2021 ZEITSCHRIFT DER UNABHÄNGIGEN GEWERKSCHAFTERINNEN - SCHWERPUNKT ARBEITSZEITVERKÜRZUNG - DIE ...
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Zeitschrift der Unabhängigen GewerkschafterInnen Schwerpunkt Arbeitszeitverkürzung Diese Ausgabe behandelt das Thema Arbeitszeitverkürzung und den Effekt auf Arbeitslosigkeit und Klimakrise. 2021 02
4 5 6/7 8/9 Kennst du schon...? Kolumne von Arbeitszeit fair kürzen – Segen oder Fluch? Vera Koller Diesmal stellen wir euch Oliver Veronika Litschel zeitbewusst leben. über den 6 Stundentag, ergänzt Bubich, Nikolaus Ganahl und Worüber wir reden müssen. Dafür argumentiert durch die Praxissicht von Elisabeth Hasiweder vor. Karin Stanger in ihrem Sonja Müllner und Stefan Schwerpunktartikel. Taibl. 10 11 12 13 Gary Fuchsbauer blickt auf Markus Marterbauer Was hat die Arbeitszeit mit Vera Koller beschreibt die die Arbeitszeit im öffentlichen zu den Chancen der dem Klima zu tun, fragt Möglichkeiten zur Verkürzung Dienst und deren Fairkürzung. Arbeitszeitverkürzung über Alfred Stiglbauer. der Arbeitszeit in der Praxis. die Krise hinaus. 14/15 16/17 18 – 20 21 Was ist denn Wohlstand? MUCH Debattenseite Ubuntu – ich bin, weil wir sind. Interview mit Sabine Skubsch, Lösung, Etappenziel Word Social Work Day von aktiv in der GEW und bei ver.di oder überbewertet? Christine Petioky Arbeitszeitverkürzung im Für und Wider. 22/23 24 – 26 27 28 Liebe ohne Grenzen – immer Nachrichten aus Notizen Leser*innenbriefe noch ein harter Kampf. Julia dem UG Universum Was tut sich sonst noch: Meldungen und Häuserer-Bruch und Beate Frauenpower im Vorsitz: Die Nachrichten aus Gewerkschaft, Anregungen unserer Neunteufel-Zechner über Wahlen bei der UG, der UGÖD Politik und Gesellschaft Leser*innen 15 Jahre Ehe ohne Grenzen. und der AUGE/UG. 29 30/31 32 Nachruf Termine In steter Erinnerung. Arbeit, Klasse, Klassismus. Spannendes, Wichtiges, Gisi Reindl. Ein Gedenken von Passend zum Schwerpunkt: Interessantes aus dem Melina und Viktoria Klaus. zwei Rezensionen von nächsten Quartal. Cornelia Stahl. IMPRESSUM Medieninhaberin, Verlegerin: Alternative und Grüne GewerkschafterInnen (AUGE/UG), Herausgeberin: Unabhängige GewerkschafterInnen im ÖGB (UG/ÖGB), Redaktion: Renate Vodnek, Layout & Satz: Stefanie Hintersteiner, Adresse: Alle 1040, Belvederegasse 10/1, Telefon: (01) 505 19 52-0, E-Mail für Abonnement: auge@ug-oegb.at, Redak- tion: alternative@ug-oegb.at, Internet: www.ug-oegb.at, Bankverbindung IBAN AT30 1400 0001 1022 8775, IC: BAWAATWW. Dass namentlich gezeichnete Beiträge nicht unbedingt der Meinung der Redaktion der Herausgeberin entsprechen müssen, versteht sich von selbst. Titel und Zwischentitel fallen in die Verantwortung der Redaktion, Cartoons in die Freiheit der Kunst. Textnachdruck mit Quellenangabe gestattet, das Copyright der Much-Cartoons liegt beim Künstler. DVR 05 57 021. ISSN 1023-2702 2 die Alternative • 2021
Editorial W e proudly present: Die Wahlergebnisse von AUGE/ UG (Bund/Land), UGöD (Bund) und UG. Details finden sich im „UG Universum“. Herzlichen Glückwunsch an alle neuen und vielen Dank an alle bisherigen Funk- tionär*innen, ganz besonders an Klaudia Paiha, unsere langjährige AK Fraktionsvorsitzende, AUGE/UG Bundes – und Landessprecherin und Vera Koller, die bisherige UG Vorsitzende, für ihre unschätzbare Arbeit! Arbeit – das bringt uns zum Schwerpunkt dieser Ausgabe: Arbeitszeitverkürzung – eine langjährige Forderung von uns und heute notwendiger denn je. „Was ist Arbeit“, fragt der Philosoph Wilhelm Schmid 2012 im Momentum-Magazin. Sie ist jedenfalls mehr als Erwerbsarbeit: Selbstbeziehung, soziale Beziehungen, Muße und Sinnfragen sind auch Arbeit. Für sie fehlt meist die Zeit und sie ist oft unbezahlt, wenn auch wertvoll. In diesem Sinne kann, um mit Wilhelm Schmid zu sprechen, die reduzierte Erwerbsarbeitszeit dem wachsenden Inter- esse an Arbeit förderlich sein. Deshalb gilt: 30 Stunden sind genug! Mehr dazu und zu unserer aktuellen Petition im Blattin- neren. Marion und Renate Und noch etwas in eigener Sache: als neue UG Vorsitzende übernimmt Marion ab der nächsten Ausgabe das Editorial der Alternative aus den erfahrenen Händen von Renate. die Alternative • 2021 3
Mein Name ist Oliver Bubich, ich bin Betriebsrat beim Fonds Soziales Wien - Wiener Pflege- und Betreuungs- dienste GmbH (FSW WPB) in der zweiten Funktionspe- riode. Kennst du schon...? In meiner letzten Arbeitsstelle im arbeitsmarktpoliti- In der Rubrik stellen wir (neue) Betriebsrät*innen, schen Bereich war ich ebenfalls als Betriebsrat tätig. In Personalvertreter*innen und Aktivist*innen der der Wahlvorbereitung und auch bei Vernetzungstreffen Unabhängigen Gewerkschafter*innen vor. hat uns die Auge UG unterstützt und begleitet. Daher war es für mich selbstverständlich auch beim FSW für die KIV zu kandidieren. Was hat mich dazu gebracht mich gewerkschaft- lich/als Betriebsrat/Betriebsrätin zu organisie- ren? Als politischer denkender Mensch ist es für mich wichtig, meinen Beitrag zu Veränderung im Betrieb einzubringen und aktiv mitzugestalten. Was mache ich sonst noch? Neu in der Bundesleitung der Die Arbeit mit Menschen hat mir schon immer Spaß BMHS-Lehrer*innen-Gewerkschaft gemacht, daher bin ich glücklich, dass ich meine Ich heiße Elisabeth Hasiweder und bin seit über 20 Jahren derzeitige berufliche Tätigkeit im sozialen Bereich Lehrerin für kommerzielle Fächer, seit 2005 an der BHAK gefunden habe. In meiner Freizeit bin ich gerne auf Linz International Business School. Erasmus+ ist mir ein Reisen und unter anderem auch viel mit dem Fahrrad. besonderes Anliegen. Seit vielen Jahren bin ich Vorsitzende des gewerkschaftlichen Betriebsausschusses und nach einer Pause wieder im Dienststellen- ausschuss. Wie bin ich zur UG [bei uns: ÖLI-UG] gekommen? Rund um 2010 war ich in meiner Schule gleichzeitig im Dienststel- lenausschuss, im gewerkschaftlichen Betriebsausschuss und im Mein Name ist Nikolaus Ganahl, ich bin seit Juli 2020 Teil Schulgemeinschaftsausschuss. Damals begann ich ÖLI-Seminare des Betriebsrats im Grünen Parlamentsklub und vertrete seit zu besuchen, um mich rechtlich fit zu machen. Ich schätze sehr, Februar 2021 vorübergehend unsere wunderbare Vorsitzende. dass sich in der ÖLI-UG Kolleg*innen aus allen schulischen Im Frühjahr des letzten Jahres war relativ schnell klar, dass Bereichen aus ganz Österreich treffen. Das ist einzigartig! sich im Grünen Klub, der sich ja im Oktober 2019 neu konstitu- iert hat, auch ein neuer Betriebsrat finden muss, der die Was hat mich dazu gebracht mich gewerkschaftlich