlerisch und menschlich
                                                                                     überzeugend ist, Sicherheit, Klarheit,
                                                                                     Sinn und Sinnlichkeit vermittelt, dann
                                                                                     wird Musik aus den Noten.
                                                                                     O.T.: Ist ein Dirigent „Diener der Mu-
                                                                                     sik“? Ist er nicht in gewissem Maße
                                                                                     auch „Handwerker“? Entscheiden
                                                                                     die Hände eigentlich über Erfolg und
                                                                                     Misserfolg?
                                                                                     G.P.: Ich erinnere mich an einen Satz
                                                                                     des wunderbaren Lehrers Janós Fürst
                                                                                     vom Pariser Conservatoire, der sinnge-
                                                                                     mäß sagte, dass man beim Dirigieren
                                                                                     sehr vieles erlernen könne, durch Er-
                                                                                     fahrung schaffen könne etc. Nur eines
                                                                                     könne man nicht lernen: „You have to
                                                                                     have good hands.“ Das ist der techni-
                                                                                     sche Aspekt, der ethische Aspekt ist
                                                                                     der, dass man sich auf jeden Fall als
                                                                                     Diener des Komponisten, der Partitur,
                                                                                     der Musik verstehen sollte. Nicht in ei-
                                                                                     nem akademisch-vergrübelten Sinne,
kommt auf die Intensität des Abends       ein Dirigent Einfluss auf die künstleri-   man möchte sie ja mit Leben erfüllen;
an. Manchmal beschäftigen einen Vor-      sche Qualität des Orchesters nehmen?       aber doch mit dem Anspruch, jede
stellungen die ganze Nacht hindurch,      G.P.: Diese Fragen gehören untrenn-        Note ernst zu nehmen, die Intentionen
verfolgen einen einzelne Momente bis      bar zusammen, aber der Reihe nach:         des Komponisten über sich selbst zu
in den Schlaf. Aber zum Glück kann        Ja, das gibt es, und ich kenne schmerz-    stellen.
man manchmal auch relativ schnell zur     liche Geschichten von Kollegen. Ich        O.T.: Wie entspannt Gerrit Prießnitz?
Ruhe kommen, abschalten, loslassen.       habe selbst bisher nur mit einem ein-      Gibt´s Hobbys wie etwa Lesen, Sport
O.T.: Gab´s schon mal „Hoppalas“,         zigen Orchester eine wirklich nachhal-     oder Kochen? Besuchen Sie an freien
z.B. an der Volksoper?                    tig schlechte Erfahrung gemacht. Den       Abenden auch Konzerte von Kolle-
G.P.: Ich werde es wohl oder übel         Namen behalte ich für mich, aber für       gen?
zugeben müssen: ja, die gab‘s. Ganz,      keine Gage der Welt oder für ein noch      G.P.: Wenn ich es auch eher mit Chur-
ganz selten zum Glück, aber nobody is     so attraktives Programm würde ich          chill („No sports“) halte, so bin ich
perfect und auch ich habe mich schon      dort jemals wieder dirigieren. So etwas    doch gerne an der frischen Luft, in der
verschlagen oder verzählt in einer Vor-   tut weh, vor allem, wenn es den eige-      Natur, keine Frage. Literatur ist meine
stellung oder einem Konzert, wenn die     nen Idealen zuwider läuft: Ich nehme       zweite große Leidenschaft neben der
Konzentration einen mal plötzlich ver-    Musiker zutiefst ernst, bin auf sie an-    Musik und wenn ich einen interessan-
lässt.                                    gewiesen und möchte sie aus ganzem         ten Klavierabend oder ein wunderba-
O.T.: Wenn ein Orchester einen Diri-      Herzen von meiner musikalischen Vor-       res Orchesterkonzert erleben kann, bin
genten nicht mag oder ihn für inkom-      stellung überzeugen. Es geht nicht um      ich auch als Zuhörer, nicht nur als Mit-
petent hält, lässt es ihn dann auflau-    Kommandeur und Befehlsempfänger,           wirkender, sehr glücklich. Das fehlt mir
fen? Haben Sie von Kollegen schon         Gott bewahre! Es geht einzig und al-       aktuell schmerzlich.
solche Geschichten gehört? Kann ein       lein darum, als Dirigent einen Raum zu     O.T.: Gibt´s einen besonderen Buch-,
Dirigent an einem Orchester „zerbre-      kreieren, in dem jeder sein Bestes ge-     CD- oder Streaming-Tipp in „Live-
chen“? Ändert die Zufriedenheit des       ben kann und will. Wenn das gelingt,       Kultur“-losen Lockdown-Zeiten?
Orchesters mit einem Dirigenten etwas     wenn jede Musikerin, jeder Musiker das     G.P.: Mein Tipp für die Zeit ohne
an der Qualität der Leistung? Wie kann    Gefühl hat aus dem Vollen schöpfen         „Live-Kultur“: alle Romane von Pa-

