VDI RESEARCH PRINZIPIEN UND POTENZIALE DIGITALER SELBSTVERMESSUNG
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VDI RESEARCH PRINZIPIEN UND POTENZIALE DIGITALER SELBSTVERMESSUNG Bildquelle: © GettyImages/Orbon xxx Alija
Selbstvermessung als gestalterische Herausforderung Selbstvermessung, was ist das eigentlich? Auf jeden lich ist: Das Prinzip einer allumfassenden Vermessung Fall, so viel steht fest, mehr als Self-Tracking. ist näher gerückt (Schwarz 2019a; Schwarz 2019b: Hierunter wird heute vor allem das Beobachten von 10ff.). Gesundheitsverhalten rund um den eigenen Körper verstanden. Sucht man nach einer Definition, werden Hier zeigt sich ein erstes Differenzierungsmerkmal für Prinzipien offensichtlich, die sich auf alle Arten der die Selbstvermessung: Vermesse ich mich zielorien- Selbstvermessung übertragen lassen: Es geht um eine tiert und vereinzelt (meist unter Self-Tracking gefasst) Praxis der Selbstbeobachtung und Selbstquantifizie- oder verfolge ich eine ganzheitliche, im besten Falle le- rung, heute zusehends automatisiert durch technische benslange Vermessung (in der Community Life Logging Hilfsmittel. Vom und am Menschen Beobachtetes genannt), um aus den gewonnenen Daten Einsichten wird in anschlussfähige Zahlen übersetzt und damit über mich, mein Leben und Verhalten zu erlangen. Life vergleichbar gemacht. Grundsätzlich wird hier alles Logging hat das Ziel, ein sogenanntes e-Memory anzu- erfassbar: Gefühle, Verhalten, Produktivität, Schlaf- legen, in dem Geodaten, Körperdaten, Kommunikation qualität oder Kommunikation in Form von Vitaldaten (von E-Mails über Zeugnisse und Rechnungen bis hin sind nur einige Beispiele. Im sozialwissenschaftlichen zu Gesprächspartnern) dokumentiert werden. Dazu Kontext findet sich im Begriff Selbstvermessung noch dienen Kameras, Sensoren und Programme als Selbst- eine weitere Komponente: das Selbst an sich. Es setzt vermessungsinstrumente. Die beiden Ansätze unter- sich zusammen aus der Art und Weise, wie wir uns scheiden sich also in der Perspektive: Während bei selbst wahrnehmen, aber auch, wie andere uns wahr- ersterer zielorientiert bestimmte Anwendungen ausge- nehmen und hat damit auch große Wirkung auf Selbst- wählt werden, zum Beispiel, um die körperliche Fitness bewusstsein, Ziele sowie Auffassungen über Leben und zu verbessern, setzen Life Logger auf völlig neue Ein- Gesundheit der Anwender und Anwenderinnen. sichten, die erst nach der Aufzeichnung offensichtlich werden. Beiden Typen ist gemeinsam, eine möglichst Selbstvermessung an sich ist kein neues, sondern ein passive Aufzeichnung der Daten zu gewährleisten. Das in Philosophie, Religion, Sport und Medizin lange doku- Verhindern aktiver Aufzeichnungsentscheidungen soll mentiertes Phänomen. Benjamin Franklin schuf schon Neutralität sicherstellen. Das kalorienreiche Nutella- im 18. Jahrhundert mit seinen Tabellen zur moralischen brot am Morgen kann auf diesem Weg nicht ohne Auf- Vervollkommnung eine Möglichkeit zur Bewertung der wand in den gesammelten Daten verheimlicht werden. eigenen Moral. Er registrierte und bewertete allabend- Dazu wäre ein aktives Eingreifen in die Aufzeichnungs- lich sein Handeln in Bezug auf 13 Tugenden. Schon protokolle erforderlich – Passivität und damit Neutrali- hier ist eine Tendenz zur Selbstoptimierung erkennbar. tät wären so nicht gewährleistet. Gegenwärtig