Von Kopf(tuch) bis Fuß: Türkische Mode erobert die Laufstege - Deutschlandfunk

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Deutschlandfunk

                    GESICHTER EUROPAS

             Samstag, 27. Februar 2010, 11.05 – 12.00 Uhr

                  Von Kopf(tuch) bis Fuß:
       Türkische Mode erobert die Laufstege

                  Mit Reportagen von Gunnar Koehne
                    Moderation: Simonetta Dibbern
                        Redaktion: Thilo Kößler

Eine erfolgreiche türkische Modedesignerin über Istanbul als
Modemetropole:

Die zahlungskräftigen Haute Couture-Kunden von heute kommen aus
Russland, dem Nahen Osten und aus Asien. Und für diese Kundschaft
liegt Istanbul einfach näher als Paris oder London.

Und die Leiterin der Modeakademie über die Berufsaussichten ihrer
Studenten:

Die türkische Textilindustrie ist sehr groß. Der Verband hat 17.000
Mitglieder. Da ist es für die Absolventen der Akademie nicht so
schwierig, einen Job zu finden.

Gesichter Europas: Von Kopftuch bis Fuß. Türkische Mode erobert die
Laufstege. Mit Reportagen von Gunnar Köhne. Am Mikrophon begrüßt
Sie Simonetta Dibbern.

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Istanbul. Eine Stadt, die ihre Füße auf zwei Kontinenten hat, einen in
Europa und einen in Asien. Hier treffen Orient und Okzident aufeinander,
Ost und West, Tradition und Avantgarde. Über die Jahrhunderte war die
Stadt am Bosporus eine kulturelle und wirtschaftliche Metropole – und
ein Umschlagplatz für Waren aller Art. Allen voran: Textilien. Leder,
Wolle, Baumwolle, Seide. Stoffe, die im Land hergestellt, verarbeitet und
veredelt werden. Die türkische Textilindustrie ist seit den 50er Jahren
ständig expandiert – und bis heute die stärkste Exportbranche der
Türkei. Doch mit der wachsenden Konkurrenz aus Fernost müssen neue
Wege gefunden werden: und so setzt der türkische Verband der
Exporteure für Mode und Bekleidung seit einigen Jahren auf Qualität
statt auf Quantität. Und: auf die Kreativität der Istanbuler Designer.
Neben Paris, London, Mailand und New York soll Istanbul die
Modemetropole der Zukunft werden. Erste Schritte sind schon gemacht:
mit den Istanbul Fashion Days im vergangenen Sommer, eröffnet vom
Staatsminister für Außenhandel. Und: mit der Istanbul Fashion Week
Anfang Februar. Modemessen, bei denen die Spitzen der türkischen
Haute Couture ihre neuesten Kollektionen präsentieren.

Am oberen Ende des Goldenen Horns, vor dem Kulturzentrum „Santral“,
spannen sich drei riesige weiße Zelte über einen Parkplatz. Darunter
lassen Heizlüfter die parfümschwere Luft zirkulieren. In der Mitte des
Hauptzeltes steht eine Bar, an der Sekt und Wein an aufwändig frisierte
Frauen in Cocktail-Kleidern ausgeschenkt werden. Mühsam versuchen
sich die Damen mit dem Glas in der Hand und den hohen Absätzen an
ihren Füssen auf dem Katzenkopfsteinpflaster aufrecht zu halten. Lässig
gekleidete Herren mit Hüten und schwarz gerandeten Brillen bahnen
sich den Weg durch die unschlüssig herumstehende Menge.
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‚Willkommen zur zweiten „Istanbul Fashion Week“’ steht über dem
Eingang. Es ist – in der Sprache der Modebranche - der „Event“ des
Jahres am Bosporus. Im Ausstellungszelt haben zwei Dutzend türkische
Modelabels ihre Kreationen in weisse Ausstellungsbuchten gehängt:
Entenschnabelschuhe, Badeanzüge mit Fotomotiven, Rüschen-Kleider.
Die Gäste unterhalten sich mal in gelangweilter, mal in überdrehter
Tonlage. Zu hören ist auch englisch, französisch und russisch.

Habt ihr noch irgendwelche Fragen zum Ablauf? Dann fragt bitte jetzt.

Streng schaut Bahar Korcan in die Runde der jungen Assistentinnen. An
den voll gehängten Kleiderständern hinter ihnen kleben die Namen der
Models , die in wenigen Minuten von den Helferinnen in der richtigen
Reihenfolge auf den Laufsteg geschickt werden müssen. Korcan,
Anfang 50, verschwindet fast vor der schwarzen Zeltwand: ihre
wallenden Locken, ihr Lidschatten, ihr kurzes schlichtes Kleid, Weste,
Strümpfe, Schuhe – alles in schwarz. Sie lächelt den Stylisten zu, die
letzte Hand an nervös in den Spiegel blickende Models legen. Korcan
schaut zu dem blütenweissen Laufsteg hinüber, der noch mit einer
Plastikfolie abgedeckt ist.

Klar bin ich bin nervös. Das bin ich vor jedem Defilé. Besonders aber in
Istanbul. .... Denn Bahar Korcan und Istanbul gehören zusammen. Ich
glaube einfach an diese Stadt. Ich habe meine Kollektion schon in New
York und Deutschland präsentiert. Aber die Premiere muss immer in
Istanbul sein. Hier wird meine Mode geboren, von hier aus geht sie in
die Welt. (lacht)

Dann füllen sich die Sitzreihen neben dem Laufsteg. Vorne, mit ernsten
Mienen: Special Guests, wichtige Einkäufer und Modekritiker; hinten:
aufgeregt tuschelnde Studenten und hier und da sogar ein Kopftuch.
Dann gehen die Scheinwerfer an, die Musikanlage wird aufgedreht.

