100 Stipendien für echte expert*innen
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Jänner/Februar 2021 Rundbrief Ausgabe 1/21 Neuigkeiten aus der oö. Sozialszene, Informationen zu sozialpolitischen Themen 100 Stipendien für echte expert*innen „Hört uns zu! Redet mit uns. Interessiert euch für unse- re prekäre Lebensrealität. Lernt uns kennen.“ Das ist eine von 11 Forderungen an politische Parteien, die Langzeitar- beitslose im Rahmen der Studie „Unerhört - Langzeitar- beitslose Nichtwähler melden sich zu Wort“ formulieren. Denn Armut ist in unserer Leistungsgesellschaft mehr denn je stigmatisiert und Armutsbetroffene werden zur Zielscheibe politischer Ressentiments und von der Gesell- schaft ausgegrenzt. Leistung und Leistungsträger*innen sind die Schlagworte in der gegenwärtigen Debatte. Dass nicht jede*r diese uneingeschränkte Leistungsfähigkeit zur Verfügung hat, wird gern als persönlicher Makel defi- niert. Das ist ja auch leicht, dann muss man nur genügend Druck auf bauen und keine echten politischen Lösungen präsentieren. Richard Stang hat festgestellt, dass es „im SOZIALPLATTFORM öffentlichen Diskurs mehr Trend zur Stigmatisierung als OBERÖSTERREICH zum Empowerment“ gibt. Um dem entgegenzuwirken, bietet die Sozialplattform im Jahr 2021 Stipendien für ar- Österreichische Post AG mutsbetroffene Menschen an, die in Hinblick auf die kom- MZ02Z030265M mende Landtagswahl ihre Expertise zur Verfügung stellen Sozialplattform OÖ, Schillerstraße 9, 4020 Linz und ihre Ideen für ein besseres Leben formulieren.
:: Inhalt 4 Umsetzung des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes: Triste Stimmung und Lücken, Norbert Krammer - VertretungsNetz :: Impressum Sozialplattform Oberösterreich, Schillerstr. 9, 4020 Linz 6 6 Tipps für psychische Gesundheit in der Corona-Krise 0732-66 75 94 office@sozialplattform.at Krisenhilfe OÖ www.sozialplattform.at 7 ZVR: 888363821 Bei Demenz ist Zeit kostbar Redaktion und Layout: Volkshilfe OÖ Sozialplattform OÖ 8 In der Kompetenz-Entwicklungsküche Magdalena Hutter, Rosemarie Schröck, VFQ Namentlich gekennzeichnete Texte geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. 10 Kaum positive Erfahrungen mit Demokratie und Beteiligung Martina Zandonella, SORA Institut Berichte und Ankündigungen aus den Projekten sind willkommen, die 12 Veröffentlichung ist gratis, ein Recht 100 Stipendien: Was es für ein gutes Leben braucht auf Abdruck besteht jedoch nicht. Sozialplattform OÖ Bei platzbedingten Engpässen haben 13 Beiträge von Mitgliedern der Sozial- DEM21 - die oö. Initiative für mehr Demokratie plattform den Vorrang. migrare :: Abo 14 Steigende Jugendarbeitslosigkeit darf sich nicht verfestigen Sozialwirtschaft Österreich, arbeit plus, dabei austria 6 Ausgaben pro Jahr zusätzlich Sozialratgeber OÖ 15 wir-gemeinsam.at Armutskonferenz 20 EURO normal 10 EURO für Student*innen GRATIS mit dem Kulturpass 16 Medizinische Behandlung setzt Einwilligung voraus! Norbert Krammer, VertretungsNetz Nutzen Sie die Möglichkeit des kos- tenlosen Probeabonnements für 18 2 aktuelle Ausgaben! Wohnungslosenhilfe Mosaik: 30 Jahre Notschlafstelle Stefan Hindinger :: redaktionsschluss 19 Nächste Ausgabe erscheint am: Jobbörse: Neuerung ab 2021 1. März 2021 Sozialplattform OÖ (März/April 2021) 20 Applaus alleine ist zu wenig Heidemarie Staflinger, Arbeiterkammer OÖ Redaktionsschluss: 1. Februar 2021 22 Die Zivilgesellschaft wirkt! dieziwi :: Förder- partner*innen 23 VSG und ULF: Soziale Innovation und gesellschaftliche Wirksam- keit - Susanne Rothmayer, VSG 24 SOMA - Wichtige Sozialeinrichtung im Bezirk Verein Saum 25 Connect - Karrieremesse Sozialwirtschaft Sozialplattform OÖ 26 28 Publikationen Veranstaltungen/Termine
