Deutschland und Israel heute - Verbindende Vergangenheit, trennende Gegenwart?

Die Seite wird erstellt Vanessa-Hortensia Hinz
 
WEITER LESEN
Deutschland und Israel heute - Verbindende Vergangenheit, trennende Gegenwart?
Deutschland und Israel heute
Verbindende Vergangenheit, trennende Gegenwart?
Deutschland und Israel heute - Verbindende Vergangenheit, trennende Gegenwart?
Deutschland und Israel heute - Verbindende Vergangenheit, trennende Gegenwart?
Deutschland und Israel heute

Deutschland und Israel heute
Verbindende Vergangenheit, trennende Gegenwart?

Autoren
Dr. Steffen Hagemann
Dr. Roby Nathanson

Mit einem Kommentar
von Prof. Dr. Dan Diner
Deutschland und Israel heute - Verbindende Vergangenheit, trennende Gegenwart?
Inhalt

4
Deutschland und Israel heute - Verbindende Vergangenheit, trennende Gegenwart?
Deutschland und Israel heute

Inhalt

Vorwort			                                                                 6

Einleitung                                                                 8

Erhebungsmethode                                                          10

1. Staat und nationale Identität                                          12

2. Geschichte und Holocaust                                               22

3. Israelisch-deutsche Beziehungen heute                                  32

4. Besondere Beziehungen und Verantwortung                                42

5. Fazit                                                                  54

Kontinuität trotz Wandel? Einsichten in das deutsch-israelisch/jüdische   58
Verhältnis – von Dan Diner

Anhang			                                                                 66

Literaturverzeichnis                                                      74

Die Autoren                                                               75

Impressum                                                                 76

                                                                                                         5
Deutschland und Israel heute - Verbindende Vergangenheit, trennende Gegenwart?
Vorwort

          2. History and Holocaust
          Vorwort

                                                                    Liz Mohn
                                                  stellvertretende Vorsitzende
                                                             des Vorstands der
                                                          Bertelsmann Stiftung

          Deutschland hat aufgrund seiner Geschich-         Deutschland und Israel haben sich in den
          te eine besondere Verantwortung für das           vergangenen Jahrzehnten einander angenä-
          jüdische Volk und den Staat Israel. Seit          hert und pflegen heute intensive Beziehun-
          Gründung der Bertelsmann Stiftung vor             gen auf allen Ebenen und in den unterschied-
          bald vierzig Jahren ist es meinem Mann und        lichsten Bereichen. Dies ist vor allem ein
          mir immer wichtig gewesen, sich für die           Verdienst der Generationen, die den Schre-
          Aussöhnung der beiden Völker zu engagie-          cken der Vergangenheit aus eigenem Erleben
          ren. Bei unseren zahlreichen Besuchen in          kannten. Sie wussten, wie wichtig es ist, sich
          Israel haben uns die offenen und herzlichen       für die Aussöhnung zu engagieren und Wege
          Begegnungen mit den Menschen besonders            in eine gemeinsame Zukunft zu ebnen.
          bewegt. Viele von ihnen wurden zu guten
          Freunden. So konnten wir beispielsweise           Doch auch viele junge Menschen in beiden
          mit der Unterstützung von Persönlichkeiten        Ländern haben heute ein großes Interesse
          wie Shimon Peres, Teddy Kollek oder Dov           aneinander und engagieren sich für eine
          Judkowski wichtige Projekte verwirklichen         gemeinsame Zukunft. Ein wesentliches Ziel
          wie den Aufbau eines deutsch-israelischen         dabei: voneinander und miteinander zu
          Young-Leaders-Austauschs, die Förderung           lernen. Nur so kann es uns gelingen, unsere
          eines Instituts zur Demokratie- und Toleranz-     Welt ein Stück weit gerechter und friedlicher
          erziehung oder die Errichtung der ersten          zu machen.
          Journalistenschule Israels.

6
Deutschland und Israel heute

Um den Dialog zwischen unseren Völkern          Die Erkenntnisse, die wir in dieser Unter­
weiter ernsthaft und in Offenheit zu füh-       suchung gewinnen, sollen uns dabei helfen,
ren, ist es auch von großer Bedeutung zu        einander gerade auch in unserer Unter-
wissen, wo Differenzen in der Wahrnehmung       schiedlichkeit besser zu verstehen und
bestehen und wie sich das gegenseitige Ver-     zu respektieren. Das ist in unserer weiter
ständnis im Laufe der Zeit verändert. Israel    zusammenwachsenden Welt entscheidend.
befindet sich in einem politischen Umfeld,      Um Gemeinsamkeiten zu entdecken, brau-
das der Reflexion der einzelnen Standpunkte     chen wir darüber hinaus die persönliche
bedarf. Gerade deshalb ist es so wichtig, den   Begegnung und den offenen, von echtem
Blick für die Hoffnungen und Sorgen der         Interesse geprägten Dialog. Denn aus dem
Menschen nicht zu verschließen. Dazu soll       Kennenlernen erwächst Verstehen. Und aus
die hier vorliegende Studie beitragen. Ihr      dem Verständnis entstehen Vertrauen und
liegen Ergebnisse einer aktuellen Befragung     Freundschaft.
von über 2000 Menschen aus Deutschland
und Israel zugrunde, die sich ganz persön-
lich zu ihren Einstellungen und Überzeugun-
gen geäußert haben.

                                                                                                                       7
Einleitung

             2. History and Holocaust
             Einleitung

             Im Mai 2015 begehen Israel und Deutsch-         etwa um das Israel-Gedicht des Schrift-
             land den fünfzigsten Jahrestag der Aufnah-      stellers Günter Grass („Was gesagt werden
             me diplomatischer Beziehungen. Seitdem          muss“), und auch die jüngste Eskalation des
             haben die beiden Länder nicht nur auf           Konflikts zwischen Israel und der Hamas
             politischer und wirtschaftlicher Ebene,         im Sommer 2014 brachte tief verwurzelte
             sondern auch in den unterschiedlichsten         Emotionen an die Oberfläche. Der Krieg im
             gesellschaftlichen Bereichen ihre Kontakte      Nahen Osten löste in Deutschland einen
             vertieft und gemeinsame Projekte ins Leben      Anstieg antisemitischer Aktivitäten bis hin
             gerufen. Dafür stehen die deutsch-israelische   zu körperlichen Angriffen auf Juden aus. Im
             Wissenschafts- und Forschungszusammen-          öffentlichen Diskurs wurden im Zuge der
             arbeit, gemeinsame kulturelle Initiativen       Kritik an der israelischen Regierung wieder-
             und zahlreiche Begegnungsprogramme für          holt antisemitische Rollenklischees bemüht
             junge Menschen beider Länder. Zeichen           und die israelische Politik sogar mit dem
             der besonderen Bedeutung der bilateralen        Nationalsozialismus verglichen.
             Beziehungen sind auch die jährlichen Re-
             gierungskonsultationen beider Staaten, die      Es stellt sich daher die Frage, wie es um
             2008 anlässlich des sechzigsten Jahrestages     das Verhältnis zwischen Deutschen und
             der Staatsgründung Israels aufgenommenen        jüdischen Israelis tatsächlich bestellt ist.
             wurden.                                         Welches Bild haben die Menschen in beiden
                                                             Ländern voneinander, welche Bedeutung
             Resultierend aus der Verantwortung              messen sie der Erinnerung an die national-
             Deutschlands für den Holocaust gehören das      sozialistischen Verbrechen zu und wie be-
             Bekenntnis zum Existenzrecht Israels und        urteilen sie die deutsche und die israelische
             die Mitverantwortung für die Sicherheit des     Politik? Schließlich: Inwiefern haben sich
             Landes zu den scheinbar unverrückbaren          diese Wahrnehmungen und Einstellungen in
             Grundpositionen deutscher Außenpolitik.         den letzten Jahren verändert?
             Das haben deutsche Spitzenpolitiker bei
             zahlreichen Gelegenheiten immer wieder          Für die Zukunft der Beziehungen zwischen
             betont. Das Verhältnis zwischen beiden Län-     Deutschland und Israel haben differenzierte
             dern ist weit davon entfernt, als „normal“ zu   Einblicke in die Facetten dieser gegenseiti-
             gelten. Nach wie vor prägt die Vergangenheit    gen Wahrnehmung eine hohe Bedeutung.
             die beiderseitigen Beziehungen und offen-       Denn die Erkenntnisse, die sich daraus
             bart sich deren Zerbrechlichkeit. Das zeigt     ergeben, können als Indikator für mögliche
             sich in vielen Debatten der letzten Jahre,      Krisen und Herausforderungen dienen.

