Deutschland und Israel heute - Verbindende Vergangenheit, trennende Gegenwart?
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Deutschland und Israel heute Deutschland und Israel heute Verbindende Vergangenheit, trennende Gegenwart? Autoren Dr. Steffen Hagemann Dr. Roby Nathanson Mit einem Kommentar von Prof. Dr. Dan Diner
Deutschland und Israel heute Inhalt Vorwort 6 Einleitung 8 Erhebungsmethode 10 1. Staat und nationale Identität 12 2. Geschichte und Holocaust 22 3. Israelisch-deutsche Beziehungen heute 32 4. Besondere Beziehungen und Verantwortung 42 5. Fazit 54 Kontinuität trotz Wandel? Einsichten in das deutsch-israelisch/jüdische 58 Verhältnis – von Dan Diner Anhang 66 Literaturverzeichnis 74 Die Autoren 75 Impressum 76 5
Vorwort 2. History and Holocaust Vorwort Liz Mohn stellvertretende Vorsitzende des Vorstands der Bertelsmann Stiftung Deutschland hat aufgrund seiner Geschich- Deutschland und Israel haben sich in den te eine besondere Verantwortung für das vergangenen Jahrzehnten einander angenä- jüdische Volk und den Staat Israel. Seit hert und pflegen heute intensive Beziehun- Gründung der Bertelsmann Stiftung vor gen auf allen Ebenen und in den unterschied- bald vierzig Jahren ist es meinem Mann und lichsten Bereichen. Dies ist vor allem ein mir immer wichtig gewesen, sich für die Verdienst der Generationen, die den Schre- Aussöhnung der beiden Völker zu engagie- cken der Vergangenheit aus eigenem Erleben ren. Bei unseren zahlreichen Besuchen in kannten. Sie wussten, wie wichtig es ist, sich Israel haben uns die offenen und herzlichen für die Aussöhnung zu engagieren und Wege Begegnungen mit den Menschen besonders in eine gemeinsame Zukunft zu ebnen. bewegt. Viele von ihnen wurden zu guten Freunden. So konnten wir beispielsweise Doch auch viele junge Menschen in beiden mit der Unterstützung von Persönlichkeiten Ländern haben heute ein großes Interesse wie Shimon Peres, Teddy Kollek oder Dov aneinander und engagieren sich für eine Judkowski wichtige Projekte verwirklichen gemeinsame Zukunft. Ein wesentliches Ziel wie den Aufbau eines deutsch-israelischen dabei: voneinander und miteinander zu Young-Leaders-Austauschs, die Förderung lernen. Nur so kann es uns gelingen, unsere eines Instituts zur Demokratie- und Toleranz- Welt ein Stück weit gerechter und friedlicher erziehung oder die Errichtung der ersten zu machen. Journalistenschule Israels. 6
Deutschland und Israel heute Um den Dialog zwischen unseren Völkern Die Erkenntnisse, die wir in dieser Unter weiter ernsthaft und in Offenheit zu füh- suchung gewinnen, sollen uns dabei helfen, ren, ist es auch von großer Bedeutung zu einander gerade auch in unserer Unter- wissen, wo Differenzen in der Wahrnehmung schiedlichkeit besser zu verstehen und bestehen und wie sich das gegenseitige Ver- zu respektieren. Das ist in unserer weiter ständnis im Laufe der Zeit verändert. Israel zusammenwachsenden Welt entscheidend. befindet sich in einem politischen Umfeld, Um Gemeinsamkeiten zu entdecken, brau- das der Reflexion der einzelnen Standpunkte chen wir darüber hinaus die persönliche bedarf. Gerade deshalb ist es so wichtig, den Begegnung und den offenen, von echtem Blick für die Hoffnungen und Sorgen der Interesse geprägten Dialog. Denn aus dem Menschen nicht zu verschließen. Dazu soll Kennenlernen erwächst Verstehen. Und aus die hier vorliegende Studie beitragen. Ihr dem Verständnis entstehen Vertrauen und liegen Ergebnisse einer aktuellen Befragung Freundschaft. von über 2000 Menschen aus Deutschland und Israel zugrunde, die sich ganz persön- lich zu ihren Einstellungen und Überzeugun- gen geäußert haben. 7
Einleitung 2. History and Holocaust Einleitung Im Mai 2015 begehen Israel und Deutsch- etwa um das Israel-Gedicht des Schrift- land den fünfzigsten Jahrestag der Aufnah- stellers Günter Grass („Was gesagt werden me diplomatischer Beziehungen. Seitdem muss“), und auch die jüngste Eskalation des haben die beiden Länder nicht nur auf Konflikts zwischen Israel und der Hamas politischer und wirtschaftlicher Ebene, im Sommer 2014 brachte tief verwurzelte sondern auch in den unterschiedlichsten Emotionen an die Oberfläche. Der Krieg im gesellschaftlichen Bereichen ihre Kontakte Nahen Osten löste in Deutschland einen vertieft und gemeinsame Projekte ins Leben Anstieg antisemitischer Aktivitäten bis hin gerufen. Dafür stehen die deutsch-israelische zu körperlichen Angriffen auf Juden aus. Im Wissenschafts- und Forschungszusammen- öffentlichen Diskurs wurden im Zuge der arbeit, gemeinsame kulturelle Initiativen Kritik an der israelischen Regierung wieder- und zahlreiche Begegnungsprogramme für holt antisemitische Rollenklischees bemüht junge Menschen beider Länder. Zeichen und die israelische Politik sogar mit dem der besonderen Bedeutung der bilateralen Nationalsozialismus verglichen. Beziehungen sind auch die jährlichen Re- gierungskonsultationen beider Staaten, die Es stellt sich daher die Frage, wie es um 2008 anlässlich des sechzigsten Jahrestages das Verhältnis zwischen Deutschen und der Staatsgründung Israels aufgenommenen jüdischen Israelis tatsächlich bestellt ist. wurden. Welches Bild haben die Menschen in beiden Ländern voneinander, welche Bedeutung Resultierend aus der Verantwortung messen sie der Erinnerung an die national- Deutschlands für den Holocaust gehören das sozialistischen Verbrechen zu und wie be- Bekenntnis zum Existenzrecht Israels und urteilen sie die deutsche und die israelische die Mitverantwortung für die Sicherheit des Politik? Schließlich: Inwiefern haben sich Landes zu den scheinbar unverrückbaren diese Wahrnehmungen und Einstellungen in Grundpositionen deutscher Außenpolitik. den letzten Jahren verändert? Das haben deutsche Spitzenpolitiker bei zahlreichen Gelegenheiten immer wieder Für die Zukunft der Beziehungen zwischen betont. Das Verhältnis zwischen beiden Län- Deutschland und Israel haben differenzierte dern ist weit davon entfernt, als „normal“ zu Einblicke in die Facetten dieser gegenseiti- gelten. Nach wie vor prägt die Vergangenheit gen Wahrnehmung eine hohe Bedeutung. die beiderseitigen Beziehungen und offen- Denn die Erkenntnisse, die sich daraus bart sich deren Zerbrechlichkeit. Das zeigt ergeben, können als Indikator für mögliche sich in vielen Debatten der letzten Jahre, Krisen und Herausforderungen dienen. 8
