Vertikale HIV-Transmission und Transmissionsprophylaxe

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MEDIZIN

ORIGINALARBEIT

Vertikale HIV-Transmission
und Transmissionsprophylaxe
Retrospektive Studie am Universitätsklinikum Düsseldorf von 1998–2004

Jennifer Neubert, Joerg Gehrke, Ulrike Friebe-Hoffmann,
Hans Stannigel, Mark Oette, Ulrich Göbel, Tim Niehues

ZUSAMMENFASSUNG                                                 SUMMARY
Einleitung: In klinischen Studien wird die vertikale            VERTICAL TRANSMISSION OF HIV AND
Transmissionsrate für HIV durch eine präpartale,                TRANSMISSION PREVENTION – RETROSPECTIVE
intrapartale und postnatale antiretrovirale Prophylaxe,         DATA FROM THE UNIVERSITY HOSPITAL
elektive Sectio caesarea und Stillverzicht auf < 2 %            DÜSSELDORF BETWEEN 1998–2004
gesenkt. In dieser Studie wurde untersucht, wie vielen          Introduction: In clinical studies prophylactic antiretroviral
Schwangeren ihr HIV-Status bekannt war, welche von              treatment, elective cesarian section, and the avoidance of
ihnen eine vollständige Transmissionsprophylaxe erhielten       breastfeeding will reduce vertical transmission of HIV to
und ob die vertikale HIV-Transmissionsrate unter 2 % lag.       less than 2 %. The objective of this study was to determine
Methoden: Die Autoren analysierten die Daten von 118            how many pregnant women were not diagnosed as HIV
HIV-exponierten Kindern, die an der Universitätskinderkli-      positive how many received a complete mother to child
nik Düsseldorf betreut wurden. Der Großteil der Kinder          transmission (MTCT) prophylaxis. Methods: Data on 118
(58, 5 %) war in auswärtigen Kliniken geboren worden.           children were analysed retrospectively, all of whom were
Ergebnisse: Die Transmissionsprophylaxe wird häufig nicht       born to HIV positive mothers and referred to the University
vollständig wahrgenommen; bei 21,6 % der Mutter-Kind-           Children´s Hospital Düsseldorf. The majority of 69/118
Paare erfolgte keine Prophylaxe. Der fehlende HIV-Test          children had been born in external hospitals. Results: In
war die Hauptursache für dieses Versäumnis. Die Trans-          21.6 % of pregnancies analysed, interventions to prevent
missionsrate lag bei 10,3 %, bei vollständiger Transmis-        MTCT were not fully implemented. In most of these cases
sionsprophylaxe bei 2,2 %. Diskussion: Zwischen der aus         HIV screening had not been offered during pregnancy.
Studien ermittelten Transmissionsrate von < 2 % und der         Undiagnosed HIV in the mother was the main reason for
Transmissionsrate in der alltäglichen Praxis bestehen zum       failure to implement effective MTCT. The overall trans-
Teil erhebliche Unterschiede. Eine erfolgreiche Transmis-       mission rate was 10.3 %. When intervention to prevent
                                                                                                                                Klinik für
sionsprophylaxe ist nur möglich, wenn der HIV-Status            MTCT was offered the overall transmission rate was 2.2 %.       Kinder-Onkologie,
der Mutter bekannt ist.                                         Discussion: In this day to day clinical practice analysis       -Hämatologie und
                      Dtsch Arztebl 2007; 104(25): A 1827–31.   of a German cohort MTCT occurs more often than expected         -Klinische Immunologie,
                                                                                                                                Zentrum für Kinder-
Schlüsselwörter: HIV, vertikale Transmission, Kinder,           from clinical studies. This is mainly due to undiagnosed        und Jugendmedizin,
Transmissionsprophylaxe                                         HIV Infection because of lack of HIV testing or inefficient     Universitätsklinikum
                                                                                                                                Düsseldorf:
                                                                response to positive test results.                              Dr. med. Neubert,
                                                                                     Dtsch Arztebl 2007; 104(25): A 1827–31.    Dr. med. Gehrke,
                                                                Key words: HIV, vertical transmission, neonatal HIV,            Prof. Dr. med. Göbel,
                                                                                                                                PD Dr. med. Niehues
                                                                perinatal prophylaxis
                                                                                                                                Klinik für Gynäkologie
                                                                                                                                und Geburtshilfe,
                                                                                                                                Universitätsklinikum
                                                                                                                                Düsseldorf: Dr. med.
                                                                                                                                Friebe-Hoffmann