8
Deutschland und Israel heute

Damit zeigen sie Handlungsbedarf für all        stabil sind. Allerdings hat sich die Meinung
diejenigen an, die für den Dialog und die       gegenüber Israel bei den deutschen Befrag­
Verständigung zwischen beiden Ländern           ten deutlich verschlechtert und auch in
arbeiten.                                       der Frage einer politischen Unterstützung
                                                Israels bzw. der Palästinenser zeigt sich eine
Die Bertelsmann Stiftung hat deswegen 2013      steigende Frustration und Ratlosigkeit der
zum zweiten Mal nach 2007 eine demosko-         deutschen Bevölkerung.
pische Untersuchung in Auftrag gegeben,
in deren Rahmen in Israel und Deutschland       Für die Analyse und Bewertung der Ergeb-
jeweils rund 1000 Personen über 18 Jahre        nisse sind wir vor allem den Autoren Roby
befragt wurden (in Israel der Themenstellun-    Nathanson und Steffen Hagemann zu Dank
gen wegen nur jüdische Bürger). Die Frage-      verpflichtet. Darüber hinaus gilt unser Dank
stellungen in den repräsentativen Studien       Dan Diner für seinen Kommentar, der die
der beiden Jahre sind nicht vollständig, aber   Ergebnisse einer kritischen Betrachtung
in weiten Teilen identisch. Zur Verfügung       unterzieht und wesentlich einzuordnen hilft.
standen zudem Daten einer Untersuchung          Außerdem danken wir Roland Imhoff und
im Auftrag des Nachrichtenmagazins DER          Stephan Stetter, die uns bei der Entwicklung
SPIEGEL aus dem Jahr 1991, die ebenfalls        des Fragebogens und der Auswertung unter-
eine vergleichende Analyse der Einstellun-      stützt haben, und TNS Emnid in Deutschland
gen und Befindlichkeiten von Deutschen und      sowie TNS Teleseker in Israel für die Durch-
Israelis zum Gegenstand hatte. Für einige       führung der Meinungsumfrage.
der Fragestellungen sind daher Vergleiche
über einen längeren Zeitraum möglich.           Stephan Vopel
                                                Director
                                                Programm Lebendige Werte
Um zu prüfen, ob sich seit der Erhebung
der Daten Anfang 2013, insbesondere
durch den Gaza-Krieg im Sommer 2014, in
der Meinung der deutschen Bevölkerung
wesentliche Veränderungen ergeben haben,
wurden sieben der Fragen im Oktober
2014 in Deutschland erneut im Rahmen
einer repräsentativen Befragung erhoben.
Die Ergebnisse zeigen im Kern, dass viele
der Einstellungen im Wesentlichen relativ

                                                                                                                           9
Erhebungsmethode

                   2. History and Holocaust
                   Erhebungsmethode

                     Die Daten dieser Untersuchung wurden in einer telefonischen Befragung erhoben
                     (Computer Assisted Telephone Interviewing). Folgende Parameter lagen dabei
                     zugrunde:

                                                                                     Durchführungszeit-
                      Land                 Grundgesamtheit      Stichprobenumfang
                                                                                     raum
                      Deutschland          18+                  1,000                07. – 19.01.2013
                      Israel (Juden)       18+                  1,001                07. – 10.01.2013

                     In Israel und Deutschland hat das Befragungsinstitut TNS Teleseker sowohl 1991
                     als auch 2007 ähnliche Erhebungen durchgeführt. Einige Fragen aus diesen
                     Erhebungen wurden hier zu Vergleichszwecken aufgegriffen, andere wurden neu
                     hinzugefügt. Die Datenerhebung für Deutschland hat TNS Emnid vorgenommen.
                     Dieser Befragung ging eine Pilotstudie voraus, die dazu diente, den angemessenen
                     Anteil von Festnetz- und Mobilanschlüssen zu ermitteln. Auf dieser Basis ließen
                     sich Stichproben von Festnetz- und Mobiltelefonbenutzern mithilfe der Dual-
                     Frame-Methode erstellen.

                     Die mittlere Fehlertoleranz der Anteilswerte beträgt +/– 3 Prozentpunkte (bei
                     einer Sicherheitswahrscheinlichkeit von 90 Prozent, eine Stichprobengröße von
                     n = 1000 zugrunde gelegt).

                     Bei den Daten für Israel ist zu beachten, dass arabische Staatsbürger nicht befragt
                     wurden. Die Befragung wurde auf die jüdische Bevölkerung beschränkt, da die
                     Ergebnisse hinsichtlich der Beziehungen zwischen den beiden Ländern in direk-
                     tem Zusammenhang mit der ethnischen Zugehörigkeit der Befragten stehen.

10
Deutschland und Israel heute

                         11
1. Staat und nationale Identität

                                   1. SHistory
                                   2.    taat und
                                                and Holocaust
                                   nationale Identität

                                   Die Erinnerung an den Holocaust prägt nach      nach wie vor in der deutschen politischen
                                   wie vor die politische Kultur der deutschen     Kultur verwurzelt.
                                   wie der israelischen Gesellschaft. Da die
                                   nationalen Identitätsdiskurse nicht umhin
                                   kommen, sich – in welcher Form auch im-              „Die Erinnerung an den
                                   mer – mit der Judenverfolgung der Nazizeit      Holocaust prägt nach wie
                                   auseinanderzusetzen, prägt die Geschichte
                                   weiterhin das Selbstverständnis und die
                                                                                    vor die politische Kultur
                                   kollektiven Identitätsvorstellungen beider      der deutschen wie der israelischen
                                   Völker und bildet in ihren Beziehungen                Gesellschaft.“
                                   zueinander einen negativen Bezugspunkt.
                                   Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
                                   erlebte die deutsche Gesellschaft einen Iden-   In Israel bildete der Holocaust ein wichtiges
                                   titätsbruch, da mit Blick auf den Holocaust     Rechtfertigungsnarrativ für die Staats-
                                   eine uneingeschränkt positive Identifikation    gründung, stellte er nach Auffassung der
                                   mit der Nation nicht mehr möglich war.          zionistischen Führung doch den endgültigen
                                   Der zuvor stark ausgeprägte Nationalismus       Beweis für die Notwendigkeit eines jüdischen
                                   wurde zudem durch das Bewusstsein der           Staates dar. Dieses Selbstverständnis prägt
                                   vollständigen Niederlage und die kollektive     noch heute die nationale Identität Israels.
                                   Katastrophe des Krieges untergraben. Im         Außerdem ist das Rechtfertigungsnarrativ
                                   ersten Nachkriegsjahrzehnt bewältigte die       von ungebrochener Relevanz im öffentlichen
                                   Bevölkerung diese Identitätskrise, indem die    Diskurs Israels, da das nach wie vor unvoll-
                                   Erinnerungen an den Holocaust nicht beach-      endete Projekt der Staatsbildung sowohl von
                                   tet oder unterdrückt wurden; erst später ge-    innen als auch von außen immer wieder
                                   wann das Gedenken an die Judenverfolgung        angefochten wird. In diesem Kapitel betrach-
                                   im kollektiven Gedächtnis der Deutschen         ten wir die Auswirkungen der unterschiedli-
                                   an Bedeutung. Seither sind der kritische        chen politischen Kulturen Deutschlands und
                                   Vorbehalt gegenüber jedem Versuch einer         Israels auf die nationale Identifikation und
                                   Festlegung deutscher Wesensmerkmale und         die kollektive Identitätsbildung.
                                   das Bekenntnis zu universellen Werten und
                                   Normen zu bestimmenden Faktoren für die         Nation und Identität
                                   Neubestimmung der deutschen Identität ge-
                                   worden. Gleichzeitig bleibt jedoch die Tradi-   Insgesamt 80 Prozent der Deutschen stim-
                                   tion eines ethnisch geprägten Nationalismus     men der Aussage zu, dass ihre nationale

12
Deutschland und Israel heute

Abbildung 1: Identifikation mit der eigenen Nation (Angaben in %)

  100

   80

   60                            40

                                                                                     74

   40

                                 22

   20

                                 18                                                  10

                                                                                     6
     0
                           Deutschland                                             Israel

         Skalenwert 1 („trifft völlig zu“)       6 („trifft überhaupt nicht zu“).
         Abgebildet sind die Skalenwerte 1, 2 und 3.