Mit starrem Blick staksen die Models auf das Podest und zeigen Korcans
diesjährige Kollektion vor: Viel Spitze, viel Applikationen und viel
Patchwork aus weicher Wolle oder Seide. Osmanisch, raunt ein älterer
Zuschauer seiner Nachbarin zu. Nach zehn Minuten ist das Defile zu
Ende, die Meisterin betritt die Bühne, verneigt sich und die Menge
applaudiert. Dann beginnt hinter der Bühne die After-Show-Party.

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Am nächsten Tag in Bahar Korcans Boutique im Stadtviertel Galata. An
Eisenketten hängen die Unikate von der Decke. Zwei junge
Verkäuferinnen beobachten von einer Theke aus das Geschehen in der
Gasse vor ihrem Laden. An einem runden Nussbaumtisch sitzt Bahar
Korcan und blättert in ihrem neuen Buch, das zu ihrer Kollektion
erschienen ist. Jeder Kollektion und manchmal jedem einzelnen Stück
legt sie ein Gedicht zugrunde. Sie schiebt das überwiegend
handgeschriebene Werk zur Seite.

Wir Istanbuler Designer haben unseren eigenen Stil, eine eigene
Philosophie. Wir sind zum Beispiel von dem islamischen Mystiker
Mevlana beeinflusst , aber auch von der Multikulturalität Istanbuls. Oder
nehmen Sie die Stoffe: Die kommen natürlich überwiegend aus der
Türkei.

Vor dem Schaufenster schiebt ein Altwarenhändler seinen Karren vorbei.
Bahar Korcan hätte in Frankreich Modedesign studieren oder für eine
japanische Kaufhauskette nach Tokio übersiedeln können. Doch sie ist
lieber in ihrer Heimatstadt geblieben, hat sich mit Kollegen zu einem
Verband der türkischen Modedesigner zusammengeschlossen und
geduldig gewartet auf den Durchbruch am Bosporus:

Das Interesse an Mode war in Istanbul schon immer sehr groß. Aus
anderen Städten des Landes – aus Izmir und Ankara – kamen die
modeinteressierten Frauen hierher um einzukaufen. Aber es gab keine
Organisation hinter der Mode, kein Marketing. Es gab ein paar
Industriemessen – das war alles. .. Die Textilindustrie hat jahrzehntelang
billige Massenware für das Ausland produziert. Dass es auch in der
Türkei kreative Designer gab, hat die nicht besonders interessiert. Erst
mit den Wirtschaftskrisen hat die Industrie gemerkt, dass sie mit anderen
Billigherstellern wie China nicht mehr mithalten können und angefangen
auf Qualität zu setzen. Ab dem Zeitpunkt wurden wir türkischen Designer
für sie interessant.

Korcan wirft ihre langen Locken über die Schulter und ihre Augen
beginnen angriffslustig zu funkeln, als sie sich erinnert, wie sie in
Düsseldorf und Paris belächelt wurde. „Bahar Korcan Istanbul“ – das
sollte klingen wie „Donna Karan New York“. Welche Anmassung! Doch
heute schaut niemand mehr auf Istanbul herab. Auf der Suche nach dem
kreativen Neuen geben sich die Modehäuser bei Korcan und anderen in
Galata die Klinke in die Hand. Und auch beim Shopping entwickelt sich

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die alte Metropole zur Konkurrentin von London und Paris, lächelt
Korcan:

Die zahlungskräftigen Haute Couture-Kunden von heute kommen aus
Russland, dem Nahen Osten und aus Asien. Und für diese Kundschaft
liegt Istanbul einfach näher als Paris oder London.

Die Geschichte der Textilproduktion am Bosporus reicht weit zurück:
mehr als 7000 Jahre alt sind die Flachsgewebe, die Archäologen in
Anatolien gefunden haben. Und das osmanische Reich war über
Jahrhunderte führend in Produktion und Handel von Teppichen und
Stoffen aller Art. Die geographischen Bedingungen dafür sind optimal:
Das feucht-heiße Klima im anatolischen Inland erlaubt den Anbau von
Baumwolle – die Türkei ist bis heute der sechstgrößte
Baumwollproduzent der Welt. Und die zentrale Lage zwischen
Mittelmeer und Schwarzem Meer machte Istanbul seit jeher zum
perfekten Ausgangspunkt für Handelsbeziehungen mit allen Kontinenten.
Die Handwerker profitierten vom Textilgeschäft: Spinnereien und
Färbereien, Webereien und Schneidereien entstanden in den
Hafenvierteln. Und auf dem großen Basar in Beyoglu kauften nicht nur
die Händler die Stoffe ein – wer etwas auf sich hielt, ging selbst zum
Markt, um die feinsten Tücher zu erwerben.
In seinem Familienepos „Verbotene Lieben“ hat der türkische
Schriftsteller Halit Ziya Usakligil die gesellschaftlichen Irrungen und
Wirrungen der Familie Melih Beys beschrieben im Istanbul Ende des 19.
Jahrhunderts – und die Mode der Damen spielt dabei eine wichtige
Rolle.