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Gerrit Prießnitz Süchtig nach Klängen...
Dezember 2020

trick Modiano, „1Q84“ von Haruki            Hector Berlioz‘ „Roméo et Juliette“        an der Volksoper Wien engagiert, wo
Murakami, „Die Entdeckung des Him-          den Österreichischen Musiktheater-         er ein außerordentlich breit gefächer-
mels“ von Harry Mulisch. Bruckner           preis für die „Beste Ballettproduktion“.   tes Repertoire dirigierte: „Ariadne auf
mit Karajan, Strauss mit Thielemann,        2019/20 beinhaltet u.a. Debüts beim        Naxos“, „Salome“, „Der Freischütz“,
Mahler mit Tennstedt. Ein Geheim-           Beethovenfest Bonn sowie beim Bran-        „Rusalka“, „Tosca“, „La Bohème“, die
tipp: die Aufnahme der Englischen           denburgischen Staatsorchester. Sowohl      Premieren von Henzes „Wunderthe-
Suiten Nummer 2 und 3 von Bach mit          bei den Bamberger Symphonikern             ater“ und Kreneks „Kehraus um St.
Ivo Pogorelich aus dem Jahr 1986 – so       als auch bei der Württembergischen         Stephan“, „Carmen“, „L‘heure espa-
geht Bach auf einem modernen Kla-           Philharmonie und den Seefestspielen        gnole“, „Die Zauberflöte“, „Le nozze
vier, einfach grandios!                     Mörbisch debütierte Gerrit Prießnitz       di Figaro“, „Die Entführung aus dem
O.T.: Gibt es Wünsche für die Zu-           2016/17, mit Hindemiths später Oper        Serail“, und viele mehr. Mit der viel be-
kunft? Gibt es „Traumziele“, „Traum-        „Die Harmonie der Welt“ gab er sein        achteten und euphorisch gelobten Pre-
Dirigate“, „Traum-Häuser“?                  Debüt am Landestheater Linz - die          miere von „Albert Herring“ sowie der
G.P.: Es ist Usus, in klassischen In-       „Opernwelt“ zeichnete diese Produk-        Uraufführung des Balletts „Ein Rei-
terviews auf diese Fragen Antworten         tion in ihrer Jahresumfrage als „Wie-      gen“ kehrte er 2014 an die Volksoper
wie „immer das Stück, das ich gera-         derentdeckung des Jahres“ aus. An der      zurück, an der er seitdem als ständiger
de dirigiere“ oder „immer das Haus,         Wiener Staatsoper leitete er 2013 die      Gastdirigent zahlreiche Repertoire-
an dem ich gerade arbeite“ zu geben.        Premiere von Hans Werner Henzes            vorstellungen (auch im Rahmen des
Das ist sympathisch und ich bin tat-        „Pollicino“, der Wiedereinladungen         Japan-Gastspiels 2016) und Premieren
sächlich aufrichtig dankbar für jeden       für Richard Strauss‘ „Josephslegende“      leitete. Als Künstlerischer Leiter der
Tag und jeden Ort, an dem ich musi-         und „Der Nussknacker“ folgten. Im          Wiener Akademischen Philharmonie
zieren darf. Bei den Träumen lasse ich      Concertgebouw Amsterdam dirigierte         war er mit vorwiegend romantischen
mir aber ausnahmsweise in die Karten        er 2014 einen konzertanten „Fidelio“,      Programmen in den Spielzeiten 2009-
blicken: Mit der „Josephslegende“ an        im selben Jahr folgte mit der Premie-      2011 regelmäßig in Konzerthaus und
der Wiener Staatsoper ging 2017 schon       re von „La Belle Hélène“ zudem sein        Musikverein am Pult zu erleben. Zuvor
ein Lebenstraum in Erfüllung – Strauss      Debüt an der Hamburgischen Staats-         war er von 2001 bis 2006 als Kapell-
mit den Wiener Philharmonikern im           oper, dem umgehend eine Einladung          meister und Studienleiter am Theater
Graben, beflügelnd, ein Erlebnis nicht      als Einspringer für „Carmen“ folgte.       Erfurt tätig. Auch dort dirigierte er
von dieser Welt, Suchtpotential unend-      Gerrit Prießnitz arbeitet mit den wich-    maßgebliche Teile des Hausrepertoires
lich. Irgendwann möchte ich einmal die      tigsten Sängern unserer Zeit wie Piotr     bis hin zu Vorstellungen der Urauf-
Staatskapelle Dresden dirigieren, das ist   Beczala, Linda Watson, Klaus Florian       führungsproduktion von Philip Glass‘
mein zweiter großer Traum, während          Vogt, Vesselina Kasarova, Jennifer Lar-    „Waiting for the Barbarians“. Seine
meine Wunschliste an Repertoire noch        more oder Kurt Rydl zusammen. Seine        Ausbildung schloss Gerrit Prießnitz
sehr lang ist. „Mathis der Maler“, „Die     umfangreiche Gastiertätigkeit führte       2001 an der Salzburger Universität
Meistersinger von Nürnberg“, „Pa-           ihn zudem an die Oper Köln, ans Te-        Mozarteum „mit Auszeichnung“ ab. In
lestrina“ und „Arabella“ stehen ganz        atro Comunale di Bologna, ans Aalto        der Orchesterleitungsklasse von Prof.
oben. Zugleich bin ich sehr glücklich,      Musiktheater Essen, in den Goldenen        Dennis Russell Davies und der Chor-
Tag für Tag meine Kraft in den Dienst       Saal des Wiener Musikvereins, ins Wie-     leitungsklasse von Prof. Karl Kamper
der Volksoper stellen zu dürfen, so gut     ner Konzerthaus, ins Brucknerhaus          erhielt er zudem den Würdigungspreis
ich nur kann.                               Linz (Bruckner Orchester), ans Bunka       für außerordentliche künstlerische
                                            Kaikan Theatre Tokyo, ins Aichi Arts       Leistungen des österreichischen Mi-
Gerrit Prießnitz – im Kurzporträt
                                            Center Nagoya, zum Münchner Rund-          nisteriums für Bildung und Kultur, die
Gerrit Prießnitz wurde in Bonn gebo-        funkorchester, zum Netherlands Ra-         Bernhard-Paumgartner-Medaille der
ren. Derzeit ist er regelmäßiger Gast-      dio Philharmonic, zu den Nürnberger        Internationalen Stiftung Mozarteum,
dirigent an der Volksoper Wien und          Symphonikern, zur Robert Schumann          Stipendien des Bildungsministeriums
darüber hinaus verschiedenen europä-        Philharmonie Chemnitz, den Schloss-        und des ERASMUS-Programms der
ischen Opernhäusern und Orchestern          festspielen Schwerin, zur Nordwest-        EU. Seit Herbst 2017 bekleidet Gerrit
eng verbunden. 2018/19 fungierte er         deutschen Philharmonie Herford,            Prießnitz einen Lehrauftrag an der Mu-
als „Erster Ständiger Gastdirigent“ des     zur Jenaer Philharmonie, ans Theater       sik und Kunst Privatuniversität (MUK)
Theaters Chemnitz, stand erstmals am        Luzern, zum Slowenischen National-         der Stadt Wien für Oper im Studien-
Pult des Sinfonieorchesters Wuppertal       theater Maribor und wiederholt zum         gang Dirigieren.
sowie des Orquesta de Córdoba. Un-          Niederösterreichischen Tonkünstleror-
ter seiner musikalischen Leitung erhielt    chester. Von 2006 bis 2013 war er fest