Rundbrief 1/2021 3 Liebe Leserin, lieber Leser! Ich schließe an beim Editorial des letzten Rundbrief, in dem ich unser Schwerpunktthema „Demokratie und so- ziale Sicherung“ beschrieben habe. Diesem Themenfeld wollen wir uns bis zur Landtagswahl im September 2021 widmen. Die Beteiligung an politischen Entscheidungs- prozessen und der sozioökonomische Status hängen un- mittelbar zusammen und bedingen sich gegenseitig. Engagement muss man sich leisten können Politisches Engagement muss man sich leisten können. Wer die ganze Zeit mit Existenzsicherung beschäftigt ist und Existenzsorgen hat, wird für politische Projekte kaum den Kopf und auch nicht die Zeit haben. Um es ganz plakativ zu formulieren: Der/die Eine aus dem wohlhabendsten Viertel ist in der Lage, seine/ ihre Einflussnahme auf politische Entscheidungspro- zesse erfolgreich entweder in der Freizeit oder über berufliche Netzwerke zu organisieren, während bzw. weil der/die Andere aus dem einkommensschwächsten Viertel sein/ihr Haus putzt und seine/ihre Angehörigen übernehmen dürfen. pflegt. Das stärkt immer mehr die Position der politisch Wir werden im Zuge der Wahlauseinandersetzung im Einflussreichen und schwächt jene der politisch Ein- Sommer 2021 die Programme der wahlwerbenden Par- flussschwachen. Laut Martina Zandonella (sehr lesens- teien daran messen, inwieweit sie die Ideen der Ex- wertes Interview auf Seiten 10 und 11 des Rundbriefs) ist pert*innen für ein gutes Leben beinhalten. beispielsweise für Deutschland nachgewiesen, dass in den letzten 30 Jahren die politischen Entscheidungen Ich darf zum Abschluss noch auf einige lesenswerte Stu- des Deutschen Bundestages praktisch ausschließlich dien und Beiträge hinweisen, die sich mit dem Thema zu Gunsten der Interessen der Einkommensstärksten beschäftigen: :: Schadet Ungleichheit der Demokratie? ausgefallen sind. Für die Herstellung von größerer Ge- https://bit.ly/38mei8q rechtigkeit braucht es daher eine Stärkung der politisch Einflussschwachen. Das gefällt uns. :: Wie soziale Ungleichheit und die Prekarisierung von Arbeit das Vertrauen der ArbeitnehmerInnen in die mehr Bürger*innennähe? Demokratie zerstören Wir bauen gerade ein Projekt, das hier unterstützen soll https://www.sora.at/fileadmin/downloads/pro- und das wir im Rahmen unseres Jahresschwerpunktes jekte/Zandonella_et_al_Arbeit_und_Demokratie. umsetzen wollen. Es ist auf der Titelseite bereits kurz pdf angerissen. Wir werden unsere Mitglieder einladen, dieses Projekt mit den Nutzer*innen ihrer Angebote :: Studie „Unerhört - Langzeitarbeitslose Nichtwähler umzusetzen. Wir wollen in diesem Zusammenhang eine melden sich zu Wort“ einigermaßen repräsentative Gruppe von Menschen mit https://bit.ly/2XjXwAQ Armutserfahrung finden und deren Expertise in Bezug auf die erforderliche Ausgestaltung der sozialen Siche- :: Podcast „Erklär mir die Welt“ von Andreas Sator: zu rungssysteme gewinnen. Für ihre Expertise, die sie zur Gast Tamara Ehs zum Thema Erklär mir die Demo- Verfügung stellen, sollen sie eine finanzielle Aufwand- kratie 7: Mitmachen? sentschädigung erhalten. Wir werden auch die poli- https://erklaermir.simplecast.com/episodes/76 tischen Parteien in Oberösterreich um eine finanzielle Unterstützung dieser „Stipendien“ ersuchen. Die im :: Gefährdet Corona die