S      chätzungen des Robert-Koch-Institutes zufolge
       leben in Deutschland derzeit etwa 49 000 Men-
schen mit einer HIV-Infektion, 2 600 Personen haben
                                                                Frühgeburtlichkeit, vorzeitige Wehen, ein vorzeitiger
                                                                Blasensprung oder ein Amnioninfektionssyndrom
                                                                sind Risikofaktoren für eine erhöhte vertikale Trans-
                                                                                                                                Klinik für Allgemeine
                                                                                                                                Pädiatrie, Zentrum
                                                                                                                                für Kinder- und
                                                                                                                                Jugendmedizin,
sich im Jahr 2005 neu mit HIV infiziert – davon etwa            mission (5, 6).                                                 Universitätsklinikum
2 250 Männer, 350 Frauen und 20 Kinder (1). Die                    Mit einer effektiven antiretroviralen Prophylaxe             Düsseldorf: Dr. med.
                                                                                                                                Stannigel
HIV-Infektion im Kindesalter erfolgt überwiegend                kann das Risiko einer vertikalen HIV-Transmission
vertikal entweder während der Schwangerschaft, un-              heute auf < 2 % gesenkt werden (7, 8, 9). Die Säulen            Klinik für
                                                                                                                                Gastroenterologie,
ter der Geburt oder über die Muttermilch (2). In Euro-          der Prophylaxe bestehen aus:                                    Hepatologie und
pa beträgt die vertikale Infektionsrate circa 14 %,                 pränatal: einer risikoadaptierten antiretroviralen,        Infektiologie,
                                                                                                                                Universitätsklinikum
wenn keine präventiven Maßnahmen ergriffen werden                    medikamentösen Therapie (ART) der Schwange-                Düsseldorf:
(3, 4). Eine niedrige CD4-Zahl, eine hohe Viruslast,                 ren                                                        Dr. med. Oette

                    ⏐ Jg. 104⏐
Deutsches Ärzteblatt⏐        ⏐ Heft 25⏐
                                      ⏐ 22. Juni 2007                                                                                         A 1827
MEDIZIN

              intrapartal: einer elektiven Sectio caesarea am      stammten zu 65,4 % aus Afrika, 26 % aus West-Euro-
                wehenlosen Uterus in der 37. Schwangerschafts-      pa, 3,8 % aus Asien, 2,9 % aus Ost-Europa und 1,9 %
                woche (SSW), einer i.v.- Zidovudin-Gabe und ei-     aus der Karibik.
                ner adäquaten Kreißsaalversorgung des HIV-ex-          Die Information über das Gestationsalter bei Geburt
                ponierten Neugeborenen (zum Beispiel: vorzeiti-     lag in 110 Schwangerschaften vor. Der Durchschnitt
                ges Austupfen von Körperöffnungen)                  lag bei 36,9 ± 2,1 Wochen, die kürzeste Schwanger-
              postnatal: einem Stillverzicht und einer risiko-     schaft dauerte 25, die längste 43 Wochen.
                adaptierten antiretroviralen Prophylaxe des Kin-       Gemäß Schwangerschaftsleitlinien wird in norma-
                des (2).                                            les, erhöhtes – zum Beispiel vorzeitige Wehen – und
             Die Durchführung dieser effektiven Prophylaxe          sehr hohes Transmissionsrisiko wie beispielsweise
          setzt voraus, dass der HIV-Status der Mutter bekannt      Aids unterteilt (2). Bei unregelmäßigem Erscheinen
          ist. Die vorliegende Arbeit soll einen Beitrag zur Ver-   zu Vorstellungsterminen oder ungenauen Angaben zu
          sorgungsforschung durch Evaluierung der Effektivität      Medikamenten wurde die Compliance als problema-
          der vertikalen HIV-Transmissionsprophylaxe leisten.       tisch eingestuft.