zu Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 2013 neu verhandelt. In organisieren? einigen Vorgesprächen zwischen erfahrenen Mitarbeiter*innen, Mein Vater war Sekretär bei der GPA. Gewerkschaftsmitglied die sich schon im alten Klub gewerkschaftlich engagiert hatten, wurde ich mit 15 Jahren, jedoch sehr lange ohne Fraktionszuge- und einigen erst später zu den Grünen Gestoßenen hat sich bald hörigkeit. eine vielseitig besetzte Liste gefunden, der auch ich angehören Mir war es immer zu wenig nur zu jammern, das bringt nichts. durfte und darf. Man muss seine Rechte kennen und sich für deren Einhaltung Schon bei meinem letzten Arbeitgeber bin ich - wenngleich engagieren. recht spät - in den Betriebsrat gerückt und war dort in die Endphase einer Sozialplanverhandlung involviert. Diese Erfahrung hat mir gezeigt, wie existenzsichernd die Betriebsratstätigkeit sein kann, mitunter ein Grund warum ich mich auch bei meinem aktuellen Arbeitgeber wieder engagieren wollte. Keine leichte Aufgabe aktuell, neben meiner Tätigkeit als Referent, ausreichend Zeit für die BV-Verhandlungen sowie die zahlreichen Anliegen in der Belegschaft zu finden, aber es gibt auch immer wieder kleinere und größere Erfolgser- lebnisse, die uns daran erinnern, wie wichtig unsere Aufgabe ist. 4 die Alternative • 2021
K O L U M N E Worüber wir reden müssen. TEXT Veronika Litschel N ein, es ist nicht möglich hier eines eigenständigen Subjekts, des deutlich sind sie auf ihre Plätze zu ver- eine Zahl hinzuschreiben, zu Werts der Person. Sie ist Ausdruck pa- weisen, ob es der Chef, der Mann, der groß ist die Wahrscheinlich- triarchaler Muster. Dazu passen auch Expartner oder der Unbekannte im keit, dass sie in den nächsten Tagen die Verharmlosung und Umschrei- Beisl ist. Und nicht allein von der be- schon nicht mehr aktuell ist. Es sind bung als angebliche Beziehungstaten troffenen Frau, sondern von uns allen. auf jeden Fall zu viele, jede ist zu viel. und weit fantasievollere und reißeri- Jede dieser Frauen wurde ermordet. schere Schlagzeilen. Damit wird nicht Hier immer wieder einzugreifen ist nur suggeriert, dass dies angeblich eine harte, enervierende Arbeit, eine Nein, es gibt keine Erklärung, keine nicht zu verhindern war, es wird dem ständige Aufgabe und es ist höchst an Relativierung. Es gibt keine mildern- Opfer eine Mitschuld gegeben. der Zeit, dass die Männer sich massiv den Umstände, es sind keine Akte daran beteiligen. Auftreten gegen jede der Verzweiflung, kein übergekoch- Das ist nichts Unbekanntes bei Gewalt Form der Erniedrigung, der Gewalt ter Kessel, kein Drama und keine Tra- gegen Frauen, deren höchste Eskalati- und des Übergriffs. Es beim Namen gödie. Es sind gewalttätige Übergriffe, onsstufe der Mord ist. Das kennen wir nennen und Verantwortung überneh- bei denen der Tod der Frauen billigend von unzähligen Berichten und Gesprä- men, denn es ist kein Frauenthema, in Kauf genommen wurde, oder ge- chen, damit wachsen wir Frauen auf, sondern eine Anforderung an die ge- plante Morde. wenn uns gesagt wird, dass wir uns samte Gesellschaft. nachts auf der Straße hüten müssen, Nein, es ist keine Frage der sozialen aufpassen und uns schützen. Schicht, der Herkunft oder der Kultur, auch nicht der Bildungshintergrunds. Bei allen Übergriffen gegen Frauen Wir wissen, dass tätliche Übergriffe geht es immer um Macht und das auf Frauen, oft auf (Ex)Partnerinnen Ausleben von Überlegenheit. Es geht in allen gesellschaftlichen Klassen darum die Frauen zu Objekten zu vorkommen. Auch wenn die Frauen- degradieren, deren Mann sich nach ministerin das nicht verstehen will Gutdünken bedienen kann. Deren und irgendetwas von „kulturell be- Existenzberechtigung vom Wohl- dingt“ schwafelt, auf einen so genann- wollen des Mannes abhängig ist. Und ten Migrationshintergrund anspielt. Frauen sind von Gewalt betroffen, Es ist davon auszugehen, dass auch sie weil sie Frauen sind. Aus keinem ande- Statistiken lesen kann und weiß, dass ren Grund. diese Argumentation verkürzt und po- lemisch ist. Dagegen stehen Und darüber müssen wir reden. Egal, Richtig benennen ob es ein sexueller Übergriff, eine Ver- Wie wir es auch drehen und wenden: gewaltigung, das Prügeln oder ein Gewalt gegen Frauen ist ein Ausdruck Mord ist. Es ist immer eine Manifesta- von Verachtung, Erniedrigung und tion von Macht. Und diese Macht steht Demütigung. Sie ist das Absprechen den Männern nicht zu, keinem. Ganz die Alternative • 2021 5
S C H W E R P U N K T Zeitbewusst! Warum die Arbeitszeit fairkürzt werden muss. TEXT Karin Stanger Es ist an der Zeit, aus falschem Achsendenken auszubrechen, das die Politik lähmt und langweilig macht. Auch für die Gewerkschafts- bewegung. W ollen wir für mehr Geld für Alleinerziehende kämpfen oder bessere Kindergär- ten? Wollen wir eine Frauenquote in der Politik oder uns außerparlamenta- risch engagieren? Wollen wir den ge- werkschaftlichen Kampf um höhere Löhne stärken oder soll die Forderung nach Existenzsicherung ins Zentrum? Und wie steht es mit Lernen, Weiter- bilden, Kultur – oder haben wir jetzt keine Zeit dafür, weil es Dringlicheres gibt wie Krieg, Hunger, Klimakrise? Wie? Du möchtest alles? Alles, und auch noch gut schlafen? Vier-in-einem-Perspektive Eine Alternative zum bestehenden System zeigt die Soziologin Frigga Haug auf. In ihrer Vier-in-einem-Pers- pektive legt sie ein Konzept vor, dass gesellschaftlich und individuell sinn- volle und benötigte Arbeit in Einklang bringt. Ausgehend von 8 Stunden Schlaf hat unser Tag etwa 16 Stun- den, in denen Tätigkeit und Untätig- keit ihren Platz finden. Die Stunden teilt Haug durch vier Bereiche: vier Stunden Erwerbsarbeit, vier Stunden Reproduktionsarbeit, vier Stunden kulturelle Entwicklung und vier Stun- den politische Teilhabe. Alle vier Fel- der der menschlichen Tätigkeit sind FOTO Matthew Henry nötig, werden aber bisher leider nicht gleichermaßen gewürdigt. Die Stun- denzahlen sind perspektivisch und nicht starr auf jeden einzelnen Tag 6 die Alternative • 2021