Demokratie? Nationalrat vertretenen Parteien erhalten öffentliche https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/po- Gelder aus Bundesmitteln (im Jahr 2020 in Höhe von litik/europa/2083771-Gefaehrdet-das-Coronavi- insgesamt 10,5 Millionen Euro), die ihre Parteiakademien rus-die-Demokratie.html für staatsbürgerliche Bildungsarbeit zu verwenden ha- ben. Ein Promill davon für unsere Stipendien wäre gut Josef Pürmayr, investiert. Denn die Parteien erhalten im Gegenzug Sozialplattform OÖ Ideen für eine gerechtere Gesellschaft, die sie gerne in ihre Wahlprogramme, z.B. für die OÖ Landtagswahl 2021,
4 Rundbrief 1/2021 © Norbert Krammer Umsetzung des Sozialhilfe-Grundsatz- gesetzes: triste Stimmung und Lücken Es bleibt ein Dauerbrenner: Die neuen Aus- len zu den zentralen Elementen der unbedingt erforder- lichen Lebenshaltungskosten. Sonst bleibt nur ein Leben führungsgesetze des Sozialhilfe-Grundsatz- in Notunterkünften, ungesicherte Schlafmöglichkeiten gesetzes (SH-GG) des Bundes verschlechtern bei „Freunden“ oder gar das Übernachten in Abbruch- trotz aller gegenteiliger Beteuerungen häusern. Mit der „alten“ bedarfsorientierten Mindestsicherung faktisch die Lage von Menschen in materiellen (BMS), die noch immer in sieben von neun Bundeslän- Notlagen. Neben den beiden 2020 um- dern in Grundzügen zumindest bis Jahresende 2020 gesetzten Landesgesetzen in Niederöster- Wirkung entfalten konnte, war durch Mindeststan- reich und Oberösterreich folgen nun zu dards die Unterstützung besser geregelt. Höhere Mieten konnten am Verordnungsweg oder durch individuelle Jahresbeginn 2021 jedenfalls die bereits be- Gewährung ohne Rechtsanspruch deutlich besser abge- schlossenen Gesetze in Salzburg, Vorarlberg, deckt werden, auch wenn es schon bisher immer wieder Kärnten und eventuell Steiermark. Norbert viel Ärger und unsoziale Festlegungen gab. Die Landesregierung Niederösterreichs ist stolz auf die Krammer, VertretungsNetz rasche Umsetzung der Vorgaben der ehemaligen tür- kis-blauen Regierungskoalition. Und sie setzte sie sehr Gab es bei den Rückmeldungen zum Begutachtungs- streng um. So verzichtete Niederösterreich auch auf die entwurf SH-GG vor allem noch grundsätzliche und im SH-GG des Bundes angebotene Möglichkeit einer verfassungsrechtliche Bedenken, so wird nun mit den zusätzlichen bis zu 30 Prozent erhöhten Wohnkosten- Ausführungsgesetzen der Schaden für armutsbetroffene pauschale. Auch sonst gibt es keine Möglichkeit, höhere Menschen auch im Einzelfall deutlich. Wohnkosten abzudecken. Vielmehr werden durch die zuspitzende Aufteilung zwischen Lebensunterhalt und Neue Fallen für Wohnkosten bei Wohnkosten (früher 75% Lebensunterhalt, nun nur mehr Sozialhilfe-Bezug 60%) nur auf den ersten Blick Verbesserungen erzielt. Aufwendungen für ein menschenwürdiges Wohnen zäh- Denn vom nun etwas höheren Wohnkostenanteil wird
Rundbrief 1/2021 5 eine gewährte Leistung aus der mit dem bisher kleine persönliche Wohnbauförderung abgezogen. Un- Ausgaben abgedeckt werden konn- term Strich bleibt weniger. Wohnkosten bleiben ebenfalls ten, sinkt natürlich auch die Motiva- der Brennpunkt für nun nur tion sich an den wichtigen Angebo- Von der Theorie zu noch verwaltete statt beseitigte ten der Betreuungseinrichtungen zu beteiligen. Schaden auf allen Ebenen. einem praktischen Notlagen. Die Wohnbeihilfe Beispiel für wird auch in Oberösterreich Pflegeleistungen Niederösterreich auf die Leistung der Sozialhilfe Für Maximilien Plocher (Name geän- reduzieren die angerechnet. Politisch