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Gerrit Prießnitz Süchtig nach Klängen...
Vereinsmagazin der Wiener Volksopernfreunde

Zwischen Pest und Corona
Gedanken zu Benjamin Brittens „Der Tod in Venedig“
„Mit dem ´Tod in Venedig´ ist es eine    Katia Mann, die Witwe von Thomas           ausgebrochene Cholera war nicht die
ganz komische Geschichte, insofern,      Mann, in ihrer unter dem Titel „Mei-       erste Pandemie – und sollte auch nicht
als sämtliche Einzelheiten der Erzäh-    ne ungeschriebenen Memoiren“ veröf-        die letzte bleiben. So, wie sich auch
lung, von dem Mann auf dem Fried-        fentlichten Lebensgeschichte und be-       vor und nach Thomas Mann diverse
hof angefangen, passiert sind. Wir       zieht sich dabei auf einen Aufenthalt      Schriftsteller in ihren Werken mit dem
fuhren mit dem Dampfer nach Vene-        mit ihrem Mann und dessen älterem          Thema Seuchen beschäftigten. Schon
dig. Mein Mann hing über die Maßen       Bruder Heinrich in Venedig. Und an         in Giovanni Boccaccios „Decamero-
am Lido und an Venedig. Wir waren        anderer Stelle erinnert sie an eine Sze-   ne“ spielt die Mitte des 14. Jahrhun-
oft dort; sonst waren wir immer mit      ne in einem Reisebüro: „Wenn ich Sie       derts in Florenz wütende Pest eine
der Eisenbahn gekommen. Auf die-         wäre, würde ich die Schlafwagen nicht      Rolle; eine Krankheit, die dem wohl
ser Reise kamen wir zum ersten Mal       erst für in acht Tagen bestellen, son-     bekanntesten Seuchenroman, Albert
von der See aus herein, und auf dem      dern für morgen, denn wissen Sie, es       Camus 1947 veröffentlichter Roman
Schiff war tatsächlich auch der greise   sind mehrere Cholerafälle vorgekom-        „La Peste“, den Titel gab. Nicht zu-
Geck, ein offenbar geschminkter und      men, was natürlich verheimlicht und        letzt die aktuelle Corona Pandemie
hergerichteter älterer Herr, umgeben     vertuscht wird“.                           hat die nach dem 1. Weltkrieg wüten-
von jungen Leuten. Die tobten und        Die Ende des 19. und Anfangs des 20.       de Spanische Grippe in Erinnerung
machten Unsinn.“ Diese Sätze schrieb     Jahrhunderts in weiten Teilen Europas      gerufen und den 2017 zunächst in

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Gerrit Prießnitz Süchtig nach Klängen...
Dezember 2020

    Fotos: Archiv (2)