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Es waren eben die Mitglieder dieser Sippe, die seit einem halben
Jahrhundert die anregende und elegante Atmosphäre der
Vergnügungsorte prägten. Ihre Vorfahren hatten ihnen eine besondere
Fähigkeit vererbt, aufgrund derer sie immer zu den bestgekleideten
Frauen Istanbuls zählten. Zu einem natürlichen Stilempfinden
hatte sich allmählich bei allen Familienmitgliedern der unabweisbare
Wunsch nach Eleganz gesellt und noch verstärkt, und
sie hatten das Geheimnis der Mode entdeckt: Dieses richtete
sich nicht etwa nach einer besonderen Regel, sondern sie fanden
es nach reiflichen Überlegungen über die schwer zu befriedigenden
Launen der Mode heraus und hatten dabei eine ungewöhnliche
Kreativität entwickelt. Angefangen bei den intimsten
Kleidungsstücken bis zu ihren Gesichtsschleiern, der Farbe
ihrer Handschuhe und der Stickerei ihrer Taschentücher
herrschte ein höchst erlesener und außergewöhnlicher Geschmack,
der im Einklang mit seiner Schlichtheit die überaus
sorgfältig ausgeführten Handarbeiten ganz alltäglich erscheinen
ließ. Es war unmöglich, diese Schönheit nicht zu bemerken,
wenn man Firdevs Hanµm und ihren Töchtern gegenübertrat,
allein die Ursache hierfür blieb verborgen. Es waren eben die
hellgrauen Handschuhe mit den schwarzen Stickereien von
Pygmalyon, die bei Au Lion d’Or hergestellten Ziegenleder-
Knöpfstiefel und schwarzen Satinumhänge, wie sie auf den ersten
Blick jede Frau zu tragen schien … Doch diese scheinbar so
alltäglichen Accessoires waren von einer Eleganz, die diese
nebensächlichen Dinge mit einer ganz besonderen Aura
umgab. Sie hob sie aus dem Gewöhnlichen hervor und machte
sie zu herausragenden Dingen aus einer anderen Welt.

Was Eleganz ist, das ist in der türkischen Gesellschaft nicht nur eine
Frage des Geschmacks und des Geldbeutels, sondern auch des
Glaubens. Und vor allem die Damenmode ist in dem offiziell laizistischen
Staat auch eine Frage der Staatsräson. Immer wieder haben die
säkularen und religiösen Parteien darüber gestritten, ob Türkinnen an
der Universität ein Kopftuch tragen dürfen – obwohl bereits der
Staatsgründer Kemal Atatürk ein Kopftuchverbot für Staatsbeamte per
Verfassung festgeschrieben hatte. Und die Auftritte der Politikergattinnen
sind immer wieder Stoff für öffentliche Diskussionen darüber, wieviel
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Haut und wieviel modischen Mut eine türkische Frau zeigen sollte – ist
ihr doch vom Koran vorgeschrieben, Haar, Schultern und Beine zu
bedecken. Nach einer Umfrage der Zeitung Milliyet binden sich zwei
Drittel der Türkinnen Kopftücher zu den bodenlangen Gewändern, bevor
sie das Haus verlassen. Und die großen Bekleidungshersteller haben
ihre muslimischen Kundinnen schon allein aus kommerziellen Gründen
berücksichtigt. Doch auch die Designer exklusiver Damenmode spielen
gern mit den Kleiderordnungen, die angeblich im Koran festgelegt sind.
Und die erfolgreichsten unter ihnen zeigen, dass religiöse Tradition und
modische Extravaganz kein Widerspruch sein müssen.

Zunächst vermutet man hier den Eingang eines Nachtclubs. Eine
pechschwarze Hauswand, an der die mannshohe rosafarbene Silhouette
einer Frau in taillierter Abendrobe angebracht ist. Doch tatsächlich
verbirgt sich hinter der eisernen Eingangstür das Reich einer Frau, die
gerade erst in Amerika zu den weltweit einflussreichsten 500 Muslimen
gewählt worden ist. Eine Empfangsdame führt durch einen
Ausstellungsraum von der Größe einer Turnhalle, der von bunt
gekleideten Schaufensterpuppen bevölkert ist. Kurz darauf tritt aus
einem Nebenraum die Meisterin selbst: Die Modedesignerin Rabia
Yalcin. Sie trägt ein knöchellanges dunkelblaues Kleid mit gleichfarbiger
Jacke. Und auf dem Kopf ein einfarbig rotes Kopftuch, das keinen
Haaransatz erkennen lässt. Es ist um den Hals gewickelt und an den
Kanten modisch ausgefranst. Die 43jährige bittet an einen Tisch und
stellt dann freundlich lächelnd klar:

Ich sehe mich nicht als muslimische Designerin. Ich will nicht, dass mein
Glaube mit meiner Arbeit in Verbindung gebracht wird. Denn ich
entwerfe keinen Glauben, sondern Kleider. Ich will mit meiner Arbeit
etwas bewirken, nicht mit meinem Glauben. Ich bin zwar zu einem der
500 einflussreichsten Muslime gewählt worden – aber weltweit
einflussreich, nicht bloss unter Moslems.

Eine kopftuchtragende Designerin, die transparente Blusen, rückenfreie
Kleider und knappe Röcke entwirft – Rabia Yalcin hat auch im Ausland
für Furore gesorgt. Zu Yalcins Kunden gehören mittlerweile nahöstliche
Königshäuser genauso wie türkische Popstars. Auch aus Hollywood
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sollen schon Bestellungen eingegangen sein – doch über ihre Kundinnen
schweigt Yalcin beharrlich. Auch über Preise – doch unter 5000 Euro, so
wird gemunkelt, ist ein Kleid bei ihr nicht zu haben. Stolz zeigt sie auf
eine Trophäe, die in einer Wandnische thront. Die Stilisierung einer
perfekten weiblichen Körperform aus poliertem Edelstahl. 2008 bekam
Yalcin in New York diese Auszeichnung als talentierteste Designerin des
Jahres. „Schneiderin des Propheten“ nannten sie manche Zeitungen.
Yalcin setzt wieder ein nachsichtiges Lächeln auf und zeigt mit ihrem
manikürten Zeigefinger auf sich:

Ich bin ich, du bist du und er ist er. Jeden so akzeptieren und lieben wie
er ist und mit ihm die Welt teilen – das ist mein Motto. Ich bin Künstlerin
– ich tue das gleiche wie Rosa oder Helen. Herkunft und Religion sollten
keine Rolle spielen. In den vergangenen 15 Jahren haben sich manche
immer wieder gefragt, ob ich nicht in Wirklichkeit etwas anderes als nur
die Kunst verfolge. Aber inzwischen wird akzeptiert: es geht mir nur um
die Kunst.