Deutschland und Israel heute Damit zeigen sie Handlungsbedarf für all stabil sind. Allerdings hat sich die Meinung diejenigen an, die für den Dialog und die gegenüber Israel bei den deutschen Befrag Verständigung zwischen beiden Ländern ten deutlich verschlechtert und auch in arbeiten. der Frage einer politischen Unterstützung Israels bzw. der Palästinenser zeigt sich eine Die Bertelsmann Stiftung hat deswegen 2013 steigende Frustration und Ratlosigkeit der zum zweiten Mal nach 2007 eine demosko- deutschen Bevölkerung. pische Untersuchung in Auftrag gegeben, in deren Rahmen in Israel und Deutschland Für die Analyse und Bewertung der Ergeb- jeweils rund 1000 Personen über 18 Jahre nisse sind wir vor allem den Autoren Roby befragt wurden (in Israel der Themenstellun- Nathanson und Steffen Hagemann zu Dank gen wegen nur jüdische Bürger). Die Frage- verpflichtet. Darüber hinaus gilt unser Dank stellungen in den repräsentativen Studien Dan Diner für seinen Kommentar, der die der beiden Jahre sind nicht vollständig, aber Ergebnisse einer kritischen Betrachtung in weiten Teilen identisch. Zur Verfügung unterzieht und wesentlich einzuordnen hilft. standen zudem Daten einer Untersuchung Außerdem danken wir Roland Imhoff und im Auftrag des Nachrichtenmagazins DER Stephan Stetter, die uns bei der Entwicklung SPIEGEL aus dem Jahr 1991, die ebenfalls des Fragebogens und der Auswertung unter- eine vergleichende Analyse der Einstellun- stützt haben, und TNS Emnid in Deutschland gen und Befindlichkeiten von Deutschen und sowie TNS Teleseker in Israel für die Durch- Israelis zum Gegenstand hatte. Für einige führung der Meinungsumfrage. der Fragestellungen sind daher Vergleiche über einen längeren Zeitraum möglich. Stephan Vopel Director Programm Lebendige Werte Um zu prüfen, ob sich seit der Erhebung der Daten Anfang 2013, insbesondere durch den Gaza-Krieg im Sommer 2014, in der Meinung der deutschen Bevölkerung wesentliche Veränderungen ergeben haben, wurden sieben der Fragen im Oktober 2014 in Deutschland erneut im Rahmen einer repräsentativen Befragung erhoben. Die Ergebnisse zeigen im Kern, dass viele der Einstellungen im Wesentlichen relativ 9
Erhebungsmethode 2. History and Holocaust Erhebungsmethode Die Daten dieser Untersuchung wurden in einer telefonischen Befragung erhoben (Computer Assisted Telephone Interviewing). Folgende Parameter lagen dabei zugrunde: Durchführungszeit- Land Grundgesamtheit Stichprobenumfang raum Deutschland 18+ 1,000 07. – 19.01.2013 Israel (Juden) 18+ 1,001 07. – 10.01.2013 In Israel und Deutschland hat das Befragungsinstitut TNS Teleseker sowohl 1991 als auch 2007 ähnliche Erhebungen durchgeführt. Einige Fragen aus diesen Erhebungen wurden hier zu Vergleichszwecken aufgegriffen, andere wurden neu hinzugefügt. Die Datenerhebung für Deutschland hat TNS Emnid vorgenommen. Dieser Befragung ging eine Pilotstudie voraus, die dazu diente, den angemessenen Anteil von Festnetz- und Mobilanschlüssen zu ermitteln. Auf dieser Basis ließen sich Stichproben von Festnetz- und Mobiltelefonbenutzern mithilfe der Dual- Frame-Methode erstellen. Die mittlere Fehlertoleranz der Anteilswerte beträgt +/– 3 Prozentpunkte (bei einer Sicherheitswahrscheinlichkeit von 90 Prozent, eine Stichprobengröße von n = 1000 zugrunde gelegt). Bei den Daten für Israel ist zu beachten, dass arabische Staatsbürger nicht befragt wurden. Die Befragung wurde auf die jüdische Bevölkerung beschränkt, da die Ergebnisse hinsichtlich der Beziehungen zwischen den beiden Ländern in direk- tem Zusammenhang mit der ethnischen Zugehörigkeit der Befragten stehen. 10
Deutschland und Israel heute 11
1. Staat und nationale Identität 1. SHistory 2. taat und and Holocaust nationale Identität Die Erinnerung an den Holocaust prägt nach nach wie vor in der deutschen politischen wie vor die politische Kultur der deutschen Kultur verwurzelt. wie der israelischen Gesellschaft. Da die nationalen Identitätsdiskurse nicht umhin kommen, sich – in welcher Form auch im- „Die Erinnerung an den mer – mit der Judenverfolgung der Nazizeit Holocaust prägt nach wie auseinanderzusetzen, prägt die Geschichte weiterhin das Selbstverständnis und die vor die politische Kultur kollektiven Identitätsvorstellungen beider der deutschen wie der israelischen Völker und bildet in ihren Beziehungen Gesellschaft.“ zueinander einen negativen Bezugspunkt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erlebte die deutsche Gesellschaft einen Iden- In Israel bildete der Holocaust ein wichtiges titätsbruch, da mit Blick auf den Holocaust Rechtfertigungsnarrativ für die Staats- eine uneingeschränkt positive Identifikation gründung, stellte er nach Auffassung der mit der Nation nicht mehr möglich war. zionistischen Führung doch den endgültigen Der zuvor stark ausgeprägte Nationalismus Beweis für die Notwendigkeit eines jüdischen wurde zudem durch das Bewusstsein der Staates dar. Dieses Selbstverständnis prägt vollständigen Niederlage und die kollektive noch heute die nationale Identität Israels. Katastrophe des Krieges untergraben. Im Außerdem ist das Rechtfertigungsnarrativ ersten Nachkriegsjahrzehnt bewältigte die von ungebrochener Relevanz im öffentlichen Bevölkerung diese Identitätskrise, indem die Diskurs Israels, da das nach wie vor unvoll- Erinnerungen an den Holocaust nicht beach- endete Projekt der Staatsbildung sowohl von tet oder unterdrückt wurden; erst später ge- innen als auch von außen immer wieder wann das Gedenken an die Judenverfolgung angefochten wird. In diesem Kapitel betrach- im kollektiven Gedächtnis der Deutschen ten wir die Auswirkungen der unterschiedli- an Bedeutung. Seither sind der kritische chen politischen Kulturen Deutschlands und Vorbehalt gegenüber jedem Versuch einer Israels auf die nationale Identifikation und Festlegung deutscher Wesensmerkmale und die kollektive Identitätsbildung. das Bekenntnis zu universellen Werten und Normen zu bestimmenden Faktoren für die Nation und Identität Neubestimmung der deutschen Identität ge- worden. Gleichzeitig bleibt jedoch die Tradi- Insgesamt 80 Prozent der Deutschen stim- tion eines ethnisch geprägten Nationalismus men der Aussage zu, dass ihre nationale 12
Deutschland und Israel heute Abbildung 1: Identifikation mit der eigenen Nation (Angaben in %) 100 80 60 40 74 40 22 20 18 10 6 0 Deutschland Israel Skalenwert 1 („trifft völlig zu“) 6 („trifft überhaupt nicht zu“). Abgebildet sind die Skalenwerte 1, 2 und 3. Skalenwert 1 (trifft völlig zu) Skalenwert 2 Skalenwert 3 Zustimmung zur Aussage: „Deutsch/Israelisch zu sein ist ein wichtiger Teil meiner Identität.“ Quelle: TNS Emnid 2013 Zugehörigkeit ein wichtiger Teil ihrer Iden- wobei sogar 74 Prozent ihr nationales Zu tität sei, wobei dies aber für weniger als die gehörigkeitsgefühl als stark beschreiben. Hälfte (40 %) „völlig“ zutrifft. Bei den israe- lischen Befragten hält eine Mehrheit von 90 Ähnliche Ergebnisse zeigen sich bei der Fra- Prozent ihre israelische Identität für wichtig, ge nach der moralischen Überlegenheit der 13