T H E M A anzuwenden, sondern sollen etwa dungserscheinungen zurückgingen. Eine Frage der beispielsweise in einem monatlichen Die Zufriedenheit der Mitarbeiter*in- Klimagerechtigkeit oder auch jährlichen Durchschnitt er- nen stieg, gleichzeitig auch die Ef- Wenn nicht mehr das Wachstum, reicht werden. Klare Botschaft: Die fizienz der Arbeitsabläufe und die sondern die Grundbedürfnisse im Vor- Vollzeit-Erwerbstätigkeit muss ver- Produktivität. Als weiterer Aspekt dergrund stehen sollen, verschwinden ringert werden, damit die anderen wurde dadurch die Attraktivität des viele Arbeitsplätze. Auch klimaschäd- Bereiche ebenso ihre angemessene Betriebes für interessierte Bewer- liche Industrien müssen umgebaut Wertschätzung erfahren. Denn: Eine ber*innen erhöht. Schon allein aus werden, ohne dass die betroffenen radikale ArbeitszeitFAIRkürzung ist diesen Gründen erschließt sich, dass Arbeiternehmer*innen darunter lei- eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, es an der Zeit ist, die gesetzliche Wo- den. Daher ist es notwendig, die ver- der Belastung, der Gleichstellung, des chenarbeitszeit auf 30 Stunden zu bleibende Arbeit besser zu verteilen. Klimas, der Verteilung, der persönli- senken. Neben dem Fokus auf jene Produkte chen Entwicklung, der Zufriedenheit, und Dienstleistungen, die wir wirk- ja des Glücks. Es ist die Alternative, Eine Frage der Gleichstellung lich brauchen, spricht auch der tech- das neue Versprechen dieser Zeit, wel- Die Reproduktionsarbeit, wie das nologische Fortschritt für eine ches wir laut aussprechen und einfor- Putzen der Wohnung, sich um die Kin- Arbeitszeitverkürzung. Nur so kann es dern müssen! der und jene, die Unterstützung brau- gelingen, für alle Menschen ein gutes chen zu kümmern, Fragen der Hygiene Auskommen zu ermöglichen. Damit und des Kochens werden leicht ohne stehen neue, ökologische Produkti- Nicht Flexibilisierung, Wertschätzung in den unbezahlten onsweisen und eine Orientierung am sondern Reduzierung Verantwortungsbereich der Frauen Bedarf statt an der Gewinnmaximie- der Arbeitszeit führt zu abgeschoben. Frauen leisten zwei rung im Fokus eines klimagerechten Drittel der unbezahlten Haus-, Pflege- Wirtschaftens. Gleichstellung.. und Betreuungsarbeit. Aus Erhebun- gen während des ersten Corona-Jahres Eine Frage der Verteilung Eine Frage der lässt sich ablesen, dass sich das Miss- Obwohl Arbeitnehmer*innen ein sozialen Gerechtigkeit verhältnis zwischen bezahlter und Viertel mehr produzieren als vor 20 Die Arbeitslosenquote wird durch unbezahlter Arbeit verschärfte, wo- Jahren, sind in diesem Zeitraum die Re- eine bessere Verteilung der Arbeit ge- bei weitere Flexibilisierung hier keine allöhne kaum gestiegen! Die ‚goldene senkt. Die Teilzeit wird aufwerten. Abhilfe schafft: Frauen haben weniger Regel‘ der Marktwirtschaft war, einen Österreichs Arbeitsmarkt ist von ei- Zeit für bezahlte Arbeit, haben durch Teil des Wachstums und der Gewinne ner Spreizung geprägt – in sehr viele an die Beschäftigten zurückzugeben, Teilzeit arbeitende Frauen und viele entweder durch Lohnsteigerungen Vollzeit arbeitende Männer, mit Un- Wir wollen den Arbeit- oder Arbeitszeitverkürzung. Zur Erhö- mengen an Überstunden. Eine Re- nehmer*innen den von hung der Kaufkraft und Sicherung der duktion der Arbeitszeit mit vollem ihnen erwirtschafteten Absatzes. Lohnausgleich hilft allen, die Voll- Seit mindestens 20 Jahren sind in zeitarbeitenden werden entlastet, die Wohlstand wieder den meisten westlichen Industrie- Teilzeitkräfte werden aufgewertet zurückgeben. staaten diese Kurven auseinanderge- und bekommen mehr Einkommen. laufen. Um gerecht zu verteilen und den Arbeitnehmer*innen von dem Eine Frage der Belastung Erwerbsarbeit geringere Entlohnun- erwirtschafteten Wohlstand etwas Die Problematik von Arbeits- gen und erhalten nach Ende des Er- zurückzugeben, braucht es eine Ar- verdichtung und der ständigen werbslebens, bedingt u.a. durch den beitszeitverkürzung für alle. Erreichbarkeit ist bekannt. Die höheren Teilzeitanteil, auch deutlich Krankenstandstage nehmen zu. geringere Pensionen. Eine Senkung Mittlerweile können die positiven der Wochenarbeitszeit auf 30 Stunden gesundheitlichen und produktivitäts- bringt die dringend notwendige zeit- bezogenen Aspekte von reduzierter liche Entlastung von Männern und Arbeitszeit in der Praxis nachgewie- Frauen und ermöglicht eine bessere sen werden. So zeigte eine Begleit- Aufteilung der Care-Arbeit. Gesell- studie der Arbeitszeitumstellung von schaftliches und politisches Engage- 38,5 auf 30 Stunden in der österrei- ment erhält Raum und es stehen für chischen Firma eMagnetix aus dem alle mehr zeitliche Ressourcen dafür Jahr 2019, dass Belastungs- und Ermü- zu Verfügung. die Alternative • 2021 7
S C H W E R P U N K T Der 6 Stunden Tag Segen oder Fluch? Welche Gefahr birgt eine Verkürzung auf eine 30 Stunden Woche? Drohen Mehrkosten für die Unternehmen und dadurch eine Abwanderung der Betriebe? TEXT Vera Koller S chon lange fordern Gewerk- durch würden die Preise steigen. den, die Krankenstandstage gingen schaften und Vertreter*innen Bestätigt hat sich diese Befürch- zurück und es verbesserte sich die von Arbeitnehmer*innen eine tung nicht. Das Wachstum wurde wirtschaftliche Situation der Klinik. generelle Arbeitszeitverkürzung. nicht gebremst, ganz im Gegenteil: es Dadurch konnten auch die anfängli- Nicht immer mit demselben Nach- gab Produktivitätszuwächse und hö- chen Mehrkosten aufgefangen wer- druck und nicht alle fordern wie die here Beschäftigungsquoten. Zwar war den. Unabhängigen GewerkschafterInnen die Ausgangslage gut, mit Vollbeschäf- einen vollen Lohn- und Personalaus- tigung und hohen Lohnzuwächsen. - Seit 15 Jahren setzt das Toyota gleich. Aber spricht die aktuelle Krise wirk- Werk in Göteborg auf den 6-Stunden Als Gegenreaktion auf unsere For- lich dagegen? Tag und erzielt nur positive Ergebnisse. derung hören wir immer wieder eine Trotz 2-Stunden weniger pro Tag ist generelle Arbeitszeitverkürzung bei Wie uns ein paar Beispiele aus die Produktivität gleich geblieben, der vollem Lohn- und Personalausgleich der Praxis zeigen, kann eine Ar- Umsatz gestiegen und die Mitarbei- ist für die Unternehmen nicht finan- beitszeitverkürzung zum Vorteil ter*innen zufriedener geworden. zierbar und für die Konsument*innen aller Beteiligten auch jetzt gelin- mit einer Preissteigerung verbunden. gen. - Das online Marketing Unterneh- - Das Grazer Unternehmen “Bike Ci- men eMagnetix aus dem Mühlviertel Ist das so? tizens“ verzichtet auf Überstunden, setzt seit mehreren Jahren auf eine Die letzte generelle Arbeitszeitver- Nachtschichten und Wochenendar- 30 Stunden Woche und hat diesen kürzung in Österreich liegt schon län- beit, und punktet mit einer Vier-Ta- Schritt nie bereut. Mit der Arbeits- ger zurück. Vor der Einführung der 40 ge-Woche, seit 2014. Die Arbeitszeit zeitverkürzung stieg die Zufrieden- Stunden Woche bei vollem Lohnaus- liegt bei 36 Stunden. Dadurch ergab heit der Mitarbeiter*innen und damit gleich warnte Rudolf Sallinger, dama- sich eine Kostenersparnis, die Mitar- der Kund*innen. Durch die gestiegene ILLUSTRATIONEN Stefanie Hintersteiner liger Wirtschaftskammerpräsident, beiter*innen sind zufriedener und die Qualität ist auch der Umsatz gestie- vor dieser Gewerkschaftsforderung: Produktivität wurde gesteigert. gen. Die Konkurrenzfähigkeit der Betriebe würde leiden. Die Wirtschaftsleis- - Die Einführung des 6-Stundenta- - Auch beim australischen Unterneh- tung würde sich deutlich verringern ges im Sahlgrenska-Krankenhaus in men Versa müssen die Mitarbeiter*in- und dort, wo diese Verkürzung nicht Mölndal führte zu einer Steigerung nen nur noch 4 Tage in der Woche zur umsetzbar sei, käme es zu mehr Über- der Operationen um ein Fünftel. Es Arbeit und bekommen weiterhin den stunden und damit zu Zuschlägen. Da- konnte mehr Personal eingestellt wer- vollen Lohn. Durch die Steigerung der 8 die Alternative • 2021