ist das Die Erfindung der Personenwaage war eine der ersten passive und automatisierte Aufzeichnen technisch in technikunterstützten Instrumente zur Selbstvermes- einigen Bereichen noch nicht möglich. Ein Beispiel ist sung mit weltweiter Verbreitung. Ihr folgten Fieber- hier die erwähnte Nahrungsaufnahme: eine Brille, die thermometer und Blutdruckmessgeräte. Nach der zuverlässig und passiv alles aufzeichnet, was gegessen zunehmend gebräuchlichen medizinischen Nutzung wird, gibt es noch nicht (obwohl in vielen Projekten da- dieser Werkzeuge kamen vor allem Ratgeber und ran geforscht wird). Erste schluckbare Sensoren haben (Selbsthilfe-)Gruppen oder Online-Foren in Mode, mit den Nachteil, den Körper wieder zu verlassen (Gurrin deren Hilfe Gesundheit, Gewicht und vieles mehr ge- et al. 2014, S 2ff.; Selke 2016). managt werden können (Duttweiler und Passoth 2016, S. 14f.; siehe auch Duttweiler 2015). Als Zäsur muss Auch überindividuell werden die Technologien ein- jedoch die digitale Selbstvermessung verstanden wer- gesetzt: In Organisationen besteht die Möglichkeit, die den. Digitale Technologien eröffnen neue Felder und Produktivität des Personals zu tracken oder Kommu- vor allem eine vor ihnen unbekannte Tiefe der Quanti- nikationsmuster mithilfe sogenannter Sociometer zu fizierung. Wo früher Zahlen, Tabellen und Tagebücher untersuchen. Das Sociometer ist ein Gerät, das mithilfe als Hilfsmittel fungierten, finden sich heute Sensoren, von Infrarot-Receiver und -Transmitter sowie Mikro- Apps und Algorithmen zur Auswertung der automa- fon Sprachmelodie und -tempo, die Bewegungen der tisch gewonnenen Daten. Die fortschreitende Auto- Sprechenden und den Abstand zu Gesprächspartnern matisierung, kombiniert mit Mustererkennung, öffnet aufzeichnet. So können Kommunikationstypen und nun selbst Bereiche wie Intuition oder Emotion für die -räume besser verstanden werden, was die Möglich- Vermessung. Auch integrieren sich die Anwendungen keit schafft, diese Räume gezielter zu gestalten sowie zusehends unkompliziert in unseren Alltag. Offensicht- Ungleichheiten in der Interaktion aufzudecken und zu
beseitigen. Neben der Analyse von virtueller Kommu- Gegenwärtig ist Gesundheit mit Abstand der verbrei- nikation – die in vielen marktüblichen Kommunika- tetste Anwendungsfall, und zwar sowohl institutionell tionsplattformen bereits integriert ist – bilden solche als auch individuell. Ergänzt wird dieses Feld vom so- Anwendungen sinnvolle Ergänzungen für direkte Inter- genannten Human Tracking, in dem die Geodaten von aktionen (Kucklick 2015, S. 21f.; Onnela et al. 2014; Personen gesammelt werden (bisher vor allem bei Lie- Waber et al. 2007). ferdiensten verbreitet). Daneben finden sich die Ansät- ze des Life Loggings mit der Schaffung kontinuierlicher In China wurde das bisher größte kollektive Selbst- Datenspuren. Sie werden vor allem in Wissenschaft vermessungsprojekt gestartet: Jeder Bürger und jede und Organisationsentwicklung eingesetzt. Das Human Bürgerin sollen in einem Social-Credit-System erfasst Speechome Project (MIT Media Lab 2011) zeigte bereits, werden, wobei sich der Score des Einzelnen aus allem wie die Verfolgung derartiger Datenspuren wissen- Vermessbaren (Rechnungen, Kredite, Verkehrsver- schaftliche Erkenntnisse und Einsichten deutlich ver- stöße, Netzwerk etc.) zusammensetzt. Dieser Score soll bessern