Großbritannien erschienenen und we-
nig beachteten Roman „1918 – Die
Welt im Fieber“ der britischen Schrift-
stellerin Laura Spinney auf die Bestsel-
lerlisten katapultiert.
Im Gegensatz zur Literatur haben Seu-
chen und Pandemien in der Musik ei-
nen geringeren Widerhall gefunden.
Wohl findet sich seit dem Mittelalter
und bis in die Gegenwart das Thema
des Totentanzes in Werken verschie-
dener Komponisten und auch die eine
oder andere Messe ist aus Anlass oder
in Erinnerung an eine Seuche kompo-
niert worden. Nicht vergessen werden        „Das Thema von Brittens Oper ‚Tod            wird die „Sinfonietta“ noch während
darf in diesem Zusammenhang auch            in Venedig‘, das (Über)Leben in Zei-         der Studienzeit uraufgeführt. Als „cle-
das Lied vom „Lieben Augustin“. Ei-         ten einer Cholera-Epidemie, muss             ver“ wurde die Komposition von sei-
nes der wenigen musikdramatischen           nicht weiter auf Aktualität untersucht       nen Lehrern bezeichnet, was nicht
Werke, das die Pest zum Inhalt hat, ist     werden“ schreibt Robert Meyer im             wirklich als Kompliment anzusehen
Halevys Oper „Guido et Ginevra ou           Vorwort der Spielplanbroschüre für           ist. Dem Erstlingswerk folgten diver-
la Peste de Florence“. Mit dem Thema        die aktuelle Saison. „Müssten wir sie        se weitere Kompositionen, auch als
AIDS befasst sich die Oper „Angels in       unter ein Motto stellen, so würde die-       Filmkomponist, die wirklichen Erfolge
America“ von Peter Eötvös.                  ses wohl lauten: ‚Die Hoffnung stirbt        stellten sich allerdings erst nach dem
Aber zurück zu Thomas Mann und              zuletzt‘. Es ist fast beängstigend, zeugt    Ende des 2. Weltkrieges ein.
seiner 1911 geschriebenen Novelle           aber von der dauernden Gültigkeit            Brittens Oeuvre umfasst gleicherma-
„Der Tod in Venedig“. Der italieni-         großer Bühnenwerke“ heißt es an an-          ßen Orchester- und Kammermusik,
sche Regisseur Luchino Visconti hat         derer Stelle des Vorwortes. Und in der       vor allem aber Vokalwerke – Lieder,
ihr 1971 ein weit über den deutsch-         Tat, aktuell kann niemand verspre-           Chorwerke, Opern. Er war aber auch
sprachigen Leserkreis reichendes fil-       chen, dass die für 17. April 2021 ge-        ein bedeutender Pianist und Dirigent
misches Denkmal gesetzt. An dieser          plante Premiere auch stattfinden kann,       nicht nur eigener Kompositionen. Die
Stelle muss nochmals Katia Mann zu          die Seuche in den Griff bekommen             von Schostakowitsch ihm gewidmete
Wort kommen. „Äußerlich trägt Gus-          worden ist.                                  14. Sinfonie brachte er 1970 erstmals
tav Aschenbach die Züge von Gustav                                                       außerhalb von Russland zur Auffüh-
Mahler, nicht wahr? Das liegt daran,        Benjamin Britten                             rung. Auch als Liedbegleiter ist er häu-
dass Mahler damals im Sterben lag.          Edward Benjamin Britten, wie der             fig aufgetreten, immer wieder mit sei-
Die Art, wie sein Tod zelebriert wur-       vollständige Name des Komponisten            nem Lebenspartner, dem Tenor Peter
de, hat meinen Mann somit auf ihn           lautet, wurde am 22. November 1913           Pears. In seinem Wohnort Aldeburgh
gebracht, dass er tatsächlich bei der äu-   in der von Fischerei lebenden osteng-        gründete Britten ein Musikfestival,
ßeren Schilderung von Aschenbach ein        lischen Kleinstadt Lowestoft geboren.        das seit 1948 bis heute existiert. Zahl-
bisschen ein Porträt von ihm gemacht        Der Vater war Zahnarzt, die Mutter           reiche internationale Auszeichnungen
hat.“ Katia Manns Buch konnte Vis-          Hausfrau und engagierte Hobbymu-             wurden ihm verliehen und noch we-
conti nicht gekannt haben, es ist erst      sikern. Sie war es auch, die dem erst        nige Monate vor seinem Tod wurde
1974 erschienen, aber Thomas Mann           Fünfjährigen den ersten Musikunter-          er als Baron Britten of Aldeburgh in
selbst hat in einem Vortrag auf die         richt erteilte. Britten war aber nicht       The County of Suffolk zu einem Life
Ähnlichkeit von Mahler und Aschen-          nur in kurzer Zeit ein sehr guter Pia-       Peer erhoben. Am 4. Dezember 1976
bach verwiesen. Es ist naheliegend,         nist, schon als Achtjähriger schrieb er      starb Benjamin Britten in seinem Haus
dass Visconti im Film nicht zuletzt         seine ersten Kompositionen. Ab 1933          in Aldeburgh. Er liegt am örtlichen
deshalb aus dem Dichter Aschenbach          studierte er Klavier und Komposition         Friedhof begraben.
einen Komponisten gemacht hat. In           in London am Royal College of Mu-            Benjamin Britten gilt als der bedeu-
der Musik zum Film verwendet er un-         sic, das er drei Jahre später verließ. Von   tendste britische Komponist seit Hen-
ter anderem das Adagietto aus Mahlers       ihm geplante weiterführende Studien          ry Purcell.
5. Symphonie und hat damit zweifellos       bei Alban Berg in Wien kamen auf             Als Komponist entwickelte Britten sei-
einen nicht unwesentlichen Beitrag zur      Grund dessen Todes nicht mehr zu-            nen eigenen Stil und verweigerte sich
Mahler-Renaissance geleistet.               stande. Von ihm als Opus 1 bezeichnet,       konsequent der Elektronik. wie auch

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Gerrit Prießnitz Süchtig nach Klängen...
Vereinsmagazin der Wiener Volksopernfreunde