Sie steht auf und geht mit durchgedrücktem Rücken auf eine ihrer
Schaufensterpuppen zu. Eine goldfarbene Wickelrobe mit tiefem
Ausschnitt, kurzen Rüschenärmeln und Strasssteinen.

Als ich dieses Kleid im Kopf entwarf, ging ich gerade durch den Louvre.
Da fiel mir auf, dass die Hofdamen früher nie ohne Schirm aus dem
Haus gingen. Darum habe ich hier an den Seiten Einstecktaschen für
Schirme angedeutet. Der Stoff ist reine Seide. Und die Honigfarbe passt
zu den blonden Frauen in Europa.

Rabia Yalcin hat lediglich die Grundschule absolviert. Sie trägt seit dem
14. Lebensjahr das Kopftuch und hat mit 17 geheiratet. Doch unterwürfig
zu Hause bleiben und die Kinder hüten – das wollte sie nie. Als Tochter
einer Schneiderin entdeckte sie schon früh ihre Liebe zur Mode. Ihre
ersten Kleider entwarf sie für sich selbst und ihre Bekannten. Zwischen
Kopftuch und Sex-Appeal besteht für Rabia Yalcin kein Widerspruch.
Auch wenn sie selbst niemals eines ihrer gewagten Kleider öffentlich
tragen würde.

Ich probiere die Kleider, die ich entwerfe, natürlich auch manchmal an.
Aber selbst kleide ich mich eher einfach. Und es ist ja auch so: In
meinem Land kann man eben nicht überall und jeder Gelegenheit
anziehen, was man möchte. Da gibt es Grenzen.

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Die Fingerspitzen gegeneinander gelegt schreitet Yalcin weiter an den
extravaganten Modellen vorbei. Hier lockere, durchsichtigen
Strickmustern an Schultern, Armen und Bauch, dort ein Dekolletee, das
bis zum Bauchnabel reicht. Yalcin findet nichts dabei. Zwar gebe es für
sie persönlich wegen ihres Glaubens klare Grenzen, was ihre Kleidung
in der Öffentlichkeit angehe. Aber wenn ihre Kundinnen mit gewagten
Kleidern aus dem Haus gehen wollten, sei das deren Entscheidung.
Doch streng islamischen Dresscode - türkisch: Tesettür – würde sie nie
entwerfen:

Da bleibt ja das Hauptteil, meistens ein weiter Mantel, immer gleich und
du kannst höchstens drei-vier Assessoirs ändern. Das ist keine Mode.
Mode ist das Einreißen von Gewohnheiten. Aber das Kopftuch bleibt bis
auf die Farbe immer gleich. Da kann man nichts ändern. Das nennt man
wohl zeitlose Mode (lacht).

Unnachahmlich war nicht ihre Kleidung, sondern ihre Art, sich zu kleiden.
Sie bildeten sich eine Meinung über das, was sie gesehen hatten,
und kombinierten Modelle, die ihnen hier oder da aufgefallen
waren, sodass sie aus zwei Mustern etwas erschufen, das
in seiner Eigenart alles andere übertraf. Die Mutter und ihre
beiden Töchter konnten sich stundenlang beraten und Argumente
über Argumente austauschen. Und stets beschlossen sie
ihre Debatten voller Freude, etwas Neues geschaffen zu haben,
und mit einem schöpferischen Sieg, der eine nie gesehene Kreation
hatte entstehen lassen. Manchmal hatten sie das Bedürfnis,
sich umzusehen. So fuhren sie, um sich inspirieren zu lassen –
mit einem drängenden Verlangen, wie ein Maler es verspürt,
der sich von der Wüste anregen lassen möchte –, nach Beyoglu
hinauf, um die kürzlich eingetroffenen Stoffe und die neuen
Kleider anzuschauen, die zwischen Tünel und Taksim getragen
wurden. Unter dem Vorwand, eine Kleinigkeit kaufen zu wol-
len, betraten sie die Läden und begutachteten schließlich viele
Stunden Berge von Stoffen. Was ihnen nicht gefiel, stießen sie
mit einer abwertenden Geste von sich oder lehnten es mit einem
geringschätzigen Blick aus den Augenwinkeln ab. Sie urteilten
über alles mit einer unvermittelten, doch untrüglichen Äußerung
ihres Geschmacks. Dann nahmen sie die von ihnen ausgewählten
Stoffe, die näherer Aufmerksamkeit und Begutachtung
würdig waren, knüllten sie mit zwei überaus geschickten Handgriffen
zusammen, warfen sie über den Ladentisch und studierten
gründlich die Auswirkungen dieser Behandlung. Sie verfügten
über ein treffsicheres Urteil, das keinen Widerspruch
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duldete, sodass man ihnen in den Läden mit der Art von Respekt
zuhörte, den Lehrlinge ihrem Meister zu erweisen haben.
Was sie kauften, was ihnen gefiel, erfuhr dadurch
eine besondere Auszeichnung, von der man gerne den
Kunden erzählte: »Gefällt Ihnen das nicht? Das hat kürzlich
den Damen aus Melih Beys Familie sehr zugesagt.« Und dies
war dann als dringende Empfehlung zu verstehen, die den Wert
eines Stoffes gleich erheblich steigerte.