kann. So wurden die ersten Lebensjahre eines dann der Einordnung von Bürgern und Bürgerinnen Kindes per Kamera und Mikrofon aufgezeichnet. Durch und ihren Anspruchsberechtigungen dienen. Zum den so erhaltenen umfangreichen Lifelog wurden Beispiel, welche Wohnung darf bezogen, welches völlig neue Einsichten zum Spracherwerb von Kindern Verkehrsmittel genutzt werden? Markanter Unter- erlangt, die ohne diese Datenbasis nicht annähernd schied zu anderen Konzepten ist hier die untergrabene erfassbar gewesen wären. Über derartige Wege rücken Freiwilligkeit. Eine Nichtteilnahme am Programm auch Vorstellungen über personalisierte Bildung in führt faktisch zum Gesellschaftsausschluss und gebiert greifbare Nähe. Für Organisationen können derartige den modernen Outlaw (Mau 2017, S. 9). Die Totalität positionsgebundene Lifelogs den Wissensverlust bei dieses Ansatzes ist unverkennbar. Allerdings dürfen Personalwechseln verringern. In den Begriffen Surveil- kulturelle Rahmenbedingungen und historische Einord- lance oder Sousveillance versteckt sich ein gegenwär- nung – die Akzeptanz ist aus europäischer Perspektive tiger Exot unter den Anwendungsfeldern. Hier finden erstaunlich hoch – bei einer kritischen Beurteilung im sich die Nutzer und Nutzerinnen im Spannungsfeld gegenwärtigen Entwicklungsstadium dieses Systems zwischen Überwachung und sogenannter Unterwachung nicht ausgeblendet werden: China hat trotz bemerkens- wieder. Um sich gegenüber der zunehmenden Über- werter Fortschritte das für uns dystopisch anmutende wachung zu positionieren, wird hier eine selbstge- Szenario noch nicht erreicht (Au/Kuuskema 2019). schaffene, mit eigenen Parametern und Aussagetiefen orientierte Datenspur produziert. Da die Überwachung Entlang dieser Beschreibung lassen sich Anwender durch Staat und Institutionen von oben abstrakt und und Anwenderinnen in drei Lager aufteilen: (1) die damit schwer zu fassen ist, schwingt nicht selten technische Avantgarde, die sich aus Life Loggern, aber Unwohlsein über die Art der Aufzeichnung und deren auch Akteuren der Quantified-Self-Bewegung zusam- Verwendung auf individueller Seite mit. Akteure der mensetzt. Hier entwickeln die Akteure nicht selten Wachsamkeit von unten – so beschreibt es Steve Mann, eigene Geräte und Software. Zu unterscheiden ist diese der als Pionier dieser Bewegung die Unterwachung Bewegung von der Biohacking-Szene: Beide sind auf seit über 30 Jahren praktiziert – gewinnen also nicht einem Kontinuum angesiedelt, in Richtung Biohacking nur die Herrschaft über die eigene Datensouveränität sind die Eingriffe jedoch zunehmend invasiver. Die zurück, sondern bilden auch ein Gegengewicht zur wenigsten etablierten Selbstvermessungstechniken abstrakten Überwachungsbedrohung von oben (Selke gehen mit der invasiven Optimierung des Körpers – 2016; Schwarz 2019a, S. 19). wie bspw. das Implantieren von Chips oder Selbstthe- rapie mittels CRISP/Cas-Methode (Genschere) – einher. Eng damit verbunden ist die Debatte um Freiheits- Die meisten Biohacker und Biohackerinnen dürften rechte. Lupton (2014), eine der führenden Expertinnen jedoch auch Selbstvermess ung praktizieren. (2) Weiter digitaler Soziologie, entwickelte hierzu fünf Modi der verbreitet sind individuelle Selbstvermesser und Selbstvermessung. Sie liefern eine weitere Systematisie- Selbstvermesserinnen, die sich über Smart Watch und