Wahlen und Weichenstellungen in Lateinamerika 2018 - Eine länderspezifische Analyse

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Wahlen und Weichenstellungen in Lateinamerika 2018 - Eine länderspezifische Analyse
Wahlen und
Weichenstellungen
in Lateinamerika 2018
Eine länderspezifische Analyse

               österreichisches
               LateinAmerika-Institut
Autor_innen
Dr.in Josefina Echavarría ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Friedens- und Konfliktstudien
und Ko-Leiterin des Forschungszentrums für Frieden und Konflikt - InnPeace - an der Univer-
sität Innsbruck. Echavarría ist Expertin für Friedenserziehung, Citizenship und Versöhnung
sowie Gastlehrende an der Universität Jena und Visiting Professor am Trinity College Dublin.
Darüber hinaus ist sie in zahlreichen internationalen Forschungsprojekten tätig. Seit Oktober
2017 ist sie Vorstandsmitglied des LAI.
Dr.in Julia Harnoncourt lehrt am Institut für Geschichte der Universität Wien. Sie ist Autorin
zweier Bücher und mehrerer Artikel. In ihren wissenschaftlichen Arbeiten befasst sie sich vor
allem mit globalen Ungleichheitssystemen. In ihrem neuesten Werk, das auf einer Feldstudie
und Expert_inneninterviews beruht, befasst sie sich mit unfreier Arbeit im Norden Brasiliens.
Dr. Berthold Molden lehrt Globalgeschichte an der Universität Wien. Sein Forschungsschwer-
punkt sind die Beziehungen zwischen Lateinamerika, USA und Europa seit der Mitte des 20.
Jahrhunderts. Molden hat u.a. an der Sorbonne, der University of Chicago und den Universitä-
ten von Toulouse und New Orleans gelehrt. Seit Oktober 2017 ist er Vorstandsmitglied des LAI.

                                                                    Impressum
                                                                                 Herausgeberin
                                               Institut für Politikwissenschaft, Universität Wien
                               in Kooperation mit dem Österreichischen Lateinamerika-Institut

                                                                 Verantwortlich für den Inhalt
                          Dr.in Josefina Echavarría, Dr.in Julia Harnoncourt, Dr. Berthold Molden

                                          © Institut für Politikwissenschaft, Wien, Februar 2019
Inhalt
Vorwort.......................................................................................................... 4

Zusammenfassung – Resumen – Summary............................................... 5

Einleitung....................................................................................................... 7
   Quellenverzeichnis...................................................................................................................................................11

Brasilien – Wahljahr 2018........................................................................... 12
   PT-Regierung und Impeachment................................................................................................................12
   Kandidaturen und Wahl 2018.........................................................................................................................14
   Die Regierung Bolsonaro – Ein Ausblick..............................................................................................17
   Brasilien im Überblick...........................................................................................................................................18
   Quellenverzeichnis.................................................................................................................................................20
   Abkürzungsverzeichnis.......................................................................................................................................21

Wahlen und Weichenstellungen in Kolumbien...................................... 23
   Welcher Frieden wird angestrebt? ........................................................................................................25
   Die Regierung Duque – Ein Ausblick......................................................................................................28
   Kolumbien im Überblick....................................................................................................................................29
   Quellenverzeichnis.................................................................................................................................................30
   Abkürzungsverzeichnis......................................................................................................................................32

Linksnationalistische Wende in Mexiko.................................................. 33
   Ein historischer Wahlkampf............................................................................................................................ 33
   Korruption, Gewalt und indigene Armut als innenpolitische Bruchlinien............35
   Internationale Koordinaten: USA, EU und China......................................................................... 37
   Mexiko im Überblick.............................................................................................................................................39
   Quellenverzeichnis................................................................................................................................................ 40
   Abkürzungsverzeichnis.......................................................................................................................................41

Conclusio...................................................................................................... 43
   Quellenverzeichnis................................................................................................................................................ 44
Wahlen und Weichenstellungen in Lateinamerika 2018

Vorwort
Zu Lateinamerika gibt es in Österreich wenig Wissen. Die Berichterstattung in den Medien
beschränkt sich weitgehend auf politische Skandale oder Naturkatastrophen und an den
österreichischen Universitäten ist die Region unterrepräsentiert. Gleichwohl gibt es wichtige
Ausnahmen von Journalist_innen, die immer wieder Hintergründe und Einschätzungen liefern,
und Forscher_innen verschiedener Wissenschaftsfelder, die mit großer Expertise und analyti-
schem Tiefgang zu Lateinamerika arbeiten.
Die vorliegende Studie verbindet aktuellen Anlass und profunde Analyse, um bei einer brei-
teren Öffentlichkeit das Grundverständnis für diese Weltregion auszubauen. Sie widmet sich
dem „Superwahljahr 2018“ in Lateinamerika und stellt die zentralen politischen Entwicklungen
und Konflikte in Brasilien, Kolumbien und Mexiko dar. Das ist in einem kurzen Papier, das über
den Kreis der Wissenschaft hinaus gelesen werden soll, kein leichtes Unterfangen. Doch mit
ihrer ausgezeichneten Kenntnis der jeweiligen Situation und der Fähigkeit, die wichtigsten
Aspekte hervorzuheben, gelingt es den Verfasser_innen, einen detaillierten Einblick in die
Wahlkämpfe selbst und ihre jeweiligen historischen und gesellschaftspolitischen Kontexte zu
vermitteln. Gleichzeitig wird dargestellt, welche Konsequenzen diese Schlüsselkonflikte für
die internationale Politik haben könnten.
Ich danke sehr herzlich den Autor_innen der Studie – Dr.in Josefina Echavarría, Dr.in Julia
Harnoncourt und Dr. Berthold Molden – für ihre inhaltlich vielschichtige und sehr gut lesbare
Analyse sowie dem Vorstand des Österreichischen Lateinamerika-Instituts und dessen Ge-
schäftsführerin Mag.a Andrea Eberl, auf deren Initiative sie verfasst und inhaltlich begleitet
wurde. Finanziert wurde sie von der Forschungsgruppe Lateinamerika an der Universität
Wien, die wiederum in einem zweijährigen Projekt von November 2017 bis Oktober 2019 vom
Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung die finanziellen Mittel erhält.
Damit soll das Thema Lateinamerika wissenschaftlich stärker in Österreich verankert werden.
Wir hoffen, dass die erfreulich dynamische Gruppe mit einem wachsenden Umfeld mittelfris-
tig eine Perspektive erhält.
                                                                           Wien, im Jänner 2019

Ulrich Brand, Professor für Internationale Politik an der Universität Wien und wissenschaftli-
cher Koordinator der Forschungsgruppe Lateinamerika.

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Wahlen und Weichenstellungen in Lateinamerika 2018

Zusammenfassung
Das sogenannte „Superwahljahr 2018“ brachte Lateinamerika zahlreiche Wahlen und Volksab-
stimmungen. Vor allem die Regierungs-, Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Brasilien,
Costa Rica, Kolumbien, Kuba, Mexiko, Paraguay und Venezuela waren richtungsweisende
Ereignisse, die entscheidende Fragen aufwerfen. Welche wirtschaftlichen und politischen
Weichen wurden hier gestellt? Dies betrifft sowohl die Entwicklungen innerhalb der Region,
als auch weltpolitisch, insbesondere gegenüber dem Nachbarn USA, aber auch vis-à-vis der
EU und China. Unsere Studie greift den Gesamtkontext des lateinamerikanischen Wahljahres
auf und präsentiert mit Brasilien, Kolumbien und Mexiko – drei der wichtigsten Staaten der
Region im Detail. Diese Fallstudien erlauben es zudem, unterschiedliche Herausforderungen
in den Blick zu nehmen: Korruptionsbekämpfung, Drogenkriege und organisierte Kriminalität,
Transitionsprozesse nach Bürgerkriegen, Arbeitskämpfe und die Auseinandersetzungen sozi-
aler Bewegungen, ethnische Beziehungen, Populismus rechts und links des politischen Zen-
trums sowie spezifische außenpolitische Aufstellungen. Erklärt werden jeweils die politische
Ausgangslage, die Wahlvorgänge selbst und die wahrscheinlichen Konsequenzen der neuen
Machtkonstellationen. In einem Anhang werden Schlüsselbegriffe und -personen präsentiert.