1. Staat und nationale Identität Abbildung 2: Moralische Überlegenheit der eigenen Nationen (Angaben in %) 80 15 60 46 25 40 16 20 36 17 0 Deutschland Israel Skalenwert 1 („trifft völlig zu“) 6 („trifft überhaupt nicht zu“). Abgebildet sind die Skalenwerte 1, 2 und 3. Skalenwert 1 (trifft völlig zu) Skalenwert 2 Skalenwert 3 Zustimmung zur Aussage: „Verglichen mit anderen Nationen ist Deutschland/Israel eine sehr moralische Nation.“ Quelle: TNS Emnid 2013 eigenen Nation. 40 Prozent der deutschen, mit der Vergangenheitsbewältigung stehen: aber 62 Prozent der israelischen Befragten Deutschland hat nach diesem Verständnis stimmen der Aussage „völlig“ oder „ziemlich“ die Geschichte des Holocausts aufgearbeitet zu, dass ihr eigenes Land „im Vergleich mit und ist so zu einem Selbstverständnis als anderen Nationen eine sehr moralische Na „reife Nation“ gelangt, die aus der Vergan- tion“ ist (Abb. 2). Insgesamt erreicht in Israel genheit die notwendigen Lehren gezogen hat. die Aussage „Verglichen mit anderen Natio- nen ist Israel eine sehr moralische Nation“ Diese Daten weisen auf eine für das heu- einen Zustimmungsgrad von fast 80 Prozent, tige Deutschland typische Dichotomie der wobei fast die Hälfte der Befragten „völlig“ Gefühle hin: Zwar wird die nationale und zustimmt. Damit ist der Anteil derer, die kulturelle Identität als wichtig empfunden, „völlige“ Zustimmung signalisieren, dreimal jedoch galt eine öffentliche Zurschaustellung so hoch wie in Deutschland. Zwar stimmen von Nationalstolz seit dem Zweiten Welt- in beiden Ländern etwa gleich viele Befragte krieg lange Zeit als unpassend oder sogar der Aussage grundsätzlich zu, jedoch schät- gefährlich, da hierdurch auch ein „falscher“ zen die Deutschen ihr Land in moralischer Nationalismus gefördert werden könnte. Das Hinsicht wesentlich differenzierter ein. Die nationale Zugehörigkeitsgefühl der Deut- Tatsache, dass trotz des Holocausts immer- schen ist dennoch stark ausgeprägt, jedoch hin 76 Prozent der Deutschen die mehr oder differenzierter als das der Israelis. minder starke Überzeugung hegen, dass ihr Land im Vergleich zu anderen Staaten „sehr So stimmen 14 Prozent der Deutschen „völlig“ moralisch“ sei, könnte im Zusammenhang und insgesamt die Hälfte mehr oder minder 14
Deutschland und Israel heute Abbildung 3: Bewertung von Kritik an der eigenen Nation (Angaben in %) 80 60 37 14 40 14 11 20 22 18 0 Deutschland Israel Skalenwert 1 („trifft völlig zu“) 6 („trifft überhaupt nicht zu“). Abgebildet sind die Skalenwerte 1, 2 und 3. Skalenwert 1 (trifft völlig zu) Skalenwert 2 Skalenwert 3 Zustimmung zur Aussage: „Es ist illoyal, wenn Deutsche Deutschland kritisieren/Israelis Israel kritisieren.“ Quelle: TNS Emnid 2013 stark der Aussage zu: „Es ist illoyal, wenn an der israelischen Politik und die Tatsache Deutsche Deutschland kritisieren“. In Israel verweisen, dass dies in Israel zunehmend hingegen signalisiert etwa ein Drittel keine wahrgenommen wird. Daraus mag wenigs- Zustimmung. Demgegenüber halten zwei tens teilweise eine defensive Haltung oder so- Drittel der Israelis Kritik an Israel für illoyal. gar die Sorge resultieren, dass die Legitimität Auf diese Thematik gehen wir im Folgenden Israels zur Debatte stehen könnte. Das erhöht näher ein. eventuell sogar die Bereitschaft der Befrag- ten, kritisches Nachdenken über ihr Land Wie wir bereits gesehen haben, ist bei den hintanzustellen, um den Staat zu verteidigen. befragten israelischen Juden der National- Festzuhalten gilt es jedenfalls, dass sich die stolz stark ausgeprägt. Dies war auch in der starke emotionale Verbundenheit der israe Vergangenheit der Fall: In den späten 1990er lischen Befragten mit ihrem Land deutlich Jahren und bis zur Mitte der 2000er Jahre von der sehr viel zurückhaltenderen natio gaben etwa 90 Prozent der befragten israe nalen Identifikation der Deutschen abhebt. lischen Juden an, dass sie stolz darauf seien, Israeli zu sein (Arian, Barnea und Ben-Nun „Die starke emotionale 2004). Das Level dieses Stolzes sank 2004 um einige Prozent, ist aber seither wieder Verbundenheit der israelischen auf den alten Wert angestiegen (Israeli Demo Befragten mit ihrem Land hebt sich cracy Index Surveys, 2003–2012). Zur Erklä- deutlich von der sehr viel zurückhalten rung des starken Patriotismus, der zurzeit das israelische Selbstverständnis prägt, lässt deren nationalen Identifikation sich auf die wachsende internationale Kritik der Deutschen ab.“ 15
1. Staat und nationale Identität Wie bereits erwähnt stimmen zwei Drittel Ansicht von jenen Befragten vertreten, die der israelischen Befragten der Aussage „Es sich selbst als traditionell beschreiben. ist illoyal, wenn Israelis Israel kritisieren“ zu. Das war in der Vergangenheit anders; Zusammengehörigkeit, Lektionen es gab Zeiten, in denen eindeutig zwischen aus der Vergangenheit und der zulässiger Kritik und staatsfeindlichen Andere Aktivitäten differenziert wurde: Ab dem Beginn des ersten Libanonkrieges 1982 Zwar glaubt eine Mehrheit der Israelis, dass hatten Israelis, die der Politik ihres Landes ihre Gesellschaft bestimmte Haltungen, Tra- kritisch gegenüberstanden, keinen Vorwurf ditionen und Werte teilt, jedoch ist der Anteil der Illoyalität zu befürchten. Das änderte derer, die so denken, in Israel immer noch sich Mitte der 1990er Jahre, als das Land kleiner als in Deutschland (74 % verglichen auf eine Welle von Terroranschlägen scharf mit 82 %, siehe Abb. 4). Zudem stimmt fast reagierte und Kritik von links als Sympathie die Hälfte der Aussage nur mit Vorbehalt zu. mit dem Feind – und somit grundsätzlich als Angesichts der Klassenunterschiede und der staatsfeindlich – eingeordnet wurde. tiefen Spaltung der israelischen Gesellschaft zwischen Juden und Arabern, religiösen und In Israel sind mehr als doppelt so viele Be- nicht religiösen, eingewanderten und altein- fragte wie in Deutschland „völlig“ überzeugt, gesessenen Einwohnern ist es kaum verwun- dass Kritik am eigenen Land illoyal ist, und derlich, dass die Überzeugung von der Exis- die Gesamtzahl derer, die dieser Aussage tenz einer alle einbeziehenden kollektiven zustimmen, ist exakt doppelt so hoch wie die Identität bei den Israelis geringer ausgeprägt Zahl jener, die sie ablehnen. Der Grund dafür ist. Tatsächlich haben Zweifel darüber, ob liegt vermutlich darin, dass es in Deutsch- die israelische Gesellschaft überhaupt in der land unstrittiger ist, was es heißt, Staatsbür- Lage ist, sich dauerhaft auf gemeinsame Wer- ger und Deutscher zu sein. Das trägt zu einer te zu einigen, die israelische Politik bereits weniger defensiven Haltung in der Gesell- seit der Staatsgründung begleitet. Zwar wur- schaft bei, da die nationale Identität durch den in dem neu gegründeten Staat die ersten Kritik nicht gefährdet zu sein scheint. Wahlen zum Zweck der Bildung einer verfas- sungsgebenden Versammlung abgehalten. Diese scheiterte aber an ihrem Auftrag. Aus „Die nationale Identität der Versammlung ging zwar die erste Knesset scheint in Deutschland durch Kritik (Parlament) hervor, jedoch ist Israel bis heute nicht gefährdet zu sein.