rung und ermöglichen eine Gliederung in persönliche Smart Phone im Alltag selbst beobachten. Hier ist zu Freiheitsgrade. Im ersten Modus (private self-tracking) beachten, dass diese Form der Selbstvermessung meist erfolgt die Selbstvermessung im privaten Raum, frei- über kommerzielle Geräte erfolgt, in denen die Inter- willig und aus eigener Initiative (unabhängig davon, pretation der aufgezeichneten Daten bereits angelegt wie sie individuell gestaltet sein mag). Aufgenomme- ist. Die eigene Autonomie ist hier also eingeschränkt. ne Daten im zweiten Modus (communal self-tracking) (3) Zu guter Letzt und oft wenig im Blick finden sich werden dagegen gemeinschaftlich geteilt, um daraus Programme von Organisationen und Regierungen mit Erkenntnisse in und über die Gruppe zu gewinnen. Tarifgestaltungen von Zusatzversicherungen, Boni im Selbsthilfe- oder Sportgruppen sind hier Beispiele. Eine Krankenkassenwesen (pay-as-you-live, pay-as-you-drive) Zäsur wird ab dem dritten Modus (pushed self-track- oder die Corona-Warn-App des Robert Koch-Instituts ing) offensichtlich: Hier wird die Initiative zur Selbst- als Beispielen. vermessung nicht vom Betroffenen angestoßen, auch
wenn die Ausübung als freiwillig wahrgenommen wird. dell voranzutreiben. Angesichts dieser sich ankündi- Typische Beispiele hierfür sind Präventionsprogram- genden neuen Normalität, in der dieses Konzept auf me, allgemein übliche Gesundheitsprogramme oder allen sozialen Ebenen Anwendung findet, stellt sich Wellnessangebote am Arbeitsplatz. Im vierten Modus aus europäischer Sicht die Frage, wie eine Verweige- (imposed self-tracking) werden Art und Gebrauch der rung oder Gestaltung derartiger Selbstüberwachung eingesetzten Technologie von anderen oder Organisa- auch ohne Rechtfertigung noch möglich sein wird. tionen bestimmt. Eine Freiwilligkeit ist hier nur noch eingeschränkt feststellbar. Beispiele dafür sind die Die bisherigen Ausführungen machen deutlich, dass Staffelung von Krankenkassenbeiträgen, wie sie in die Möglichkeiten der Selbstvermessung erhebliche Deutschland nur im privaten Zusatzversicherungsbe- Potenziale, aber damit technisch und prozedural eng reich (und daher hier noch freiwillig) anzutreffen sind, verbundene Risiken beinhalten. So könnten durch anderenorts, beispielsweise in den USA, jedoch eine Mustererkennung im Smart-Phone-Gebrauch beispiels- stärkere Verbreitung erfahren. Natürlich bleibt dem weise Hinweise auf Parkinson deutlich früher erkannt Versicherungssuchenden die Wahl, einen Tarif ohne und eine bessere Versorgung der Betroffenen gewähr- Tracking zu wählen, solange es sie gibt. Jedoch kann leistet werden (siehe dazu i-Prognosis 2020). Im Falle davon ausgegangen werden, dass bei einer zunehmen- individueller Selbstvermessung können ansonsten den Verbreitung von Tracking-basierter Risikoermitt- übersehene Stellschrauben zum Beispiel in Sport oder lung in Versicherungen eine zunehmende Benachteili- Ernährung erfasst werden, mit deren Hilfe ohne große gung von Versicherten ohne Tracking zu erwarten ist. Lebensstilumstellung Erfolge in der Gesundheitsver- Eine Freiwilligkeit bei der Wahl wäre damit nur noch besserung oder erhöhte sportliche Leistung erzielt wer- scheinbar vorhanden. Die Grenze zwischen pushed und den. Natürlich ist auch hier die Motivation der Anwen- imposed self-tracking ist fließend. der und Anwenderinnen