seine Zeitgenossen Ralph Vaughan           mit „Albert Herring“ am 15. Februar            Foto: Archiv
Williams, William Walton oder Michael      2014 eine Oper von Benjamin Britten
Tippett. Norbert Abels, studierter Li-     in der Volksoper eine Premiere.
teratur- und Musikwissenschafter und                                                  entsprechend ist die Rolle des Gus-
langjähriger Chefdramaturg der Frank-      „Der Tod in Venedig“                       tav von Aschenbach für einen Tenor
furter Oper, charakterisiert die Musik                                                geschrieben. Einem Bassbariton sind
                                           „Death in Venice“, wie der originale
Brittens in einer Biographie des Kom-                                                 insgesamt sieben verschiedene Figuren
                                           Titel der Oper lautet, erlebte am 16.
ponisten so: „Er komponiert für einen                                                 zugeordnet, häufig in mehr kommen-
                                           Juni 1973 im Rahmen des Aldeburgh
bestimmten Musiker oder ein Ensem-                                                    tierenden als die Handlung vorantrei-
                                           Festivals seine Uraufführung. Und nur
ble mit ganz auf deren individuelle                                                   benden Rollen. Der Knabe Tadzio ist
                                           ein Jahr später, am 26. Oktober 1974,
Spielweise abgestimmter Intention. Er                                                 als Tänzer eine stumme Rolle. Dane-
                                           gab es an der Grazer Oper die österrei-
schreibt den Instrumentalisten, später                                                ben gibt es eine Vielzahl kleiner Par-
                                           chische Erstaufführung (der Verfasser
den Sängern die Musik geradezu auf                                                    tien für Männer und Frauen in unter-
                                           dieses Beitrages saß damals im Publi-
den Leib, studiert genau deren Eigen-                                                 schiedlichen Stimmlagen.
                                           kum). Myfanwy Piper, die für Britten
arten, ahnt ihr noch ungenutztes Po-                                                  Was für beinahe alle Werke Brittens
                                           schon die Librettis für „The Turn oft
tential, treibt sie dazu an, noch das zu                                              gilt, gilt auch für diese Oper – den Ver-
                                           he Screw“ und „Owen Windgrave“
veräußerlichen, was tief verborgen in                                                 fechtern der Moderne zu traditionell,
                                           verfasst hat, hat sich bei der Transfor-
ihnen ruht.“                                                                          den Traditionalisten zu modern. Brit-
                                           mation der Novelle stark an das Origi-
Ein gutes Dutzend Opern hat Ben-                                                      ten hat für ein relativ kleines Orchester
                                           nal gehalten und den Inhalt auf zwei
jamin Britten komponiert, von de-                                                     komponiert, setzt aber ein vergleichs-
                                           Akte, 17 Szenen, verteilt.
nen gut die Hälfte bis heute auch                                                     weise umfangreiches Schlagwerk ein.
                                           Die Handlung der Oper und die
außerhalb Großbritanniens auf den                                                     Darin erinnert er entfernt an seinen
                                           Charakterstruktur seiner Hauptfi-
Spielplänen der Opernhäuser stehen.                                                   Zeitgenossen Gottfried von Einem.
                                           gur Gustav von Aschenbach verwei-
„Paul Bunyan“ war sein erstes mu-                                                     Eine an Wagner erinnernde leitmotiv-
                                           sen unzweifelhaft auf die Biographie
sikdramatisches Werk (eine deutsche                                                   ähnliche Stimmführung mischt sich
                                           des Komponisten. Die Partnerschaft
Fassung gibt es von Erich Fried) und                                                  mit verdeckter Zwölftontechnik, har-
                                           mit dem Sänger Peter Pears, der den
erlebte die Uraufführung 1941 in New                                                  monische Klänge in Dur-Tonarten
                                           Aschenbach auch in der Uraufführung
York (der überzeugte Pazifist Britten                                                 wechseln mit schrillen Klängen von
                                           gesungen hat, war eine der ersten öf-
war gemeinsam mit Peter Pears 1939                                                    Xylophon oder Glockenspiel. Aber nie
                                           fentlich bekannten homosexuellen Be-
nach Amerika emigriert, beide kehr-                                                   entgleitet die Musik merkbar in Atona-
                                           ziehungen von Personen, die beide auf
ten 1942 in ihre Heimat zurück und                                                    lität.
                                           einer hohen gesellschaftlichen Ebene
Britten wurde als Kriegsdienstverwei-                                                 Die Premiere von „Der Tod in Vene-
                                           standen. Der immer wieder gegen Brit-
gerer anerkannt). Mit „Peter Grimes“,                                                 dig“, eine Koproduktion mit dem Ro-
                                           ten erhobene Vorwurf, sich aktiv auch
uraufgeführt am 7. Juni 1945 in Lon-                                                  yal Opera House Covent Garden, soll
                                           für Knaben zu interessieren, entspricht
don, begann die eigentliche Karriere                                                  am 17. April stattfinden. Dirigent ist
                                           allerdings nicht der Wahrheit. So ist
als Opernkomponist. Anlässlich der                                                    Gerrit Prießnitz, die Regie stammt von
                                           auch Aschenbach in den jungen Tad-
Krönung von Königin Elisabeth II.                                                     David McVicar. Rainer Trost ist Gus-
                                           zio verliebt, spricht ihn nie, verfolgt
im Jahr 1953 komponierte er die Krö-                                                  tav von Aschenbach, Martin Winkler
                                           ihn und seine Familie aber wie ein Vo-
nungsoper „Gloriana“, die allerdings                                                  singt die Baritonpartien. Nicht genannt
                                           yeur und versucht sich bei regelmäßi-
keinen nachhaltigen Erfolg erzielte (in                                               in der Jahresvorschau ist der Tänzer
                                           gen Friseurbesuchen zu attraktivieren
einem Gastspiel der English National                                                  des Tadzio.
                                           und zu verjüngen.
Opera war diese Oper 1975 auch in
                                           Ganz der musikalischen Tradition                                        Michael Koling
der Volksoper zu sehen). Zuletzt hatte

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Dezember 2020

Vom Chargendarsteller
zum Theaterdirektor
Persönliche Betrachtung über Emanuel (Johann, Josef)
Schikaneder

Am 30. September 1791 wurde die          Kammerkompositeur. Herr Mozart            erblickten im Haus am Gürtel weite-
„große Oper in zwei Akten von Ema-       wird aus Hochachtung für ein gnädi-       re 9 Neuinszenierungen das Licht der
nuel Schikaneder“ die ‚Zauberflö-        ges und verehrungswürdiges Publikum       Theaterwelt. Die letzte Neuinszenie-
te‘ erstmals im K. K. privat Wiedner     und aus Freundschaft gegen den Ver-       rung fand am 17. Oktober 2020 in der
Theater aufgeführt. Im zweiten Drit-     fasser des Stückes das Orchester heute    Regie von Henry Mason und der musi-
tel des „Uraufführungsprogrammes“        selbst dirigieren“.                       kalischen Leitung von Anja Bihlmaier
findet man: „Die Musik stammt von        Nach 115 Jahren kam dieses Werk an        statt.
Herrn Wolfgang Amadé Mozart,             die Wiener Volksoper, hier wurde die      Wenn man heute von der Zauberflöte
Kapellmeister und wirklicher K. K.       „Zauberflöte“ erstmals am 3. Oktober      spricht, spricht man meistens nur vom
                                         1906 aufgeführt. Der damalige erste       Komponisten Wolfgang Amadeus Mo-
                                         Dirigent des Hauses, Alexander Zem-       zart, jedoch der Textdichter Emanuel
    Abbildung: Eine Festtafel zu Ehren
    Mozarts bei Schikaneder. Nach dem
                                         linsky, leitete diese Vorstellung. Seit   Schikaneder ist sehr in den Hinter-
    Gemälde von M. Bordmann in Berlin.   jenen Tagen sind nun abermals 114         grund getreten. Das zum Anlass neh-
    (Archiv)                             Jahre vergangen. In diesen 114 Jahren     mend möchten wir uns mit Emanuel