T H E M A Weniger arbeiten KOMMENTARE mit allen Folgen, na klar. TEXT Stefan Taibl I n manchen Arbeitsbereichen hat es enorme Arbeitsverdichtungen gege- ben. Man sollte so arbeiten, dass man gesund die Pension erreicht. Das kann kaum mehr jemand. Wenn ich Menschen frage: “Mit wieviel Prozent deiner Kraft arbeitest du?“ sagen die meisten 100% oder sogar mehr. Durch diese Ver- dichtung braucht es mehr Zeit zur Erholung. Das löst aber nicht das Problem der Dichte, es ist nur eine Symptombekämpfung. Eine spürbare Verkürzung der Arbeitszeit greift hier und verteilt die Arbeit auf mehr Köpfe. Teilzeitkräfte, die meisten Beschäftigten im Sozial- und Ge- sundheitsbereich, bekommen dadurch mehr Gehalt und damit eine Verbesse- rung der Lebensbedingungen. Klimawandel und AZV Die Wissenschaft sagt es uns, die Schulkinder haben es auch schon verstan- den, die Wirtschaftsleistung der Industriestaaten muss schrumpfen, degrowth im Westen ist eine Überlebensfrage. Das bedeutet zugleich eine große Umstruk- turierung der Art, wie wir wirtschaften, konsumieren und Wohlstand sichern und verteilen. Das Thema muss die Politik endlich angehen. AZV ist ein Teil die- ses Prozesses. Wir müssen uns von der Nachkriegsideologie des Wirtschafts- wachstums und dem Kapitalismus, der Wachstum und Gewinnmaximierung als einziges Ziel anstrebt, verabschieden. Immer mehr und immer billiger schadet uns allen. Hat uns allen geschadet, wenn wir die Folgen des Klimawandels anse- hen. Arbeitszeitverkürzung als einzige Maßnahme, als separierter Schwerpunkt Mitarbeiterzufriedenheit und der da- der Gewerkschaftlichen Interessenspolitik, reicht da aber bei weitem nicht aus! mit verbundenen Produktionssteige- rung verdreifachte das Unternehmen seinen Gewinn. AZV im Pflegebereich. Woran liegt das? Viele Studien weisen darauf hin: Eine notwendige Forderung kürzere Arbeitszeiten erhöhen Pro- duktivität, Leistungsfähigkeit und TEXT Sonja Müllner Konzentration. Es werden weniger Das Wesen der Moderne ist das Paradoxon Fehler gemacht. Denn nach 4-6 Stun- Arbeitszeitverkürzung im Pflegebereich zu fordern, klingt vor dem Hinter- den Arbeit nimmt die Konzentrations- grund eines eklatanten Personalmangels zunächst paradox. Werden Faktoren fähigkeit rapide ab. wie Arbeitsstress und Arbeitsüberlastung mitberücksichtigt, die in einem hohen Ausmaß dazu führen, dass Menschen diesen Tätigkeitsbereich wieder verlassen, Mitarbeiter*innen, die nicht über- ergibt sich ein etwas anderes Bild. arbeitet sind, haben ein geringeres Risiko körperlicher und psychischer Genug geklatscht – Taten statt Worte Beschwerden, auch das Unfallrisiko ist Eine großzügig durchgeführte Arbeitsreduktion auf eine 30 Stunden Woche – erwiesenermaßen bei einem geringe- und damit ist eine Arbeitszeitreduktion bei vollem Lohnausgleich mit einer ent- ren Stundenausmaß reduziert. sprechenden Personalaufstockung gemeint – hätte mehrere Effekte. Entlastung Die Fakten liegen auf der Hand für die derzeit in dem Bereich tätigen KollegInnen, eine steigende Attraktivität und werden durch die Beispiele bestä- des Pflegebereichs und eine real wahrnehmbare Wertschätzung, anstatt der übli- tigt. Raubbau an den Beschäftigten chen symbolischen Gesten, derer die Menschen mehr als überdrüssig sind. zu betreiben, ist keine gute Unter- nehmensphilosophie und einige Un- Pflege ist ein Zukunftsthema ternehmer*innen und Länder haben Das Thema Pflege wird uns langfristig begleiten und mitentscheidend für die dies erkannt, daher sollten sich andere Lebensqualität im höheren Alter sowie im Fall von Krankheit oder Behinde- nicht scheuen es auch zu versuchen! rung sein. Hier nicht kleingeistig zu agieren, sondern faire, großzügige Lösun- gen anzustreben, kann sich für jede/jeden Einzelnen „auszahlen“ und vielleicht auch mithelfen, die Risse, die in unserer Gesellschaft entstanden sind wieder zu schließen. die Alternative • 2021 9
S C H W E R P U N K T Kürzere Arbeitszeiten und der öffentliche Dienst Die letzte Verkürzung der Arbeitszeit war vor 46 Jahren und ist seitdem unverändert, die Arbeit allerdings deutlich mehr. S TEXT Gary Fuchsbauer either gilt im BDG (Beamtendienstrecht) praktisch unverändert der §48 (2): „Die regelmäßige Wochendienstzeit des Beamten beträgt 40 Stunden. Sie kann in den einzel- nen Wochen über- oder unterschritten werden, hat aber im Kalenderjahr im Durchschnitt 40 Stunden je Woche zu betragen. Das Ausmaß der zulässigen Über- und Unterschreitung der regelmäßigen Wo- chendienstzeit in einzelnen Wochen des Durchrech- nungszeitraumes ist im Dienstplan festzulegen.“ Es gilt also eine 40-Stunden-Woche samt Jahresdurchrechnung Da aber mittlerweile die Mehrzahl der öffent- lich Bediensteten keine Beamt*innen sind, ist auch das VBG (Vertragsbedienstetengesetz) zu anderseits führte die Technisierung dazu, dass nennen. Dort steht am Beginn des §20 „Auf die real auch nach formellem Dienstschluss die Ar- Dienstzeit des Vertragsbediensteten sind die §47a beit im Kopf bleibt und erledigt wird. Dazu kom- bis 50e BDG […] anzuwenden“. men die jederzeit möglichen Dienstanweisungen über Telefon oder elektronische Medien. Real: Arbeitszeit Bei Lehrer*innen wurden die formellen Ar- verdichtet und erhöht beitszeiten faktisch ausgeweitet. Dazugekom- Der Inhalt und der Umfang der Arbeit hat sich men ist eine Erhöhung der Unterrichtszeit, allerdings verändert und erweitert. Digitalisie- Mehrarbeit für Klassenvorstands- und Lehrmit- rung, Verwaltungsreformen, Neuorganisation, telverwaltungstätigkeit, Unterricht am Abend, alles führt zu mehr Arbeit in gleicher Zeit. um nur einige Beispiele zu nennen. Gleichzei- Doch die öffentliche Hand als Dienstgeber tig ist die Abgeltung für Überstunden verringert sah keine Veranlassung, die wesentlich intensi- worden. ver gewordene Arbeit auf mehr Menschen aufzu- teilen; und auch rote Regierungen setzten keine Und was hat die GÖD getan? Aus Schritte in diese Richtung ebenso wenig wie die ihrer Sicht Schlimmeres verhindert. für die öffentlich Bediensteten zuständige Ge- werkschaft. Bleibt nur die Hoffnung und unsere weiteren Stattdessen ist sogar das Gegenteil passiert. Bemühungen zu einer allgemeinen Arbeitszeit- Neben der Intensivierung kam es auch zu einer verkürzung in Österreich, auch für den öffentli- tatsächlichen zeitlichen Erhöhung. chen Dienst. Einerseits ist die aufgebürdete Arbeit mehr Und die Hoffnung, dass im Kampf gegen die geworden, Zuständigkeiten wurden verbreitert, Erderhitzung und für die Vermeidung von Reise- bewegungen die 4- und 3-Tag-Arbeitswoche und damit die Aufteilung der Arbeit auf mehr Men- schen kommen werden. 10 die Alternative • 2021