          Fragestellung                                             Entbindungskliniken
          Anhand der Daten eines Kollektivs von 118 HIV-            Die Zahl an externen Entbindungen verteilte sich wie
          exponierten Kindern, die alle in der Ambulanz für         folgt: Arnsberg (n = 1), Berlin (n = 2), Bonn (n = 1),
          Pädiatrische Immunologie und Rheumatologie der            Datteln (n = 1), Dinslaken (n = 1), Dortmund (n = 12),
          Klinik für Kinder-Onkologie, -Hämatologie und -Kli-       Dresden (n = 1), Duisburg (n = 6), Düsseldorf (n = 6),
          nische Immunologie am Universitätsklinikum Düssel-        Essen (n = 2), Hamm (n = 5), Hüsten (n = 1), Köln
          dorf (UKD) betreut wurden und in auswärtigen              (n = 5), Krefeld (n = 3), Langenfeld (n = 1), Moers
          Kliniken oder in der Frauenklinik des UKD zur Welt        (n = 2), Mönchengladbach (n = 3), Münster (n = 2),
          gekommen waren, werden folgende Hypothesen über-          Neuss (n = 2), Paderborn (n = 1), Rheinhausen (n = 1),
          prüft:                                                    Solingen (n = 4), Wesel (n = 1), Wuppertal (n = 4)
              Allen Schwangeren ist ihr HIV-Status bekannt.        sowie Thailand (n = 1).
              Bei allen HIV-positiven Schwangeren wird eine
               vollständige Transmissionsprophylaxe durchge-        Ergebnisse
               führt.                                               Kenntnisstand der Mütter über den HIV-Status
              Die vertikale HIV-Transmissionsrate des Ge-          Bei 99 der 118 Geburten (83,9 %) wussten die Mütter
               samtkollektivs der untersuchten HIV-positiven        bereits in der Schwangerschaft von ihrer HIV-Infekti-
               Schwangeren liegt unter 2 %.                         on. Bei 16 Geburten (13,6 %) war die HIV-Infektion
                                                                    nicht bekannt. Bei 2 weiteren Geburten ist nicht doku-
          Patienten und Methoden                                    mentiert, ob die Mütter von ihrer Infektion wussten,
          In einer retrospektiven Studie wurden 118 HIV-expo-       weil das positive Ergebnis des HIV-Tests nicht über-
          nierte Kinder, die in der Kinderklinik der Universität    mittelt werden konnte. Bei einer Geburt war der Test in
          Düsseldorf betreut wurden, analysiert. Der Beobach-       der Frühschwangerschaft zunächst negativ. Mögli-
          tungszeitraum erstreckt sich vom 1. Januar 1998 bis       cherweise infizierte sich die Mutter kurz vor oder
          zum 31. Dezember 2004. Es wurden folgende Ein-            während der Schwangerschaft und es kam erst später
          schlusskriterien definiert:                               zu einer Serokonversion. Ein Folgetest wurde nicht
              Entbindung der HIV-positiven Mutter in der Uni-      durchgeführt. Alle Frauen, die zum Zeitpunkt der Ge-
               versitätsfrauenklinik Düsseldorf                     burt nicht über ihre HIV-Infektion informiert waren,
              Entbindung der HIV-positiven Mutter in einer ex-     wurden in externen Kliniken entbunden. Aus der Tat-
               ternen Klinik und anschließende Vorstellung des      sache heraus, dass den Frauen und den behandelnden
               Kindes innerhalb der ersten 18 Lebensmonate,         Ärzten der HIV-Status der Mutter nicht bekannt war,
               entweder zur weiterführenden Diagnostik bei          erklären sich die nachfolgend erhobenen Befunde.
               HIV-Exposition oder zur Therapie des HIV-infi-
               zierten Kindes in der Universitätskinderklinik       Transmissionsprophylaxe bei HIV-positiven Schwangeren
               Düsseldorf.                                          Bei 102 Schwangerschaften sind die Daten über eine
                                                                    antiretrovirale Therapie dokumentiert. Am häufigsten
          Patientenkollektiv                                        wurde die Dreifach-Therapie angewandt (32,3 %). Ei-
          Im Patientenkollektiv befanden sich 118 Kinder von        ne Zweifach-Therapie wurde in 25 Schwangerschaf-
          109 HIV-infizierten Müttern. Es bestanden 2 Gemini-       ten (24,5 %) durchgeführt, in 2 Schwangerschaften
          Schwangerschaften, 7 Mütter trugen 2 aufeinander-         sogar eine Vierfach-Therapie. Eine Monotherapie mit
          folgende Schwangerschaften aus. Bei diesen Müttern        Zidovudin (AZT) wurde 14 Schwangeren (13,7 %)
          erfolgte eine Mehrfachnennung. In diesem Kollektiv        gegeben. 22 Schwangere (21,6 %) erhielten keine
          befanden sich 69 Kinder (58,5 %), die in auswärtigen      Therapie. Bei 6 Schwangerschaften wurde zwar be-
          Kliniken geboren worden waren. Der andere Teil der        handelt, die Art der antiretroviralen Therapie (Kombi-
          Kinder (n = 49, entsprechend 41,5 %) kam im Univer-       nationstherapie oder Monotherapie) wurde jedoch
          sitätsklinikum Düsseldorf zur Welt. Die Mütter            nicht dokumentiert.