                                                                                                                     11
Vereinsmagazin der Wiener Volksopernfreunde

                                                                                        Abbildung links: Schikaneder als
                                                                                        Papageno (Archiv)
                                                                                        Abbildung rechts: Porträt von Emanuel
                                                                                        Schikander (Archiv)

                                                                                    „Johann Joseph“. Diese Namen sind in
                                                                                    der Taufmatrikel von Straubing bestä-
                                                                                    tigt.
                                                                                    Der später gebrauchte Vorname
                                                                                    „Emanuel“ scheint dortselbst nicht
                                                                                    auf. Johann Joseph Schikaneder wähl-
                                                                                    te diesen Namen 1774 anlässlich eines
                                                                                    Gastspieles in Innsbruck. Der Vater
                                                                                    stirbt sehr früh. Ein genaues Sterbeda-
                                                                                    tum ist nicht überliefert. Schikaneder
                                                                                    wuchs als Halbwaise in Regensburg
                                                                                    auf, wo seine Mutter im Dom zu Re-
                                                                                    gensburg Devotionalien verkaufte. Er
                                                                                    besuchte das Jesuitengymnasium St.
                                                                                    Paul und war Mitglied bei den Regens-
                                                                                    burger Domspatzen. 1773 – mit 22
Schikaneder etwas näher befassen.         gung der Obrigkeit keine Ehe einge-
                                                                                    Jahren – schloss er sich in Augsburg an
Die Mutter von Emanuel Schikaneder,       hen. Nachdem alle Anträge eingereicht
                                                                                    eine Theatergruppe an, die Mosersche
Juliana Schießl, stammt aus einer sehr    waren bekamen beide am 19. Oktober
                                                                                    Schauspielgesellschaft. Er agierte dort
kinderreichen Familie. Ihr Vater hatte    1745 die Eheerlaubnis. Bereits am 6.
                                                                                    als Schauspieler und Sänger. In die-
aus zwei Ehen insgesamt 15 Kinder zu      November fand die Trauung in St. Ul-
                                                                                    ser Truppe ist auch Maria Magdalena
versorgen. Juliana kam am 13. Februar     rich zu Regensburg statt. Vorerst ließ
                                                                                    Arth, die sich später Eleonore nennt,
1715 in zweiter Ehe zur Welt. Einige      sich die junge Familie in Regensburg
                                                                                    engagiert. Die beiden jungen Künstler
Geschwister von Juliana verstarben be-    nieder. Der Kindersegen ließ nicht lan-
                                                                                    verlieben sich ineinander und Heira-
reits im Säuglingsalter. Dennoch war es   ge auf sich warten. Zwei Buben und
                                                                                    ten am 9. Februar 1777 im Augsburger
eine schier unglaubliche Anstrengung      ein Mädchen erblickten in Regens-
                                                                                    Dom. Schikaneder ist in dieser Zeit
die Familie zu ernähren. Der Schießl-     burg das Licht der Welt. Die Familie
                                                                                    nicht nur Schauspieler und Sänger, er
Vater, wie er genannt wurde, hat seine    umfasste 1749 bereits 5 Köpfe. Die
                                                                                    ist auch nachweisbar in Innsbruck als
Kinder nicht, wie viele andere der da-    Schikaneders standen in verschiedenen
                                                                                    Balletttänzer tätig. 1778 übernimmt er
maligen Zeit, streunen und betteln las-   Diensten. Eine fixe Dienststelle für
                                                                                    die Theatergruppe von Moser und be-
sen. Zwei Buben wurden Lehrer, einer      fünf Personen ließ sich nicht so leicht
                                                                                    reist mit der Truppe Süddeutschland,
heiratete in ein bäuerliches Anwesen      finden. So beschloss die Familie 1749
                                                                                    Österreich und Ungarn.
ein, eine Tochter wurde in Straubing      Regensburg den Rücken zu kehren
Waisenhausmutter und Juliana kam im       und die Reise ging wieder zurück nach     Bei diesen Tourneen lernt er 1780 in
Alter von 24 Jahren als Stubenmäd-        Straubing. Nach einer Probezeit erhielt   Salzburg die Familie Mozart kennen.
chen bei einem evangelischen Herrn        Josef Schikaneder eine fixe Anstellung    1783 kommt Schikaneder erstmals
in Straubing unter. Im selben Jahr ist    bei seiner Gnaden, dem Herrn Pfarrer      nach Wien. Er spielt am Kärntnertor
ihre Mutter verstorben. Nur elf Mo-       von St. Jakob in Straubing.               Theater und wird später sogar Mit-
nate später musste sie ihren Vater be-                                              glied am Hofburgtheater. In Wien
                                          Im Jahre 1750 stirbt der zweitälteste
trauern. Ein Jahr nach ihrer Anstellung                                             löst er seine Schauspieltruppe auf und
                                          Sohn, Johann Joseph, mit nur 2 Jahren.
stellte der Dienstherr einen Diener                                                 stellte den Antrag ein eigenes Theater
                                          Am 1. September 1751, ein Jahr spä-
an: Josef Schikaneder. Beide verlieb-                                               auf dem Glacis zu errichten. Dieser
                                          ter, erblickt in Straubing ein weiterer
ten sich ineinander und wollten heira-                                              Antrag wird ihm aber von Kaiser Jo-
                                          Sohn der Schikaneders das Licht der
ten. Nur, zu dieser Zeit war das wohl                                               seph II abgelehnt. Daraufhin stellt er
                                          Welt. Dieser erhielt üblicherweise die
ein sehr anstrengendes Unterfangen.                                                 eine neue Truppe zusammen und geht
                                          Namen des zum „Engel“ gewordenen
Dienstboten durften ohne Genehmi-                                                   wieder auf Tournee durch Deutsch-