                   Skalenwert 1 (trifft völlig zu)                         Skalenwert 2           Skalenwert 3

Zustimmung zur Aussage: „Deutsch/Israelisch zu sein ist ein wichtiger Teil meiner Identität.“

Quelle: TNS Emnid 2013

Zugehörigkeit ein wichtiger Teil ihrer Iden-                              wobei sogar 74 Prozent ihr nationales Zu­
tität sei, wobei dies aber für weniger als die                            gehörigkeitsgefühl als stark beschreiben.
Hälfte (40 %) „völlig“ zutrifft. Bei den israe-
lischen Befragten hält eine Mehrheit von 90                               Ähnliche Ergebnisse zeigen sich bei der Fra-
Prozent ihre israelische Identität für wichtig,                           ge nach der moralischen Überlegenheit der

                                                                                                                                                  13
1. Staat und nationale Identität

                                   Abbildung 2: Moralische Überlegenheit der eigenen Nationen
                                   (Angaben in %)

                                      80

                                                                   15
                                      60
                                                                                                                    46
                                                                   25

                                      40

                                                                                                                    16
                                      20
                                                                   36

                                                                                                                    17
                                        0
                                                             Deutschland                                          Israel

                                            Skalenwert 1 („trifft völlig zu“)       6 („trifft überhaupt nicht zu“).
                                            Abgebildet sind die Skalenwerte 1, 2 und 3.

                                                      Skalenwert 1 (trifft völlig zu)                      Skalenwert 2                     Skalenwert 3

                                   Zustimmung zur Aussage: „Verglichen mit anderen Nationen ist Deutschland/Israel eine sehr moralische Nation.“

                                   Quelle: TNS Emnid 2013

                                   eigenen Nation. 40 Prozent der deutschen,                              mit der Vergangenheitsbewältigung stehen:
                                   aber 62 Prozent der israelischen Befragten                             Deutschland hat nach diesem Verständnis
                                   stimmen der Aussage „völlig“ oder „ziemlich“                           die Geschichte des Holocausts aufgearbeitet
                                   zu, dass ihr eigenes Land „im Vergleich mit                            und ist so zu einem Selbstverständnis als
                                   anderen Nationen eine sehr moralische Na­                              „reife Nation“ gelangt, die aus der Vergan-
                                   tion“ ist (Abb. 2). Insgesamt erreicht in Israel                       genheit die notwendigen Lehren gezogen hat.
                                   die Aussage „Verglichen mit anderen Natio-
                                   nen ist Israel eine sehr moralische Nation“                            Diese Daten weisen auf eine für das heu-
                                   einen Zustimmungsgrad von fast 80 Prozent,                             tige Deutschland typische Dichotomie der
                                   wobei fast die Hälfte der Befragten „völlig“                           Gefühle hin: Zwar wird die nationale und
                                   zustimmt. Damit ist der Anteil derer, die                              kulturelle Identität als wichtig empfunden,
                                   „völlige“ Zustimmung signalisieren, dreimal                            jedoch galt eine öffentliche Zurschaustellung
                                   so hoch wie in Deutschland. Zwar stimmen                               von Nationalstolz seit dem Zweiten Welt-
                                   in beiden Ländern etwa gleich viele Befragte                           krieg lange Zeit als unpassend oder sogar
                                   der Aussage grundsätzlich zu, jedoch schät-                            gefährlich, da hierdurch auch ein „falscher“
                                   zen die Deutschen ihr Land in moralischer                              Nationalismus gefördert werden könnte. Das
                                   Hinsicht wesentlich differenzierter ein. Die                           nationale Zugehörigkeitsgefühl der Deut-
                                   Tatsache, dass trotz des Holocausts immer-                             schen ist dennoch stark ausgeprägt, jedoch
                                   hin 76 Prozent der Deutschen die mehr oder                             differenzierter als das der Israelis.
                                   minder starke Überzeugung hegen, dass ihr
                                   Land im Vergleich zu anderen Staaten „sehr                             So stimmen 14 Prozent der Deutschen „völlig“
                                   moralisch“ sei, könnte im Zusammenhang                                 und insgesamt die Hälfte mehr oder minder

14
Deutschland und Israel heute

Abbildung 3: Bewertung von Kritik an der eigenen Nation (Angaben in %)

   80

   60

                                                                                      37
                                  14
   40

                                  14
                                                                                      11
   20

                                  22                                                  18

     0
                           Deutschland                                              Israel

         Skalenwert 1 („trifft völlig zu“)       6 („trifft überhaupt nicht zu“).
         Abgebildet sind die Skalenwerte 1, 2 und 3.

                   Skalenwert 1 (trifft völlig zu)                          Skalenwert 2                       Skalenwert 3

Zustimmung zur Aussage: „Es ist illoyal, wenn Deutsche Deutschland kritisieren/Israelis Israel kritisieren.“

Quelle: TNS Emnid 2013

stark der Aussage zu: „Es ist illoyal, wenn                                an der israelischen Politik und die Tatsache
Deutsche Deutschland kritisieren“. In Israel                               verweisen, dass dies in Israel zunehmend
hingegen signalisiert etwa ein Drittel keine                               wahrgenommen wird. Daraus mag wenigs-
Zustimmung. Demgegenüber halten zwei                                       tens teilweise eine defensive Haltung oder so-
Drittel der Israelis Kritik an Israel für illoyal.                         gar die Sorge resultieren, dass die Legitimität
Auf diese Thematik gehen wir im Folgenden                                  Israels zur Debatte stehen könnte. Das erhöht
näher ein.                                                                 eventuell sogar die Bereitschaft der Befrag-
                                                                           ten, kritisches Nachdenken über ihr Land
Wie wir bereits gesehen haben, ist bei den                                 hintanzustellen, um den Staat zu verteidigen.
befragten israelischen Juden der National-                                 Festzuhalten gilt es jedenfalls, dass sich die
stolz stark ausgeprägt. Dies war auch in der                               starke emotionale Verbundenheit der israe­
Vergangenheit der Fall: In den späten 1990er                               lischen Befragten mit ihrem Land deutlich
Jahren und bis zur Mitte der 2000er Jahre                                  von der sehr viel zurückhaltenderen natio­
gaben etwa 90 Prozent der befragten israe­                                 nalen Identifikation der Deutschen abhebt.
lischen Juden an, dass sie stolz darauf seien,
Israeli zu sein (Arian, Barnea und Ben-Nun                                „Die starke emotionale
2004). Das Level dieses Stolzes sank 2004
um einige Prozent, ist aber seither wieder
                                                                             Verbundenheit der israelischen
auf den alten Wert angestiegen (Israeli Demo­                             Befragten mit ihrem Land hebt sich
cracy Index Surveys, 2003–2012). Zur Erklä-                                deutlich von der sehr viel zurückhalten­
rung des starken Patriotismus, der zurzeit
das israelische Selbstverständnis prägt, lässt                            deren nationalen Identifikation
sich auf die wachsende internationale Kritik                                          der Deutschen ab.“

                                                                                                                                                       15
1. Staat und nationale Identität

                                      Wie bereits erwähnt stimmen zwei Drittel           Ansicht von jenen Befragten vertreten, die
                                      der israelischen Befragten der Aussage „Es         sich selbst als traditionell beschreiben.
                                      ist illoyal, wenn Israelis Israel kritisieren“
                                      zu. Das war in der Vergangenheit anders;           Zusammengehörigkeit, Lektionen
                                      es gab Zeiten, in denen eindeutig zwischen         aus der Vergangenheit und der
                                      zulässiger Kritik und staatsfeindlichen            Andere
                                      Aktivitäten differenziert wurde: Ab dem
                                      Beginn des ersten Libanonkrieges 1982              Zwar glaubt eine Mehrheit der Israelis, dass
                                      hatten Israelis, die der Politik ihres Landes      ihre Gesellschaft bestimmte Haltungen, Tra-
                                      kritisch gegenüberstanden, keinen Vorwurf          ditionen und Werte teilt, jedoch ist der Anteil
                                      der Illoyalität zu befürchten. Das änderte         derer, die so denken, in Israel immer noch
                                      sich Mitte der 1990er Jahre, als das Land          kleiner als in Deutschland (74 % verglichen
                                      auf eine Welle von Terroranschlägen scharf         mit 82 %, siehe Abb. 4). Zudem stimmt fast
                                      reagierte und Kritik von links als Sympathie       die Hälfte der Aussage nur mit Vorbehalt zu.
                                      mit dem Feind – und somit grundsätzlich als        Angesichts der Klassenunterschiede und der
                                      staatsfeindlich – eingeordnet wurde.               tiefen Spaltung der israelischen Gesellschaft
                                                                                         zwischen Juden und Arabern, religiösen und
                                      In Israel sind mehr als doppelt so viele Be-       nicht religiösen, eingewanderten und altein-
                                      fragte wie in Deutschland „völlig“ überzeugt,      gesessenen Einwohnern ist es kaum verwun-
                                      dass Kritik am eigenen Land illoyal ist, und       derlich, dass die Überzeugung von der Exis-
                                      die Gesamtzahl derer, die dieser Aussage           tenz einer alle einbeziehenden kollektiven
                                      zustimmen, ist exakt doppelt so hoch wie die       Identität bei den Israelis geringer ausgeprägt
                                      Zahl jener, die sie ablehnen. Der Grund dafür      ist. Tatsächlich haben Zweifel darüber, ob
                                      liegt vermutlich darin, dass es in Deutsch-        die israelische Gesellschaft überhaupt in der
                                      land unstrittiger ist, was es heißt, Staatsbür-    Lage ist, sich dauerhaft auf gemeinsame Wer-
                                      ger und Deutscher zu sein. Das trägt zu einer      te zu einigen, die israelische Politik bereits
                                      weniger defensiven Haltung in der Gesell-          seit der Staatsgründung begleitet. Zwar wur-
                                      schaft bei, da die nationale Identität durch       den in dem neu gegründeten Staat die ersten
                                      Kritik nicht gefährdet zu sein scheint.            Wahlen zum Zweck der Bildung einer verfas-
                                                                                         sungsgebenden Versammlung abgehalten.
                                                                                         Diese scheiterte aber an ihrem Auftrag. Aus
                                   „Die nationale           Identität                    der Versammlung ging zwar die erste Knesset
                                      scheint in Deutschland durch Kritik                (Parlament) hervor, jedoch ist Israel bis heute