Wie auf jedem Basar sind auch die Preise auf dem Weltmarkt abhängig
von Angebot und Nachfrage. Seit den 50er Jahren hatte sich die Türkei
zu einem der weltweit wichtigsten Produzenten und Materiallieferanten
für Stoffe und Textilien entwickelt. Und Anfang der 80er Jahre erlebte die
Textilindustrie nochmals einen Boom, als auch europäische
Modekonzerne begannen, ihre Kollektionen in der Türkei nähen zu
lassen: aus Stoffen, die in der Region hergestellt wurden, von Nähern
und Näherinnen, die auf eine lange Tradition im Schneiderhandwerk
bauen konnten. Zu Löhnen, weit unter dem europäischen Niveau.
Insgesamt machte die Textilwirtschaft Anfang des 21. Jahrhunderts ein
Zehntel des Bruttoinlandsproduktes aus und stellte jeden fünften
Arbeitsplatz. Doch dann kam der Einbruch: mit dem Ende des
Welttextilabkommens Anfang 2005 stürzte die umsatzstärkste
Wirtschaftsbranche des Landes in eine schwere Krise. Bis dahin durften
die Konkurrenten aus Asien nur begrenzte Mengen nach Europa und in
die USA exportieren – doch auf einen Schlag wurde der Weltmarkt mit
textiler Massenware regelrecht überschwemmt. Konkurrenzlos billig. Die
türkische Regierung reagierte prompt und halbierte die Mehrwertsteuer
auf Textil- und Lederwaren. Und der türkische Textil- und
Bekleidungsverband nahm einen Kurswechsel vor und setzt jetzt
zunehmend auf Klasse statt auf Masse. Auf eigenes Design und auf
eigene Marken. Und auf Nachwuchsförderung im kreativen Bereich: mit
einem jährlichen Wettbewerb für junge Modedesigner. Und mit einer
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eigenen Modeakademie, mitten in Istanbul.

Eine Frau mit übergroßer Sonnenbrille und drei Kleidertüten in der Hand
steigt vor einer Sushi-Bar in eine dunkle Limousine. Im Coffee-Shop
neben Armani nippen Angestellte nervös an ihrem Macchiato, während
sie in ihr Mobiltelefon tippen.
Eingeklemmt zwischen einem Boutiquencenter und einem Postamt liegt
der Eingang zu einer Villa. Einst gehörte der Bau einem osmanischen
Pascha, heute befindet sich hinter der automatischen Glastür die Mode-
Akademie Istanbul. Gleich im Eingang hängt ein Kalender mit den
weltweit wichtigsten Pret-a-Porter-Schauen – die Istanbuler Fashion
Days natürlich eingeschlossen.

Die Leiterin der Akademie, Oylum Isözen, tritt betont lässig auf: Jeans,
Stiefel, Strickjacke, ein paar graue Strähnen im glatten schwarzen Haar.
Erst zwei Jahre alt ist ihre Akademie, die Wände sind noch makellos
weiss. Isözen führt an einem Computerraum und einem Studio für Foto-
Shootings vorbei. Die türkische Textilindustrie wollte sich endlich von
den Design-Vorgaben ausländischer Auftraggeber emanzipieren. Und
auch die EU gab für die Idee einer eigenen türkischen
Modedesignschule ein paar Millionen Euro Zuschuß, berichtet sie.

Die türkische Textilindustrie ist sehr groß. Der Verband hat 17.000
Mitglieder. Da ist es für die Absolventen der Akademie nicht so
schwierig, einen Job zu finden. Das liegt auch daran, dass wir
versuchen, eine praxisbezogene Ausbildung anzubieten und dass wir mit
der Industrie eng zusammen arbeiten.

Im Unterrichtsraum hängt – wie in allen öffentlichen Gebäuden in der
Türkei – das Portrait von Kemal Atatürk. Diese Aufnahme jedoch zeigt
den Staatsgründer von seiner besonders eleganten Seite: Die Haare
sind mit Haarwasser glatt nach hinten gekämmt, seinen Maßanzug ziert
ein blütenweißes Einstecktuch. Die moderne politische Ausrichtung der
Türkei war immer auch in der Mode spürbar. Im Flur vor dem
Klassenzimmer hängen Zeitungsausschnitte und Fotos an der Wand, die
Leiterin Oylum Isözen zeigt auf die Abendroben und Damenhüte:

Das war eine Ausstellung der Kleider von Mevhibe Inönü, der Ehefrau
des zweiten Präsidenten der Türkei, Ismet Inönü. Wir wollten mit dieser
Ausstellung an die moderne Seite dieser Republik erinnern. Zu jener

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Zeit, vor 80 Jahren, waren ja fast alle Schneider und Hutmacher
Istanbuls Ausländer oder Angehörige christlicher Minderheiten. Mehr als
3000 Menschen haben diese Ausstellung besucht. Und sie haben drei
Bücher mit Anmerkungen und Erinnerungen hinterlassen. Viele haben
geweint. Wir wollten die Leute daran erinnern, woher wir kommen,
wessen Kinder wir eigentlich sind: Kinder dieser Republik.

Im Erdgeschoss lauschen fünf Schülerinnen ihrer Lehrerin. Sie tragen
lange Haare, die Fingernägel sind lackiert. Die Lehrerin hat einen
Pagenschnitt mit blonden Strähnen. Das Thema heute: Die Situation der
türkischen Textilindustrie und die Billigkonkurrenz aus Indien und
Fernost. Tugce Bayar macht sich Notizen in ihre Kladde. Die 22jährige
ist erst seit vier Monaten in Istanbul – eigentlich stammt sie aus Viersen
am Niederrhein. Statt einer Banklehre in Mönchengladbach entschied sie
sich für Mode im Land ihrer Eltern – und war überrascht:

Ich habe mir das eher altmodischer vorgestellt. Nicht so modern. Und die
ganzen Frauen sind sehr schick angezogen. OK, in Düsseldorf laufen
auch sehr schicke Frauen rum, aber in Istanbul hätte ich das jetzt nicht
gedacht. ... Auf dem Weg zur Schule morgens sehe ich ein großes
Plakat mit einer Frau, die ein Kopftuch trägt. Hier gibt es eben ganz
verschiedene Moden. In Nisantasi ist sie anders als in Taksim oder
Kadiköy. ... Istanbul ist sehr tolerant. Aber das habe ich erst gemerkt,
seit ich hier wohne.