unver- dert), 37 Jahre, wurde im September Sozialhilfe ständlich. Während durch Medienberichte der 2020 bei der Berechnung für den eingebrachten Antrag der Sozialhilfe-Höchstsatz für Eindruck implizit vermittelt wird, dass Seniorenheime eine alleinstehende Person von € 917,35 angenommen. fast ausschließlich für Pflege und Betreuung zustän- Davon entfallen € 550,41 auf den Lebensunterhalt und dig sind, weist die Pflegestatistik die Unterstützung € 366,94 für das Wohnen. Die Wohnkosten werden im zu Dreiviertel bei den Angehörigen und bei mobilen SH-GG sehr weit definiert – auch hier wären „Überzah- Hilfsangeboten aus. Diese wichtige Rolle der pflegenden lungen“ vorstellbar, die in NÖ nicht genutzt werden – Angehörigen wird leider beim Sozialhilfe-System nicht und umfassen neben Miete, den gesamten Hausrat, die entsprechend gewürdigt. Das Pflegegeld, das ein Ange- Heizkosten sowie Strom, Betriebskosten und Abgaben. höriger für die erbrachten Pflegeleistungen erhält, wird Herr Plocher muss Wohnkosten von insgesamt € 480 von der Sozialhilfe als Einkommen angerechnet und bestreiten und erhält eine Wohnbauförderung von damit abgezogen. Das SH-GG schreibt diese restriktive € 220, die bei der Sozialhilfeberechnung in Abzug ge- Vorgangsweise den Ländern für die vorgesehenen Aus- bracht wird. Damit verbleiben nur maximal € 166,94 als führungsgesetze nicht verpflichtend vor. anrechenbare Wohnkosten. Der Rest muss vom Lebens- Niederösterreich nutzte den Spielraum und verzichtet unterhalt finanziert werden. Damit verbleiben Herrn darauf, dass das Pflegegeld bei den pflegenden Angehö- Plocher monatlich € 417,35 zum Bestreiten der gesam- rigen angerechnet wird. Anders Oberösterreich: Hier ten Lebenshaltungskosten. Soweit der Berechnungsbo- wird das Pflegegeld zur Gänze als Einkommen der pfle- gen. Real erhält Herr Plocher aufgrund seiner durch die genden Angehörigen angerechnet. Covid-19-Krise ausgelösten Arbeitslosigkeit monatlich € 770 und damit nur den Differenzbetrag als Sozialhil- Ein Beispiel feunterstützung. Er will rasch wieder eine Beschäftigung Frau Mayr (Name geändert) lebt mit ihrem 26-jährigen finden und hofft, dass dies bald Wirklichkeit wird. Denn Sohn Manuel in der gemeinsamen Wohnung. Manuel auf die Sozialhilfe kann er nicht mehr vertrauen. Mayr ist seit der Geburt schwer körperlich behindert. Er bezieht Pflegegeld der Stufe 4, monatlich € 677,60 und Anrechnungen reduzieren für seine Arbeit in der fähigkeitsorientierten Tageswerk- statt monatlich bis zu € 140,-. Seine Mutter ist halbtags Leistung in einem Handelsgeschäft beschäftigt und verdient hier In Oberösterreich ist die Situation für Antragstel- monatlich rund € 850. Ohne die genaue Sozialhilfebe- ler*innen auf Leistungen aus der neuen Sozialhilfe in rechnung nachzuzeichnen: Sozialhilfe für zwei erwach- den Grundzügen vergleichbar. Wohnkosten bleiben sene Personen (€ 1.284,30) stehen dem Einkommen ebenfalls der Brennpunkt für nun nur noch verwaltete (Gehalt der Mutter und Entschädigung Tageswerkstatt statt beseitigte Notlagen. Die Wohnbeihilfe wird auch Sohn plus Pflegegeld ergibt € 1.670) gegenüber. Das in Oberösterreich auf die Leistung der Sozialhilfe ange- ergibt ohne Mietkosten keinen Sozialhilfeanspruch. In rechnet. Politisch unverständlich, da damit die oft ge- Niederösterreich würde die Familie deutlich mehr Geld priesenen Wohnbauförderungsmaßnahmen konterka- monatlich zur Verfügung haben, um die Lebenshal- riert werden, wenn zuerst eine Bedarfsprüfung bei der