A 1828                                                                                                 ⏐ Jg. 104⏐
                                                                                   Deutsches Ärzteblatt⏐        ⏐ Heft 25⏐
                                                                                                                         ⏐ 22. Juni 2007
MEDIZIN

Entbindungsmodus                                            TABELLE 1
Bei 112 Geburten liegen Daten zum Entbindungsmo-
dus vor. Der häufigste Entbindungsmodus war die             Transmissionsrate in Abhängigkeit von der Vollständigkeit der Transmis-
primäre Sectio am wehenfreien Uterus (76 %). 13 von         sionsprophylaxe
112 Kindern kamen mittels Spontanpartus zur Welt                                                Transmissionsprophylaxe
(12 %). Bei einsetzender Wehentätigkeit wurde die
                                                                                   komplett (n = 92)   inkomplett (n = 10) keine (n = 16)
sekundäre Sectio bei 14 Schwangeren (12 %) vorge-
nommen.                                                       HIV-Kind negativ            90                   8                 7
                                                              HIV-Kind positiv            2                    1                 9
Intrapartale antiretrovirale Prophylaxe                       Transmissionsrate         2,2 %                11,1 %            56,3 %
Bei 116 Geburten liegen Daten darüber vor, ob eine
intrapartale antiretrovirale Prophylaxe durchgeführt
wurde. Bei 20 Schwangeren (17 %) erfolgte keine
Therapie, bei 93 eine Therapie mit Zidovudin und bei      mit sehr hohem Transmissionsrisiko für eine vertikale
3 eine Behandlung mit Zidovudin und Nevirapin.            HIV-Infektion. Am häufigsten (bei 42 Frauen) betrug
                                                          die Viruslast < 10 000 Eq/mL. Bei 4 Frauen lag die Vi-
Postnatale antiretrovirale Therapie                       ruslast > 10 000 Eq/mL.
Insgesamt wurden 99 Kinder nach der Geburt mit ei-
ner Postexpositions-Prophylaxe behandelt. Bei 16          Bestimmung der Transmissionsrate
Kindern fand keine Therapie statt, bei 3 Kindern wur-     Im Gesamtkollektiv infizierten sich 12 Kinder mit HIV.
de nicht dokumentiert, ob die Kinder eine Postexposi-     Davon waren 2 Kinder zuvor in die Gruppe der HIV-ex-
tionsprophylaxe erhielten. Die häufigste Form der         ponierten Kinder mit geburtshilflich niedrigem Trans-
Therapie war die Monotherapie mit AZT. Sie wurde          missionsrisiko eingeteilt worden. Die weiteren 10 HIV-
bei 84 Kindern (73,0 %) angewendet.                       infizierten Kinder entstammten der Gruppe mit geburts-
                                                          hilflich hohem Transmissionsrisiko (n = 25). Trotz voll-
Stillen                                                   ständig durchgeführter Transmissonsprophylaxe infi-
8 der 118 Kinder wurden gestillt. 101 Kinder (85,6 %)     zierten sich 2 der 92 Kinder (2,2 %) mit HIV (Tabelle 1).
wurden nicht gestillt. Bei 9 Kindern konnten keine        In beiden Schwangerschaften ist dokumentiert, dass die
Angaben gemacht werden. Unabhängig von anderen            Compliance der HIV-positiven Mütter im Hinblick auf
Risikofaktoren haben von den 8 gestillten Kindern         die Einnahme der antiretroviralen Medikamente proble-
5 Kinder eine HIV-Infektion.                              matisch war. Beide Kinder waren in die Gruppe der
                                                          HIV-exponierten Kinder mit niedrigem Transmissions-
Vollständigkeit der Transmissionsprophylaxe               risiko eingeteilt worden. Die Viruslast im letzten Trime-
Bei 92 Kindern erfolgte ein vollständiges Therapiere-     non lag bei beiden Müttern < 10 000 Eq/mL.
gime, bestehend aus prä-, intrapartaler und postnataler      Von den 16 Mutter-Kind-Paaren, bei denen keine
antiretroviraler Therapie (ART), Sectio und Still-        Transmissionsprophylaxe durchgeführt wurde, infi-
verzicht. Eine inkomplette Transmissionsprophylaxe        zierten sich insgesamt 9 Kinder (56,3 %). Bei inkom-
fand bei 9 Kindern statt, bei 1 Kind konnte keine         plett durchgeführter Transmissionsprophylaxe infi-
Angabe gemacht werden. 16 Kinder erhielten keine          zierte sich 1 von 10 Kindern (10 %) vertikal mit HIV.
Transmissionsprophylaxe, weil bei der Mutter die          Insgesamt beträgt die HIV-Transmissionsrate im Ge-
HIV-Infektion in der Schwangerschaft nicht bekannt        samtkollektiv 10,3 %.
war.
                                                          HIV-infizierte Kinder und Konstellationen
Faktoren für die Einteilung in die                        bei vertikaler HIV-Transmission
Transmissionsrisiko-Gruppe                                Bei 5 Schwangeren war kein HIV-Test durchgeführt
76 von 118 Schwangerschaften verliefen normal. Bei        worden (Konstellation I), bei 3 war der Test zwar vor-
25 lag ein erhöhtes Transmissionsrisiko und bei 11        genommen worden, hatte aber zu keiner Konsequenz
ein sehr hohes Transmissionsrisiko vor. Bei 6             geführt (Konstellation II), und bei 3 Schwangeren mit
Schwangerschaften konnte keine Aussage über das           bekannter HIV-Infektion waren Probleme mit der Ein-
Risiko getroffen werden. Es wurde untersucht, welche      nahme der antiretroviralen Medikamente aufgetreten
geburtshilflichen Risiken vorlagen, die zu einer Er-      (Konstellation III) (Tabelle 2).
höhung des Transmissionsrisikos für das HIV-expo-
nierte Kind führen konnten. Eine vorzeitige We-           Diskussion
hentätigkeit trat bei 12 Geburten, eine vorzeitige We-    Die präpartale, intrapartale und postpartale antiretro-
hentätigkeit in Kombination mit einem Amnioninfek-        virale Therapie, die elektive Sectio caesarea und der
tionssyndrom bei 4 Geburten auf. Angaben zur Virus-       Stillverzicht sind feste Bestandteile der HIV-Trans-
last im letzten Trimenon gab es bei 46 Schwangeren        missionsprophylaxe. Durch eine kombinierte risiko-
(39 %). Der Mittelwert lag bei 3 582 Eq/mL ± 6 805        adaptierte Intervention kann das vertikale HIV-Trans-
(Eq/mL = HI Virusäquivalente/mL). Eine Viruslast          missionsrisiko von 15 bis 40 % auf unter 2 % gesenkt
> 10 000 Eq/mL führt zur Einstufung in die Gruppe         werden (7, 8, 9).