“ ein Staat ohne schriftlich fixierte Verfassung – ein Gradmesser für die Schwierigkeit des Landes, die unterschiedlichen Strömungen in In Israel, wo eine eindeutige Definition der der Gesellschaft zusammenzubringen. Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit zum Gemeinwesen noch aussteht, ist dies noch In Deutschland hingegen scheint der Ge- nicht der Fall. sellschaftsvertrag tragfähiger zu sein. Der deutschen Gesellschaft liegt – trotz zahlrei- Diese Gefühle sind von demographischen cher historischer Herausforderungen und Faktoren unabhängig, allerdings mit der Umbrüche – eine recht klare Vorstellung Ausnahme, dass Nichtreligiöse weniger von einem vereinten Volk mit gemeinsamer dazu neigen, Kritik als illoyal zu werten. kultureller Identität zugrunde. Das deutsche Nur knapp mehr als die Hälfte (58 %) der Volk war eindeutiger definiert und sowohl nicht religiösen Israelis, aber drei Viertel der geographisch als auch kulturell weniger religiösen Befragten halten Kritik am Staat zerstreut und verfügte somit über eine aus- für illoyal. Ähnlich stark (70 %) wird diese reichend große gemeinsame Erfahrungsbasis, 16
Deutschland und Israel heute Abbildung 4: Nationale Kollektivität (Angaben in %) 80 24 60 31 29 40 20 20 29 23 0 Deutschland Israel Skalenwert 1 („trifft völlig zu“) 6 („trifft überhaupt nicht zu“). Abgebildet sind die Skalenwerte 1, 2 und 3. Skalenwert 1 (trifft völlig zu) Skalenwert 2 Skalenwert 3 Zustimmung zu der Aussage: „Die Deutschen/Israelis wird man immer anhand bestimmter Traditionen und Überzeugungen beschreiben können.“ Quelle: TNS Emnid 2013 um ein Gefühl der Zusammengehörigkeit wie wir noch sehen werden. Das positive auszubilden. In der Nachkriegszeit arbeitete Selbstbild der Deutschen scheint angesichts man in Deutschland zudem mit aller Kraft der steigenden ethnischen, kulturellen und an der Entwicklung gemeinsamer sozialer religiösen Vielfalt in Deutschland zunehmend Normen und Werte mit dem ausdrücklichen unter Druck zu geraten. Im Diskurs um die Anspruch, mit der Vergangenheit zu brechen. Neudefinition deutscher Identität – wie etwa Dies ist mit ein Grund für die Stärke der ge- in der Leitkulturdebatte – wird den Musli sellschaftlichen Solidarität in diesem Land. men zunehmend die Rolle des Anderen zugewiesen: Umfragedaten belegen, dass die „Deutschlands ausdrücklicher Deutschen eine eher negative Einstellung Anspruch, nach dem gegenüber Menschen islamischen Glaubens haben, nur etwa ein Drittel spricht von Zweiten Weltkrieg mit der „positiven Gefühlen“ (Pollack u. a. 2010). In Vergangenheit zu öffentlichen Debatten definieren Vertreter brechen, ist ein Grund für eines Kulturnationalismus die deutsche Nation in einer Weise, die muslimische Ein- die Stärke der gesellschaft- wanderer ausschließt. Zwar stellen Anhänger lichen Solidarität.“ eines liberaleren und inklusiven Ansatzes, der die deutsche nationale Identität mit Gleichzeitig aber glauben 58 Prozent der Werten wie Gleichheit, Toleranz und Minder- Deutschen, dass eine starke Zunahme kultu- heitenschutz verbindet, den muslimischen reller oder religiöser Minderheiten im Land Migranten die Zugehörigkeit zur deutschen in gewissem Grad eine Bedrohung darstellt, Gesellschaft in Aussicht. Aber sogar dieses 17
1. Staat und nationale Identität Abbildung 5: Lehren aus der Geschichte – Einstellungen und Werte (Angaben in %) Unter keinen Umständen sollten in einer Demokratie 22 19 48 die Rechte des Einzelnen 21 16 26 eingeschränkt werden dürfen. Der Schutz der Rechte von ethnischen und religiösen 27 25 28 Minderheiten ist eine der dringlichsten Aufgaben in 29 16 21 unserer Gesellschaft. Ich finde es bedrohlich, wenn kulturelle oder religiöse 26 15 17 Minderheiten in meinem Land 26 12 25 stark wachsen. Skalenwert 1 („trifft völlig zu“) 6 („trifft überhaupt nicht zu“). Abgebildet sind die Skalenwerte 1, 2 und 3. Israel Deutschland Skalenwert 1 (trifft völlig zu) Skalenwert 1 (trifft völlig zu) Skalenwert 2 Skalenwert 2 Skalenwert 3 Skalenwert 3 Zustimmung zu den genannten Aussagen. Quelle: TNS Emnid 2013 liberale Verständnis von Nation setzt voraus, Im israelischen Kontext sind es primär die dass Migranten sich bis zu einem gewissen Araber, mit denen die Juden den Begriff Grad kulturell anpassen. So ist etwa Lehre- des Anderen verbinden. Umfragen in Israel rinnen an öffentlichen Schulen in einigen haben wiederholt bestätigt, dass die Kluft deutschen Bundesländern das Tragen des zwischen Juden und Arabern als tiefste muslimischen Kopftuchs verboten und der Spaltung in der israelischen Gesellschaft Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft wahrgenommen wird, und diese Ansicht ist wird an das Bestehen eines Einbürgerungs- seit dem vergangenen Jahrzehnt eher noch tests gebunden. häufiger anzutreffen als zuvor. So sah laut ei- ner Studie die jüngere Generation 1998 noch „Umfragen in Israel haben die Spaltung zwischen religiösen und nicht religiösen Israelis als tiefste im Land an. Aus wiederholt bestätigt, dass die zwei Tracking-Umfragen seit 2004 geht je- Kluft zwischen Juden doch die Kluft zwischen Juden und Arabern und Arabern als tiefste als wichtigste soziale Spaltung hervor (Hexel und Nathanson 2010). Bemerkenswert in Spaltung in der israelischen Bezug auf die Wahrnehmung des Anderen Gesellschaft wahrgenommen wird.“ in Israel ist, dass sich die arabische Gemein- schaft auch aus der Perspektive der Juden als vielfältig darstellt. So leisten Drusen und 18