Resumen
Durante el así-llamado „súper año de elecciones“ 2018, se vivieron numerosos comicios y refe-
rendos en América Latina. Las elecciones presidenciales, provinciales y parlamentarias en Brasil,
Costa Rica, Colombia, Cuba, México, Paraguay y Venezuela, en particular, fueron eventos cen-
trales que ponen de manifiesto una serie de preguntas cruciales. ¿Cuáles son los rumbos econó-
micos y políticos que se trazan en estos países, en la región y en términos geopolíticos? ¿Qué
caminos y cursos se divisan en relación con Estados Unidos como vecino regional poderoso y
vis-a-vis la Unión Europea y China? Nuestro estudio toma el contexto general del año de elec-
ciones en América Latina y echa una mirada detallada a lo sucedido en Brasil, Colombia y Mé-
xico, tres de los Estados más importantes en la región. Adicionalmente, estos casos de estudio
permiten enfocarse en diferentes retos: la lucha contra la corrupción, la guerra contra las dro-
gas y el crimen organizado, transiciones tras la guerra civil, las luchas laborales y de los movi-
mientos sociales, las relaciones interétnicas, el populismo de izquierda y el centro y la derecha
políticas, así como configuraciones específicas de política exterior. En cada caso, presentamos
la situación política inicial, los procesos de elecciones como tal y las posibles consecuencias de
las nuevas constelaciones de poder. El apéndice presenta términos y protagonistas claves.

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Wahlen und Weichenstellungen in Lateinamerika 2018

Summary
During the so-called „super election year” of 2018, Latin America saw numerous elections and
important referenda. The governmental, presidential and parliamentary elections in Brazil,
Costa Rica, Columbia, Cuba, Mexico, Paraguay, and Venezuela, in particular, were landmark
events that raise significant questions. Which economic and political courses were set in
these countries? Both within the region and in geopolitical terms? Which paths are taken in
the relationship with the USA as a powerful regional neighbor as well as vis-à-vis the EU and
China? Our study takes up the general context of the Latin American election year and casts
a detailed look on Brazil, Columbia, and México, three of the region’s most important states.
Moreover, these case studies allow focusing on different challenges: the fight against cor-
ruption, drug wars and organized crime, transitions after civil war, the labor disputes and the
struggles of social movements, interethnic relations, populism left and right of the political
center as well as specific foreign policy configurations. In each case, we present the initial po-
litical situation, the election processes as such, and probable consequences of the new power
constellations. An appendix presents key terms and protagonists.

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Wahlen und Weichenstellungen in Lateinamerika 2018

Einleitung
2018 brachte in vielen Länder Lateinamerikas – und darunter einigen der größten und einfluss-
reichsten – Präsidentschafts-, Parlaments- und Regionalwahlen. Schon vor Anbruch des Jahres
waren Wendeszenarien prognostiziert worden. Nach dem Ende der Diktaturen des Kalten
Krieges und dem kaum gebremsten Neoliberalismus im Zeichen des „Washington Consensus“,
erlebte die Region zunächst eine Welle linker bzw. progressiver Politik1 in Venezuela, Bolivien,
Argentinien, Chile, Brasilien und zahlreichen anderen Staaten. Zahlreiche Regierungen traten
mit dem Versprechen ökonomischer Souveränität, einer solidarischen Wirtschaft, von Ge-
rechtigkeit und der politischen Inklusion von Minderheiten an. Die Ergebnisse dieser Politiken
und Wirtschaftsmodelle waren freilich gemischt. Der Fall Venezuelas zeigt zudem, wie ein
linker Diskurs auch autoritäre Tendenzen mit der Forderung nach Gleichheit verbinden kann,
ohne dabei wirtschaftliche Krisen und fortgesetzte Ungleichheit zu verhindern. Aus Venezuela
emigrierte über eine Million Menschen, und auch aus den von Armut, Gewalt, Korruption und
autoritärem Demokratieverständnis gezeichneten nördlichen Ländern Zentralamerikas ziehen
Abertausende nach Norden.
Auch die außergewöhnliche Dichte der Volksabstimmungen und Wahlen machten das Jahr
2018 in Lateinamerika zum sogenannten „Superwahljahr“. Sechs Präsidentschaftswahlen, Par-
laments-, Regional- und Lokalwahlen in elf Ländern, dazu mehrere Volksabstimmungen und
andere Referenden sowie die indirekte Wahl der ersten Präsidentin von Trinidad und Tobago
fielen in dieses Kalenderjahr. Erweitert man den zeitlichen Fokus ein wenig, so wird 2018 zum
Höhepunkt eines noch eindrucksvolleren Zyklus. In Chile und Honduras war bereits 2017 ge-
wählt worden und 2019 stehen Wahlen in vier zentralamerikanischen, drei südamerikanischen
und drei karibischen Staaten bevor. Dies bringt der Region 14 Präsidentschaftswahlen in nur
zwei Jahren.
In Chile gewann im November 2017 der rechtszentristische Ökonom Sebastián Piñera die
Wahlen und löste die Sozialdemokratin Michelle Bachelet an der Präsidentschaft ab; die
beiden hatten einander schon zweimal die Macht übergeben und wechselten somit seit 2006
alternierend das Amt. Mit Bachelet trat nach der Argentinierin Christina Fernández de Kirch-
ner (2015) und Dilma Rousseff (2016) die letzte Frau an der Spitze eines großen lateinamerika-
nischen Landes ab. Alle drei führten linke Regierungen an und mussten Konservativen Platz

1   Der aus den liberalen Revolutionen ab 1848 stammende Begriff des Progressivismus wird in Lateinamerika
    letzthin vermehrt von Parteien verwendet, die sich zwar dem politisch linken Spektrum zurechnen, sich
    aber von marxistischen Regierungen – wie etwa in Venezuela – oder von marxistischen Strömungen – wie
    in Kolumbien – abgrenzen wollen. Dem Selbstverständnis solcher „progressiven“ Gruppen sind meist auch
    ökologische Anliegen implizit, die im traditionellen Verständnis von „links“ nicht selbstverständlich waren.