Der Strukturwandel der türkischen Textilindustrie macht der Branche
zwar zu schaffen. Doch es gibt auch positive Aspekte – etwa für die
Arbeiter in den Zulieferbetrieben. Denn mit dem zunehmenden
Qualitätsbewußtsein verbessern sich auch ihre Arbeitsbedingungen,
etwa in den sogenannten Lohnveredlungsbetrieben. Mit diesem leicht
irreführenden Fachbegriff werden Fertigungsstätten bezeichnet, in denen
bereits genähte Produkte den letzten modischen Schliff erhalten – in der
Textilbranche bedeutet das etwa: das Aufkleben von Straßsteinen auf T-
Shirts. Oder: das Nachbleichen von Jeans. Die Arbeitsbedingungen in
diesen sogenannten Lohnveredelungsbetrieben sind meist miserabel

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und erinnern an modernes Sklaventum. Mit der Verlagerung der
Billigwarenproduktion nach China ist das Problem an sich zwar nicht
gelöst, sondern nur geographisch verschoben – doch zumindest die
Textilarbeiter in der Türkei können aufatmen. Diejenigen jedenfalls, die
überhaupt noch atmen können.

Tief inhalieren, 20 Minuten lang, vier Mal am Tag. Mehmet Basak sitzt
auf einem abgenutzten Sofa, das Atemgerät über Nase, Mund und
Schnurrbart gestülpt. Während er monoton ein- und ausatmet, starrt er
auf das brummende Inhaliergerät vor ihm auf dem Boden. Aus einer
Ecke des spärlich eingerichteten Wohnzimmers beobachten ihn stumm
zwei seiner Kinder. Mehmet Basak weiss: Diese Therapie wird ihm zwar
das Atmen etwas erleichtern. Aber retten wird sie ihn wohl nicht. Denn
für seine Krankheit gibt es keine Heilung.

Ich sterbe an Sand. In mir drin ist nichts als Sand. Und ich hasse die, die
uns das angetan haben.

Zehn Jahre lang, 6 Tage in der Woche und manchmal mehr als 15
Stunden am Tag hat der 38jährige Basak für einen Modetrend malocht:
Stonewashed Jeans. Mit seinen Kollegen hat Basak in einem
Hinterhofbetrieb Jeanshosen mit einem Sandstrahler bearbeitet, damit
sie das begehrte ausgebleichte Aussehen bekamen. Ohne
Atemschutzgerät und Versicherung setzen sich die Arbeiter für 200 Euro
Monatslohn den tödlichen Sandpartikeln aus. Dutzende Arbeiter sind
daran gestorben, hunderte leiden an dieser besonderen Art von
Staublunge.

Vergangene Woche ist mein Freund Erhan gestorben. Aus meinem
ehemaligen Betrieb sind es nun schon acht. Und wer übernimmt dafür
die Verantwortung?

Ein kleines Behandlungszimmer im Istanbuler Universitätsklinikum.
Mehmet Basak sitzt auf einer Liege, sein Hemd hat über den Kopf
gezogen. Die Haut spannt sich über seinen Rippen. Der Lungenfacharzt
Zeki Kilicaslan horcht mit dem Stetoskop in den kranken Körper hinein.
Gäbe es in Istanbul nicht Ärzte wie Kilicaslan, der die bislang
registrierten 700 lungenkranken Textilarbeiter unentgeltlich behandelt –
Mehmet Basak könnte sich von seinen 100 Euro Berufsunfähigkeitsrente

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keinen Arzt leisten. 15 Kilo hat er in den vergangenen Monaten verloren,
seine Lungenkapazität betrage nur noch 50 Prozent, konstatiert der
untersetzte Lungen-Professor nüchtern und zeigt auf ein Röntgenbild im
Lichtkasten vor ihm:

Hier im Bereich der Lunge lagern sich Minerale ab. Sie bilden ein
Gewebe, das zur Vernarbung der Lunge führt. Solch schwere Silikose
haben wir bislang nur bei Bergarbeitern gesehen. Die Türkei ist das
einzige Land, in dem es auch bei Textilarbeitern auftritt.

Nur mit Mühe kann sich Basak hinterher wieder das Hemd zuknöpfen.
Die Fahrt hierher zum Arzt hat ihm die letzten Kräfte gekostet:

Ich huste oft Blut und bekomme immer weniger Luft. Treppensteigen
schaffe ich kaum noch.

Mit den Röntgenbildern in der Hand tritt Mehmet Basak auf die Strasse.
Eigentlich verlässt er nur noch selten das Haus. Das erspart ihm den
Anblick gebleichter Jeans in den Auslagen der Boutiquen auf seinem
Weg. Dunkelblaue Jeans sieht man in den Geschäfte selten.
Verwaschen, das heißt: sandgestrahlt – ist auch am Bosporus schick.
Die Türkei ist der größte Hersteller von Jeans – doch welche Abnehmer
im Ausland an dem schmutzigen Geschäft mit der tödlichen Produktion
beteiligt waren, lässt sich schwer nachweisen.

In einem dunklen Büro der Türkischen Textilgewerkschaft sitzt Engin
Kaya und schreibt in einen kastenförmigen PC-Monitor Eingaben und
Petitionen an Partnergewerkschaften weltweit. Dem hageren
Gewerkschafter ist es zu verdanken. dass das Schicksal der kranken
Jeansarbeiter international bekannt wurde. Das ist erst ein Teilerfolg,
sagt er und schiebt sein dickes Brillengestell zurecht:

Die toten Arbeiter und die vielen Schwerkranken, die völlig mittellos sind,
sind eine Realität. Darum sollten sich endlich auch die Markenhersteller
im Ausland zu ihrer Mitverantwortung bekennen. Sie tun so, als hätten
sie damit nichts zu tun, bloss weil sie das Bleichen über ein Netz von
Subunternehmen abgewickelt haben. Sie sollten sich mit den
Betroffenen zusammensetzen und sich an einer Lösung beteiligen.