Deutschland und Israel heute einige Beduinen sogar Militärdienst in der kaum auf die Probe gestellt. Deutschland israelischen Armee, werden aber dennoch befindet sich inmitten Europas in einer geo- meist gemeinsam als Fremde wahrgenom- graphisch sicheren Lage und verfügt über men. Die Umfrageergebnisse deuten somit eine homogenere Bevölkerungsstruktur als darauf hin, dass das Bild, das sich die Israel, wo eine nationale Minderheit mehr jüdischen Israelis von den Arabern machen, als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung stellt. wahrscheinlich überwiegend von eindimen- Dass jedoch 58 Prozent der Befragten in sionalen, negativen Stereotypen geprägt ist. Deutschland die Zunahme ethnischer und Da die arabischen Mitbürger ganz offenbar religiöser Minderheiten als bedrohlich an mit den als feindlich angesehenen Palästi- sehen, ist ein Warnsignal dafür, dass die nensern assoziiert werden, haben israelische Geltung liberaler Werte in Krisenzeiten nicht Befragte auch eine geringere Bereitschaft als gegeben vorausgesetzt werden kann. als die Deutschen, den Schutz der Rechte für „ethnische und religiöse Minderheiten“ (unter denen die meisten Israelis vorwiegend „Die liberale Gesinnung arabische Gruppen verstehen) als dringlich wird in Deutschland, anzuerkennen. Zwar sind zwei Drittel der Befragten dazu bereit, dieser Wert ist jedoch anders als in Israel, kaum auf deutlich niedriger als in Deutschland (80 %, die Probe gestellt.“ siehe Abb. 5). Diese Unterschiede zwischen Deutschland Zwar bekennen sich auch die Israelis zu und Israel lassen sich durch die Folgen des demokratischen Werten, jedoch auf diffe- Zweiten Weltkrieges sowie die historischen renziertere Weise, was Ausdruck ihrer ganz und politischen Kontexte beider Länder er- anderen Nachkriegserfahrungen und der klären. In Deutschland gilt der Holocaust als unlösbaren Konflikte im Land ist. Die Zahl Ereignis, das die deutsche Identität negativ der Israelis, die sich dazu bekennen, dass mitbestimmt. Die nationale Identität durch- die Freiheit des Einzelnen nicht beschränkt lief einen mit harten Kämpfen, Ambivalen- werden sollte, ist fast doppelt so hoch wie die zen und Widersprüchen verbundenen Trans- Zahl derer, die das ablehnen. Allerdings ist formationsprozess, der dazu führte, dass die Zustimmung unter den Israelis wesent- die alten Traditionen und kollektivistischen lich niedriger als unter den Deutschen, die Ideologien durch universalistische Werte und ein viel stärkeres Bekenntnis zur Freiheit Normen ersetzt wurden. Unsere Umfrage des Einzelnen erkennen lassen. Aus den Ant- bestätigt, dass dieser Universalismus als worten auf diese Frage geht hervor, dass sich Lektion aus dem Zweiten Weltkrieg und dem die Israelis als Volk verstehen, das demokra- Holocaust zu einem bestimmenden Faktor tische Werte anerkennt. Allerdings spricht deutscher Identität geworden ist. 89 Prozent sich mehr als ein Drittel offen dafür aus, der Deutschen treten für den absoluten Vor- dass unter bestimmten Umständen die indi- rang der Rechte des Einzelnen ein, die unter viduellen Freiheitsrechte auch eingeschränkt keinen Umständen eingeschränkt werden werden dürfen. Dieses Außerkraftsetzen der dürfen, und 80 Prozent halten den gesetz Rechte des Einzelnen halten viele Israelis an- lichen Schutz ethnischer und religiöser Min- gesichts der ständigen Bedrohungen für die derheiten für eine der dringlichsten Aufgaben Sicherheit – und ihrer Auffassung nach sogar unserer Gesellschaft. Nun können sowohl die die Existenz – des Landes für gerechtfertigt. Rechte des Einzelnen als auch der Minder- In dieser Hinsicht unterscheidet sich Israel heitenschutz als gemeinsame Werte bezeich- sehr stark von Deutschland, das eine solche net werden. Jedoch wird diese liberale Gesin- Bedrohung von Sicherheit und Existenz nicht nung in Deutschland, anders als in Israel, kennt. In Israel ist die Anzahl derer, die dem 19
1. Staat und nationale Identität Primat der Rechte des Einzelnen „völlig“ zustimmen, weit geringer als in Deutschland (26 % respektive 48 %). Darüber hinaus sind nicht alle gesellschaftlichen Gruppierungen im gleichen Maße von der überragenden Wichtigkeit der Individualrechte überzeugt. Etwas mehr als die Hälfte der religiösen (54 %), aber zwei Drittel der nicht religiösen Befragten stimmen dieser Aussage zu. Unter den weniger Gebildeten liegen Zustimmung und Ablehnung auf etwa gleichem Niveau. „Deutschland befindet sich in keinem vergleich- baren Zustand der existenziellen Unsicherheit.“ Die vorliegenden Daten belegen die sehr un- terschiedlichen Erfahrungswelten Deutsch- lands und Israels in der heutigen Zeit. Dadurch werden auch die Einstellungen der Bevölkerungen zur nationalen Identität und zu demokratischen Werten unterschiedlich geprägt. Israel befindet sich in einer Lage der permanenten Bedrohung auf militärischer wie politischer Ebene. Deutschland befindet sich – ungeachtet aller Schwierigkeiten der Identitätsbildung einschließlich der Fragen von Minderheitenrechten und sozialer Inklu- sion – in keinem vergleichbaren Zustand der existenziellen Unsicherheit (dies gilt insbe- sondere für die Zeit nach dem Mauerfall). In Israel hingegen steht die ständig präsente Bedrohung des Staates dem vorbehaltlosen Bekenntnis zu liberaldemokratischen Werten im Weg, obwohl eine Mehrheit der Bevölke- rung ein solches vorbehaltloses Bekenntnis bevorzugen würde. 20
Deutschland und Israel heute 21
2. Geschichte und Holocaust 2. Geschichte History and und Holocaust Holocaust Vergangenheitsbezüge prägen die Konstruk- Bleibende Relevanz des Holocausts tion und Legitimierung nationaler Identi- oder Forderung nach Schluss- täten. Gleichwohl ist die Interpretation der strich? Vergangenheit immer beeinflusst durch die Bedürfnisse der Gegenwart und die sich wan- Nach 1945 war in Deutschland die Propagie- delnden politischen und gesellschaftlichen rung einer uneingeschränkt positiven natio- Rahmenbedingungen. In diesem Sinne sind nalen Identität politisch nicht mehr möglich, der Holocaust und der Nationalsozialismus da der Holocaust bei jedem Zugriff auf kollek- von anhaltend hoher Relevanz und wirken tive Erzählungen und Identifikationen als sich auch weiterhin – in einem dynamischen negativer Bezugspunkt präsent war. Fast 70 und kontroversen Wechselspiel – auf das Jahre später und nach vollzogenem Genera nationale Selbst- und Geschichtsverständnis tionenwechsel schwinden die Geschehnisse und die Wahrnehmung des Anderen aus. des Krieges jedoch langsam aus dem öffent lichen Gedächtnis und es besteht kein Zweifel, „Beide Gesellschaften dass viele Deutsche nun die Vergangenheit hinter sich lassen möchten. Eine große Mehr- besitzen ihr eigenes Verständnis und heit von 77 Prozent der Befragten stimmt in ihre eigene Sicht auf die heutige einem allgemeinen Sinne der Aussage zu, „man sollte die Geschichte ruhen lassen und Bedeutung der Geschichte.