                    ⏐ Jg. 104⏐
Deutsches Ärzteblatt⏐        ⏐ Heft 25⏐
                                      ⏐ 22. Juni 2007                                                                                A 1829
MEDIZIN

  TABELLE 2                                                                                               die Hauptursache dafür, dass es zur vertikalen HIV-
                                                                                                          Transmission kam. Bei 5 der 12 vertikalen HIV-Infek-
  Synopse der infizierten Kinder im Gesamtkollektiv                                                       tionen stammten die Frauen aus HIV-Endemiegebieten
                                                                                                          und in allen 5 Schwangerschaften war kein HIV-Test
   Konstellationen bei vertikaler HIV-Transmission
                                                                                                          durchgeführt worden. Diese Arbeit zeigt, dass bei der
   Kind, Alter             Zugehörigkeit                 HIV-Test             Transmissions-              Schwangerschaftsvorsorge trotz Herkunft aus Endemie-
   bei Diagnose           zu Risikogruppe              durchgeführt             prophylaxe                gebieten nicht immer ein HIV-Test vorgenommen wird
   Konstellation I: HIV-Test bei der Mutter nicht durchgeführt                                            und deshalb eine effektive Transmissionsprophylaxe
                                                                                                          unterbleibt. Die genaue Ursache für den hohen Anteil an
   3 Jahre                     ja (Kongo)                    nein                    nein
                                                                                                          extern betreuten Schwangeren ohne HIV-Test ist unklar.
   7 Monate             ja (Kongo), 5-jährige                                                             Nicht alle HIV-infizierten Frauen werden in HIV-
                       Tochter an Pneumonie                  nein                    nein
                              gestorben                                                                   Schwerpunktzentren während der Schwangerschaft und
                                                                                                          Geburt betreut, wie die Verteilung der Kliniken in dieser
   3 Jahre                ja (Elfenbeinküste,
                              Tumoren im                     nein                    nein                 Untersuchung zeigt.
                             Kieferbereich)                                                                  Die Untersuchung belegt, dass die Durchführung des
   5 Monate                    ja (Kongo)                    nein                    nein                 HIV-Tests allein nicht immer ausreicht. In 2 Schwan-
                                                                                                          gerschaften wurde das positive HIV-Testergebnis nicht
   3 Jahre                         ja               nein (trotz Anfrage)             nein
                                                                                                          an die Frau übermittelt und führte deshalb zu keiner the-
   2 Jahre                      ja (Haiti)                   nein             nein, nur Sectio            rapeutischen Konsequenz. In einer Schwangerschaft
   Konstellation II: HIV-Test bei der Mutter durchgeführt, aber keine Konsequenz                          hatte der HIV-Test bei einer Frau zunächst ein negatives
   2 Jahre                        nein                ja (zu früh im 1.              nein                 Ergebnis erbracht. Ob die Betroffene zum Zeitpunkt des
                                                      Monat: negativ)                                     Tests überhaupt schon HIV-positiv war oder ob die In-
   6 Monate                    ja (Kenia)              ja (Frauenarzt                nein                 fektion zu einem späteren Zeitpunkt der Schwanger-
                                                        gewechselt)                                       schaft erfolgte, bleibt unklar.
   9 Monate                       nein                ja (weggezogen)                nein
                                                                                                             Die Transmissionsrate im Kollektiv bei Kindern ohne
                                                                                                          Transmissionsprophylaxe war außerordentlich hoch. Zu
   Konstellation III: HIV schon vor Schwangerschaft bekannt, aber
                                                                                                          bedenken ist an dieser Stelle, dass die in der vorliegen-
   Compliance problematisch
                                                                                                          den Untersuchung ermittelte Transmissionsrate bei Kin-
   11 Monate              ja (HIV bekannt,                                                                dern ohne Transmissionsprophylaxe auf einer geringen