T H E M A AZV sichert Beschäftigung und erhöht den Wohlstand Kurzarbeit hat 100.000e Jobs gerettet. Jetzt brauchen Beschäftigte mehr Zeit für ein gutes Leben und um sich für die Gemeinschaft zu engagieren. TEXT Markus Marterbauer „Ein Instrument aus der Mottenkiste“ nennt Wirtschaftskammerpräsident Harald Mahrer die Arbeitszeitverkürzung. Gleichzeitig feiert er – in diesem Fall zu Recht - den Erfolg des sozial- partnerschaftlichen Instruments der Kurzarbeit. Bis zu 1,4 Millionen Beschäftigte waren in der Covid-Krise in Kurzarbeit, im März 2021 sind es noch immer sind es mehr als 400.000. Staatlich geförderte Kurzarbeit war ganz im Interesse der beteiligten Unternehmen, weil sie deren Arbeit- Viele neue Modelle der nehmer*innen im Betrieb hielt, Qualifikationen Arbeitszeitverkürzung nicht verloren gehen ließ und so enorme Kosten Schon in der Finanzkrise 2008/09 zeigte sich, einsparte. Sie hat auch den Arbeitnehmer*innen dass viele Beschäftigte nach der Kurzarbeit nicht enorm geholfen, weil Job und Einkommen gesi- wieder zurück in Vollzeit wollen. Die persönli- chert wurden. Kurzarbeit hat in der Covid-Krise chen Erfahrungen mit kürzerer Arbeitszeit hat hunderttausende Arbeitsplätze gerettet. Sie ihnen vor Augen geführt, wieviel mehr das Le- zeigt: Arbeitszeitverkürzung ist ein mächtiges und höchst zeitgemäßes Instrument, um in der Krise Beschäftigung zu stabilisieren. Kurzarbeit in dauerhafte Doch nicht alle Beschäftigten kamen in den Arbeitszeitverkürzung Genuss dieses auch international wahrgenom- überführen. menen Vorzeigeprojekts. Die Industrie hat seit jeher Erfahrung mit Kurzarbeit und diese auch rasch in Anspruch genommen. Hingegen sind es ben über die Erwerbsarbeit hinaus zu bieten hat. die Arbeitgeber*innen im Tourismus gewohnt, Mehr Freizeit bedeutet mehr Zeit für Erholung zu Ende der Saison zu kündigen, die Arbeitslo- und Weiterbildung, Familie und Freund*innen, sen in der Arbeitslosenversicherung zu parken Kultur und Politik, kurzum den eigenen Interes- und bei Wiederöffnung neuerlich einzustellen. sen nachzugehen und sich für die Gemeinschaft So auch in der Covid-Krise. Damit finanzieren zu engagieren. Dafür kämpft die Arbeiter*innen- die öffentlichen Kassen einen Sektor mit rela- bewegung seit mehr als 100 Jahren. tiv schlechten Arbeitsbedingungen. Vollends absurd ist es, wenn Tourismusbetriebe nun bei Deshalb sind Vorschläge, die Kurzarbeit in Wiedereröffnung des Betriebes und Wiederein- dauerhafte Arbeitszeitverkürzung zu überfüh- stellung der Beschäftigten auch noch hohe Lohn- ren so gut: Etwa eine befristet geförderte Vier-Ta- subventionen aus dem Programm „Sprungbrett“ ge-Woche oder das Solidaritätsprämienmodell. bekommen. Weiterhin gilt es, die vielen in Kollektivverträge und Betriebsvereinbarungen erreichten inno- vativen Modelle der Arbeitszeitverkürzung zu verbreiten: Von der Freizeitoption über die Um- wandlung von Jubiläumsgeldern in Freizeit bis zu neuen Schichtmodellen und der Ausweitung des Urlaubsanspruchs. Denn das wichtigste Ziel Weitere Beiträge von Markus Marterbauer, der Verkürzung von Arbeitszeit ist es, den Wohl- Chefökonom der Arbeiterkammer Wien, stand der arbeitenden Menschen zu erhöhen. findet ihr auf dem AundW Blog. die Alternative • 2021 11
S C H W E R P U N K T Arbeitszeitverkürzung als ein Weg zur Erreichung der Klimaziele Endloses Wirtschaftswachstum und der damit verbundene steigende Ressourcenverbrauch sind in einer endlichen Welt nicht möglich. E ine Beschränkung des Wachstums TEXT Alfred Stiglbauer („Degrowth“) in den reicheren Ländern ist daher notwendig – auch aus der globa- len Gerechtigkeitsperspektive heraus, denn auch ärmeren Ländern muss die Gelegenheit zu ma- teriellem Wachstum gegeben werden. Vor dem Hintergrund der ambitionierten Klimaziele – wünscht sich ein Viertel der Vollzeiterwerbstä- EU-weit sollen die Treibhausgasemissionen bis tigen weniger zu arbeiten. Umgesetzt werden 2030 um 40% gegenüber 1990 sinken – erscheint könnte eine kürzere Arbeitszeit durch Kollek- eine Beschränkung des Wachstums geboten. Ar- tivverträge, bei denen zumindest ein Teil der beitszeitverkürzung ist ein Weg, der uns diesem gestiegenen Arbeitsproduktivität nicht in eine Ziel näherbringt. Reallohnerhöhung, sondern in ein Sinken der Normalarbeitszeit mündet. Wie hängen Degrowth und Arbeitszeit zu- Die Hindernisse, das Wachstum zu beschrän- sammen? Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist ken, sind groß, denn ohne ein solches sind be- definitionsgemäß das Produkt von Arbeitspro- stehende ökonomische Probleme schwieriger duktivität und den gesamtwirtschaftlichen zu lösen. Wirtschaftswachstum erleichtert bei- Arbeitsstunden, wobei die stetig wachsende Ar- spielsweise die Finanzierung von staatlichen beitsproduktivität der Wachstumstreiber für das Dienstleistungen und es entschärft auch Ver- BIP ist. Reduziert man die Arbeitsstunden, so teilungskonflikte. Wie der Umbau zu einer sta- verlangsamt sich kurzfristig das BIP-Wachstum. tionären Wirtschaft mit langsamerem bzw. Für eine dauerhafte Wachstumsverlangsamung Null-Wachstum zu bewerkstelligen ist, ohne dass es zu Instabilitäten des Wirtschafts- systems kommt, ist noch kaum erforscht. Beschränkung des Wachstums Die Gewerkschaftsbewegung muss sich und Reduzierung der Arbeitszeit zum einen auf den ökologischen Umbau der Wirtschaft einstellen und zum anderen die ist ökologisch sinnvoll. Interessen der Arbeitnehmer*innen unter veränderten Bedingungen vertreten. ist es überdies notwendig, auch das Wachstum der Produktivität herunterzufahren, etwa indem Letztendlich ist eine Welt mit geringerer man lokale, gemeinschaftliche und ökologische Arbeitszeit und langsamen Produktivitätswachs- Unternehmen, die eine hohe Arbeitsintensität tum wohl besser geeignet, ein zufriedenstellen- und geringe Produktivitätszuwächse aufweisen, des (Arbeits)leben bei besserer Gesundheit zu fördert. Beides, eine geringere Arbeitszeit und führen als es jetzt der Fall ist. eine Verlangsamung des Produktivitätswachs- tums würde den Wünschen vieler Arbeitneh- mer*innen entgegen kommen. In Österreich Literaturtipp Tim Jackson: Wohlstand ohne Wachstum – das Update. Grundlagen für eine zukunftsfähige Wirtschaft. oekom-Verlag München 2017 12 die Alternative • 2021