Kaya zieht unter einem Papierstapel ein paar Fotoabzüge hervor. Darauf
ist eine Gruppe entschlossen blickender Demonstranten zu erkennen,
die Plakate tragen, auf denen steht: „Jeans werden aufgehellt, unser
Leben wird verdunkelt“. Das war vor einem Jahr in der Hauptstadt
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Ankara. Kurz darauf ließ die Regierung diese Art der Textilbleichung per
Dekret verbieten. Doch im Verborgenen geht das Sandstrahlen weiter,
davon ist Kaya überzeugt.

Mehmet Basak geht noch einmal den Weg an einer Ausfallstrasse im
Stadtteil Bayrampasa entlang zu jener Fabrik, die ihn todkrank gemacht
hat. Inzwischen trägt der Betrieb einen anderen Namen. Und statt Jeans
werden hier nun angeblich Hemden genäht. Misstrauisch beobachten
vom Betriebshof aus zwei Aufseher den kranken Mann, der von der
anderen Straßenseite wütend zu ihnen hinüber schaut:

Eine Lastwagenladung voller Sand wurde hier jeden Tag weggefahren.
Und nun, nachdem wir an die Öffentlichkeit gegangen sind, ändern sie
ständig ihre Firmennamen. Wir haben auch für Markenjeans gearbeitet.
Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, ich habe sie doch mit dem
Sandstrahler bearbeitet! Und die stellen sich hin und sagen immer noch:
Stimmt nicht!

Zurück in der kargen Kellerwohnung der Basaks. Für die Miete der drei
Zimmer kommt ein Solidaritätskomitee auf. An der ansonsten leeren
Wand hängt der Kalender einer Krankenkasse mit idyllischen Fotos vom
anatolischen Landleben. Seinen ältesten Sohn hat Mehmet Basak von
der Schule genommen und in eine Fabrik geschickt. Der 16jährige muss
nun für den Unterhalt der achtköpfigen Familie aufkommen. Dabei waren
sie einst so voller Hoffnungen auf der Suche nach Glück und Arbeit aus
dem verarmten Südosten der Türkei in die Großstadt gekommen, flüstert
Zeynep Basak, während ihr die Tränen die Wangen herunterlaufen. Sie
schaut hinüber zu ihrem Mann:

Manchmal weiss ich nicht, wie wir überhaupt noch am Leben sind.

Es reicht! Ich will endlich sterben. Ich bin am Ende!

Der Jeansarbeiter Mehmet Basak, 38 Jahre alt, hat mit seiner Diagnose
noch ein Jahr zu Leben.

Ihre größte, an Zauber grenzende Geschicklichkeit bestand
darin, diese Art von Eleganz erstaunlich preisgünstig zu
erwerben. Die finanziellen Möglichkeiten der Familie ließen
ohnehin keine Abweichung von dieser Maxime zu. Bei den
Kleidern, die für die Ausflugsorte vorgesehen waren, spürten
sie das Bedürfnis nach wirkungsvoller Präsentation am stärksten.
Selbst dieses schlichte und begrenzte Umfeld eignete sich
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hervorragend, ihren eleganten Geschmack zur Geltung zu bringen:
So hatten sie erst heute in Kalender öffentlich neue Kleider
vorgeführt, und zum ersten Mal hatten sie etwas kreiert, das
man nur auf dem Boot tragen konnte. Diese Neuerung bestand
aus einer »Harmani« genannten Variation der Pelerine, die aus
weißem und lila Tüll geschneidert war und an einigen Stellen
von ebenfalls weißen und lila Bändern und Kordeln gehalten
wurde. Diese Pelerine reichte von den Schultern bis einige Finger
breit unter die Ellbogen. Über den Kopf hatten sie ein eng
anliegendes, langes Tuch aus feiner japanischer Seide gelegt.
Die Seiten waren nach dem Muster alter Stickereien mit zarter
weißer Seide eingefasst. Das Tuch hüllte ihre ganze Figur ein
und verbarg zum Teil die übersteigert zu nennende Pracht der
langen, weißen Seidentroddeln an den Rändern der Pelerinen,
die sie kritischen Blicken nicht aussetzen wollten. Man hätte
sich nun vorstellen können, dass ein Rock aus lila Taft die Pelerine
vervollständigt hätte. Sie trugen jedoch die Röcke, die sie
gewöhnlich zu Hause anzogen. Da es ein selbst entworfener Umhang
war, der sich von allen anderen unterscheiden sollte, hatte er hinten eine
Kapuze, an der eine seidene Quaste baumelte.

Die kreative Szene in Istanbul kann aus vielen Quellen schöpfen: aus
der Kultur des Orients und des Okzidents. Aus den internationalen
Kontakten über die Meere. Und: aus den Traditionen der vielen Völker
und Religionen, die sich im Laufe der Jahrhunderte in der Millionenstadt
am Bosporus niedergelassen und die Stadtteile in unterschiedlicher Art
geprägt haben. Wie in allen Metropolen sind es auch in Istanbul die
alten, etwas heruntergekommenen Viertel, in dem sich Künstler und
Kreative treffen. Im Galata-Viertel etwa, dem alten jüdischen Viertel
Istanbuls. In die schönen, aber zumeist heruntergekommenen
Jugendstilhäuser sind die eingezogen, die daran arbeiten, der türkischen
Identität ein neues Gesicht zu geben: Architekten und Galeristen,Möbel-,
Schmuck- und: Modedesigner.