                        Mutter bricht von sich             entfällt                  nein
                          aus Therapie ab)
                                                                                                          Fallzahl von nur 16 Geburten basiert. Darüber hinaus
                                                                                                          besteht ein „Bias“, weil es sich gerade bei den Mutter-
   1 Monat                ja (HIV bekannt,                 entfällt                   ja                  Kind-Paaren, bei denen keine Transmissionsprophylaxe
                        Complianceprobleme)
                                                                                                          durchgeführt wurde, um Risikoschwangerschaften han-
   1 Monat                ja (HIV bekannt,                 entfällt                   ja                  delt, in denen beispielsweise die Frauen die Vorsorge-
                       Complianceprobleme)*
                                                                                                          untersuchungen nicht wahrnahmen oder Compliance-
                                               * Bei unregelmäßigem Erscheinen zu Vorstellungsterminen    probleme bestanden.
              oder ungenauen Angaben zu Medikamenten wurde die Compliance als problematisch eingestuft.
                                                                                                             Trotz vollständig durchgeführter Transmissionspro-
                                                                                                          phylaxe infizierten sich 2 der 92 Kinder (2,2 %) mit
                                                                                                          HIV. Bei beiden Mutter-Kind-Paaren, bei denen es trotz
                           In der Arbeit von Gingelmaier et al. war die HIV-Trans-                        vollständiger Transmissionsprophylaxe zu einer verti-
                        missionsrate bei 599 Geburten in 10 deutschen Zentren                             kalen HIV-Transmission kam, ist dokumentiert, dass die
                        und bei vollständig durchgeführter Prophylaxe 1,68 %                              Compliance der betreffenden HIV-positiven Mütter
                        (10). Die Unterschiede in den Transmissionsraten (2,2                             mangelhaft war. Dies trug möglicherweise dazu bei,
                        versus 1,68 %) beruhen möglicherweise auf der niedrigen                           dass es zu einer maternofetalen Transmission kam und
                        Fallzahl in der vorliegenden Studie beziehungsweise auf                           die erwartete Transmissionsrate von < 2 % im Kollektiv
                        dem unterschiedlichen Studiendesign: Die hier vorgelegte                          verfehlt wurde. Allerdings könnte es auch sein, dass die
                        Studie hatte unterschiedliche Ein- und Ausschlusskriteri-                         Transmissionsrate im klinischen Alltag höher liegt als
                        en, insbesondere das Einschlusskriterium Geburt außer-                            dies anhand der Studienlage zu erwarten ist.
                        halb eines HIV-Schwerpunktzentrums.                                                  Patientinnen mit Complianceproblemen und Sprach-
                           In der Untersuchung der Autoren zeigte sich, dass 13                           barriere werden möglicherweise in klinische Studien nicht
                        Kinder mittels Spontanpartus zur Welt kamen – bei allen                           eingeschlossen. Bei der Bewertung der Transmissionsrate
                        Geburten war die HIV-Infektion nicht bekannt. Ähnli-                              im Gesamtkollektiv ist allerdings zu berücksichtigen, dass
                        ches galt für die medikamentöse Prophylaxe.                                       in der Literatur zum Teil die Transmissionsraten von Kol-
                           Eine erfolgreiche Transmissionsprophylaxe ist nur                              lektiven mit einer vollständigen Transmissionsprophylaxe
                        möglich, wenn der HIV-Status der Mutter bekannt ist.                              dargestellt werden beziehungsweise Patientinnen ausge-
                        Nur in 83,9 % hatten die Mütter Kenntnis über ihre                                schlossen sind, die erst nach der Geburt über ihre Diagno-
                        HIV-Infektion. Alle Frauen, die zum Zeitpunkt der Ge-                             se informiert wurden. In der hier vorgelegten Auswertung
                        burt nicht über ihre HIV-Infektion informiert waren,                              sind diese Schwangerschaften aber bewusst enthalten, um
                        wurden extern betreut. Bei 6 der 12 HIV-infizierten Kin-                          den Stand einer möglichst flächendeckenden Transmis-
                        der war der fehlende HIV-Test in der Schwangerschaft                              sionsprophylaxe erkennbar zu machen.