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Wahlen und Weichenstellungen in Lateinamerika 2018

machen. Eine Woche nach Chile fanden auch in Honduras Präsidentschaftswahlen statt, deren
Gültigkeit jedoch von der Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) in Frage gestellt
wurde. Der regierende Präsident Juan Orlando Hernández verblieb letztlich im Amt und ver-
längert damit die Regierungsperiode des Partido Nacional, der nach dem Staatsstreich von
2009 an die Macht kam.
Diese beiden Präsidentschaftswahlen gegen Ende des Jahres 2017 zeigten bereits einen Trend
an, der sich 2018 zumindest teilweise fortsetzen sollte: die Schwächung der regionalen He-
gemonie linker und linkszentristischer Parteien. In zwei der drei regionalen Großmächten,
die 2018 wählten, gewannen rechte Kandidaten: Jair Bolsonaro in Brasilien – der die ehemals
mächtige, doch nunmehr angeschlagene Arbeiter_innenpartei vom Platz wies – und Iván
Duque Márquez in Kolumbien. In Mexiko allerdings siegte der Linksnationalist Andrés Manuel
López Obrador. In Paraguay machte Mario Abdo Benítez für die Colorados das Rennen und
verlängerte die seit 1948 fast ununterbrochene Herrschaft der Rechten in diesem Land. In
Costa Rica wiederum bescherte der Sieg von Carlos Alvarado Quesada dem gemäßigt linken
Partido Acción Ciudadano eine zweite Regierungsperiode.
Die Wahlen in Venezuela und Kuba brachten keine Überraschungen, sondern bestätigten den
Amtsinhaber beziehungsweise die parlamentarischen Machtverhältnisse. Die vorgezogene
Neuwahl im Mai, aus der Nicolas Maduro erneut als Präsident Venezuelas hervorging, wur-
de von der UNO, der EU und den USA wegen zahlreicher Irregularitäten nicht anerkannt. Der
Europäische Rat forderte neue Präsidentschaftswahlen und drohte „restriktive Maßnahmen“
an (Europäischer Rat 2018). Seither blockiert das europäische Verhältnis zu Venezuela die
Vorbereitung des nächsten EU-CELAC-Gipfels. In Kuba wiederum bestimmte die im März neu
konstituierte Nationalversammlung Miguel Mario Díaz-Canel Bermúdez zum Nachfolger Raúl
Castros als kubanischer Präsident. Díaz-Canel trat sein Amt im April an.
Die Ergebnisse des Superwahljahres perpetuierten also im kubanischen Einparteienregime
und im linksrevolutionär regierten Venezuela noch einmal die zunehmend fragilen Verhält-
nisse, wenn auch gegen Protest aus den USA, der EU und manch lateinamerikanischem Land.
Während auch im Fall von Honduras die Legitimität der Wahlergebnisse als zweifelhaft gilt,
wurde in den übrigen Ländern die Einhaltung der Formalkriterien demokratischer Wahlprozes-
se von internationalen Beobachtern bestätigt. Dabei ist in Rechnung zu ziehen, dass im Zuge
der Wahlkämpfe nicht nur „dirty campaigning“ und insbesondere Verleumdungskampagnen
(Stichwort „fake news“) zum Einsatz kamen, sondern auch zahlreiche politisch motivierte Mor-
de zu registrieren waren. Dessen – und Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe und den
Auszählungen – ungeachtet erhielten die meisten Wahlprozesse das Gütesiegel internationa-
ler Organisationen wie OAS (Organisation Amerikanischer Staaten).

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Wahlen und Weichenstellungen in Lateinamerika 2018

Diese formal teilweise fragwürdigen Wahlen spielten sich zudem in sowohl innen- wie außen-
politisch instabilen Kontexten ab. Außenpolitisch trugen das schwer vorhersagbare Verhal-
ten der USA unter Trump, die offensive Handels- und Investitionspolitik Chinas und mitunter
wechselhafte Preisentwicklungen lateinamerikanischer Exportgüter zur Destabilisierung bei.
Zudem werden eine weiterhin mangelnde ökonomische Integration innerhalb Lateinamerikas
und ein stagnierender Anteil der Region am weltweiten Handel konstatiert. Für die meisten
Ländern wurden geringe Produktionsniveaus und die sogenannte „middle income trap“–
steigende Löhne bei geringen Investitionen, niedrigem Diversifikationsgrad der industriellen
Produktion und schlecht ausgebildeten Arbeitskräften – nicht nur für den Verlust an Wettbe-
werbsfähigkeit verantwortlich gemacht, sondern auch für das schwindende Vertrauen vieler
Lateinamerikaner_innen in ihre Regierungen und staatlichen Institutionen (OECD 2018). Innen-
politisch befinden sich mehrere der Länder, in denen 2018 gewählt wurde, in teils anhaltenden
Krisenzuständen. In Venezuela kämpft die Opposition fundamental gegen die als undemokra-
tisch empfundene bolivarische Regierung. Im von Korruption gezeichneten Mexiko tobt seit
Jahren nicht nur ein Drogenkrieg, sondern systematische Gewalt gegen Frauen, Journalist_in-
nen und politische Oppositionelle. In Kolumbien stehen nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg
verschiedene vom umstrittenen Ex-Präsidenten Álvaro Uribe ausgehende Parteien in einem
komplizierten Friedensprozess der ehemaligen Guerilla und linken Parteien gegenüber. In Bra-
silien wird den Spitzenfunktionär_innen der jahrelang wegen ihrer Sozialreformen umjubelten
Arbeiter_innenpartei buchstäblich der Prozess gemacht. In Honduras wird seit dem Umsturz
von 2009 die Macht der Nationalen Partei mit allen Mitteln verlängert.
Vor diesem Hintergrund, der durch teils besorgniserregende ökonomische Entwicklungen
noch verschärft wird, nimmt die Volatilität der Wähler_innen zu. In manchen Ländern – etwa
in Kolumbien und Mexiko – bemühten sich dutzende Parteien um Parlamentssitze und teils
auch um die Präsidentschaft. Traditionell ausgegrenzte Sektoren – wie etwa die Indigenen
Mexikos oder marginalisierte Landarbeiter_innen in Brasilien – blieben dabei meist erfolglos.
Der bereits erwähnte Vertrauensverlust in politische Institutionen grassiert in ganz Latein-
amerika: Nur 22% der Bürger_innen haben Vertrauen in ihre jeweilige Regierung, 21% in das
Parlament, 13% in politische Parteien, 24% in die Justiz – die Tendenz ist in allen Ländern
fallend. Dafür vertrauen immerhin 35% der Polizei, 44% der Armee und 63% der Katholischen
Kirche (Latinobarómetro 2018: 55). Angesichts dieser Verschiebungen erodieren bisher beste-
hende politische Loyalitäten zu eingeführten Parteien und viele Wähler_innen vertrauen neu-
en Gruppierungen, oft unter der Führung selbsternannter „Retter der Nation“. So entstehen
neue Machtkonstellationen, die Prognosen schwierig machen. Erratische Radikale gelangen
scheinbar überraschend an die Regierungsspitze – wie es ja auch in den USA zu beobachten
war.

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Wahlen und Weichenstellungen in Lateinamerika 2018