“ sich gegenwärtigen oder zukünftigen Proble- men widmen“ (siehe Abb. 6). In diesem Kapitel widmen wir uns der Art und Weise, wie sich Deutsche und Israelis Die Zustimmung zu dieser Aussage in Bezug mit dem Holocaust auf emotionaler und auf die Judenverfolgung ist sogar noch etwas kognitiver Ebene auseinandersetzen. Beide höher (siehe Abb. 7): Insgesamt 81 Prozent Gesellschaften besitzen jeweils ihr eigenes der deutschen Befragten möchten in dieser Verständnis und ihre eigene Sicht auf die Hinsicht die Geschichte des Holocausts hin- heutige Bedeutung der Geschichte im Allge- ter sich lassen, wobei der Anteil derjenigen, meinen und des Holocausts im Besonderen. die diesem Anliegen „völlig“ zustimmen, bei 37 Prozent liegt. Diese Gruppe ist zwar kleiner als die Gesamtheit derjenigen, die weniger stark zustimmen. Dennoch bleibt festzuhal- ten, dass eine Mehrheit der Deutschen es ausdrücklich befürwortet, einen Schluss- 22
Deutschland und Israel heute Abbildung 6: Die Geschichte ruhen lassen (Angaben in %) 80 60 39 40 24 19 11 20 19 19 0 Deutschland Israel 0 7 9 7 8 20 9 28 40 60 80 Skalenwert 1 („trifft völlig zu“) 6 („trifft überhaupt nicht zu“). Skalenwert 1 (trifft völlig zu) Skalenwert 2 Skalenwert 3 Skalenwert 4 Skalenwert 5 Skalenwert 6 Zustimmung zu der Aussage: „Ich denke, man sollte die Geschichte ruhen lassen und sich gegenwärtigen oder zukünftigen Problemen widmen.“ Quelle: TNS Emnid 2013 23
2. Geschichte und Holocaust Abbildung 7: Konzentration auf gegenwärtige Probleme (Angaben in %) 100 80 60 37 27 40 21 17 20 23 20 0 Deutschland Israel 0 6 6 5 8 7 20 19 40 60 80 100 Skalenwert 1 („trifft völlig zu“) 6 („trifft überhaupt nicht zu“). Abgebildet sind die Skalenwerte 1, 2 und 3 als Zustimmung und 4, 5 und 6 als Nichtübereinstimmung. Skalenwert 1 (trifft völlig zu) Skalenwert 2 Skalenwert 3 Skalenwert 4 Skalenwert 5 Skalenwert 6 Zustimmung zu der Aussage: „Wir sollten uns lieber gegenwärtigen Problemen widmen als den Verbrechen an den Juden, die mehr als 60 Jahre zurückliegen.“ An 100 % fehlend: „weiß nicht, keine Angabe“. Quelle: TNS Emnid 2013 strich zu ziehen und nicht mehr so oft über Deutschen würden lieber von einer Anomalie die Judenverfolgung zu sprechen (Abb. 8). sprechen. Zwar will niemand die Geschich- te leugnen, dennoch ist in der deutschen „In Deutschland gilt Öffentlichkeit ein klares Bekenntnis zur Ent- wicklung einer positiven Identität festzustel- die Judenverfolgung len, die nicht auf diesem dunklen Kapitel der zwar als dunkles Kapitel Geschichte, sondern auf anderen Aspekten in der eigenen Geschichte, der eigenen Kultur fußt. aber nicht als Tatsächlich bekundet mehr als die Hälfte wesentlicher Teil der (55 %) der Befragten Zustimmung zu der Aussage: „Heute, beinahe 70 Jahre nach nationalen Identität.“ Kriegsende, sollten wir nicht mehr so viel über die Judenverfolgung reden, sondern In Deutschland gilt die Judenverfolgung endlich einen Schlussstrich unter die Vergan- zwar als dunkles Kapitel in der eigenen genheit ziehen“ (siehe Abb. 8). Allerdings ist Geschichte, aber nicht als wesentlicher Teil in den letzten zwei Jahrzehnten die Anzahl der nationalen Identität – im Gegenteil: Die derer, die dieser Aussage nicht zustimmen, 24
Deutschland und Israel heute Abbildung 8: Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen (Angaben in %) 80 60 40 60 58 55 20 24 24 22 0 1991 2007 2013 1991 2007 2013 Deutschland Israel 0 20 8 20 37 42 40 74 74 77 60 80 richtig falsch Antwort auf die Frage: „Heute, beinahe 70 Jahre nach Kriegsende, sollten wir nicht mehr so viel über die Judenverfolgung reden, sondern endlich einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen. Halten Sie diese Aussage für richtig oder falsch?“; an 100 % fehlend: „weiß nicht, keine Angabe“. Quelle: TNS Emnid 1991, 2007, 2013 „Viele Deutsche ärgern sich darüber, dass sie noch immer für die Verbrechen Deutschlands an den Juden verantwortlich gemacht werden.“ stetig gestiegen: Während es 1991 noch ein Ruf nach einem Schlussstrich mit. Dabei Fünftel (20 %) der Befragten ablehnte, einen scheint eine Korrelation zwischen wachsen- Schlussstrich zu ziehen, tat dies 2007 bereits der historischer Distanz und dem Wunsch mehr als ein Drittel (37 %) und schließlich nach Ausbildung einer positiveren, zukunfts 2013 beinahe die Hälfte (42 %). orientierten nationalen Identität zu bestehen. Eine Entwicklung, die eine wichtige Heraus- Die Umfrageergebnisse zeigen für Deutsch- forderung für das kollektive deutsche Ge- land einen deutlichen Zusammenhang mit dächtnis der Deutschen markiert, sofern sich dem Alter der Befragten, der 2007 noch nicht der Holocaust als historisches Ereignis zuneh- festzustellen war: 67 Prozent der jüngeren mend von konkreten familiären Erfahrungen Befragten unter 40 Jahren, aber nur 51 Pro- und mündlichen Überlieferungen löst. zent der älteren sprechen sich für einen Schlussstrich aus. Ein Großteil der nach Außerdem schlagen bei diesem Thema 1970 Geborenen, deren Eltern in der Regel insbesondere bei der jüngeren Generation keine direkte Verbindung mehr zu den Ver- die Emotionen hoch. Viele Deutsche ärgern brechen des Naziregimes haben, trägt diesen sich darüber, dass sie noch immer für die 25
2. Geschichte und Holocaust Abbildung 9: Ärger darüber, dass Verbrechen an Juden noch vorgehalten werden (Angaben in %) a) Total b) nach Alter 80 60 40 79 71 65 66 62 58 20 0 18 bis 29 30 bis 39 40 bis 49 50 bis 59 ≥ 60 Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Abgebildet sind die Werte für „stimme voll und ganz zu“ und „stimme eher zu“. Zustimmung zu der Aussage: „Ich ärgere mich darüber, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden.“; an 100 % fehlend: „weiß nicht, keine Angabe“. Quelle: TNS Emnid 2013 Verbrechen Deutschlands an den Juden ver- halten. 77 Prozent der israelischen Befragten antwortlich gemacht werden (66 % Zustim- halten die Aussage: „Wir sollten nicht mehr mung zu der entsprechenden Frage; ein Drit- so viel über die Judenverfolgung reden, son- tel gibt an, sich nicht zu ärgern). Der Anteil dern endlich einen Schlussstrich unter die derer, die Ärger darüber empfinden, steigt Vergangenheit ziehen“ für falsch. Der Anteil mit sinkendem Alter der Befragten: In der der israelischen Juden, für die die Geschichte jüngsten Altersgruppe (18 bis 29 Jahre) der Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg ärgern sich fast 80 Prozent, verglichen mit nicht der Vergangenheit angehört, ist seit einer noch immer starken Mehrheit von 1991 (74 %) sogar leicht gestiegen (Abb. 8). 