                                   nicht gefährdet zu sein.“                             ein Staat ohne schriftlich fixierte Verfassung
                                                                                         – ein Gradmesser für die Schwierigkeit des
                                                                                         Landes, die unterschiedlichen Strömungen in
                                      In Israel, wo eine eindeutige Definition der       der Gesellschaft zusammenzubringen.
                                      Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit zum
                                      Gemeinwesen noch aussteht, ist dies noch           In Deutschland hingegen scheint der Ge-
                                      nicht der Fall.                                    sellschaftsvertrag tragfähiger zu sein. Der
                                                                                         deutschen Gesellschaft liegt – trotz zahlrei-
                                      Diese Gefühle sind von demographischen             cher historischer Herausforderungen und
                                      Faktoren unabhängig, allerdings mit der            Umbrüche – eine recht klare Vorstellung
                                      Ausnahme, dass Nichtreligiöse weniger              von einem vereinten Volk mit gemeinsamer
                                      dazu neigen, Kritik als illoyal zu werten.         kultureller Identität zugrunde. Das deutsche
                                      Nur knapp mehr als die Hälfte (58 %) der           Volk war eindeutiger definiert und sowohl
                                      nicht religiösen Israelis, aber drei Viertel der   geographisch als auch kulturell weniger
                                      religiösen Befragten halten Kritik am Staat        zerstreut und verfügte somit über eine aus-
                                      für illoyal. Ähnlich stark (70 %) wird diese       reichend große gemeinsame Erfahrungsbasis,

16
Deutschland und Israel heute

 Abbildung 4: Nationale Kollektivität (Angaben in %)

     80
                                24

     60                                                                        31

                                29
     40
                                                                               20

     20
                                29
                                                                               23

      0
                           Deutschland                                       Israel

          Skalenwert 1 („trifft völlig zu“)       6 („trifft überhaupt nicht zu“).
          Abgebildet sind die Skalenwerte 1, 2 und 3.

                    Skalenwert 1 (trifft völlig zu)                   Skalenwert 2                    Skalenwert 3

 Zustimmung zu der Aussage: „Die Deutschen/Israelis wird man immer anhand bestimmter Traditionen und Überzeugungen beschreiben
 können.“

 Quelle: TNS Emnid 2013

 um ein Gefühl der Zusammengehörigkeit                               wie wir noch sehen werden. Das positive
 auszubilden. In der Nachkriegszeit arbeitete                        Selbstbild der Deutschen scheint angesichts
 man in Deutschland zudem mit aller Kraft                            der steigenden ethnischen, kulturellen und
 an der Entwicklung gemeinsamer sozialer                             religiösen Vielfalt in Deutschland zunehmend
 Normen und Werte mit dem ausdrücklichen                             unter Druck zu geraten. Im Diskurs um die
 Anspruch, mit der Vergangenheit zu brechen.                         Neudefinition deutscher Identität – wie etwa
 Dies ist mit ein Grund für die Stärke der ge-                       in der Leitkulturdebatte – wird den Musli­
 sellschaftlichen Solidarität in diesem Land.                        men zunehmend die Rolle des Anderen
                                                                     zugewiesen: Umfragedaten belegen, dass die
„Deutschlands ausdrücklicher                                         Deutschen eine eher negative Einstellung
     Anspruch, nach dem                                              gegenüber Menschen islamischen Glaubens
                                                                     haben, nur etwa ein Drittel spricht von
 Zweiten Weltkrieg mit der                                           „posi­tiven Gefühlen“ (Pollack u. a. 2010). In
    Vergangenheit zu                                                 öffentlichen Debatten definieren Vertreter

brechen, ist ein Grund für                                           eines Kulturnationalismus die deutsche
                                                                     Nation in einer Weise, die muslimische Ein-
 die Stärke der gesellschaft-                                        wanderer ausschließt. Zwar stellen Anhänger
              lichen Solidarität.“                                   eines liberaleren und inklusiven Ansatzes,
                                                                     der die deutsche nationale Identität mit
 Gleichzeitig aber glauben 58 Prozent der                            Werten wie Gleichheit, Toleranz und Minder-
 Deutschen, dass eine starke Zunahme kultu-                          heitenschutz verbindet, den muslimischen
 reller oder religiöser Minderheiten im Land                         Migranten die Zugehörigkeit zur deutschen
 in gewissem Grad eine Bedrohung darstellt,                          Gesellschaft in Aussicht. Aber sogar dieses

                                                                                                                                                          17
1. Staat und nationale Identität

                                      Abbildung 5: Lehren aus der Geschichte – Einstellungen und Werte
                                      (Angaben in %)

                                              Unter keinen Umständen
                                            sollten in einer Demokratie            22             19                         48
                                              die Rechte des Einzelnen            21             16                26
                                         eingeschränkt werden dürfen.

                                               Der Schutz der Rechte von
                                               ethnischen und religiösen            27                   25                  28
                                                Minderheiten ist eine der
                                               dringlichsten Aufgaben in                29              16              21
                                                    unserer Gesellschaft.

                                        Ich finde es bedrohlich, wenn
                                              kulturelle oder religiöse             26             15          17
                                        Minderheiten in meinem Land                 26            12               25
                                                       stark wachsen.

                                       Skalenwert 1 („trifft völlig zu“)       6 („trifft überhaupt nicht zu“).
                                       Abgebildet sind die Skalenwerte 1, 2 und 3.

                                      Israel                                  Deutschland
                                            Skalenwert 1 (trifft völlig zu)      Skalenwert 1 (trifft völlig zu)
                                            Skalenwert 2                         Skalenwert 2
                                            Skalenwert 3                         Skalenwert 3

                                      Zustimmung zu den genannten Aussagen.

                                      Quelle: TNS Emnid 2013

                                      liberale Verständnis von Nation setzt voraus,              Im israelischen Kontext sind es primär die
                                      dass Migranten sich bis zu einem gewissen                  Araber, mit denen die Juden den Begriff
                                      Grad kulturell anpassen. So ist etwa Lehre-                des Anderen verbinden. Umfragen in Israel
                                      rinnen an öffentlichen Schulen in einigen                  haben wiederholt bestätigt, dass die Kluft
                                      deutschen Bundesländern das Tragen des                     zwischen Juden und Arabern als tiefste
                                      muslimischen Kopftuchs verboten und der                    Spaltung in der israelischen Gesellschaft
                                      Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft                    wahrgenommen wird, und diese Ansicht ist
                                      wird an das Bestehen eines Einbürgerungs-                  seit dem vergangenen Jahrzehnt eher noch
                                      tests gebunden.                                            häufiger anzutreffen als zuvor. So sah laut ei-
                                                                                                 ner Studie die jüngere Generation 1998 noch

                                   „Umfragen in Israel haben                                     die Spaltung zwischen religiösen und nicht
                                                                                                 religiösen Israelis als tiefste im Land an. Aus
                                        wiederholt bestätigt, dass die                           zwei Tracking-Umfragen seit 2004 geht je-
                                   Kluft zwischen Juden                                          doch die Kluft zwischen Juden und Arabern

                                         und Arabern als tiefste                                 als wichtigste soziale Spaltung hervor (Hexel
                                                                                                 und Nathanson 2010). Bemerkenswert in
                                      Spaltung in der israelischen                               Bezug auf die Wahrnehmung des Anderen
                                   Gesellschaft wahrgenommen wird.“                              in Israel ist, dass sich die arabische Gemein-
                                                                                                 schaft auch aus der Perspektive der Juden
                                                                                                 als vielfältig darstellt. So leisten Drusen und