In diesem Zusammenhang ist der sinkende Wert, den Lateinamerikaner_innen der Demokratie
an sich zumessen, besorgniserregend. In manchen Ländern – mit Guatemala an der traurigen
Spitze – hält weniger als die Hälfte der Bevölkerung die Demokratie für die beste Regierungs-
form (Cohen et al. 2017: 5). In Lateinamerika insgesamt unterstützen nur 48% der Bevölkerung
die Demokratie als beste Regierungsform, auch wenn nur 15% explizit eine autoritäre Führung
wünschen (Latinobarómetro 2018: 16–18). Insbesondere für die vom ökonomischen Wachstum
zu wenig begünstigten Mittelschichten machte dies die Urnengänge von 2018 zu „Wahlen
des Zorns“ (Zovatto et al. 2018). Die Wahlsiege des rechten, mit militärdiktatorischen Plänen
liebäugelnden Jair Bolsonaro in Brasilien und des Linksnationalisten Andrés Manuel López Ob-
rador, der sich mitttels unseliger Begriffe aus dem Kalten Krieg um die Wiederherstellung der
„inneren Sicherheit“ bemüht, haben den Kontinent zutiefst bewegt.
Wir haben drei der wichtigsten Staaten der Region als Fallbeispiele ausgewählt, um diese
zentralen Problemfelder lateinamerikanischer Demokratieentwicklung im Zusammenhang mit
den Richtungswahlen von 2018 zu erklären und mögliche künftige Entwicklungen in wirt-
schaftlicher und weltpolitischer Hinsicht aufzuzeigen: Brasilien, Kolumbien und Mexiko.
Jedes dieser Länder erlaubt, eine bestimmte Dimension der lateinamerikanischen Herausfor-
derungen in den Blick zu nehmen: Arbeitskämpfe und politisch instrumentalisierte Korrupti-
onsskandale in Brasilien; Friedensabkommen und Nachkriegsspannungen in Kolumbien sowie
der Kampf gegen Gewalt und Korruption in Mexiko, wo außerdem die Transformation der
traditionellen Parteienlandschaft besonders deutlich wird. Diese drei Länder repräsentieren
zudem Schlüsselregionen innerhalb Lateinamerikas und erlauben, die Wechselwirkungen zu
ihren Nachbarländern ebenso wie zu globalen Partnern zu berücksichtigen. Die Analyse der
lateinamerikanischen Wahlen und ihrer politischen und ökonomischen Auswirkungen bedür-
fen eines transnationalen und globalen Blicks und müssen die Verhältnisse zu den USA, der EU
und China ebenso miteinbeziehen wie die unterschiedlichen Bündnisse von Nationen inner-
halb der Region sowie transnationale Bewegungen indigener Völker, von Migrant_innen oder
sozialen Bewegungen, und schließlich die Verbreitung rechter und rechtsextremer Strategien
politischer Hegemoniebildung unter Einbindung nationaler Mittelschichten.

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Wahlen und Weichenstellungen in Lateinamerika 2018

Quellenverzeichnis
Cohen, Mollie, Noam Lupu und Elizabeth Zechmeister (2017): The Political Culture of Democra-
      cy in the Americas, 2016/17. A Comparative Study of Democacy and Governance. Nash-
      ville: Vanderbilt University.
Europäischer Rat (2018): Venezuela – Rat nimmt Schlussfolgerungen an. Pressemitteilung.
      12.5.2018. https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2018/05/28/vene-
      zuela-council-adopts-conclusions/ (abgerufen am 20.1.2019).
Latinobarómetro (2018): Informe 2018. http://www.latinobarometro.org/lat.jsp (abgerufen am
      4.12.2018).
OECD (2018): Latin American Economic Outlook 2018. Rethinking Institutions for Development.
      Paris: OECD Publishing.
Zovatto, Daniel, Ignacio Arana Araya, Nastassja Rojas Silva, Víctor M. Mijares, Viviana García
      Pinzón und Liliana Rocío Duarte-Recalde (2018): El gran ciclo electoral latinoamericano /
      The Big Latin American Election Cycle. In: Iberoamericana, XVI/69, 227–254.

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Wahlen und Weichenstellungen in Lateinamerika 2018

Brasilien – Wahljahr 2018
Am 28.9.2018 wurde in Brasilien der rechtsextreme Präsidentschaftskandidat Jair Bolsona-
ro (Partido Social Liberal, PSL) gewählt, dessen Politik schwer einzuschätzen ist. Bolsonaros
Wahlkampf war durch ähnliche Strategien wie jene Donald Trumps geprägt. Wie kam es zu
der Wahl eines solchen Präsidenten? Was könnte sich unter der Bolsonaro-Regierung ändern?
Und wie wird sich Bolsonaro global positionieren?

PT-Regierung und Impeachment
2003 wurde Luiz Inácio Lula da Silva von der Arbeiter_innenpartei (Partido dos Trabalhadores
- PT), ein ehemaliger Fabrikarbeiter aus dem Nordosten Brasiliens, zum Präsidenten gewählt.
Damit wurde eine Politik eingeleitet, die dafür bekannt wurde, vor allem den Ärmsten der Be-
völkerung zu helfen. Die Wahl Lulas, die von einem linksgerichteten Diskurs begleitet wurde,
kann als symbolische Revolution gesehen werden.
Auf politischer Ebene weitete die PT vor allem im Bildungsbereich Affirmative Actio2-Program-
me aus. Es gelang ihr, die Einkommensungleichheit zu reduzieren und die Wohnsituation und
Gesundheitsversorgung für die untersten Einkommensschichten zu verbessern (Domingues
2013: 80). Allerdings wurde die langersehnte Landreform, die sozial Schwachen eine Einkom-
mensmöglichkeit geben sollte, zwar angekündigt, aber nie flächendeckend durchgeführt
(Coletto 2010: 45). Extraktive, umweltschädliche Programme waren weiterhin ein Problem, da
die extraktivistische und exportorientierte Entwicklungsphilosophie nie in Frage gestellt, son-
dern lediglich mit einem nationalen Touch ausgestattet wurde, der die wirtschaftliche Abhän-
gigkeit von anderen Staaten reduzieren sollte.
Tatsächlich wuchs Brasiliens Wirtschaft unter der Regierung Lula (Novy 2013: 86).3 Die brasili-
anische Arbeiter_innenpartei, die zwar ursprünglich ein linkes Programm verfolgte, aber noch
vor Regierungsantritt immer weiter in die Mitte gerückt war, schaffte es, genau durch diese
Strategie sowohl linke Basisbewegungen und die Zivilgesellschaft als auch Teile der Wirt-
schaft und deren Interessen ins Regierungsprogramm zu inkorporieren. Lula gelang es, soziale
Programme einzuführen, ohne große Spannungen zu erzeugen, vor allem da die Machtstruk-
turen im Land nie grundsätzlich hinterfragt wurden (Harnoncourt 2018: 148).

2   Quotenregelungen und teilweise Punktsysteme v.a. für die nicht-weiße Bevölkerung, aber auch für anders
    benachteiligte Bevölkerungsschichten (Telles /Paixão 2013).
3   Mit einem Einstieg von 1,1% Wachstum des BIP 2003, dann einem generellen Aufschwung auf ca. 5 % in den
    folgenden Jahren, einem Einbruch 2009 von -0,1% Negativwachstum und einem neuerlichen Aufschwung,
    der im Jahr 2011 zu einem Wachstum von 7,5% des BIP führte (IBGE 2018).

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Wahlen und Weichenstellungen in Lateinamerika 2018