letztendlich das Zünglein an der Waage. Die Verwendung der erwähnten Sociometer Mit dem fünften Modus (exploited self-tracking) liegt ein kann eine hilfreiche Ergänzung bei der Gestaltung von verbreiteter und von der Expertin als problematisch Arbeitsplätzen und Organisationsstrukturen bieten und beschriebener Typ der Selbstvermessung vor: Hier helfen, eventuelle Defizite zu erkennen. Auch die in vermessen sich Anwender und Anwenderinnen selbst, Zeiten der Pandemie eingesetzten Warn-Apps machen die Daten jedoch landen bei Dritten (also nicht aus- das Potenzial staatlicher Hilfestellungen deutlich (we- schließlich beim Datenerheber), meist kommerziellen gen zu geringer Nutzerzahlen in Deutschland lässt sich Nutzern. Der Datenproduzent weiß zumeist weder, wo das Potenzial eindeutiger anhand anderer Apps wie seine Daten landen, noch wie sie weiterverarbeitet oder beispielsweise in Taiwan darstellen (Scheuer 2020)). genutzt werden (Lupton 2014; Schwarz 2019a, S. 23). Während hierzulande Anwendungen des Modus 5 eher Datenschutzbedenken sind treue Begleiter digitaler kommerziellen Unternehmen wie Payback zugeord- Instrumente zur Selbstvermessung. Hinter den meisten net werden können, findet sich mit dem chinesischen Selbstvermessungstechniken stecken gewerbliche An- Social-Credit-System ein staatliches Beispiel. Es bewegt bieter. Deren Einnahmen bestehen nur vordergründig sich auf einer Gratwanderung zwischen den Modi 4 aus dem Verkauf der Hardware, eigentlicher Treiber ist und 5, da das Ermitteln der Ergebnisse für Bürger und eine ausgeprägte Datenökonomie. Wie in der digita- Bürgerinnen zwar spürbar und noch nachvollzieh- len Welt üblich gibt es viele Apps „gratis“, bezahlt bar ist, viele Vorgänge bei der Auswertung jedoch im wird über die erhobenen Nutzerdaten. Wofür und mit Dunkeln bleiben. welcher Tiefe diese Daten genutzt werden, bleibt dem Anwender im Allgemeinen verborgen. Dass die Daten- Prinzipiell kann davon gesprochen werden, dass sich aufzeichnung sogar das Schnarchen oder Sprechen im durch zunehmende Akzeptanz und Verbreitung der Schlaf zu speichern vermag, macht die Eindringtiefe bis beschriebenen Erfassungswege im privaten Bereich in persönlichste Bereiche deutlich (Lupton 2016, S. 4). (Modus 1) eine Normalisierung gegenüber der digita- len Selbstvermessung im Ganzen vollzieht: Das Leben Ein weiterer Aspekt ergibt sich aus der Vergleich- mit diesen Technologien wird zum neuen Standard, zur barkeit der Daten in vielen dieser Anwendungen. Sie neuen Normalität. Entsprechendes Handeln wird dann kann bei Nutzern einen subtilen Druck auslösen. Der zukünftig gefördert, gegenteiliges wird sanktioniert Druck, sich sozialen Normen anzupassen, wandert oder ist zumindest rechtfertigungspflichtig – sei es so als ständiger Mahner in die Hosentasche oder auf persönlicher Ebene, in Organisationen oder durch ans Handgelenk. Besonders bedenklich ist hier das staatliche Programme. Personalisierte Versicherungs- unzureichende Hinterfragen dort gegebener Empfeh- tarife in Leben, Beruf und Mobilität zeigen den bereits lungen und Analysen: Oft werden Apps und smarte erreichten Verbreitungsgrad. Trotz aus technischen, Gadgets als hoch individualisiert wahrgenommen, da rechtlichen oder ökonomischen Gründen scheiternder sie dem Nutzer scheinbar persönliche Aussagen oder Vorstöße in diese Richtung sind gegenwärtig immer Ratschläge geben. Tatsächlich handelt es sich hier aber wieder Versuche zu beobachten, dieses Geschäftsmo- keineswegs um personalisierte Auswertungen. In den