T H E M A Die Umsetzung einer betrieblichen Arbeitszeitverkürzung ist möglich! A uch Betriebsrät*innen und Personalver- treter*innen können grundsätzlich eine generelle Verkürzung der Arbeitszeit im Betrieb ausverhandeln. Dafür bestehen verschie- dene Möglichkeiten, z.B. als Inhalt einer Be- triebsvereinbarung zum Thema Gleitzeit. Natürlich braucht es zur Umsetzung ein Ein- verständnis der Geschäftsleitung und diese denkt oft in ihren Kategorien. Vor dem Start von Verhandlungen ist es daher empfehlenswert, Überlegungen über erzielbare Vorteile anzustel- TEXT Vera Koller len. Z.B. kann es sinnvoll sein, eine Recherche über Krankenstandstage im Betrieb vorzuneh- men. Möglicherweise ergeben sich durch die ausgedehnten Erholungsmöglichkeiten der Mit- arbeiter*innen diesbezüglich Verbesserungen. Auch die Evaluierung psychischer Belastungen kann hier herangezogen werden. Vielleicht ist es sinnvoll einzelne Abteilungen/Teams näher zu betrachten. Die für die Verhandlungen wichtigen Frage- stellungen lauten: Wo können sich durch zu- friedenere Mitarbeiter*innen Verbesserungen einstellen? Wie kann eine Arbeitszeitverkür- zung auch zum Vorteil des Betriebes umgesetzt werden? Nicht immer werden solche Verhandlun- gen von Erfolg gekrönt sein, aber sie bieten eine Chance das Thema auch für Unternehmer*innen positiv zu besetzen. die Alternative • 2021 13
S C H W E R P U N K T „Was ist denn Wohlstand?“ Gespräch mit Sabine Skubsch über Arbeits- zeitverkürzung, Rentenungerechtigkeit und die eierlegende Wollmilchsau. Das Interview führte Karin Stanger. Unser Interview dreht sich um Sie ist aktueller denn je. Die Coro- Aber auch im Lebensmitteleinzel- die „Vier-in-Einem-Perspektive“ na-Krise hat uns gerade nochmal ge- handel hat Corona zu einer Arbeits- der Soziologin Frigga Haug. Alle zeigt, wie ungleich die Arbeit verteilt verdichtung geführt. Es wurden mehr vier Bereiche – Erwerbsarbeit, ist. Die Mehrbelastung aufgrund der Waren angeliefert und verkauft, zu- Sorgearbeit, kulturelle Arbeit Kita- und Schulschließungen wurde und politische Arbeit – sind vor allem von Frauen geleistet. für die Gesellschaft sowie für Junge Familien jede_n Einzelne_n wichtig. In Das Thema Pflege ist auch wünschen sich eine Haugs Vorstellung einer ge- stärker in den Mittelpunkt rechten Verteilung von Zeit und gerückt… 30-Stunden-Woche. ILLUSTRATION Stefanie Hintersteiner Tätigkeiten sollen alle Men- Corona hat die Überlebensnotwe- schen, egal ob Mann oder Frau, nigkeit der Arbeit in Gesundheit und die Möglichkeit haben, ca. vier Pflege im wahrsten Sinne des Wortes sätzlich mussten die Verkäuferinnen Stunden pro Tag für jeden Be- deutlich gemacht. Die chronischen mit der Gereiztheit der Kunden zu- reich aufzubringen. Wie aktuell Personalnot und die schlechte Bezah- rechtkommen. Die Lebensmittelkon- ist die Vier-in-Einem-Perspek- lung aufgrund von Privatisierungen zerne sind die Gewinner der Krise tive? sind zu einem öffentlichen Thema und die Verkäuferinnen haben keinen geworden. Cent mehr Lohn gesehen! 14 die Alternative • 2021
I N T E R V I E W Welche Rahmenbedingungen tigungsverhältnisse eine Barriere zur braucht es, damit wir die betrieblichen Mitbestimmung dar. „Vier-in-Einem-Perspektive“ Ein Arbeitsverhältnis beginnt i.d.R. umsetzen können? mit einer zweijährigen Befristung, Der Neoliberalismus ersetzte das Kinderziehung auf Karriere verzichtet was häufig bedeutet, dass Frauen, die traditionelle „Mann-als-Ernährer- - man möchte es ihm auch gar nicht zu- schwanger werden, ihren Job verlieren. der-Familie-Ideal“ durch das „Alle-Er- muten. Bei Frauen ist das berufliche Bei meinen männlichen Betriebsrats- wachsenen-müssen-arbeiten-Modell“. Zurückstecken aber weiterhin akzep- kollegen fehlt leider oft das Problem- Das Problem ist, dass wir sehr viel Zeit tiert. Das spüren die Frauen dann oft bewusstsein. mit Erwerbsarbeit verbringen (müs- im Alter. Viele Frauen schrecken auch die hi- sen), zulasten der Sorge um unsere erarchisch-patriarchalen Strukturen Liebsten und uns selbst. Alle Kämpfe in Betriebsräten und Parteien ab, um um Arbeitszeitverkürzung gehen in sich einzumischen. Sie wollen inhalt- die richtige Richtung. In den Gewerk- lich mitgestalten, haben aber wenig schaften und in der LINKEN reden wir Die gesellschaftliche Lust auf das Machtgerangel. über ein „neues Normalarbeitsver- Arbeit muss geteilt und hältnis“ um die 30 Stunden. Radical Self-Care ist bei ins Gleichgewicht vielen Feminist_innen Thema. Wie müssen wir gebracht werden. Passt das in die Vier-in-Einem- Sorgearbeit organisieren? Perspektive? Viele Parteien favorisieren die „Ver- Frigga Haug versteht unter Selbst- einbarkeit von Beruf und Familie“. Stichwort Pensionen – sorge die persönliche Weiterentwick- Diese dreht sich aber v.a. um die Mo- Deutschland hat ein anderes lung, die uns dazu in die Lage versetzt bilisierung von Frauen mit kleinen Rentensystem... mit anderen zusammen eine selbstbe- Kindern für die Erwerbsarbeit. Die Frauen bekommen in Deutschland stimmte Zukunft zu entwerfen und Öffnungszeiten der Kitas sind nur da- im Schnitt 36 % weniger Rente als anzugehen. Das ist etwas völlig ande- ran orientiert, dass die Frauen Zeit zur Männer. Die Sorgearbeit für Kinder, res als der uns von der Wirtschaft und Arbeit haben, aber nicht daran, dass Kranke und Alte muss bei der Berech- den Medien auferlegte Zwang zur Selb- sie tanzen gehen oder sich politisch nung der Rente berücksichtigt werden. stoptimierung. Von Frauen wird heute einmischen können. Erwerbs- und Deutschland sollte sich dabei ein Bei- erwartet, gut ausgebildet, gut ausse- Sorgearbeit müssen nicht „verein- spiel am österreichischen Rentensys- hend und die perfekte Familienmana- bart“, sondern beide müssen verändert tem nehmen, das sich erfolgreich aus gerin zu sein, Karriere zu machen und und umverteilt werden. Neben kürze- Beiträgen und Steuern finanziert. abends noch eine Runde Yoga einzu- ren Erwerbsarbeitszeiten brauchen schieben. Dieses Bild der eierlegenden wir eine