12
Dezember 2020

land. Während dieser Zeit ging die Ehe    Beide bemühten sich ihre Diskrepan-       Theater an der Wien um die neueste
von Emanuel und Eleonore in Brü-          zen beiseite zu legen, um eine erfolg-    Produktion von Schikaneder sehen zu
che. Frau Schikaneder gründete mit        reiche gemeinsame Arbeit beginnen         können. Emanuel Schikaneder hatte
dem Schauspieler und Dichter Johann       zu können. Am 12. Juli 1789 hob sich      den Zenit seines Könnens, seines Ruh-
Friedel eine eigene Theatertruppe und     im Freihaustheater zur ersten Premie-     mes und Erfolges erreicht.
tourte nach Wiener Neustadt, Kla-         re der Direktion Schikaneder der Vor-
                                                                                    Doch der dauernde Streit mit Zit-
genfurt, Triest und Laibach. Emanuel      hang. Der Direktor selbst verfasste das
                                                                                    terbarth, der in künstlerische Dinge
übernahm in Augsburg die Leitung des      erste Stück mit dem Titel: „Der dum-
                                                                                    dreinreden wollte, obwohl er davon
Stadttheaters.                            me Anton im Gebirge“. Alsbald stell-
                                                                                    nichts verstand, trübte diese Zeit. Schi-
                                          ten sich wieder finanzielle Probleme
Seit November 1788 war die Truppe                                                   kaneder hatte damals den Fünfziger
                                          ein und Schikaneder übergab die Di-
von Eleonore Schikaneder und Johann                                                 überschritten und genug Mühe und
                                          rektion an Bartholomäus Zitterbarth.
Friedel im Freihaustheater in Wien                                                  Aufregungen hinter sich. Er sehnte
                                          Schikaneder war nunmehr „künstle-
sesshaft. Das Freihaustheater war eine                                              sich endlich nach Ruhe. So verkaufte
                                          rischer Leiter“ des Freihaustheaters.
Spielstätte im damals größten Wohn-                                                 er sein „Privilegium“, das ihm Kaiser
                                          Aber am 30. September 1791 war es
block in Wien, dem Freihaus auf der                                                 Franz II 1790 verliehen hatte und das
                                          endlich soweit. Schikaneder inszenier-
Wieden.                                                                             den Besitzer zur Führung des Theaters
                                          te die Erstaufführung der Oper „Die
                                                                                    berechtigte, 1802 an Zitterbarth um
Diese Zeit muss in Wien eine sehr         Zauberflöte“ seines Freundes Wolf-
                                                                                    100.000 Gulden und beschloss 1804,
spannende gewesen sein. Wien war          gang Amadeus Mozart.
                                                                                    sich vom Theater zurückzuziehen.
damals viel zu klein für die gewaltige
                                          Er selbst verfasste dazu das Textbuch     Schon 1802 erwarb er ein kleines Ba-
Menge an Menschen. Daher baute man
                                          und spielte auch die Rolle des Papage-    rockschlössel in Nußdorf, das in der
eine Stadt auf die andere. Die meisten
                                          no, in einem noch heute üblichen Fe-      späteren Folge den Namen Lehár/
Häuser hatten vier, fünf und manche
                                          dergewand. Das Unglaubliche geschah.      Schikaneder Schlössel trug, als Refugi-
sogar sechs Stockwerke. Daher sind
                                          Die Zauberflöte wurde ein durchschla-     um für seine künftige theaterlose Zeit.
die Gassen auch tagsüber im Dunkel,
                                          gender Erfolg. Dieser Erfolg verhalf      Schikaneder war aber ein Ruheloser.
die Sonne konnte nicht die Straße er-
                                          Emanuel Schikaneder zu großem fi-         Bereits 1807 ging er als Theaterdirek-
reichen. London verfügte damals über
                                          nanziellem Gewinn. Viel Ruhm und          tor nach Brünn und in der weiteren
120.000 Häuser, Paris 50.000 und Ber-
                                          Geld brachten auch die nach der Zau-      Folge nach Steyr. Das Lebensmotto
lin 10.000. In Wien konnte man 6.500
                                          berflöte geschaffenen Stücke, so die      von Schikaneder lautete „Leben und
Häuser zählen. Aber in London wohn-
                                          Opern „Babylons Pyramiden“, „Das          leben lassen“. Er wirft das Geld mit
ten neun Personen in einem Haus,
                                          Labyrinth oder Der Kampf mit den          vollen Händen beim Fenster raus.
in Paris 20 und in Berlin 15. In Wien
                                          Elementen“, „Der Höllenberg oder          1811 kehrte Schikaneder nach Wien
sind aber pro Haus 47 Bewohner re-
                                          Prüfung und Lohn“ und die Volksstü-       zurück. Durch die damals stattfinden-
gistriert. Die Stadt verfügte über 325
                                          cke „ Die Fiaker in Wien“, „Der Ty-       de Geldentwertung verarmte er gänz-
Gasthäuser und 282 Bierschänken.
                                          roler Wastel“ und andere. Zwischen-       lich. Er musste alles veräußern. Dazu
Die Herbergen bzw. Gaststätten mit
                                          zeitlich erhielt Schikaneder von Kaiser   kam noch, dass sich auch sein Geist
Wohnmöglichkeiten waren von wenig
                                          Franz II das Privileg ein eigenes Thea-   verfinsterte. In vollkommener geisti-
Eleganz und Größe. Sie lagen in der                                                 ger Umnachtung erlöste ihn der Tod
                                          ter zu leiten und zu betreiben.
Regel in einer engen Straße, sodass der                                             am 21. September 1812. Er starb in ei-
Gast nur mit Mühe und Gefahr in das       Der außerordentliche künstlerische        nem Mietshaus im Alsergrund, Schlös-
Haus kommen konnte. Man musste            und finanzielle Erfolg der „Zauber-       selgasse 7. Beigesetzt wurde Emanuel
über schmutzige, finstere Treppen die     flöte“ veranlasste Emanuel Schika-        Schikaneder am Währinger Ortsfried-
Mietzimmer erreichen. Wer länger als      neder mit Hilfe von Bartholomäus          hof (heute Wien 18, Schubert Park).
eine Woche in Wien Aufenthalt nahm,       Zitterbarth ein neues Theater auf der     Seine Frau Eleonore blieb bis zuletzt
suchte sich ein Mietzimmer.               anderen Seite des Wienflusses zu bau-     an der Seite ihres Mannes. Sie stand
                                          en. Das „Theater an der Wien“ wurde       ihm in Armut und auch während der
Friedel leitete gemeinsam mit Eleo-                                                 geistigen Verwirrung zur Seite. 1815,
                                          am 13. Juni 1801 mit einer Schika-
nore Schikaneder das Freihaustheater.                                               also 3 Jahre nach dem Tode des Gat-
                                          neder Oper eröffnet. Der Titel lautete:
1789 stirbt Friedel und vermachte Ele-                                              ten, absolvierte sie noch Gastauftritte
                                          „Alexander“. Die Musik stammte von        im Theater an der Wien. Sie verstarb
onore das Theater. Da es ihr damals
                                          Franz Teyber. Aufwendige Dekorati-        am 22. Juni 1821 in einer der Mietwoh-
als Frau nicht gestattet war, ein Thea-
                                          onen, tolle Effekte und großer Pomp       nungen des Theaters an der Wien.
ter selbstständig zu führen, musste sie
                                          zeichneten die Inszenierungen von
sich gezwungener Weise an ihren noch                                                                        Gerhard R. Menhard
                                          Schikaneder aus. Ganz Wien lief ins
angetrauten Gatten Emanuel halten.