Algorithmen werden die gewonnenen Daten sortiert, Gegenwärtig erhobene Daten bieten meist nur einen bewertet und mit denen anderer Nutzer verknüpft, kleinen Ausschnitt des Gesamtbildes, was sich auch wodurch mit ihnen immer auch soziale Normen ver- auf das Produktdesign zurückführen lässt (dieses ist mittelt werden. Obwohl sie den Anschein vermitteln, zumeist auf genau ein Ziel ausgerichtet und dadurch höchst personalisiert zu sein, kann für die gemachten erkenntnisbezogen stark begrenzt). Ein Tracker, der Empfehlungen auf dieser Auswertungsbasis keinesfalls Rückschlüsse über die tägliche Schrittzahl zulässt, von personalisierten Entscheidungsrastern gespro- ermöglicht nur vage Vermutungen über die Selbstver- chen werden (Lupton 2016, S. 56f.; Schwarz 2019b, messer im Ganzen. Solange solche Daten nicht umfas- S9; siehe auch Harsin 2015). Der für den Einzelnen sender mit anderen zusammengeführt werden, bleibt entstehende Optimierungsdruck hat bereits bei Social ihre Aussagekraft beschränkt (Koch 2019, S. 1084). Media zu ernsten Krankheitsbildern vor allem bei Heranwachsenden geführt. Auch die Pseudo-Perso- Die Daten landen in der Regel bei gewerblichen Anbie- nalisierung hat damit ihren vorläufigen Höhepunkt tern und sind plattformspezifisch verschieden. Für eine erreicht. Zahlreiche Studien haben den Einfluss von Anwendung der Daten sowohl im Versicherungswesen Social Media und den darin enthaltenen (oft unerreich- als auch im Gesundheitssystem allgemein muss also baren) Normen und Vorbildern auf die Gesundheit von zunächst der Zugang zu den bei den verschiedensten Anwendern und Anwenderinnen untersucht und dabei Anbietern liegenden Daten geschaffen werden. Aber alarmierende Ergebnisse aufgezeigt (siehe dazu Dibb auch dann bleibt noch das Problem der Heterogenität 2019 und Zahrt/Crum 2017). Eine sich hier anschlie- der Daten und die Frage, wie diese trotzdem system- ßende Frage ist: Wie wirken sich zukünftig weiterent- übergreifend ausgetauscht werden können. Weiterhin wickelte Anwendungen aus, die sich noch subtiler in konnte belegt werden, dass die erfassten Werte teilwei- den Nutzeralltag integrieren? Anwendungen, die mit se noch erhebliche Fehlerquoten aufweisen (Scheren- dem Einzelnen essen, laufen, schlafen, arbeiten und berg 2019, S. 477). Der Vollständigkeit halber darf kommunizieren? Welchen Grund haben Nutzer, sich auch die Fehlerquote bei der Nutzung bzw. Erzeugung trotz dieser – zumindest gelegentlich bereits medial der Daten nicht unterschätzt werden: Falsches Bedie- diskutierten – Bedenken dennoch immer wieder auf nen, Mogeln und Manipulieren erscheinen zumindest diese Technik einzulassen? Selbstvermessungstechno- gegenwärtig noch leicht machbar (Koch 2019, S. 1084). logien befinden sich in einem Schnittfeld individuel- Trotz Bedenken steckt ein großes Potenzial in den ler Interessen der Nutzer (Selbstreflexion, Neugier, Anwendungen der digitalen Selbstvermessung. Mit Optimierung etc.) und den Interessen der Anbieter, des lernenden Algorithmen, kleiner und besser werden- Gesundheitsmanagements der Krankenkassen, anderer der Hardware und ausgefeilten Konzepten in puncto staatlicher oder unternehmerischer Organisations- Datenschutz, Datenkompetenz