Das bekannteste dieser Programme ist Bolsa Familia, ein Cash Transfer-Programm auf Famili-
enbasis, welches den Lebensstandard der ärmsten Bevölkerungsschichten in Brasilien verbes-
serte (Neuhauser 2011: 33).
2011 übernahm Lulas Parteikollegin Dilma Rousseff das Amt. Während Lula in der Bevölkerung
große Beliebtheit genoss, traf dies auf Dilma nicht zu.4 Im Amt führte die neue Präsidentin
Lulas Politiken fort, sprach sich allerdings etwas ausdrücklicher für Diversität und Frauenrech-
te aus, obwohl auch ihr Kabinett hauptsächlich aus weißen Männern bestand (Gomes / Khan
2016: 55). Während ihrer Amtsperiode (2011–2016) kam es schließlich zu einer wirtschaftlichen
Krise5, die Dilmas Beliebtheit weiter drückte und in eine politische und soziale Krise mündete.
Unter dem Namen Lava Jato wurden ab 2014 mehrere Korruptionsskandale aufgedeckt, in die
fast alle Politiker_innen aus allen Parteien sowie die größten privaten und öffentlichen Firmen
Brasiliens verwickelt sind6, unter anderem auch Lula, dessen Verfahren 2016 begann. Im De-
zember 2015 begann das Amtsenthebungsverfahren gegen die Präsidentin. Der Vorwurf laute-
te: gesetzeswidrige Handhabung der Staatsfinanzen. Im August 2016 wurde Dilma ihres Amtes
enthoben und Vizepräsident Michel Temer (Movimento Democrático Brasileiro – MDB), der
auch als solcher 2014 mit Dilma gemeinsam zur Wahl angetreten war, neues Staatsoberhaupt.
Der Impeachment-Prozess wurde von vielen Medien als Staatsstreich bezeichnet (Boulos
2016). Und tatsächlich war die Amtsenthebung Rousseffs Ausdruck der Machtverhältnisse
im Staat. Schon während ihrer Regierungszeit war die bancada ruralista – eine Gruppe von
Abgeordneten, die sich für die Interessen der Großgrundbesitzer_innen und städtischen
Eliten einsetzt – die einflussreichste Gruppe im Nationalkongress, während die PT zwar die
Präsidentschaft innehatte, ihr jedoch die Unterstützung in der Legislative fehlte. Da der Inte-
rimspräsident Michel Temer (2016-2018) der bancada ruralista nahestand und die Vorwürfe ge-
gen Dilma in keinem Vergleich zu dem stehen, was anderen Politiker_innen (wie auch Temer)
vorgeworfen wird, liegt die Vermutung nahe, dass es beim Amtsenthebungsprozess tatsäch-
lich um die Verteidigung von Interessen und Macht ging (Harnoncourt 2018: 148).
Bereits während des Verfahrens wurden Rechte, welche politisch benachteiligte Gruppen
wie Arbeiter_innen, Homosexuelle und Indigene während der PT-Regierung7 erlangt hatten,
wieder zurückgenommen (Redação 2017). Diese politische Entwicklung wurde während der
Regierung Temer weitergeführt. Sozialleistungen wie die Bolsa Familia wurden gekürzt und
eine Arbeitsreform, die Arbeiter_innenrechte beschränkte, sowie eine Pensionsreform, die zu

4   Grund dafür könnte sein, dass Dilma Rousseff eine Frau oder im Gegensatz zu Lula eine Intellektuelle ist. Auf
    ihr angeblich fehlendes Charisma wird ebenso hingewiesen.
5   Nachwirkungen der Weltwirtschaftskrise von 2008.
6   Zum Beispiel Petrobras, Odebrecht und JBS sowie öffentliche Baufirmen, die unter anderem auch im Zuge
    der Fußball-Weltmeisterschaft angeheuert wurden.
7   Teilweise bereits unter Fernando Henrique Cardoso (1995–2003).

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Wahlen und Weichenstellungen in Lateinamerika 2018

einer Verschlechterung für die Berechtigten führte, eingeführt. Auch der Umweltschutz wurde
beschnitten – ein Bereich für dessen Handhabung die zuvor amtierende Präsidentin bereits
kritisiert worden war. Das Hauptaugenmerk der Interimsregierung lag dabei offensichtlich
darauf, Unternehmen den Weg zu ebnen, während die arbeitende Bevölkerung und margina-
lisierte Gruppen benachteiligt wurden (Boulos 2016). Ökonomisch setzte die Regierung Temer
genauso wie die PT-Regierung zuvor auf extraktive und landwirtschaftliche Produktion in Aus-
richtung auf den chinesischen Markt. Ähnlich wie bei der vorherigen Regierung wurden Global
Players begünstigt, allerdings fiel nun die Unterstützung der familienbasierten Landwirtschaft
sowie die partielle Landumverteilung weg (Campelo 2018).
Im Mai 2017 wurde schließlich auch Temer im Zuge von Lava Jato angezeigt. Grundlage der
Anzeige war die Tonbandaufnahme eines Telefongesprächs zwischen ihm und Joseley Batis-
ta, einem der Besitzer von JBS, dem größten Fleischkonzern der Welt. Die Vorwürfe lauteten
Korruption, Bestechlichkeit, Behinderung der Justiz und kriminelle Vereinigung.
Weitere Vorwürfe kommen kontinuierlich hinzu. Der Interimspräsident fiel zusätzlich durch
andere politische Skandale, darunter sexistische Aussagen am internationalen Frauentag, auf
(Avendaño 2017).
Aufgrund der extremen Unbeliebtheit Temers kam es immer wieder zu Demonstrationen, auf
die mit Militarisierung, Demonstrationsverboten und immer brutaleren Niederschlagungen
reagiert wurde. Ebenso nahm Gewalt gegen indigene Gruppen und Schwarze zu (Fujita 2018).

Kandidaturen und Wahl 2018
Aufgrund seiner Unbeliebtheit, und weil er seinen politischen Rückhalt verlor, beschloss
Temer, nicht bei den Präsidentschaftswahlen 2018 anzutreten (Goyzueta 2018). Die PT wollte
Lula, der in den Umfragen deutlich vorne lag, aufstellen. Allerdings verhärteten sich nun die
Korruptions-, Geldwäsche- und Bestechungsvorwürfe gegen ihn, die vor allem in Zusammen-
hang mit der Baufirma OAS und dem Mineralölunternehmen Petrobras standen. Am 7.4.2018
wurde Lula in Haft genommen. In den darauffolgenden Monaten wurde immer wieder ver-
sucht, seine Gefängnisstrafe aufzuheben, um eine Teilnahme an der Wahl zu ermöglichen,
jedoch vergeblich. Sowohl Michel Temer als auch Lula behaupteten, dass die Anzeigen gegen
sie rein politisch motiviert seien. Und für Lulas Verurteilung fehlten angeblich Beweise. Es ist
immerhin zu vermuten, dass der Zeitpunkt und die Geschwindigkeit, mit der Lula die Gefäng-
nisstrafe auferlegt worden war, mit den nahenden Wahlen in Zusammenhang standen (Brum
2018).

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Wahlen und Weichenstellungen in Lateinamerika 2018