                                                                                                                          13
Vereinsmagazin der Wiener Volksopernfreunde

                                               Foto diese Seite: Vindobona.org
                                               Foto rechte Seite: alferink.org

                                           Wochen- und monatelang spekulier-
                                           ten nicht nur die Volksopernfreunde
                                           - man hatte sogar den Eindruck ganz
                                           Wien, ja ganz Österreich konnte die
                                           Entscheidung kaum abwarten, wer
                                           denn die Nachfolge von Direktor Ro-
                                           bert Meyer im Haus am Währinger
                                           Gürtel antreten wird. Wilde Gerüchte
                                           und alt bekannte Namen spukten da in
                                           den Köpfen vieler Volksopernfreunde
                                           – oft wurde auch auf Intendantinnen
                                           gesetzt, von Graz und Köln war da-
                                           bei oft die Rede…doch keiner dachte
                                           an die Holländern Lotte de Beer! Im
                                           Rennen waren sieben Frauen und 26
                                           Männer – 16 aus dem Inland, 17 aus
                                           dem Ausland. Nachdem „unser“ lang-
                                           jähriger erfolgreicher Direktor Robert
                                           Meyer leider bereits selbst bekanntge-
                                           geben hatte, dass ihm für eine weitere
                                           Amtsperiode keine Vertragsverlänge-
                                           rung in Aussicht gestellt werde, hat-
                                           ten Beobachter bereits im Vorfeld der
                                           Entscheidung auf eine Frau als Nach-
                                           folgerin im Chefsessel des Hauses am
                                           Währinger Gürtel getippt. Somit wird
                                           ab 1. September 2022 für zunächst
                                           fünf Jahre erstmals eine Frau das Tra-
                                           ditionshaus am Währinger Gürtel lei-
                                           ten.
                                           In Österreich ist die fesche, charmante
                                           Niederländerin auch keine Unbekann-
                                           te: Sie reüssierte bereits fünf Mal als
                                           Regisseurin – oft mit einem unver-
                                           kennbaren Hang zu zeitgenössischen
                                           Bildern. Ihren Einstand gab sie 2013
                                           an der Wiener Kammeroper mit einer
                                           berührend-aktualisierten „Bohème“,

Lotte de Beer
                                           der 2016 eine „Traviata“ folgte. Im
                                           Theater an der Wien wagte sie sich
                                           2014 an Bizets „Die Perlenfischer“
                                           und im Vorjahr an Tschaikowskys „Die
                                           Jungfrau von Orléans“. Viele erinnern
                                           sich sicherlich noch an ihre sehenswer-
                                           te Inszenierung von Rossinis „Mose in

Von der Poesie umarmt - „Brücken
                                           Egitto“ bei den Bregenzer Festspielen
                                           2017 samt „Puppenunterstützung“.

bauend die Welt inspirieren“
                                           Ihre Ausbildung begann die gebürtige
                                           Eindhovenerin de Beer in Maastricht,
                                           wo sie zunächst Gesang und Kla-
                                           vier und später Schauspiel studierte.
                                           Es folgte der Wechsel ins Regiefach
                                           und an die Hochschule der Künste

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