18
Deutschland und Israel heute

einige Beduinen sogar Militärdienst in der       kaum auf die Probe gestellt. Deutschland
israelischen Armee, werden aber dennoch          befindet sich inmitten Europas in einer geo-
meist gemeinsam als Fremde wahrgenom-            graphisch sicheren Lage und verfügt über
men. Die Umfrageergebnisse deuten somit          eine homogenere Bevölkerungsstruktur als
darauf hin, dass das Bild, das sich die          Israel, wo eine nationale Minderheit mehr
jüdischen Israelis von den Arabern machen,       als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung stellt.
wahrscheinlich überwiegend von eindimen-         Dass jedoch 58 Prozent der Befragten in
sionalen, negativen Stereotypen geprägt ist.     Deutschland die Zunahme ethnischer und
Da die arabischen Mitbürger ganz offenbar        religiöser Minderheiten als bedrohlich an­
mit den als feindlich angesehenen Palästi-       sehen, ist ein Warnsignal dafür, dass die
nensern assoziiert werden, haben israelische     Geltung liberaler Werte in Krisenzeiten nicht
Befragte auch eine geringere Bereitschaft        als gegeben vorausgesetzt werden kann.
als die Deutschen, den Schutz der Rechte
für „ethnische und religiöse Minderheiten“
(unter denen die meisten Israelis vorwiegend            „Die liberale Gesinnung
arabische Gruppen verstehen) als dringlich       wird in Deutschland,
anzuerkennen. Zwar sind zwei Drittel der
Befragten dazu bereit, dieser Wert ist jedoch
                                                     anders als in Israel, kaum auf
deutlich niedriger als in Deutschland (80 %,       die Probe         gestellt.“
siehe Abb. 5).

Diese Unterschiede zwischen Deutschland          Zwar bekennen sich auch die Israelis zu
und Israel lassen sich durch die Folgen des      demokratischen Werten, jedoch auf diffe-
Zweiten Weltkrieges sowie die historischen       renziertere Weise, was Ausdruck ihrer ganz
und politischen Kontexte beider Länder er-       anderen Nachkriegserfahrungen und der
klären. In Deutschland gilt der Holocaust als    unlösbaren Konflikte im Land ist. Die Zahl
Ereignis, das die deutsche Identität negativ     der Israelis, die sich dazu bekennen, dass
mitbestimmt. Die nationale Identität durch-      die Freiheit des Einzelnen nicht beschränkt
lief einen mit harten Kämpfen, Ambivalen-        werden sollte, ist fast doppelt so hoch wie die
zen und Widersprüchen verbundenen Trans-         Zahl derer, die das ablehnen. Allerdings ist
formationsprozess, der dazu führte, dass         die Zustimmung unter den Israelis wesent-
die alten Traditionen und kollektivistischen     lich niedriger als unter den Deutschen, die
Ideologien durch universalistische Werte und     ein viel stärkeres Bekenntnis zur Freiheit
Normen ersetzt wurden. Unsere Umfrage            des Einzelnen erkennen lassen. Aus den Ant-
bestätigt, dass dieser Universalismus als        worten auf diese Frage geht hervor, dass sich
Lektion aus dem Zweiten Weltkrieg und dem        die Israelis als Volk verstehen, das demokra-
Holocaust zu einem bestimmenden Faktor           tische Werte anerkennt. Allerdings spricht
deutscher Identität geworden ist. 89 Prozent     sich mehr als ein Drittel offen dafür aus,
der Deutschen treten für den absoluten Vor-      dass unter bestimmten Umständen die indi-
rang der Rechte des Einzelnen ein, die unter     viduellen Freiheitsrechte auch eingeschränkt
keinen Umständen eingeschränkt werden            werden dürfen. Dieses Außerkraftsetzen der
dürfen, und 80 Prozent halten den gesetz­        Rechte des Einzelnen halten viele Israelis an-
lichen Schutz ethnischer und religiöser Min-     gesichts der ständigen Bedrohungen für die
derheiten für eine der dringlichsten Aufgaben    Sicherheit – und ihrer Auffassung nach sogar
unserer Gesellschaft. Nun können sowohl die      die Existenz – des Landes für gerechtfertigt.
Rechte des Einzelnen als auch der Minder-        In dieser Hinsicht unterscheidet sich Israel
heitenschutz als gemeinsame Werte bezeich-       sehr stark von Deutschland, das eine solche
net werden. Jedoch wird diese libe­rale Gesin-   Bedrohung von Sicherheit und Existenz nicht
nung in Deutschland, anders als in Israel,       kennt. In Israel ist die Anzahl derer, die dem

                                                                                                                            19
1. Staat und nationale Identität

                                    Primat der Rechte des Einzelnen „völlig“
                                    zustimmen, weit geringer als in Deutschland
                                    (26 % respektive 48 %). Darüber hinaus sind
                                    nicht alle gesellschaftlichen Gruppierungen
                                    im gleichen Maße von der überragenden
                                    Wichtigkeit der Individualrechte überzeugt.
                                    Etwas mehr als die Hälfte der religiösen
                                    (54 %), aber zwei Drittel der nicht religiösen
                                    Befragten stimmen dieser Aussage zu. Unter
                                    den weniger Gebildeten liegen Zustimmung
                                    und Ablehnung auf etwa gleichem Niveau.

                                    „Deutschland befindet sich
                                     in keinem vergleich-
                                   baren Zustand der
                                        existenziellen Unsicherheit.“

                                    Die vorliegenden Daten belegen die sehr un-
                                    terschiedlichen Erfahrungswelten Deutsch-
                                    lands und Israels in der heutigen Zeit.
                                    Dadurch werden auch die Einstellungen der
                                    Bevölkerungen zur nationalen Identität und
                                    zu demokratischen Werten unterschiedlich
                                    geprägt. Israel befindet sich in einer Lage der
                                    permanenten Bedrohung auf militärischer
                                    wie politischer Ebene. Deutschland befindet
                                    sich – ungeachtet aller Schwierigkeiten der
                                    Identitätsbildung einschließlich der Fragen
                                    von Minderheitenrechten und sozialer Inklu-
                                    sion – in keinem vergleichbaren Zustand der
                                    existenziellen Unsicherheit (dies gilt insbe-
                                    sondere für die Zeit nach dem Mauerfall). In
                                    Israel hingegen steht die ständig präsente
                                    Bedrohung des Staates dem vorbehaltlosen
                                    Bekenntnis zu liberaldemokratischen Werten
                                    im Weg, obwohl eine Mehrheit der Bevölke-
                                    rung ein solches vorbehaltloses Bekenntnis
                                    bevorzugen würde.

20
Deutschland und Israel heute

                         21
2. Geschichte und Holocaust

                               2. Geschichte
                                  History and und
                                              Holocaust
                                                  Holocaust

                               Vergangenheitsbezüge prägen die Konstruk-      Bleibende Relevanz des Holocausts
                               tion und Legitimierung nationaler Identi-      oder Forderung nach Schluss-
                               täten. Gleichwohl ist die Interpretation der   strich?
                               Vergangenheit immer beeinflusst durch die
                               Bedürfnisse der Gegenwart und die sich wan-    Nach 1945 war in Deutschland die Propagie-
                               delnden politischen und gesellschaftlichen     rung einer uneingeschränkt positiven natio-
                               Rahmenbedingungen. In diesem Sinne sind        nalen Identität politisch nicht mehr möglich,
                               der Holocaust und der Nationalsozialismus      da der Holocaust bei jedem Zugriff auf kollek-
                               von anhaltend hoher Relevanz und wirken        tive Erzählungen und Identifikationen als
                               sich auch weiterhin – in einem dynamischen     negativer Bezugspunkt präsent war. Fast 70
                               und kontroversen Wechselspiel – auf das        Jahre später und nach vollzogenem Genera­
                               nationale Selbst- und Geschichtsverständnis    tionenwechsel schwinden die Geschehnisse
                               und die Wahrnehmung des Anderen aus.           des Krieges jedoch langsam aus dem öffent­
                                                                              lichen Gedächtnis und es besteht kein Zweifel,

                                 „Beide Gesellschaften                        dass viele Deutsche nun die Vergangenheit
                                                                              hinter sich lassen möchten. Eine große Mehr-
                              besitzen ihr eigenes Verständnis und            heit von 77 Prozent der Befragten stimmt in
                                  ihre eigene Sicht auf die heutige           einem allgemeinen Sinne der Aussage zu,
                                                                              „man sollte die Geschichte ruhen lassen und
                              Bedeutung der Geschichte.“                      sich gegenwärtigen oder zukünftigen Proble-
                                                                              men widmen“ (siehe Abb. 6).
                               In diesem Kapitel widmen wir uns der Art
                               und Weise, wie sich Deutsche und Israelis      Die Zustimmung zu dieser Aussage in Bezug
                               mit dem Holocaust auf emotionaler und          auf die Judenverfolgung ist sogar noch etwas
                               kognitiver Ebene auseinandersetzen. Beide      höher (siehe Abb. 7): Insgesamt 81 Prozent
                               Gesellschaften besitzen jeweils ihr eigenes    der deutschen Befragten möchten in dieser
                               Verständnis und ihre eigene Sicht auf die      Hinsicht die Geschichte des Holocausts hin-
                               heutige Bedeutung der Geschichte im Allge-     ter sich lassen, wobei der Anteil derjenigen,
                               meinen und des Holocausts im Besonderen.       die diesem Anliegen „völlig“ zustimmen, bei
                                                                              37 Prozent liegt. Diese Gruppe ist zwar kleiner
                                                                              als die Gesamtheit derjenigen, die weniger
                                                                              stark zustimmen. Dennoch bleibt festzuhal-
                                                                              ten, dass eine Mehrheit der Deutschen es
                                                                              ausdrücklich befürwortet, einen Schluss-

22
Deutschland und Israel heute

Abbildung 6: Die Geschichte ruhen lassen (Angaben in %)

    80

    60                                             39

    40                                                                    24
                                                   19                     11
    20
                                                   19                     19
     0
                                              Deutschland                Israel
     0                                             7                       9
                                                   7                       8
    20                                             9
                                                                          28
    40

    60

    80

         Skalenwert 1 („trifft völlig zu“)               6 („trifft überhaupt nicht zu“).