Spätestens ab diesem Zeitpunkt wurde die Operation Lava Jato8 zumindest als ambivalent
oder sogar als problematisch betrachtet: Zum einen war es nun möglich, die massive Durch-
wachsung der Politik durch Korruption aufzudecken und Politiker_innen sowie Unterneh-
mer_innen zur Verantwortung zu ziehen. Andererseits scheint auch diese Operation vor
Missbrauch nicht gefeit zu sein. In einem Interview mit der Journalistin Joyce Souza und dem
Sozialwissenschaftler Fabio de Oliveira Maldonado meinte Joyce Souza hierzu: „Es ist wichtig
zu klären, dass die Operation Lava Jato unter der Regierung Dilma an Stärke gewonnen hat.
[…] Ich glaube also nicht, dass Lava Jato ein Projekt ist, das nur dazu gedacht war, ein paar
Personen einer bestimmten Partei zu verhaften. Doch im Laufe ihrer Geschichte wird sie zu ei-
ner äußerst parteiischen Aktion.“ (Souza / de Oliveira Maldonado 2018). Die Voraussetzung der
Wahlen 2018 war damit eine von extremem Misstrauen gegenüber Politiker_innen geprägte
Bevölkerung (Avendaño 2017).
Zur ersten Wahlrunde Anfang Oktober 2018 traten mehr Kandidat_innen als üblich an. Ei-
nigen wurde Korruption vorgeworfen. Favorit der Wahl war Lula gewesen, doch da dieser
auch nach zahllosen juristischen Versuchen nicht zur Wahl antreten durfte, stellte die PT im
September 2018, erst fünf Wochen vor der Wahl, den ehemaligen Universitätsprofessor Fern-
ando Haddad auf (Betim 2018). Dieser versuchte in seinem Wahlkampf an Lula anzuschließen,
unter anderem mit der (Wieder-)Einführung sozialer Programme. Er setzte auf Bildungs- und
Umverteilungspolitiken, kündigte eine Agrarreform an und stand für Diversität ein. Viele von
der Temer-Regierung eingeführte Politiken sollten zurückgenommen werden. Haddad kündig-
te an, Brasilien zu reindustrialisieren, Süd-Süd-Beziehungen zu stärken und sich ökonomisch
auf lateinamerikanische Bündnisse und auf die BRICS zu konzentrieren. Vor allem mit Mexiko
sollte ein Handelsabkommen geschlossen werden (Dias Carneiro 2018).
Bald stellten sich Haddad und Bolsonaro als führende Kontrahenten der Wahl heraus. Haupt-
thema der ersten und zweiten Wahlrunde waren Korruption und Lulas Gefängnisstrafe. Wäh-
rend Bolsonaro sich für härtere Strafen stark machte, setzte sich Haddad zusätzlich für eine
Reform des Justizsystems ein. Beide Kandidaten wurden zwar bis dato nicht für Korruption
verurteilt, jedoch wegen Missbrauchs öffentlicher Gelder angeklagt (Redação 2018a).
Jair Bolsonaro, ein pensionierter Hauptmann der Armee, gewann zu Anfang vor allem auf-
grund sexistischer, homophober, Gewalt entschuldigender und rassistischer Aussagen me-
diale Aufmerksamkeit. Immer wieder wurden sowohl von der Opposition warnende und von
Bolsonaro selbst positive Referenzen zur Militärdiktatur (1964–1985) gezogen. Sein Wahlkampf
war von Antikommunismus und Plänen der Liberalisierung der Marktwirtschaft geprägt. Mit
ein paar Ausnahmen, etwa Teilen der Petrobras, sollten staatliche Unternehmen privatisiert

8   Übersetzt als „Operation Hochdruckreiniger“, werden damit die Ermittlungsverfahren gegen Verdächtige
    des milliardenschweren Korruptionsskandals rundum Petrobas bezeichnet.

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Wahlen und Weichenstellungen in Lateinamerika 2018

werden, nicht zuletzt um die Staatsschulden zu reduzieren. Obwohl Bolsonaro das Programm
Bolsa Familia zwar besser kontrollieren, aber beibehalten wollte, stellte er sich im Gegensatz
zu Haddad gegen Politiken der Landumverteilung. Unter seiner Regierung würden Besetzun-
gen am Land und in der Stadt als Terrorismus deklariert und Indigenen kein weiteres Land zu-
gesprochen werden.9 Globalpolitisch positionierte sich Bolsonaro vor den Wahlen auf Seiten
Israels und kündigte ähnliche Politiken wie Trump an – etwa, die Verlegung der Botschaft in
Israel von Tel-Aviv nach Jerusalem oder den Austritt aus dem Klimaschutzabkommen von Pa-
ris. Dieser könnte für die Beziehungen zur EU problematisch sein, schließlich basieren viele der
Abkommen mit der EU auf erneuerbarer Energie10, für welche die EU auch eine wichtige Ab-
nehmerin darstellt. Bolsonaro gab wenig über seine geplante Wirtschaftspolitik preis, meinte
aber, dass er bilaterale Abkommen neu verhandeln und Einfuhrzölle senken würde (Goyzueta
2018). Außerdem würde er sich wirtschaftlich eher den USA zu- und von China abwenden,
was problematisch sein könnte, da China Brasiliens Haupthandelspartner und Investor dar-
stellt. China löste 2009 die USA in dieser Position ab. Diese Beziehungen waren auch dezidiert
durch Lulas Regierung gestärkt worden, da die Volksrepublik vor allem nach Rohstoffen und
landwirtschaftlichen Produkten – auf die sich Brasilien nach einer Industrialisierungsphase zu
konzentrieren versuchte – verlangte. (Souza / de Oliveira Maldonado 2018; Redação 2019).
In einer von zahlreichen ungültigen Stimmen gezeichneten Wahl wurde Bolsonaro schließlich
zum neuen Präsidenten gewählt. Neben Haddads später Kandidatur trugen auch die Ereignis-
se in Venezuela zu diesen Wahlergebnissen bei, da sich die PT nicht klar genug von Maduro
und Hugo Chávez abgegrenzt hatte (Dias Carneiro 2018). Als Joyce Souza und Fabio de Oliv-
eira Maldonado die Wahlergebnisse der Präsidentschaftswahl 2018 im Interview analysierten,
erzählten sie von der Politik- und PT-Verdrossenheit der brasilianischen Bevölkerung und dem
Wunsch nach Recht und Ordnung, wobei für manche Teile der Bevölkerung dafür auch eine
Militarisierung in Kauf genommen wird. Fabio de Oliveira Maldonado meinte hierzu, dass sich
diese Entwicklung schon während des Impeachmentprozesses gegen Dilma herauskristallisiert
hätte: „Schon bei den Demonstrationen während des Staatsstreichs gegen Dilma manifestier-
ten sich Menschen, die sich für eine Militärintervention stark machten, Menschen, die die Mili-
tärdiktatur vermissten, sowie Personen, die sich nach einer ‚starken Hand‘ oder mehr Autorität
sehnten und genauso solche aus dem rechten Zentrum, moderatere Neoliberale.” (Souza / de
Oliveira Maldonado 2018) Sie betonten, dass Bolsonaro anstatt an öffentlichen Mediendiskus-
sionen teilzunehmen, seine Kampagne über soziale Medien – vor allem WhatsApp – führte.

9    In Brasilien gibt es eine starke Tradition von Landbesetzungen, die mit unklaren Besitzverhältnissen von
     Ländereien und oft illegalen Landnahmen von Seiten großer Unternehmen und Großgrundbesitzer_innen in
     Zusammenhang steht.
10   Brasilien ist neben den USA einer der wichtigsten Produzenten in diesem Bereich.

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Wahlen und Weichenstellungen in Lateinamerika 2018

Fabio de Oliveira Maldonado fasste die Analyse der Wahlergebnisse zusammen: „Bolsonaro
machte also eine Kampagne in der Unterwelt von WhatsApp. Er konnte mit einem sehr kurzen
Wahlkampf rechnen (der dieses Jahr kürzer als üblich war), der ohne die wichtigste Persön-
lichkeit der PT (Lula) stattfand. Fernando Haddad war nicht in ganz Brasilien bekannt, nur in
Sao Paulo. Er musste also in seiner Kampagne erst erklären, wer Fernando Haddad überhaupt
war. All das gipfelte in der Wahl dieser Figur namens Jair Bolsonaro” (Souza / de Oliveira Mal-
donado 2018).