58 Prozent unter den ältesten Befragten (ab Die thematisch verwandte Frage, ob es Zeit 60 Jahre). Die jüngeren Befragten unserer sei, die Geschichte ruhen zu lassen und sich Studie scheinen sich danach zu sehnen, dass gegenwärtigen oder zukünftigen Problemen „Deutsch sein“ als etwas „Normales“ betrach- zu widmen, wird von einer knappen Mehr- tet wird (Abb. 9). heit (54 %) bejaht (darunter ein Viertel „völ lige“ Zustimmung) und von fast der Hälfte Anders als in Deutschland ist bei den israe (45 %) verneint (siehe Abb. 6). Diejenigen, lischen Befragten die Einstellung zur Ge- die eine solche Abkehr von der Vergangen- schichte über die Jahre weitgehend konstant heit ablehnen, spiegeln wahrscheinlich die geblieben. In der Stichprobe findet sich zur große Mehrheit derjenigen Befragten wider, allgemeinen Geschichte ein geteiltes Mei- die ein Gedenken an die Judenverfolgung nungsbild, jedoch ist eine klare Mehrheit da- für notwendig halten. Ganz allgemein kommt für, das Andenken an den Holocaust wachzu- in der israelischen Gesellschaft der Juden 26
Deutschland und Israel heute verfolgung des 20. Jahrhunderts eine beson- In den ersten Jahren nach der Staatsgrün- dere Bedeutung zu, da sie der Staatsgrün- dung versuchte Israel bewusst, dieses Bild dung vorausging und auch zur ihrer Recht abzustreifen und eine nationale Identität am fertigung beitrug. Die Gründung Israels wird Maßstab eines starken und selbstbewussten als historische Notwendigkeit aufgefasst, da israelischen Judentums auszubilden. Die der Staat die einzig wirksame Überlebens Befragten könnten in ihrem Antwortverhal- garantie für die Juden darstelle. Dies ist ten aber auch durch vorausgehende Fragen eines der zentralen Ergebnisse einer Befra- beeinflusst worden sein, in denen es um die gung von Nathanson und Tzameret (2000). Berechtigung einer Kritik am eigenen Land, Darüber hinaus werden im heutigen Israel um Minderheitenrechte und die steigende aktuelle Bedrohungen des Landes wie etwa Zahl von Minderheiten in Israel ging. Da- aus dem Iran oder im Verhältnis zu den durch mögen manche an die aktuellen Kon- Palästinensern in einen Zusammenhang flikte und ihre Konsequenzen gedacht haben. mit den antisemitischen Verfolgungen des Wenn sie dabei an das von Juden verursachte 19. und 20. Jahrhunderts, aber auch früherer Leid der Palästinenser – auch im Zusam- Zeiten, gestellt oder zumindest als histori- menhang mit der Staatsgründung – erinnert sche Fortführungen dieser antisemitischen wurden, könnten sich einige Befragte dafür Verfolgungen betrachtet. Sowohl der Iran entschieden haben, die Vergangenheit besser als auch die Palästinenser haben durch ihre ruhen zu lassen, um mit diesen Themen Hetzrhetorik gegen Israel zu dieser Dynamik nicht konfrontiert sein zu müssen. beigetragen. So lieferte der Iran unter seinem früheren Präsidenten Ahmadinejad durch die Historische Erklärungsmuster des wiederholte Ankündigung, Israel zerstören Holocaust zu wollen, reichlich Material in diesem Sinne; diese Brandreden wurden vom israelischen Der Wunsch nach einem Schlussstrich und Premierminister Netanjahu ständig dazu her- die Bereitschaft, die Vergangenheit ruhen angezogen, um die Furcht vor existenzieller zu lassen, könnten ebenso mit unterschied- Bedrohung deutlich zu machen. lichen Erklärungsweisen des Holocausts in Deutschland und Israel zusammenhängen. Dennoch ist eine knappe Mehrheit dafür, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Da diese Frage im allgemeinen Teil der Um- „Wenn die Nazizeit als ein frage stand, wurde sie von den Befragten anormales Ereignis möglicherweise eher weit ausgelegt. Viele dachten dabei wohl an die Verfolgungen des angesehen wird, das nichts mit 20. Jahrhunderts und das damit verbundene spezifisch „deutschen Stereotyp der schwachen Juden in Europa, Charaktereigenschaften“ zu tun hat, die sich zum Opfer machen ließen. ist es leichter, eine positive „In den ersten Jahren nach der nationale Identität herauszubilden.“ Staatsgründung Israels versuchte das Land bewusst, Wenn die Nazizeit als ein anormales Ereignis eine nationale Identität angesehen wird, das nichts mit spezifisch auf Basis eines starken und „deutschen Charaktereigenschaften“ zu tun hat, ist es leichter, eine positive nationale selbstbewussten israelischen Identität herauszubilden. So ist es nicht ver- Judentums zu stiften.“ wunderlich, dass nach Ansicht der deutschen 27
2. Geschichte und Holocaust Abbildung 10: Vermutete Ursachen für Nationalsozialismus und Holocaust (Angaben in %) „In der 67 Autoritätshörigkeit der Deutschen“ 53 „Im Wesen und 54 Charakter der Deutschen“ 27 „In der schlechten wirt- 52 schaftlichen Lage und 61 hohen Arbeitslosigkeit“ „In der Angst der 44 Deutschen vor dem Terror des Naziregimes“ 45 Israel Deutschland Antwort auf die Frage: „Welche Ursachen hatte Ihrer Meinung nach der Nationalsozialismus und der Holocaust in Deutschland? … Die Ursache lag ...“; 5er-Skala: 1 (trifft völlig zu) bis 5 (trifft überhaupt nicht zu). Dargestellte Anteile: Skalenwerte 1 + 2. Quelle: TNS Emnid 2013 Befragten vor allem externe Faktoren den Bedauern, Schuld, Verantwortung? Aufstieg der Nazis ermöglicht haben: 61 Pro- Gedenken und Emotionen zent machen die schlechte Wirtschaftslage und hohe Arbeitslosigkeit dafür verantwort- Der Vergangenheit zu gedenken ist nicht nur lich. Im Gegensatz dazu sehen die israeli- ein kognitiver, sondern auch ein emotionaler schen Befragten den Hauptgrund in einem Prozess. Die Erinnerung weckt Emotionen, deutschen Charakterzug, nämlich der Nei- die nicht einer individuellen, sondern einer gung, Befehlen zu gehorchen. Mehr als die gruppenbezogenen und gesellschaftlichen Hälfte (54 %, doppelt so viele wie unter den Deutung bedürfen. Emotionen – etwa Scham deutschen Befragten) verweisen auf den oder Stolz angesichts der Handlungen „deutschen Charakter“ als Begründung. anderer Gruppenmitglieder – können von Trotz dieser Unterschiede sind sich die Be- ganzen Gruppen empfunden werden; fragten aus beiden Ländern hinsichtlich der gleichzeitig ist die Art der zu empfindenden Autoritätshörigkeit der Deutschen, ihrer Emotionen von der Gesellschaft vorgegeben. Angst vor dem Terrorregime der Nazis sowie Die Stärke der Emotion stellt einen Gradmes- der Bedeutung der Wirtschaftskrise über ser für die Aktualität und Relevanz eines raschend einig: Sowohl die Israelis als auch Themas für den Einzelnen und die Gruppe die Deutschen glauben, dass der Holocaust dar. Somit ist es von zentraler Bedeutung, durch äußerliche Faktoren und durch die die Art und Intensität der Emotionen zu Autoritätshörigkeit vieler Deutscher verur- bestimmen, die das Andenken an die sacht wurde (Abb. 10). Judenverfolgung bei Deutschen und Israelis hervorruft. 28