A 1830                                                                                                                                        ⏐ Jg. 104⏐
                                                                                                                          Deutsches Ärzteblatt⏐        ⏐ Heft 25⏐
                                                                                                                                                                ⏐ 22. Juni 2007
MEDIZIN

   In Deutschland wird zurzeit eine Opt-in-Strategie an-                          HIV- und AIDS-Patienten (DAGNÄ), der Deutschen AIDS-Hilfe, der
gewandt. Bei dieser Strategie werden die Schwangeren                              Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde, der Pädiatrischen
                                                                                  Arbeitsgemeinschaft Aids Deutsch-österreichische Empfehlungen
vor Abnahme des Blutes für den HIV-Test gefragt, ob sie                           zur HIV-Therapie in der Schwangerschaft (2005); AWMF online;
einwilligen. Bei der Opt-out-Strategie müssen die                                 www.uni-duesseldorf.de/awmf/ll/055-002.html
Schwangeren aktiv und von sich aus den Test ablehnen,                          3. Schäfer A, Friese K: Maßnahmen zur Senkung des materno-
sonst wird er routinemäßig durchgeführt. In anderen Län-                          fetalen HIV-Transmissionsrisikos. Dtsch Arztebl 1996; 93(36):
dern, zum Beispiel den USA, ist die Erfassung HIV-infi-                           A 2234–6.
zierter Schwangerer ebenfalls unvollständig und es zei-                        4. European collaborative study: Risk factors for mother-to-child
gen sich starke regionale Unterschiede aufgrund unter-                            transmission of HlV-1. Lancet 1992; 339: 1007–12.
schiedlicher Strategien. Es konnte jedoch gezeigt werden,                      5. Sperling RS, Shapiro OE, Coombs R et al.: Maternal viral load,
                                                                                  zidovudine treatment, and the risk of transmission of human
dass die Erfassung des HIV-Status in der Schwanger-                               immunodeficiency virus type 1 from mother-to-infant. N Engl J
schaft in Regionen mit Opt-out-Test-Strategien deutlich                           Med 1996; 335: 1621–8.
höher ist als in Regionen mit einer Opt-in-Strategie (11).                     6. The European collaborative study: Vertical transmission of HlV-1:
   Über das persönliche Schicksal des betroffenen Kindes                          maternal immune status and obstetric factors. AIDS 1996; 10:
hinaus ist zu bedenken, dass die Kosten eines HIV-Tests in                        1675–16.
der Schwangerschaft mit etwa 10 Euro pro Test (budget-                         7. Kind C, Rudin C, Siegrist C et al.: Prevention of vertical HIV Trans-
                                                                                  mission: additive protective effect of elective cesarean section
neutral) gering sind. Eine lebenslange antiretrovirale The-
                                                                                  and zidovudine prophylaxis. AIDS 1998; 12: 205–10.
rapie kostet > 20 000 Euro pro Jahr. Experten weisen dar-
                                                                               8. Cooper ER, Charurat M, Mofenson L et al.: Combination antire-
auf hin, dass nicht bei allen HIV-infizierten Schwangeren                         troviral strategies for the treatment of pregnant HIV-1-infected
Risikofaktoren für eine HIV-Infektion – wie etwa Her-                             women and prevention of perinatal HIV-1 transmission. J Acquir
kunft aus einer HIV-Hochprävalenzregion, aktueller oder                           Immune Defic Syndr 2002; 29(5): 484–94.
zurückliegender intravenöser Drogenkonsum oder eine                            9. Grosch-Wörner I, Schäfer A, Obladen M et al.: An effective
HIV-Infektion des Partners – erkennbar sind (2). Eine ge-                         and safe protocol involving zidovudine and caesarean section to
                                                                                  reduce vertical transmission of HIV-infection. AIDS 2000; 14:
naue Kostenaufrechnung, ob ein generelles Screening                               2903–11.
mittels eines HIV-Tests während der Schwangerschaft                           10. Gingelmaier A, Hollwitz B, Casteleyn S et al.: Schwangerschafts-
ökonomisch sinnvoll ist, wird dringend gefordert.                                 verlauf und kindliches Outcome bei 599 HIV-exponierten
                                                                                  Schwangerschaften an deutschen Schwerpunktzentren 1999–
Fazit für die Praxis                                                              2003. GebFra 2005; 65: 1058–63.
Alle in der Fragestellung formulierten Hypothesen konn-                       11. CDC: Achievements in Public Health: Reduction in perinatal
                                                                                  Transmission of HIV Infection. United States 1985–2005. MMWR
ten nicht verifiziert werden.
                                                                                  2006; 55(21): 592–7.
    Jeder Schwangeren ist nach einer persönlichen Be-
     ratung ein HIV-Antikörpertest anzubieten; dies gilt
                                                                              Anschrift für die Verfasser
     insbesondere für Frauen mit Zugehörigkeit zu einer                       PD Dr. Tim Niehues
     Risikogruppe, wie beispielsweise die Herkunft aus                        Universitätsklinikum Düsseldorf
                                                                              Zentrum für Kinder und Jugendmedizin
     einem Endemiegebiet.                                                     Klinik für Kinder-Onkologie,
    Zur Wahrung des Datenschutzes erscheint das Er-                          Hämatologie und Immunologie
     gebnis nicht im Vorsorgeheft (Mutterpass), jedoch                        Moorenstraße 5
                                                                              40225 Düsseldorf
     bei allen Schwangeren die Dokumentation der Ab-                          E-Mail: niehues@uni-duesseldorf.de
     nahme.
    Es ist dafür Sorge zu tragen, dass die Schwangere
     vom Testergebnis Kenntnis erhält.
    Es muss diskutiert werden, wann eine Wiederho-
                                                                              @       The English version of this article is available online:
                                                                                      www.aerzteblatt.de/english