tungskosten abzudecken, da hier das Pflegegeld nicht Zuerkennung der Wohnbeihilfe aufwendig durchgeführt als Einkommen der pflegenden Angehörigen subsumiert wird, und dann geht dies in der ebenfalls bedarfsgeprüf- wird. Unverständlich und eine neue Qualität regional ten Sozialhilfe wieder auf. Außer Verwaltungskosten durch Landesgesetze geschaffener Notlagen. bleibt da nur der Frust für die leidgeprüften Antragstel- ler*innen von Sozialhilfe-Leistungen über. Noch dicker kommt es für Personen, die bisher den Unterhaltsanspruch ist Freibetrag der Zuverdienstgrenze nutzen konnten. So einzuklagen wurde in der alten BMS der kleine Zuverdienst im Rah- Seit Jahren gab es bereits im Mindestsicherungssystem men der Tagesstruktur fähigkeitsorientierter Aktivitäten eine kritische Diskussion über die Praxis, dass erwach- nicht als Einkommen angerechnet. Das neue Sozialhilfe- sene Menschen mit Beeinträchtigungen und Bezug er- gesetz sorgt nun dafür, dass die kleine Entschädigung für höhter Familienbeihilfe gegenüber ihren Eltern einen die Tätigkeit im Wasch- und Bügelservice von der Sozi- Unterhaltsanspruch geltend machen mussten. Diese alhilfe abgezogen wird. Neben dem finanziellen Verlust, Praxis verschwand in allen Bundesländern, denn diese
6 Rundbrief 1/2021 lebenslange Unterhaltsverpflichtung für Eltern gegen- über ihren Kindern mit Behinderung und fehlender Er- werbsarbeit wird vielfach als sozial und ethisch unver- ständlich beurteilt. 6 Tipps Gegenüber regelhaften Klagen wurden weitreichende rechtliche Bedenken über den ungewissen Ausgang der für psychische Klagen als Gegenargument geäußert und das hohe Kos- tenrisiko ins Treffen geführt. Mit dem SH-GG wird auch Gesundheit in der hier ein Schritt in die Vergangenheit gemacht: Wie die bestehenden Ausführungsgesetze in Oberösterreich und Corona-Krise Niederösterreich zeigen, muss nun damit gerechnet ERSTE HILFE FÜR DIE SEELE werden, dass dieser Druck auf Menschen mit Beein- trächtigungen wieder deutlich erhöht wird. Gleichzeitig steigt dadurch auch die Quote der Nicht-Inanspruch- nahme, da von Menschen mit Beeinträchtigungen eine 1 Schaffen Sie so gut Beantragung von Sozialhilfe vermieden wird, um eine wie möglich Klage gegen die eigenen Eltern zu abzuwenden. Die beschämende Praxis zieht immer weitere Kreise und Normalität und wird auch langjährige Bezieher*innen von Mindestsi- Routine in Ihrem cherung neu unter Druck setzen. Die Probleme treten Alltag aktuell erst etwas zeitversetzt zutage, da eine Neube- rechnung und ein neuer Bescheid die Umsetzung der restriktiven Regelung erfordern wird. 2 Dosieren Sie die Informationsflut Gute und noch bessere Mindestsicherung muss Ziel sein Neben den hier angesprochen Nachteilen für hilfesu- 3 Akzeptieren Sie, was chende Personen, die durch die neuen Landesgesetze Sie nicht ändern auf Basis des SH-GG erzeugt werden, sind noch eine können Reihe weiterer Probleme aufgetreten, die das sogenann- te zweite soziale Netz – die Sozialhilfe – zunehmend löchrig werden lässt und Menschen in materiellen Not- 4 Nehmen Sie sich lagen ungenügend auffängt. Österreich ist aktuell mit- bewusst Auszeit und ten im Umsetzungsprozess des SH-GG und 2021 wird uns noch einer Reihe weiterer Ausführungsgesetze mit schaffen Sie Rück- voneinander abweichenden Interpretationen und Rege- zugsmöglichkeiten lungen bescheren. Die Rückkehr zum Modell der Mindestsiche- Seien Sie großzügig rung – also wieder Mindeststandards statt 5 und helfen Sie der jetzt vorgesehen mangelhaften Höchst- anderen beträge, Ende der Ausgrenzung von politisch unliebsamen Bezugsgruppen, neues Richt- satzmodel u.a. – darf nicht mehr verschoben Pflegen Sie weiterhin 6 werden und ist angesichts der drängenden Ihre Kontakte via Probleme sozialpolitisch auch nicht mehr Telefon, Chat oder aufzuhalten. Jedenfalls dann nicht, wenn Videotelefonie Armutsbekämpfung und Hilfe in Notlagen auf menschenwürdigem Niveau tatsächlich wieder Realität werden sollen. rund um die Uhr für Sie da 0732-2177 https://www.krisenhilfeooe.at