Deutschland und Israel heute Abbildung 11: Empfindungen beim Gedanken an die Judenverfolgung (Angaben in %) 7 7 77 Bedauern 11 18 60 10 11 64 Empörung 14 18 51 12 8 35 Verantwortung 21 15 20 13 9 29 Angst 21 10 17 10 6 33 Scham 19 15 26 7 5 24 Schuld 13 8 14 13 5 12 Gleichgültigkeit 20 11 8 15 9 26 Rache in Deutschland nicht erhoben Skalenwert 1 („sehr stark“) 6 („gar nicht“). Abgebildet sind die Skalenwerte 1, 2 und 3. Israel Deutschland Skalenwert 1 (sehr stark) Skalenwert 1 (sehr stark) Skalenwert 2 Skalenwert 2 Skalenwert 3 Skalenwert 3 Antworten auf die Frage: „Wenn Sie an die Judenverfolgung unter Hitler denken, wie stark empfinden Sie da …?“ Quelle: TNS Emnid 2013 „Emotionen können von Von besonderem Interesse sind dabei die ganzen Gruppen empfunden frappierenden Ähnlichkeiten in der Ein stellung der Deutschen und Israelis von werden; gleichzeitig ist die Art heute zum Holocaust. In beiden Ländern der zu empfindenden empfinden etwa jeder neunte der Befragten Bedauern und jeder achte Empörung; die Emotionen von der Hälfte der Juden und 60 Prozent der Deut- Gesellschaft vorgegeben.“ schen empfinden Scham und jeweils die 29
2. Geschichte und Holocaust Hälfte beider Gruppen Angst. Das wohl Die von einem Drittel der israelischen Juden bemerkenswerteste Ergebnis ist, dass empfundene Schuld ist anders zu deuten und ähnlich viele Deutsche wie Israelis – jeweils eher Ausdruck des Gefühls, dass von den Ju- knapp mehr als ein Drittel – Schuld em den selbst nicht rechtzeitig oder ausreichend pfinden und nahezu gleich viele (56 % der Maßnahmen zum eigenen Schutz getroffen Deutschen und 55 % der Juden) sich ver wurden. Dieses Gefühl geht offenbar auch antwortlich fühlen (Abb. 11). einher mit der Auffassung, dass die Exis- tenz des Staates Israel die Juden in die Lage Die Ergebnisse machen deutlich, dass eine versetzt, sich gegen zukünftige Bedrohungen Mehrheit der Deutschen (jene zwei Drittel, rasch und schlagkräftig zu verteidigen bzw. die sich nicht schuldig fühlen) weit genug solchen Bedrohungen sogar vorzubeugen. von der Kriegsgeneration entfernt ist, um Bemerkenswert ist in diesem Zusammen- sich nicht persönlich schuldig zu fühlen. hang, dass der Holocaust bei der Hälfte der Zugleich ist die Mehrheit von 56 Prozent der befragten Israelis Rachegefühle hervorruft. Befragten, die Verantwortung empfinden, ein Angesichts der überwiegend gesunden Indiz dafür, dass die Haltung der Verantwor- Einstellung zu Deutschland (siehe unten) tung von einer breiteren Öffentlichkeit aner- ist jedoch nicht klar, gegen wen sich eine kannt wird als die der persönlichen Schuld. praktische Umsetzung dieser Rachegefühle Mit wachsender zeitlicher Distanz werden richten würde. offenbar weniger intensive Emotionen wie Verantwortung und Bedauern stärker – aller- dings empfinden 83 Prozent der Befragten weiterhin Empörung. Demgegenüber geben 39 Prozent an, der Judenverfolgung unter Hitler gleichgültig gegenüberzustehen. 30
Deutschland und Israel heute 31
3. Israelisch-deutsche Beziehungen heute 3. Israelisch-deutsche 2. History and Holocaust Beziehungen heute Nicht nur die Selbstwahrnehmung und gegenüber dem heutigen Deutschland nega- die kollektive Identität der Deutschen und tiv beeinflusst. Allerdings beeinträchtigen der Israelis sowie ihre jeweilige Definition die mit der Vergangenheit verbundenen des Anderen werden durch die Geschichte negativen Gefühle nicht die Beziehungen beeinflusst, sondern auch die Beziehungen zum modernen Deutschland, sondern kom- zwischen beiden Ländern. Die bilateralen men gegenwärtig vor allem in Form von Beziehungen sind nach wie vor durch das Gleichgültigkeit zum Ausdruck: Lediglich Trauma des Holocausts gekennzeichnet und 16 Prozent geben an, stark oder sehr stark werden daher – ungeachtet der wachsen- an Deutschland interessiert zu sein, etwas den Gleichgültigkeit und der Forderungen mehr als im Jahr 2007 (Abb. 12). nach einer Normalisierung – als besonders angesehen. Hier ist aber zu berücksichtigen, dass das Interesse an anderen Ländern immer auch vom Tagesgeschehen abhängig ist. Dieser „Die bilateralen Umstand erklärt möglicherweise die hohen Beziehungen sind nach Werte, die im Jahr 1991 in der israelischen Bevölkerung für das Interesse an Informa- wie vor durch das Trauma des tionen über Deutschland gemessen wurden Holocausts gekennzeichnet und (31 %). Damals hatten die Überfälle und werden daher – ungeachtet der Brandanschläge auf Migranten und Flücht- linge in Deutschland weltweit für Aufsehen wachsenden Gleichgültigkeit gesorgt und damit auch das Informations- und der Forderungen nach einer bedürfnis der Israelis kurzfristig in die Normalisierung – als Höhe schnellen lassen. Daher verwundert es auch nicht, dass das derzeitige Interesse besonders angesehen.“ an Informationen über Deutschland deutlich geringer ausfällt als damals. Die Israelis sind sich dessen bewusst, dass Die Deutschen neigen dazu, den anhaltenden die Geschichte des Holocausts noch heute Einfluss des Holocausts auf die israelisch- ihre Einstellung prägt: Mehr als drei Viertel jüdische Wahrnehmung und das Image geben an, dass die Geschichte ihre Gefühle Deutschlands zu unterschätzen. So glauben 32
Deutschland und Israel heute Abbildung 12: Interesse an Informationen über das andere Land (Angaben in %) 60 60 40 56 46 40 38 38 20 31 30 30 27 28 22 23 16 13 0 2007 2013 1991 2007 2013 2007 2013 1991 2007 2013 2007 2013 1991 2007 2013 Deutschland Israel Deutschland Israel Deutschland Israel stark/sehr stark mittel überhaupt nicht/schwach Antwort auf die Frage: „In welchem Maß interessieren Sie sich für Informationen über das heutige Israel/Deutschland? Würden Sie sagen sehr stark, stark, mittel, schwach oder überhaupt nicht?“; an 100 % fehlend: „weiß nicht, keine Angabe“. Frage 1991 in Deutschland nicht gestellt. Quelle: TNS Emnid 1991, 2007, 2013 43 Prozent der deutschen Befragten, dass die „Die Deutschen neigen dazu, den heutigen Beziehungen von der Vergangenheit nur etwas oder gar nicht mehr belastet sind; anhaltenden Einfluss des diese Meinung wird jedoch in Israel nur von Holocausts auf die israelisch-jüdische 21 Prozent der Befragten geteilt (Abb. 13). Wahrnehmung und das Image Deutschlands zu unterschätzen.“ 33
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