Stärkung der sozialen Infra- Kommen wir zur Politischen Wollmilchsau konterkariert die Vor- struktur mit gebührenfreien Ganzta- Teilhabe. In Österreich sind bei- stellung von einem selbstbestimmten geskitas und -schulen in kommunaler spielsweise nur ein Drittel der Leben, weil es sich an von außen aufer- oder gemeinnütziger Trägerschaft. Betriebsrät_innen weiblich. legten Anforderungen orientiert. Was Das deutsche Betriebsverfassungs- ist denn Wohlstand? Ein perfektes Hat sich die Aufteilung der Sor- gesetz schreibt vor, dass das „Minder- E-Auto und künstliche Intelligenz, die gearbeit zwischen Frauen und heitengeschlecht“ gemäß dem Anteil unsere Konsumgewohnheiten vorsor- Männern gebessert? der Beschäftigten im Betriebsrat ver- tiert? Oder Zeitwohlstand, also aus- Bei jungen Familien gibt es den treten sein muss. Das hat mehr Frauen reichend Zeit für uns, unsere Freunde starken Wunsch sich Sorge und Er- in die Betriebsräte gebracht. Das Pro- und Familie zu haben? werbsarbeit zu teilen. Viele wünschen blem sehe ich eher darin, dass immer sich eine 30-Stunden-Woche für beide. weniger Betriebe Betriebsräte haben. Wenn sich dieser Wunsch nicht re- Dies betrifft oft Branchen wie Einzel- Sabine Skubsch, ist Betriebsrätin bei einem großen alisieren lässt, greifen aber oft wie- handel und Reinigung, in denen viele bundesweiten freien Träger der Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit in Deutschland. Sie ist promovierte der die traditionellen Rollenmuster. Frauen beschäftigt sind. Außerdem Diplompädagogin, Lehrerin, aktiv bei GEW und ver.di, Es ist selten, dass ein Mann wegen der stellt die große Zahl prekärer Beschäf- sowie Mitglied im Parteivorstand DIE LINKE. die Alternative • 2021 15
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D E B A T T E N S E I T E Auf diesen Seiten finden sich Standpunkte und Meinungen zum Schwer- punkt der jeweiligen Arbeitszeitverkürzung Ausgabe – diesmal zum Thema Arbeitszeitverkür- als historische Normalität zung. TEXT Florian Schall S eit im 19. Jahrhundert die klassische Lohnarbeit „erfunden“ wurde, sind Produktivitätszuwachs und Arbeitszeitverkürzung unzertrennlich Uns ist bekannt, dass wir heute deutlich weniger Arbeitsstunden leisten als unsere werktätigen Vorfahren im 19. Jahrhundert. Ob als Arbeiterin oder Beamter – die Arbeitszeit war länger. Ohne die Statistik überstrapazieren zu wollen: Mitte des 19. Jahrhunderts war mit Vollzeit nicht viel weniger als die halbe Lebenszeit gemeint: sechsmal 11 bis 12 Stunden galten als moderat. In den darauffolgenden Jahrzehnten wurde in vielen Branchen der Achtstundentag (Sechstagewoche) erkämpft und 1918 gesetzlich verankert. Bis 1918 sank so die Wochenarbeits- zeit um rund ein Fünftel (von 60 auf 48 Wochenstunden). Im 20. Jahrhundert folgten weitere Schritte hin zur Fünftage-/ 40 Stundenwoche 1975. Möglich war das alles, weil wir durch technischen Fortschritt mit weniger Arbeitsaufwand immer größeren Wohlstand erzeugten und den heutigen Sozialstaat entwi- ckeln konnten. Damals herrschte bekanntlich Vollbeschäf- tigung. Der Produktivitätszuwachs ging seither weiter, trotzdem stagniert die Arbeitszeit seit knapp einem halben Jahrhundert – gelegentlich mit Bestrebungen, sie wieder zu verlängern (60/12). Die Folge ist, dass Arbeit heute ungleicher verteilt ist und die Jüngeren von Vollbe- schäftigung nicht einmal träumen können. Viele junge Menschen finden keine unbefristeten Stellen mehr, sondern werden in ein Prekariat aus Praktika, Scheinselb- ständigkeit und unqualifizierter Teilzeit gedrängt. Arbeit ist heute – wie Vermögen und Einkommen – zunehmend ungleich verteilt. Das lange gültige Prinzip „Produktivi- tätssteigerung gleich Wohlstandssteigerung“ verkehrt sich für immer mehr Menschen ins Gegenteil. Doch das gute Leben für alle braucht materielle Sicherheit – Arbeit gerechter zu verteilen ist ein Gebot der Stunde. 18 die Alternative • 2021
D E B A T T E N S E I T E Warum eine Arbeitszeit- verkürzung die Arbeitslosigkeit TEXT Vera Koller wahrscheinlich nicht im E sind nicht nur die Auswirkungen auf erhofften Ausmaß die Zahl der Arbeitslosen von Relevanz. Vielmehr bedarf es einer gesamtgesell- reduziert schaftlichen Betrachtung; auch eine Beurtei- lung lediglich anhand der Verteuerung von TEXT Alfred Stiglbauer Löhnen ist viel zu kurz gegriffen. I m Jahr 2019 gab es in Österreich 301.000 registrierte Arbeits- Eine Arbeitszeitverkürzung hat Auswirkungen lose und mehr als 2,7 Mio. unselbständig Vollzeit-Beschäftigte. auf viele Bereiche des Arbeitsmarktes und Wenn man für diese eine Arbeitszeit von durchschnittlich 40 darüber hinaus. Wochenstunden annimmt und die Arbeitszeit auf ein Maximum von 30 Stunden beschränkt, dann würde man bei gleichbleiben- Eine Verkürzung der Arbeitszeit kann: dem Arbeitsvolumen 3,6 Mio. Arbeitskräfte benötigen, was einem – zu einem Mehr an Jobs Plus von 900.000 Arbeitskräften entspricht. Man könnte meinen, für Arbeitslose führen, dass die Arbeitslosigkeit damit auf jeden Fall verschwinden würde. – die Gesundheitskosten aufgrund Leider ist dies unter den gegebenen Rahmenbedingungen inner- von weniger Krankenstandstagen senken, halb des vorherrschenden Systems eher unwahrscheinlich. – das Unfallrisiko minimieren, – zu einem längeren Verbleib in Zu diesen Rahmenbedingungen zählen insbesondere Arbeitskräf- der Erwerbstätigkeit führen und tefreizügigkeit in der EU, die Freiheit von UnternehmerInnen ihre Frühpensionen vermeiden, Arbeitskräfte auszusuchen und die Güterpreise festzusetzen, die – einen Schritt in Richtung Klimaschutz hohe Marktmacht von Unternehmen und die gesunkene Verhand- darstellen. lungsmacht von Gewerkschaften (bzw. ihre mangelnde Präsenz in vielen Dienstleistungssektoren). Nur mit einer Arbeitszeitverkürzung kann der notwendige Wandel in der Gesellschaft vorange- Eine, per Gesetz verordnete, Reduktion der Arbeitszeit bei vollem trieben werden. Lohnausgleich würde aller Voraussicht nach aus ökonomischer Sicht folgende Reaktionen nach sich ziehen: Deshalb fordern die unabhängigen GewerkschafterInnen eine gesetzliche (1) Von den Arbeitslosen finden eher nur diejenigen, die ohnehin Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden leicht zu vermitteln gewesen wären, eine Arbeitsstelle. Alle ande- bei vollem Lohn- und Personalausgleich. ren würden auch unter diesen Umständen keine Beschäftigung finden, denn die Unternehmen würden anstelle der Arbeitslosen viel eher ausländische Arbeitskräfte einstellen. (2) Die Arbeitszeitreduktion bei vollem Lohnausgleich bedeutet Eine generelle eine beträchtliche Verteuerung des Faktors Arbeit. Die Unterneh- men würden nach Möglichkeiten suchen, den Arbeitskräftebedarf Verkürzung der zu reduzieren. Arbeitszeit bei vollem (3) „Voller Lohnausgleich“ bedeutet, dass die Nominallöhne und -gehälter gleichbleiben. Die Verteuerung des Faktors Arbeit würde Lohnausgleich ist vielfach auf die Güterpreise überwälzt, sodass die Reallöhne fallen. Angesichts der hohen Marktmacht von Unternehmen ist das sehr möglich. wahrscheinlich. die Alternative • 2021 19