                   Skalenwert 1 (trifft völlig zu)                    Skalenwert 2                      Skalenwert 3
                   Skalenwert 4                                       Skalenwert 5                      Skalenwert 6

Zustimmung zu der Aussage: „Ich denke, man sollte die Geschichte ruhen lassen und sich gegenwärtigen oder zukünftigen Problemen
widmen.“

Quelle: TNS Emnid 2013

                                                                                                                                                           23
2. Geschichte und Holocaust

                              Abbildung 7: Konzentration auf gegenwärtige Probleme (Angaben in %)

                                100
                                  80
                                  60                                              37
                                                                                                        27
                                  40
                                                                                  21
                                                                                                        17
                                  20
                                                                                  23                    20
                                   0
                                                                           Deutschland                Israel
                                   0                                          6                         6
                                                                                  5                     8
                                                                                      7
                                  20                                                                    19
                                  40
                                  60
                                  80
                                100

                                       Skalenwert 1 („trifft völlig zu“)       6 („trifft überhaupt nicht zu“).
                                       Abgebildet sind die Skalenwerte 1, 2 und 3 als Zustimmung und 4, 5 und 6 als Nichtübereinstimmung.

                                                 Skalenwert 1 (trifft völlig zu)                    Skalenwert 2                     Skalenwert 3
                                                 Skalenwert 4                                       Skalenwert 5                     Skalenwert 6

                              Zustimmung zu der Aussage: „Wir sollten uns lieber gegenwärtigen Problemen widmen als den Verbrechen an den Juden, die mehr als
                              60 Jahre zurückliegen.“ An 100 % fehlend: „weiß nicht, keine Angabe“.

                              Quelle: TNS Emnid 2013

                              strich zu ziehen und nicht mehr so oft über                          Deutschen würden lieber von einer Anomalie
                              die Judenverfolgung zu sprechen (Abb. 8).                            sprechen. Zwar will niemand die Geschich-
                                                                                                   te leugnen, dennoch ist in der deutschen

                                  „In Deutschland gilt                                             Öffentlichkeit ein klares Bekenntnis zur Ent-
                                                                                                   wicklung einer positiven Identität festzustel-
                              die Judenverfolgung                                                  len, die nicht auf diesem dunklen Kapitel der
                                 zwar als dunkles Kapitel                                          Geschichte, sondern auf anderen Aspekten

                              in der eigenen Geschichte,
                                                                                                   der eigenen Kultur fußt.

                                         aber nicht als                                            Tatsächlich bekundet mehr als die Hälfte
                              wesentlicher Teil der                                                (55 %) der Befragten Zustimmung zu der
                                                                                                   Aussage: „Heute, beinahe 70 Jahre nach
                                                nationalen Identität.“
                                                                                                   Kriegsende, sollten wir nicht mehr so viel
                                                                                                   über die Judenverfolgung reden, sondern
                              In Deutschland gilt die Judenverfolgung                              endlich einen Schlussstrich unter die Vergan-
                              zwar als dunkles Kapitel in der eigenen                              genheit ziehen“ (siehe Abb. 8). Allerdings ist
                              Geschichte, aber nicht als wesentlicher Teil                         in den letzten zwei Jahrzehnten die Anzahl
                              der nationalen Identität – im Gegenteil: Die                         derer, die dieser Aussage nicht zustimmen,

24
Deutschland und Israel heute

Abbildung 8: Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen
(Angaben in %)
    80

    60

    40
                        60               58                 55
    20
                                                                                   24                 24                22
     0
                      1991              2007               2013                   1991              2007               2013
                                     Deutschland                                                    Israel
     0
                        20                                                    8
    20                                   37                 42

    40                                                                             74                 74                77

    60

    80

                   richtig                    falsch

Antwort auf die Frage: „Heute, beinahe 70 Jahre nach Kriegsende, sollten wir nicht mehr so viel über die Judenverfolgung reden,
sondern endlich einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen. Halten Sie diese Aussage für richtig oder falsch?“;
an 100 % fehlend: „weiß nicht, keine Angabe“.

Quelle: TNS Emnid 1991, 2007, 2013

„Viele Deutsche ärgern       sich darüber,
       dass sie noch immer für die Verbrechen Deutschlands
    an den Juden verantwortlich gemacht werden.“

stetig gestiegen: Während es 1991 noch ein                               Ruf nach einem Schlussstrich mit. Dabei
Fünftel (20 %) der Befragten ablehnte, einen                             scheint eine Korrelation zwischen wachsen-
Schlussstrich zu ziehen, tat dies 2007 bereits                           der historischer Distanz und dem Wunsch
mehr als ein Drittel (37 %) und schließlich                              nach Ausbildung einer positiveren, zukunfts­
2013 beinahe die Hälfte (42 %).                                          orientierten nationalen Identität zu bestehen.
                                                                         Eine Entwicklung, die eine wichtige Heraus-
Die Umfrageergebnisse zeigen für Deutsch-                                forderung für das kollektive deutsche Ge-
land einen deutlichen Zusammenhang mit                                   dächtnis der Deutschen markiert, sofern sich
dem Alter der Befragten, der 2007 noch nicht                             der Holocaust als historisches Ereignis zuneh-
festzustellen war: 67 Prozent der jüngeren                               mend von konkreten familiären Erfahrungen
Befragten unter 40 Jahren, aber nur 51 Pro-                              und mündlichen Überlieferungen löst.
zent der älteren sprechen sich für einen
Schlussstrich aus. Ein Großteil der nach                                 Außerdem schlagen bei diesem Thema
1970 Geborenen, deren Eltern in der Regel                                insbesondere bei der jüngeren Generation
keine direkte Verbindung mehr zu den Ver-                                die Emotionen hoch. Viele Deutsche ärgern
brechen des Naziregimes haben, trägt diesen                              sich darüber, dass sie noch immer für die

                                                                                                                                                           25
2. Geschichte und Holocaust

                              Abbildung 9: Ärger darüber, dass Verbrechen an Juden noch
                              vorgehalten werden (Angaben in %)

                                               a) Total                                      b) nach Alter
                                  80

                                  60

                                  40                                             79
                                                                                                71                            65
                                                       66                                                      62
                                                                                                                                             58
                                  20

                                   0
                                                                             18 bis 29      30 bis 39      40 bis 49      50 bis 59         ≥ 60
                                                                               Jahre          Jahre          Jahre          Jahre           Jahre

                                       Abgebildet sind die Werte für „stimme voll und ganz zu“ und „stimme eher zu“.

                              Zustimmung zu der Aussage: „Ich ärgere mich darüber, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten
                              werden.“; an 100 % fehlend: „weiß nicht, keine Angabe“.