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Im Istanbuler Hafenviertel Karaköy, unweit der Galata-Brücke, die sich
über das Goldene Horn spannt. Das Gassengewirr ist bekannt als das
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Istanbuler Werkzeugviertel. Auf Verkaufstischen und hinter
beschlagenen Schaufenstern türmen sich Kneifzangen,
Schraubenzieher, Badezimmerarmaturen, Vorhängeschlösser und
Schlagbohrmaschinen. Wieder und wieder zieht es die Schriftstellerin
Gönül Kivilcim hierher, weil hier einst das alte europäische Herz der
Stadt schlug. Die steilen Gassen, die sich den Hang hinauf bis zum
Galata-Turm winden, waren noch vor 50 Jahren fest in der Hand der
türkischen Juden. Die 46jährige bleibt vor den Stufen einer bogenförmig
geschwungenen Sandsteintreppe stehen:

Diese wunderschön geschwungene Treppe ist die so genannte
Kamondo Treppe. Wahrscheinlich wurde sie von der Familie Kamondo
Anfang des vorigen Jahrhunderts in Auftrag gegeben. Kamondo war eine
jüdische Bankiersfamilie, die den osmanischen Staat mit Krediten über
Wasser gehalten hat. Außer der Treppe gibt es noch einen Gewerbehof
und ein Wohnhaus mit dem Namen Kamondo.

Gönül Kivilcim kennt sich aus: sie hat ein ganzes Buch über Karaköy
geschrieben. Pünktlich zum Jahr der Europäischen Kulturhauptstadt
haben sich Istanbuls Schriftsteller in einer Buchreihe den vergessenen
Winkeln der Millionen-Metropole gewidmet:

Heute leben noch 25 tausend Juden in Đstanbul und wenn man in
Karaköy spazieren geht kann man überall Spuren von ihnen finden. Hier
in der Nähe gab es zum Beispiel bis vor kurzem eine Bäckerei, in der
einmal im Jahr ungesäuerter Teig hergestellt wurde. Letztes Jahr wurde
dort nicht produziert, angeblich weil die Geräte dafür kaputt sind. Aber
wahrscheinlich ist der Grund, dass es hier immer weniger Juden gibt.

Eine stark ansteigende Strasse führt hinauf zum Galataturm. Der einst
höchste Punkt der genuesischen Befestigung ist heute das Wahrzeichen
des Stadtteils Karaköy - oder Galata, wie er meistens genannt wird.

Gleich neben einer billigen Garküche, aus der Gerüche von schweren
Bohnengerichten wabern, verkauft Müge Konuralp in einem Kellerladen
traditionelle türkische Badeassesoirs. Handgewebte Baumwolltücher für
den Hamambesuch, Frotteebademäntel, Seife aus Olivenöl. Der bis in
den letzten Winkel ausgeleuchtete Raum mit seinen hellen Kieferregalen
erinnert an skandinavisches Design. Einen ersten Laden habe sie bereits
in Bodrum an der türkischen Riviera eröffnet, berichtet die
Ladenbesitzerin mit den feuerroten Haaren. In Istanbul sei die Wahl
spontan auf Galata gefallen.

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Hier haben wir das gefunden, was die Europäische Kulturhauptstadt
Istanbul 2010 ausmacht: Ein historisches Viertel, das behutsam
restauriert wird, neues Leben bekommt und das gleichzeitig auch von
vielen Touristen besucht wird, die ja unsere Hauptkunden sind.

Zu verkaufen steht über den Fensterhöhlen eines leerstehenden alten
Hauses. Daneben ein Ladeneingang mit der Schrift „Idea Engineering“.
Drinnen unverputzte Wände und ein fünf Meter langer gefliester Tisch,
an dem man probieren kann, was in einem angrenzenden „Food Lab“
gekocht wird. An den hinteren Teil des Raums grenzt ein Kleider-Laden.
Hier können junge türkische Modemacher, die sich keine eigene
Boutique leisten können, für ein paar Monate ihre Kreationen zeigen,
erklärt eine junge Frau mit Kapuzenpullover und lässig hochgesteckten
Haaren:

In dieses Viertel kommen Leute, die ein wenig Abenteuer suchen und
schon mal in Europa gelebt haben. Die kommen nach Galata, weil hier
die historische Substanz erhalten ist. Hier lockt die Kombination von
altem Istanbul und neuen Trends. Unsere Besucher sagen immer, dass
sie sich hier fühlen wie in Soho, Paris oder Mailand. Diese Atmosphäre
mögen sie.

Zurück in den noch nicht so hippen unteren Teil Karaköys, dem wilden
Metall- und Werkzeugviertel am Goldenen Horn, über das Gönül Kivilcim
geschrieben hat. Die Schriftstellerin steckt hier und da ihren schwarzen
Lockenkopf in die Läden und grüsst die meist mürrisch drein blickenden
Männer. Frauen sind hier sonst nicht zu sehen. Sie geht eine alte
Hauswand aus Ziegeln und behauenem Kalkstein entlang, von den
Jahrhunderten angefressen. Ein niedriger Torbogen führt in ein
dämmriges Innere. Dahinter öffnet sich ein überdachter Hof, drei
Stockwerke hoch, vor den kleinen Läden hängen Blechschilder, die
verraten, was sich hinter den Türen verbirgt: Ayhan bietet
Schweissarbeiten an, ein Mann namens Kadir Pumpen und ein
namenloses Büro „Handel aller Art“.

Inzwischen hat die Bedeutung von Karaköy durch Đnternethandel und
grosse Bauhäuser abgenommen. Aber immer noch findet man hier alles:
 Reifen, Nägel, Gartenschläuche, Waschbecken und Fenstergriffe. Die
meisten dieser Läden sind vom Zwangsumzug bedroht, denn die
Stadtverwaltung möchte dieses Viertel in ein Touristenviertel
verwandeln… Dagegen gibt es Widerstand seit fast zehn Jahren.
Hoffentlich halten sie durch!
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Von Kopftuch bis Fuß. Türkische Mode erobert die Laufstege. Das waren
Gesichter Europas an diesem Samstag. Mit Reportagen von Gunnar
Köhne aus Istanbul. Die Literaturpassagen entnahmen wir dem Roman
„Verbotene Lieben“ von Halit Ziya Usakligil. Und im Namen des ganzen
Teams verabschiedet sich am Mikrophon Simonetta Dibbern.

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