D E B A T T E N S E I T E Leseempfehlung Moishe Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx Freiburg 2003 (ça ira), 616 Seiten Wann, wenn nicht in pandemischen Zeiten hat man Zeit für einen richtig dicken Schinken. In diesem 600-Seiten starken Buch interpre- tiert Moishe Postone die von Marx in seinem Spätwerk entwickelte kritische Theorie grund- legend neu. Postone versuchte mit seiner Ana- lyse auf hohem Niveau darzulegen, warum die Probleme des Kapitalismus nicht nur Fragen Petition der Wohlstandsverteilung betreffen, sondern Arbeitszeit FAIRkürzen: wesentlich tiefer sitzen. Er entwickelte hierbei 30-Stunden-Woche jetzt! Gedanken weiter, die schon in seiner Antisemi- tismus-Theorie zum Tragen kamen: den „Kern Denn: des kapitalistischen Systems als unpersönli- ArbeitszeitFAIRkürzung ist eine che Form abstrakter Herrschaft“ zu begreifen. Frage der sozialen Gerechtigkeit, Postone bietet die Grundlage für eine kritische eine Frage der Belastung, eine Frage Analyse des Kapitalismus, die der heutigen Zeit der Gleichstellung und eine Frage der angemessener ist. Das Buch ist gut lesbar, aber Verteilung man muss es studieren. Und dazwischen ab und an bei Marx und Hegel nachschlagen. Der Link zur Petition findet sich auf auge.or.at. Hörempfehlung Hörempfehlung AK goes Podcast „Rolle Nachgehört/Vorgedacht vorwärts“ ÖGB Podcast Es erwarten euch Geschichten aus dem #4: Kürzere Arbeitszeiten – Alltag von Menschen – von Eltern, Arbeit- mehr Lebensqualität nehmer*innen und Arbeitssuchenden. Im Gespräch versorgen Expert*innen aus der Ar- In dieser Folge dreht sich alles um das beiterkammer, aber auch von extern, Interes- Thema Arbeitszeitverkürzung. Während der sierte mit wertvollen Fakten und Tipps. Präsident der Wirtschaftskammer, Harald Unser Beziehungen und Partnerschaften Mahrer, abwinkt und nichts davon hören will, sagen etwas über unsere Gesellschaft aus. In spricht sich unser Gast Reinhold Binder, Bun- unserem Alltag bildet sich ab, wer eher die be- dessekretär der Produktionsgewerkschaft zahlte Arbeit übernimmt, wer die unbezahlte, (Pro-Ge), klar für kürzere Arbeitszeiten aus. wer die Kinder wie oft betreut, wer die Alten „Damit gibt es mehr Beschäftigung, die Pro- pflegt, wer den Haushalt schupft – kurz: wie duktivität wird gesteigert, die Beschäftigten Männer und Frauen ihre Rollen leben. Der Pod- sind zufriedener und wir schützen auch noch cast will genau hinsehen, traditionelle Rollen- das Klima!“, erklärt uns Binder. bilder kritisch hinterfragen und Familie neu denken. Die ersten Folgen des Podcasts prägt Im Podcast kommt aber auch der Unter- das dominierende Thema der letzten Monate: nehmer Klaus Hochreiter zu Wort. Er verrät die Corona-Krise. Die hat unser Leben in den uns u.a. warum die Arbeitszeitverkürzung letzten Monaten verändert mehr als alles An- auf 30-Stunden in seinem Unternehmen dere und in unseren Familien und Partner- eMagnetix „die beste Entscheidung war, die schaften Spuren hinterlassen. Reinhören! Der wir je getroffen haben“. Podcast ist überall, wo es Podcasts gibt, abruf- bar. 20 die Alternative • 2021
I N T E R N AT I O N A L Weltsozialarbeitstag 2021 TEXT Christine Petioky I n der aktuellen Debatte über die Aufwer- Die International Federation of Social Wor- tung systemrelevanter Care-Berufe ist auf- kers ist Dachorganisation für lokale, regionale fallend selten von Sozialarbeit die Rede, und überregionale Berufsverbände auf allen obwohl Sozialarbeiter:innen während sämtli- Kontinenten und gleichzeitig Forum für kon- cher Lockdowns Menschen bei dringenden Pro- tinuierliche Auseinandersetzung mit globalen blemlösungen unterstützt und begleitet haben. sozialpolitischen Themen. Ein Symbol dafür ist Hat das konsequente Ausblenden dieser Be- der jährliche World Social Work Day, der heuer rufsgruppe damit zu tun, dass sie sich nicht damit am 16.3.2021 mit zahlreichen Online-Veranstal- zufriedengibt, Aufträge zu erfüllen und Gesetze tungen abgehalten wurde. zu vollziehen, sondern die eigene Arbeit als Men- schenrechtsprofession begreift, auf Basis ihrer Er stand unter dem Leitthema UBUNTU, ei- Berufsethik und mit einer gewissen Unabhän- nem sozialphilosophischen Konzept aus afri- gigkeit gegenüber ‚zeitgeistigen’ Zumutungen? kanischen Ländern südlich der Sahara, das auf Dass Berufs- und Sozialpolitik für sie zusam- mündliche Erzähltraditionen zurückgeht und mengehören? Dass sie die Bedürfnisse, Priori- die Verbundenheit zwischen Individuum, Ge- täten, Probleme und Wünsche benachteiligter, meinschaft und Umwelt in ihren vielfältigen ausgegrenzter Personengruppen ernstnimmt, Wechselwirkungen beschreibt. UBUNTU wird in auch wenn sich Vorstellungen über zielführende Afrika immer mehr zur fachlichen Grundlage der Problemlösungen mitunter unterscheiden? Liegt Sozialarbeit und nun auch weltweit thematisiert. der Grund für die verbreitete Nichtbeachtung vielleicht darin, dass sie auf einfache Deutungen Vielfältige Themen und eindimensionale Interventionen verzichtet am Weltsozialarbeitstag und stattdessen methodisch und wissenschaft- In diesem Kontext beschäftigten sich die Teil- lich argumentiert? nehmer:innen mit diversen Beiträgen: Ubuntu in der Sozialen Arbeit mit Kindern (Afrika), kul- Lokale und weltweite Organisation tursensible Praxis in der psychischen Gesund- Angesichts ihrer schwierigen Position hat heitsarbeit (Australien), Stärkung der Resilienz Sozialarbeit früh begonnen, sich als Berufs- von Gemeinschaften und mentale Gesundheit in gruppe lokal und weltweit zu organisieren. der Pandemie (Asien), Schaffung eines sozialen Europas (Europa), Menschenrechte und gutes Leben für alle (Lateinamerika), virtueller anti- rassistischer Gipfel (Nordamerika). Lokal orga- nisierte Veranstaltungen aus Brunei, Frankreich, Indien, Indonesien, Iran, Kenia, Österreich, Süd- afrika, Turkmenistan, Ukraine, UK etc. ergänz- ten das Programm. Der Weltsozialarbeitstag bot somit etliche Anhaltspunkte zur verstärkten Wahrnehmung der Berufsgruppe Sozialarbeit. die Alternative • 2021 21
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