                              Quelle: TNS Emnid 2013

                              Verbrechen Deutschlands an den Juden ver-                              halten. 77 Prozent der israelischen Befragten
                              antwortlich gemacht werden (66 % Zustim-                               halten die Aussage: „Wir sollten nicht mehr
                              mung zu der entsprechenden Frage; ein Drit-                            so viel über die Judenverfolgung reden, son-
                              tel gibt an, sich nicht zu ärgern). Der Anteil                         dern endlich einen Schlussstrich unter die
                              derer, die Ärger darüber empfinden, steigt                             Vergangenheit ziehen“ für falsch. Der Anteil
                              mit sinkendem Alter der Befragten: In der                              der israelischen Juden, für die die Geschichte
                              jüngsten Altersgruppe (18 bis 29 Jahre)                                der Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg
                              ärgern sich fast 80 Prozent, verglichen mit                            nicht der Vergangenheit angehört, ist seit
                              einer noch immer starken Mehrheit von                                  1991 (74 %) sogar leicht gestiegen (Abb. 8).
                              58 Prozent unter den ältesten Befragten (ab                            Die thematisch verwandte Frage, ob es Zeit
                              60 Jahre). Die jüngeren Befragten unserer                              sei, die Geschichte ruhen zu lassen und sich
                              Studie scheinen sich danach zu sehnen, dass                            gegenwärtigen oder zukünftigen Problemen
                              „Deutsch sein“ als etwas „Normales“ betrach-                           zu widmen, wird von einer knappen Mehr-
                              tet wird (Abb. 9).                                                     heit (54 %) bejaht (darunter ein Viertel „völ­
                                                                                                     lige“ Zustimmung) und von fast der Hälfte
                              Anders als in Deutschland ist bei den israe­                           (45 %) verneint (siehe Abb. 6). Diejenigen,
                              lischen Befragten die Einstellung zur Ge-                              die eine solche Abkehr von der Vergangen-
                              schichte über die Jahre weitgehend konstant                            heit ablehnen, spiegeln wahrscheinlich die
                              geblieben. In der Stichprobe findet sich zur                           große Mehrheit derjenigen Befragten wider,
                              all­gemeinen Geschichte ein geteiltes Mei-                             die ein Gedenken an die Judenverfolgung
                              nungsbild, jedoch ist eine klare Mehrheit da-                          für notwendig halten. Ganz allgemein kommt
                              für, das Andenken an den Holocaust wachzu-                             in der israelischen Gesellschaft der Juden­

26
Deutschland und Israel heute

  verfolgung des 20. Jahrhunderts eine beson-      In den ersten Jahren nach der Staatsgrün-
  dere Bedeutung zu, da sie der Staatsgrün-        dung versuchte Israel bewusst, dieses Bild
  dung vorausging und auch zur ihrer Recht­        abzustreifen und eine nationale Identität am
  fertigung beitrug. Die Gründung Israels wird     Maßstab eines starken und selbstbewussten
  als historische Notwendigkeit aufgefasst, da     israelischen Judentums auszubilden. Die
  der Staat die einzig wirksame Überlebens­        Befragten könnten in ihrem Antwortverhal-
  garantie für die Juden darstelle. Dies ist       ten aber auch durch vorausgehende Fragen
  eines der zentralen Ergebnisse einer Befra-      beeinflusst worden sein, in denen es um die
  gung von Nathanson und Tzameret (2000).          Berechtigung einer Kritik am eigenen Land,
  Darüber hinaus werden im heutigen Israel         um Minderheitenrechte und die steigende
  aktuelle Bedrohungen des Landes wie etwa         Zahl von Minderheiten in Israel ging. Da-
  aus dem Iran oder im Verhältnis zu den           durch mögen manche an die aktuellen Kon-
  Palästinensern in einen Zusammenhang             flikte und ihre Konsequenzen gedacht haben.
  mit den antisemitischen Verfolgungen des         Wenn sie dabei an das von Juden verursachte
  19. und 20. Jahrhunderts, aber auch früherer     Leid der Palästinenser – auch im Zusam-
  Zeiten, gestellt oder zumindest als histori-     menhang mit der Staatsgründung – erinnert
  sche Fortführungen dieser antisemitischen        wurden, könnten sich einige Befragte dafür
  Verfolgungen betrachtet. Sowohl der Iran         entschieden haben, die Vergangenheit besser
  als auch die Palästinenser haben durch ihre      ruhen zu lassen, um mit diesen Themen
  Hetzrhetorik gegen Israel zu dieser Dynamik      nicht konfrontiert sein zu müssen.
  beigetragen. So lieferte der Iran unter seinem
  früheren Präsidenten Ahmadinejad durch die       Historische Erklärungsmuster des
  wiederholte Ankündigung, Israel zerstören        Holocaust
  zu wollen, reichlich Material in diesem Sinne;
  diese Brandreden wurden vom israelischen         Der Wunsch nach einem Schlussstrich und
  Premierminister Netanjahu ständig dazu her-      die Bereitschaft, die Vergangenheit ruhen
  angezogen, um die Furcht vor existenzieller      zu lassen, könnten ebenso mit unterschied-
  Bedrohung deutlich zu machen.                    lichen Erklärungsweisen des Holocausts in
                                                   Deutschland und Israel zusammenhängen.
  Dennoch ist eine knappe Mehrheit dafür,
  die Vergangenheit ruhen zu lassen. Da
  diese Frage im allgemeinen Teil der Um-          „Wenn die Nazizeit als ein
  frage stand, wurde sie von den Befragten              anormales Ereignis
  möglicherweise eher weit ausgelegt. Viele
  dachten dabei wohl an die Verfolgungen des
                                                     angesehen wird, das nichts mit
  20. Jahrhunderts und das damit verbundene            spezifisch „deutschen
  Stereotyp der schwachen Juden in Europa,         Charaktereigenschaften“ zu tun hat,
  die sich zum Opfer machen ließen.
                                                      ist es leichter, eine positive

„In den ersten
            Jahren nach der                        nationale Identität
                                                                    herauszubilden.“
   Staatsgründung Israels
 versuchte das Land bewusst,                       Wenn die Nazizeit als ein anormales Ereignis
eine nationale          Identität                  angesehen wird, das nichts mit spezifisch
   auf Basis eines starken und                     „deutschen Charaktereigenschaften“ zu tun
                                                   hat, ist es leichter, eine positive nationale
 selbstbewussten israelischen                      Identität herauszubilden. So ist es nicht ver-
          Judentums zu stiften.“                   wunderlich, dass nach Ansicht der deutschen

                                                                                                                             27
2. Geschichte und Holocaust

                              Abbildung 10: Vermutete Ursachen für Nationalsozialismus
                              und Holocaust (Angaben in %)

                                                  „In der                                                                         67
                                       Autoritätshörigkeit
                                         der Deutschen“                                                              53

                                           „Im Wesen und
                                                                                                                      54
                                             Charakter der
                                              Deutschen“                                 27

                                „In der schlechten wirt-                                                            52
                                  schaftlichen Lage und
                                                                                                                             61
                                hohen Arbeitslosigkeit“

                                      „In der Angst der                                                    44
                                    Deutschen vor dem
                               Terror des Naziregimes“                                                      45

                                                                         Israel               Deutschland

                              Antwort auf die Frage: „Welche Ursachen hatte Ihrer Meinung nach der Nationalsozialismus und der Holocaust in Deutschland? …
                              Die Ursache lag ...“; 5er-Skala: 1 (trifft völlig zu) bis 5 (trifft überhaupt nicht zu). Dargestellte Anteile: Skalenwerte 1 + 2.

                              Quelle: TNS Emnid 2013

                              Befragten vor allem externe Faktoren den                                Bedauern, Schuld, Verantwortung?
                              Aufstieg der Nazis ermöglicht haben: 61 Pro-                            Gedenken und Emotionen
                              zent machen die schlechte Wirtschaftslage
                              und hohe Arbeitslosigkeit dafür verantwort-                             Der Vergangenheit zu gedenken ist nicht nur
                              lich. Im Gegensatz dazu sehen die israeli-                              ein kognitiver, sondern auch ein emotionaler
                              schen Befragten den Hauptgrund in einem                                 Prozess. Die Erinnerung weckt Emotionen,
                              deutschen Charakterzug, nämlich der Nei-                                die nicht einer individuellen, sondern einer
                              gung, Befehlen zu gehorchen. Mehr als die                               gruppenbezogenen und gesellschaftlichen
                              Hälfte (54 %, doppelt so viele wie unter den                            Deutung bedürfen. Emotionen – etwa Scham
                              deutschen Befragten) verweisen auf den                                  oder Stolz angesichts der Handlungen
                              „deutschen Charakter“ als Begründung.                                   anderer Gruppenmitglieder – können von
                              Trotz dieser Unterschiede sind sich die Be-                             ganzen Gruppen empfunden werden;
                              fragten aus beiden Ländern hinsichtlich der                             gleichzeitig ist die Art der zu empfindenden
                              Autoritätshörigkeit der Deutschen, ihrer                                Emotionen von der Gesellschaft vorgegeben.
                              Angst vor dem Terrorregime der Nazis sowie                              Die Stärke der Emotion stellt einen Gradmes-
                              der Bedeutung der Wirtschaftskrise über­                                ser für die Aktualität und Relevanz eines
                              raschend einig: Sowohl die Israelis als auch                            Themas für den Einzelnen und die Gruppe
                              die Deutschen glauben, dass der Holocaust                               dar. Somit ist es von zentraler Bedeutung,
                              durch äußerliche Faktoren und durch die                                 die Art und Intensität der Emotionen zu
                              Autoritätshörigkeit vieler Deutscher verur-                             bestimmen, die das Andenken an die
                              sacht wurde (Abb. 10).                                                  Judenverfolgung bei Deutschen und Israelis
                                                                                                      hervorruft.