Die Regierung Bolsonaro – Ein Ausblick
Schon vor den Wahlen wurden Befürchtungen darüber laut, was eine Regierung unter Bol-
sonaro bedeuten würde. Vor allem ein Rückgang demokratischer Rechte wird befürchtet,
obwohl Bolsonaro im Gegensatz zu Temer demokratisch gewählt worden war. Expert_innen
sind uneins darüber, wie stark die Demokratie durch Bolsonaro gefährdet ist. Fabio de Oliv-
eira Maldonado meint, dass die Demokratiekrise schon länger existiere, sich jedoch vertiefen
würde. So zum Beispiel schätzt er ebenso wie Joyce Souza die Verfolgung sozialer Bewe-
gungen als wichtiges Element der zukünftigen Regierung ein (Souza; de Oliveira Maldonado
2018). Zusätzlich beunruhigt die Aussage des ehemaligen Armeegenerals und Vizepräsidenten
Hamilton Mourão (Partido Renovador Trabalhista Brasileiro – PRTB): Er erklärte, dass eine neue
Verfassung ausgerufen werden solle und hielt eine Art Staatsstreich (autogolpe) für möglich.
Jair Bolsonaro verneinte diese Aussagen zwar, beließ Mourão jedoch auf seinem Posten (Re-
dação 2018b). Einige Wochen nach der Wahl kündigte Bolsonaro bereits an, dass der Staat mit
ihm als Präsident angeblich lügende Medien nicht mehr unterstützen würde und bestimmte
einige Militärs als Minister, was als Anzeichen undemokratischer Politik gelesen werden kann.
Außerdem stehen viele seiner zukünftigen Minister im Mittelpunkt laufender Verfahren we-
gen Korruption, was seine Glaubwürdigkeit als „Anti-Korruptionspräsident“ schwächt (Betim
2018).
Ein weiteres Feld, das problematisch werden könnte, ist der Umweltschutz. Bolsonaro will
nicht nur die Ministerien für Landwirtschaft und Umweltschutz zusammenlegen, sondern
den dazugehörigen Minister auch von landwirtschaftlichen Produzenten auswählen lassen. Es
scheint, als würde er Umweltschutz als Hindernis für die Wirtschaft betrachten, was vor allem
aufgrund der großen Bedeutung, die das Amazonasgebiet für das globale Klima hat, proble-
matisch ist (Redação 2018b).
Welche seiner Forderungen Bolsonaro tatsächlich ernst meint, ist aufgrund seiner wider-
sprüchlichen Aussagen schwer einzuschätzen. Zudem wird ihm wegen seiner unüberlegt
wirkenden Ankündigungen sicherlich viel Widerstand von verschiedenen Seiten entgegenge-
setzt werden. Welche seiner Politiken Bolsonaro also durchsetzen können wird, steht ebenso

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Wahlen und Weichenstellungen in Lateinamerika 2018

in Frage. Dennoch ist anzunehmen, dass der Kurs der Regierung Temer verschärft und weiter-
geführt wird, die Wirtschaft also in den Vordergrund und soziale Themen in den Hintergrund
gerückt werden (Souza; de Oliveira Maldonado 2018).

Brasilien im Überblick
Fläche: 8.515.770 km²                      Bevölkerung: 208.846.892 (Juli 2018)

Regierungssystem: Präsidentielle Demokratie

Präsident seit dem 1.1.2019                Jair Bolsonaro
                                           • Partei: Partido Social Liberal
                                               (Sozialliberale Partei)
                                           • Wahlallianz mit dem Partido Renovador Tra-
                                               balhista Brasileiro
Präsidentschaftswahl am 7.10.2018          Beteiligung: 79,67%
                                           13 Kandidat_innen
Präsidentschaftswahl am 28.10.2018         Beteiligung: 78,7%
(Stichwahl)                                Ergebnis (ohne ungültige Stimmen):
                                           • Jair Bolsonaro (Partido Social Liberal):
                                              57.797.847 (55,13%)
                                           • Fernando Haddad (PT):
                                              47.040.906 (44,87%)

Parlamentswahl am 7.10.2018                    Bundessenat         Abgeordnetenkammer
Parteien                                       (22 Parteien)           (30 Parteien)

MDB (Movimento Democrático Brasileiro)            14,81%                    6,63%

PSDB (Partido da Social Democracia                 11,11%                   5,65%
Brasileira)
PSD (Partido Social Democrático)                  8,64%                     6,63%

PT (Partido dos Trabalhadores)                     7,41%                    10,92%

DEM (Democratas)                                   7,41%                    5,65%

PP (Partido Progressista)                          6,17%                     7,21%

PODE (Podemos)                                     6,17%                     2,14%

REDE (Rede Sustentavel)                            6,17%                    0,19%

PSL (Partido Social Liberal)                      4,94%                     10,14%

PTD (Partido Democrático Trabalhista)             4,94%                     5,46%

                                                                                          18
Wahlen und Weichenstellungen in Lateinamerika 2018

PTB (Partido Trabalhista Brasileiro)               3,70%                     1,95%

PR (Partido da República)                          2,47%                     6,43%

PSB (Partido Socialista Brasileiro)                2,47%                     6,24%

PPS (Partido Popular Socialista)                   2,47%                     1,56%

PATRI (Patriota)                                   2,47%                     0,97%

PHS (Partido Humanista da Solidariedade)            1,17%                     1,17%

PRB (Partido Republicano Brasileiro)                1,23%                    5,85%

SD (Solidariedade)                                  1,23%                    2,53%

PSC (Partido Social Cristão)                        1,23%                    1,56%

PROS (Partido Republicano da Ordem                  1,23%                    1,56%
Social)
PRP (Partido Republicano Progressista)              1,23%                    0,78%

PTC (Partido Trabalhista Cristão)                   1,23%                    0,39%

PSOL (Partido Socialismo e Liberdade)                                        1,95%

PcdoB (Partido Comunista do Brasil)                                          1,75%

NOVO (Partido Novo)                                                          1,56%

Avante                                                                       1,36%

PV (Partido Verde)                                                           0,78%

PMN (Partido da Mobilização Nacional)                                        0,58%

DC (Democracia Cristã)                                                       0,19%

PPL (Partido Pátria Livre)                                                   0,19%

Außerparlamentarische Akteur_innen          Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra
                                            (MST – Landlosenbewegung); Movimento dos
                                            Trabalhadores Sem Teto (MSTS – Bewegung der
                                            obdachlosen Arbeiter); Indigene und Quilombo-
                                            las (brasilianische Maroons) – also zumindest alle
                                            sozialen Bewegungen, die Landrechte für sich
                                            beanspruchen.

                                                                                            19
Wahlen und Weichenstellungen in Lateinamerika 2018

Quellenverzeichnis
Avendaño, Tom C. (2017): Michel Temer, um ano de governo em meio à solidão. Presiden-
       te brasileiro insiste que não renunciará, apesar de viver sua pior crise política. http://
       brasil.elpais.com/brasil/2017/05/22/politica/1495466583_795966.html (abgerufen am
       17.06.2017).
Betim, Felipe (2018): Marcos Nobre: „Bolsonaro foi o candidato do colapso e precisa
       dele para se manter no poder”. https://brasil.elpais.com/brasil/2018/11/14/politi-
       ca/1542228843_630245.html (abgerufen am 25.12.2018).
Boulos, Guilherme (2016): O golpe, na verdade, está só começando. http://www1.folha.uol.
       com.br/poder/2016/09/1809032-o-golpe-na-verdade-esta-so-comecando.shtml (abge-
       rufen am 03.09.2016).
Brum, Eliane (2018): Lula, o humano. https://brasil.elpais.com/brasil/2018/04/09/politi-
       ca/1523288070_346855.html (abgerufen am 25.12.2018).
Campelo, Lilian (2018): Mercado externo dita as regras da economia agrícola brasileira, diz
       economista. https://www.brasildefato.com.br/2018/01/02/mercado-externo-dita-as-
       regras-da-economia-agricola-brasileira-diz-economista/ (abgerufen am 24.12.2018).
Coletto, Diego (2010): The Informal Economy and Employment in Brazil. Latin America, Moder-
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Dias Carneiro, Júlia (2018): Eleições 2018: „Início de autocrítica” do PT por Haddad pode ter
       chegado tarde demais, diz filósofo. https://www.bbc.com/portuguese/brasil-45831563
       (abgerufen am 13.11.2018).
Domingues, José Maurício (2013): O Brasil entre o presente e o futuro. Conjuntura interna e
       intersecao internacional. Rio de Janeiro: Muaud.
Fujita, Gabriela (2018): O Brasil depois das urnas. Influência militar, tensão nas ruas, oposição e
       revisão política: as questões à espera do governo Bolsonaro. https://www.uol/eleico-
       es/especiais/influencia-militar-tensao-nas-ruas-revisao-da-politica-as-questoes-diante-
       do-governo-bolsonaro.htm#o-brasil-depois-das-urnas (abgerufen am 12.11.2018).
Gomes, Daniela, und Janaya Khan (2016): Our Issues, Our Struggles: A Conversation Between
       Activists Daniela Gomes and Janaya Khan. In: World Policy Journal, 33 (1), 47–56.
Goyzueta, Verónica (2018): Lula no centro da cena política. https://www.cartamaior.com.br/?/
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Harnoncourt, Julia (2018): Unfreie Arbeit. Trabalho escravo in der brasilianischen Landwirt-
       schaft. Wien: Promedia.
Harnoncourt, Julia (26.11.2018): A campanha e politica de Bolsonaro. Interview mit Joyce Souza
       und Fabio de Oliveira Maldonado.