     lung des HIV-Tests im Verlauf der Schwanger-
     schaft sinnvoll ist.
    Eine interdisziplinäre Anbindung der HIV-infizier-
     ten Schwangeren und des HIV-exponierten Kindes
     an ein Zentrum erscheint sinnvoll, weil hier eine ri-                       Berichtigung
     sikoadaptierte Betreuung gewährleistet ist.
                                                                                 In dem Artikel „Operationsrisiko aus der Sicht des
                                                                                 Kardiologen“ von Bauriedel et al. in Heft 22 ist
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien      auf Seite A 1586 leider ein Fehler aufgetreten, auf
des International Committee of Medical Journal Editors besteht.                  den uns verschiedene Leser aufmerksam gemacht
Manuskriptdaten                                                                  haben: Anders als irrtümlich dargestellt, handelt
eingereicht: 24. 7. 2006, revidierte Fassung angenommen: 1. 3. 2007              es sich bei Clonidin nicht um einen Alpha-2-Re-
                                                                                 zeptor-Antagonisten, sondern um einen Alpha-2-
LITERATUR                                                                        Rezeptor-Agonisten. Auch im weiteren Verlauf des
 1. www.rki.de                                                                   Absatzes hätte es Alpha-2-Rezeptor-Agonisten statt
 2. Gemeinsame Erklärung der Deutschen AIDS-Gesellschaft                         -Antagonisten heißen müssen. Wir bedauern dieses
    und der Österreichischen AIDS-Gesellschaft sowie des                         Versehen.                                     MWR
    Robert-Koch-Institutes Berlin (RKI), der Deutschen Arbeits-
    gemeinschaft der niedergelassenen Ärzte in der Versorgung von

                    ⏐ Jg. 104⏐
Deutsches Ärzteblatt⏐        ⏐ Heft 25⏐
                                      ⏐ 22. Juni 2007                                                                                                        A 1831
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