28
Deutschland und Israel heute

Abbildung 11: Empfindungen beim Gedanken an die Judenverfolgung
(Angaben in %)

                          7        7                                                     77
         Bedauern
                            11                      18                                             60

                           10               11                                                64
         Empörung
                              14                         18                                        51

                            12              8                                35
 Verantwortung
                                   21                          15                   20

                              13                9                        29
               Angst
                                   21                     10                  17

                           10           6                           33
             Scham
                                   19                         15                    26

                          7        5                     24
             Schuld
                              13                8              14

                              13            5            12
Gleichgültigkeit
                                   20                     11             8

                              15                    9                        26
              Rache
                          in Deutschland nicht erhoben

Skalenwert 1 („sehr stark“)         6 („gar nicht“).
Abgebildet sind die Skalenwerte 1, 2 und 3.

Israel                                              Deutschland
     Skalenwert 1 (sehr stark)                                Skalenwert 1 (sehr stark)
     Skalenwert 2                                             Skalenwert 2
     Skalenwert 3                                             Skalenwert 3

Antworten auf die Frage: „Wenn Sie an die Judenverfolgung unter Hitler denken, wie stark empfinden Sie da …?“

Quelle: TNS Emnid 2013

„Emotionen können von                                                              Von besonderem Interesse sind dabei die

  ganzen Gruppen empfunden                                                         frappierenden Ähnlichkeiten in der Ein­
                                                                                   stellung der Deutschen und Israelis von
werden; gleichzeitig ist die Art                                                   heute zum Holocaust. In beiden Ländern
  der zu empfindenden                                                              empfinden etwa jeder neunte der Befragten
                                                                                   Bedauern und jeder achte Empörung; die
        Emotionen von der                                                          Hälfte der Juden und 60 Prozent der Deut-
Gesellschaft vorgegeben.“                                                          schen empfinden Scham und jeweils die

                                                                                                                                                        29
2. Geschichte und Holocaust

                              Hälfte beider Gruppen Angst. Das wohl           Die von einem Drittel der israelischen Juden
                              bemerkenswerteste Ergebnis ist, dass            empfundene Schuld ist anders zu deuten und
                              ähnlich viele Deutsche wie Israelis – jeweils   eher Ausdruck des Gefühls, dass von den Ju-
                              knapp mehr als ein Drittel – Schuld em­         den selbst nicht rechtzeitig oder ausreichend
                              pfinden und nahezu gleich viele (56 % der       Maßnahmen zum eigenen Schutz getroffen
                              Deutschen und 55 % der Juden) sich ver­         wurden. Dieses Gefühl geht offenbar auch
                              antwortlich fühlen (Abb. 11).                   einher mit der Auffassung, dass die Exis-
                                                                              tenz des Staates Israel die Juden in die Lage
                              Die Ergebnisse machen deutlich, dass eine       versetzt, sich gegen zukünftige Bedrohungen
                              Mehrheit der Deutschen (jene zwei Drittel,      rasch und schlagkräftig zu verteidigen bzw.
                              die sich nicht schuldig fühlen) weit genug      solchen Bedrohungen sogar vorzubeugen.
                              von der Kriegsgeneration entfernt ist, um       Bemerkenswert ist in diesem Zusammen-
                              sich nicht persönlich schuldig zu fühlen.       hang, dass der Holocaust bei der Hälfte der
                              Zugleich ist die Mehrheit von 56 Prozent der    befragten Israelis Rachegefühle hervorruft.
                              Befragten, die Verantwortung empfinden, ein     Angesichts der überwiegend gesunden
                              Indiz dafür, dass die Haltung der Verantwor-    Einstellung zu Deutschland (siehe unten)
                              tung von einer breiteren Öffentlichkeit aner-   ist jedoch nicht klar, gegen wen sich eine
                              kannt wird als die der persönlichen Schuld.     praktische Umsetzung dieser Rachegefühle
                              Mit wachsender zeitlicher Distanz werden        richten würde.
                              offenbar weniger intensive Emotionen wie
                              Verantwortung und Bedauern stärker – aller-
                              dings empfinden 83 Prozent der Befragten
                              weiterhin Empörung. Demgegenüber geben
                              39 Prozent an, der Judenverfolgung unter
                              Hitler gleichgültig gegenüberzustehen.

30
Deutschland und Israel heute

                         31
3. Israelisch-deutsche Beziehungen heute

                                      3. Israelisch-deutsche
                                      2. History and Holocaust
                                      Beziehungen heute

                                      Nicht nur die Selbstwahrnehmung und             gegenüber dem heutigen Deutschland nega-
                                      die kollektive Identität der Deutschen und      tiv beeinflusst. Allerdings beeinträchtigen
                                      der Israelis sowie ihre jeweilige Definition    die mit der Vergangenheit verbundenen
                                      des Anderen werden durch die Geschichte         negativen Gefühle nicht die Beziehungen
                                      beeinflusst, sondern auch die Beziehungen       zum modernen Deutschland, sondern kom-
                                      zwischen beiden Ländern. Die bilateralen        men gegenwärtig vor allem in Form von
                                      Beziehungen sind nach wie vor durch das         Gleichgültigkeit zum Ausdruck: Lediglich
                                      Trauma des Holocausts gekennzeichnet und        16 Prozent geben an, stark oder sehr stark
                                      werden daher – ungeachtet der wachsen-          an Deutschland interessiert zu sein, etwas
                                      den Gleichgültigkeit und der Forderungen        mehr als im Jahr 2007 (Abb. 12).
                                      nach einer Normalisierung – als besonders
                                      angesehen.                                      Hier ist aber zu berücksichtigen, dass das
                                                                                      Interesse an anderen Ländern immer auch
                                                                                      vom Tagesgeschehen abhängig ist. Dieser
                                      „Die bilateralen                                Umstand erklärt möglicherweise die hohen
                                             Beziehungen sind nach                    Werte, die im Jahr 1991 in der israelischen
                                                                                      Bevölkerung für das Interesse an Informa-
                                    wie vor durch das Trauma des                      tionen über Deutschland gemessen wurden
                                    Holocausts gekennzeichnet und                     (31 %). Damals hatten die Überfälle und
                                           werden daher – ungeachtet der              Brandanschläge auf Migranten und Flücht-
                                                                                      linge in Deutschland weltweit für Aufsehen
                                    wachsenden Gleichgültigkeit                       gesorgt und damit auch das Informations-
                                    und der Forderungen nach einer                    bedürfnis der Israelis kurzfristig in die
                                            Normalisierung – als                      Höhe schnellen lassen. Daher verwundert
                                                                                      es auch nicht, dass das derzeitige Interesse
                                      besonders angesehen.“                           an Informationen über Deutschland deutlich
                                                                                      geringer ausfällt als damals.

                                      Die Israelis sind sich dessen bewusst, dass     Die Deutschen neigen dazu, den anhaltenden
                                      die Geschichte des Holocausts noch heute        Einfluss des Holocausts auf die israelisch-
                                      ihre Einstellung prägt: Mehr als drei Viertel   jüdische Wahrnehmung und das Image
                                      geben an, dass die Geschichte ihre Gefühle      Deutschlands zu unterschätzen. So glauben

32
Deutschland und Israel heute

Abbildung 12: Interesse an Informationen über das andere Land
(Angaben in %)

    60

                                                                                                                      60
    40                                                                                                                        56

                                                              46
                                                       40                                      38              38
    20                           31                                   30                               30
                                                                              27      28
                22      23
                                               16
                                       13
     0
              2007 2013 1991 2007 2013               2007 2013 1991 2007 2013                 2007 2013 1991 2007 2013
              Deutschland             Israel         Deutschland            Israel            Deutschland            Israel

                     stark/sehr stark                              mittel                        überhaupt nicht/schwach

Antwort auf die Frage: „In welchem Maß interessieren Sie sich für Informationen über das heutige Israel/Deutschland? Würden Sie sagen
sehr stark, stark, mittel, schwach oder überhaupt nicht?“; an 100 % fehlend: „weiß nicht, keine Angabe“. Frage 1991 in Deutschland
nicht gestellt.

Quelle: TNS Emnid 1991, 2007, 2013

43 Prozent der deutschen Befragten, dass die                           „Die Deutschen neigen dazu, den
heutigen Beziehungen von der Vergangenheit
nur etwas oder gar nicht mehr belastet sind;
                                                                                     anhaltenden Einfluss des
diese Meinung wird jedoch in Israel nur von                            Holocausts auf die israelisch-jüdische
21 Prozent der Befragten geteilt (Abb. 13).                                            Wahrnehmung und das Image
                                                                             Deutschlands zu unterschätzen.“

                                                                                                                                                                 33
Sie können auch lesen