und mehr Transparenz formen. Ohne Hinterfragung sieht der Nutzer vor- über die Entscheidungs- und Auswertungsmuster der nehmlich seine eigenmotivierten Interessen (Schwarz Anwendungen können Menschen, Organisationen und 2019b). Ein weiterer Aspekt kritischer Reflexion von Gesellschaften zugleich profitieren. Für einen Umgang Selbstvermessungspraktiken ist der der Solidarität, mit Selbstvermessungstechnologien müssen einige wobei die Krankenversicherung ein gutes Beispiel ist. kritische Fragen beantwortet werden, um in individu- Das deutsche gesetzliche Krankenkassensystem fußt eller, organisatorischer und gesellschaftlicher Hinsicht auf dem Solidaritätsprinzip, doch Pay-as-you-live-Tarife nicht intendierte Nebeneffekte zu vermeiden und (PAYL) sind auf dem Vormarsch (siehe Generali Vita- die erwünschten Potenziale mit demokratischen und lity 2020). Bei vielen Zusatzversicherungen werden ethisch vertretbaren Perspektiven zu ermöglichen. Lifestyle-basierte Tarife angeboten, Selbstvermessung Denn „[e]s ist anzunehmen, dass die Modi der Selbst- also vom Versicherten genutzt, um bessere Konditio- vermessung, die mehr oder weniger ‚sanften‘ Zwang nen zu erhalten. Der Versicherer vermeidet etwaige auf die Einzelnen ausüben, sich zu vermessen und ihre Risiken durch den Lebenswandel der Versicherten. Das Daten an […] Institutionen weiterzuleiten, zunehmend Prinzip, auch weniger gesunde und aktive Menschen in zentraler werden“ (Duttweiler/Passoth 2016, S. 19). der allgemeinen Krankenversicherung solidarisch und ohne schlechtere Policen mitzutragen, könnte einen Abschließend werden die hier gemachten Ausführun- schleichenden gesellschaftlichen Perspektivwechsel gen in Fragen an die Selbstvermessung tabellarisch erleiden und damit einen Grundpfeiler solidarischer zusammengefasst. Diese Fragen geben Nutzern und Gesellschaftsvorstellungen unterlaufen (Deutscher Entscheidern Hinweise darauf, in welchen Aspek- Ethikrat 2017). ten richtungsweisende Antworten gefunden werden müssen, um einem unkontrollierten Einsatz und damit Werden Selbstvermessungsdaten außerhalb des Priva- einhergehenden nicht intendierten Nebenwirkungen ten als Grundlage zur Berechnung von Versicherungs- Einhalt zu gebieten. Sie finden ihre Relevanz auf allen beiträgen und Präventionsanwendungen verwendet, gesellschaftlichen Ebenen und bieten damit sowohl auf muss auch nach Datenqualität und Zugang gefragt individueller, organisationaler oder auch staatlicher werden. Die Diskussion darüber ist zurzeit noch offen. Ebene eine Orientierungshilfe:
Tabelle 1 Sozialwissenschaftliche Fragen an die Hrsg. Stephanie Kleiner und Robert Suter, 41-59: Inter- Selbstvermessung (eigene Darstellung) national Specialized Book Services. Motivation Warum vermessen wir uns, Generali Vitality. 2020. Startseite der Homepage. was sind unsere Ziele? https://www.generalivitality.com/de/de. [zuletzt Wessen Ziele sind in der zugegriffen am 01.12.2020]. Anwendung außer den Gurrin, Cathal, Smeaton, Alan F., Doherty, Aiden R. eigenen noch vorhanden? 2014. LifeLogging. Personal Big Data. Foundations and Kontrolle Wer hat Kontrolle über Trends® in Information Retrieval 8:1-125. welche Daten? i-Prognosis. 2020. Projekthomepage. http:/ Verantwortung Wollen wir eine gesellschaft- /www.i-prognosis.eu/. [zuletzt zugegriffen am liche oder individuelle 01.12.2020]. Verantwortung? Was Koch, Gertraut. 