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Wahlen und Weichenstellungen in Lateinamerika 2018

IBGE (2018): PIB avança 1,0% em 2017 e fecha ano em R$ 6,6 trilhões. https://agenciadenoti-
      cias.ibge.gov.br/agencia-sala-de-imprensa/2013-agencia-de-noticias/releases/20166-
      pib-avanca-1-0-em-2017-e-fecha-ano-em-r-6-6-trilhoes (abgerufen am 20.01.2019).
Neuhauser, Johanna (2011): Zwischen Anpassung und Widerstand. Hausarbeiterinnen in Reci-
      fe/Brasilien – Subjektbildung und ihre strukturellen Bedingungen im peripheren Kapita-
      lismus. Wien: LIT.
Novy, Andreas (2013): Ein gutes Leben für alle – ein europäisches Entwicklungsmodell. In: Jour-
      nal für Entwicklungspolitik, 29(3), 77–103.
Redação (2017): 40 ameaças do Congresso Nacional aos direitos humanos. https://www.brasil-
      defato.com.br/2017/01/24/40-ameacas-do-congresso-nacional-aos-direitos-humanos/
      (abgerufen am 21.04.2017).
Redação (2018a): Eleições 2018: As propostas de Bolsonaro e Haddad para o combate à cor-
      rupção. https://www.bbc.com/portuguese/brasil-45958673(abgerufen am 13.11.2018).
Redação (2018b): Eleições 2018: As propostas de Jair Bolsonaro e Fernando Haddad à Presi-
      dência do Brasil. https://www.bbc.com/portuguese/brasil-45780779 (abgerufen am
      13.11.2018).
Redação (2019): Governo Bolsonaro tenta estreitar relações com a China. https://exame.abril.
      com.br/brasil/governo-bolsonaro-tenta-estreitar-relacoes-com-a-china/ (abgerufen am
      20.01.2019).
Telles, Edward E., und Marcello Paixão (2013): Affrmative Action in Brazil. In: Lasa Forum 44
      (2),10–12.

Abkürzungsverzeichnis
Bancada Ruralista: Parlamentarische Interessenvertretung der Großgrundbesitzer_innen. Sie
      steht dem neuen brasilianischen Präsidenten Bolsonaro, aber auch seinem Vorgänger
      Michel Temer nahe. Die Bancada ist momentan die größte Fraktion im Parlament.
Bolsa Familia: Transferprogramm für die Ärmsten der Bevölkerung. Bezieher_innen des Pro-
      gramms müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Es wurde von Luiz Inácio Lula da
      Silva (PT) eingeführt und gilt als sehr erfolgreich.
BRICS: Vereinigung der Volkswirtschaften Brasiliens, Russlands, Indiens, Chinas und Südaf-
      rikas. Fernando Haddad (PT) kündigte als Präsidentschaftskandidat an, verstärkt wirt-
      schaftliche Bündnisse mit den BRICS-Ländern zu schließen.
Lava Jato: Korruptionsskandal in Brasilien. Die Ermittlungen laufen seit 2014 und involvieren
      Politiker_innen aller Parteien sowie große Unternehmen.

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Wahlen und Weichenstellungen in Lateinamerika 2018

MDB: Movimento Democrático Brasileiro / Brasilianische Demokratische Bewegung. Vormals
      PMDB – Partido do Movimento Democrático Brasileiro. Ursprünglich vereinte die Partei
      verschiedene politische Ideologien in legaler Opposition zum brasilianischen Militär-
      regime (1964-1985), definiert sich aber heute als wirtschaftsliberal und konservativ. Die
      Partei unterstützte das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff (PT). Inte-
      rimspräsident Michel Temer (2016–2018) ist Teil der MDB.
MST: Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra / Bewegung der Landarbeiter_innen
      ohne Land. Basisbewegung brasilianischer Landarbeiter_innen. Ihre wichtigsten Pro-
      testformen sind Landbesetzung und das Errichten von Straßensperren. Das Ziel ihrer
      Landbesetzungen ist, Land für den Anbau landwirtschaftlicher Produkte zu erhalten
      sowie politischen Druck auszuüben. Die brasilianische MST ist die größte und erfolg-
      reichste Landlosenbewegung Lateinamerikas.
MTST: Movimento dos Trabalhadores Sem Teto / Bewegung der Arbeiter_innen ohne Ob-
      dach. Das MTST entwickelte sich als städtischer Arm der MST und ist besonders in
      Favelas aktiv. Sie nutzen ähnliche politische Mittel wie das MST, besetzen jedoch leer-
      stehende Häuser. Guilherme Castro Boulos, Teil der nationalen Koordination des MTST,
      trat mit der Partei PSOL (Partido Socialismo e Liberdade) als Präsidentschaftskandidat
      im Superwahljahr 2018 an.
PRTB: Partido Renovador Trabalhista Brasileiro / Brasilianische Partei der Arbeitserneuerung.
      Eine rechtskonservative Partei, der Verbindungen zu Neo-Nazis und neofaschistischen
      Bewegungen vorgeworfen werden. Vizepräsident Hamilton Mourão (ab 2019) ist Teil
      der PRTB.
PSL: Partido Social Liberal / Sozial-Liberale Partei. Eine ursprünglich konservative und heute
      rechtsradikale Partei. Sie war vor 2018 nicht oder marginal im Parlament vertreten. Jair
      Bolsonaro, Brasiliens Präsident seit dem 1.1.2019, trat für die PSL an.
PT: Partido dos Trabalhadores/ Partei der Arbeiter. Die PT hat ihre Ursprünge in der Gewerk-
      schaft und der Arbeiter_innenbewegung, wurde jedoch mit ihrem Popularitätsgewinn
      zunehmend gemäßigt. Sie kann bis heute auf große Teile der Gewerkschaft und linke
      Basisbewegungen, wie die MST und die MTST setzen. Im Amt vertrat sie jedoch nicht
      nur deren Interessen, sondern auch die der Wirtschaft. Die PT stellte von 2003 bis 2016
      den Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva und die Präsidentin Dilma Rousseff. Im Wahl-
      jahr 2018 war ihr Kandidat der ehemalige Bürgermeister von São Paulo, Fernando Had-
      dad, der jedoch die Wahlen verlor.
Petrobras: Brasilianischer Mineralölkonzern. Halbstaatlich. Eine der größten Ölfirmen welt-
      weit. Verwickelt in die Korruptionsvorwürfe gegen Luiz Inácio Lula da Silva (PT).

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