2019. Digitale Selbstvermessung. In bedeutet das für Werte wie Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, Solidarität und Freiheit? Hrsg. N. Baur und J. Blasius, S. 1079-1087. Springer Soziale Normen Attribute wie schön/hässlich, Nature 2019. gesund/krank sind sozial konstruierte Normen, die sich Kucklick, Christoph. 2015. Die granulare Gesellschaft. verändern und in den Emp- Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst. 2. Auf- fehlungen der Anwendungen lage. Berlin: Ullstein. Onnela et al. 2014. implizit enthalten sind. Damit Lupton, Deborah. 2014. The five modes of self-tracking. betreffen sie die (Selbst-) https://simplysociology.wordpress. com/2014/08/07/ Reflexion des Menschen und the-five-modes-of-self-tracking/ [zuletzt zugegriffen am sollten bezüglich beste- 01.12.2020]. hender oder sich ändernder Diskurse sowie zeitlichem, Lupton, Deborah. 2016. The quantified self. Malden, gesellschaftlichem und kul- MA: Polity. Harsin, Jayson. 2015. Regimes of Posttruth, turellem Kontext hinterfragt Postpolitics, and Attention Economies. Communication, werden. Culture & Critique 8:327-333. Führung Führen oder managen wir uns Mau, Steffen. 2017. Das metrische Wir. Über die Quan- selbst oder werden wir im tifizierung des Sozialen. 1. Auflage, Origi-nalausgabe, Schnittfeld der Interessen Sonderdruck. Berlin: Suhrkamp. (subtil) geführt? MIT Media Lab. 2011. The Human Speechome Project. https://www.media.mit.edu/cogmac/projects/hsp.html [zuletzt zugegriffen am 19.01.2021]. Literatur Scherenberg. 2019. Prävention via Lifelogging – Möglichkeiten und Grenzen der digitalen Selbstver- Au, Lavender, Kuuskema, Mats. 2019. Social control or messung. In Digitale Transformation von Dienstleis a fix for a non-law-abiding society? https://merics.org/ tungen im Gesundheitswesen VI, Hrsg. M. A. de/analyse/social-control-or-fix-non-law-abiding-society Pfannstiel et al. Springer Nature 2019. [zuletzt zugegriffen am 19.01.2021]. Scheuer, Stephan. 2020. Was wir von Taiwan Deutscher Ethikrat. 2018. Big Data und Gesundheit – im Umgang mit Corona lernen sollten. https:// Datensouveränität als informationelle Freiheitsgestal- www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/ tung. Berlin. kommentar-was-wir-von-taiwan-im-umgang-mit- Dibb, Bridget. 2019. Social media use and perceptions corona-lernen-sollten/26657396.html?ticket=ST- of physical health. Heliyon 5(1). 4513403-KSf4NlHTAdBcdjRYtVy7-ap4 [zuletzt zu gegriffen am 01.02.2021]. Duttweiler, Stefanie, Passoth, Jan-Hendrik. 2016. Self-Tracking als Optimierungsprojekt? In Leben nach Schwarz, Dhenya. 2019a. Zur neuen Tiefenschärfe des Zahlen, Hrsg. Stefanie Duttweiler, Robert Gugutzer, vermessenen Selbst im Kontext der Digitalisierung – Jan-Hendrik Passoth und Jörg Strübing. Bielefeld: Selbstvermessung als Indiz eines Wandels für Mensch, transcript Verlag. Leben und Gesellschaft durch digitale Technologien. IF-Schriftenreihe Sozialwissenschaftliche Zukunftsfor- Duttweiler, Stefanie. 2015. Glück durch dich selbst. schung 1/19. Subjektivierungsformen in der Ratgeberliteratur der 1920er–1940er Jahre. In Guter Rat – Glück und Erfolg Schwarz, Dhenya. 2019b. Der Mensch in HD. Zeit- in der Ratgeberliteratur 1900–1940. Glück und Erfolg, schrift für Zukunftsforschung, 1. http://www.zeit-
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