Rundbrief 1/2021 7 Im Sommer drehte der ORF OÖ einen Beitrag über das Tageszentrum in Linz, Volks- hilfeMitarbeiterin Waltraud Schwarz gab dafür ein Inter- view. Foto: Volkshilfe OÖ Bei Demenz ist Zeit kostbar Die Mitarbeiter*innen der Volkshilfe „In diesen Gruppen trainieren die Betroffenen mit in- dividuell angepassten Übungen Körper und Geist, um Gesundheits- und Soziale Dienste GmbH ihre Fähigkeiten und Ressourcen möglichst lange zu er- bieten in ihren drei Demenz-Servicestellen halten“, erklärt Volkshilfe-Mitarbeiterin Sabine Wöger- in Linz-Süd, Steyr und Schwertberg bauer. Dabei wird nicht nur Vorhandenes gestärkt und erhalten, mitunter können auch neue Möglichkeiten Beratung, Testung und Trainingsgruppen entdeckt werden. „Auf alle Fälle hilft dieses Training, für Betroffene sowie offene Ohren und sich der Erkrankung aktiv zu stellen und ihren Verlauf Unterstützung für Angehörige. dadurch positiv zu beeinflussen“, sagt Wögerbauer. Während Beratung und Testung kostenlos sind, kostet „Zeit ist kostbar. Wenn Demenz frühzeitig erkannt wird eine zweistündige Trainingseinheit derzeit 15 Euro. Un- und die Betroffenen strukturierte Hilfe und Betreuung terstützung bekommen in den Demenz-Servicestellen bekommen, kann der Verlauf der Krankheit positiv be- der Volkshilfe OÖ neben den Betroffenen auch deren einflusst werden“, erklärt Waltraud Schwarz von der Ge- Angehörige. Auch sie finden für ihre Fragen, Sorgen und sundheits- und Soziale Dienste GmbH (GSD) der Volks- Ängste stets ein offenes Ohr, darüber hinaus werden hilfe Oberösterreich. Die drei Servicestellen der GSD Vorträge, Angehörigentreffen und Schulungen angebo- in Linz-Süd, Schwertberg und Steyr sind die erste An- ten. „Denn Demenz ist ein äußerst komplexes Krank- laufstelle für alle, die bei sich selbst oder anderen Ver- heitsbild und das Leben mit Betroffenen kann heraus- änderungen bemerken, die auf eine Demenz hinweisen fordernd sein“, wissen Schwarz und Wögerbauer. könnten“, sagt Schwarz und verweist in diesem Zusam- menhang auch auf die gute Kooperation mit Ärzt*innen. Volkshilfe ist Partner des „Netzwerk Demenz OÖ“ Kostenlose Testung Das Netzwerk Demenz OÖ ist eine Aktion von Land Neben der Beratung von Betroffenen und deren Angehö- Oberösterreich und den österreichischen Sozialversi- rigen wird in den Servicestellen der Volkshilfe auch eine cherungsträgern in Zusammenarbeit mit den OÖ Ge- kostenlose psychologische Testung angeboten. „Diese sundheits- und Sozialleistungsanbietern Volkshilfe, MAS wird von einer klinischen Psychologin durchgeführt und Alzheimerhilfe und der Seniorenbetreuung der Stadt bietet Aufschluss über die Situation der betroffenen Per- Wels. Die Volkshilfe ist mit ihren drei Demenz-Service- son“, so Schwarz. Das Testergebnis ist dann Grundlage stellen vertreten: für die weitere – natürlich gemeinsam besprochene – :: Linz-Süd (für Linz-Stadt und Linz-Land) Vorgangsweise wie beispielsweise die Teilnahme an den 0676-8734 1463, dss.linz-sued@volkshilfe-ooe.at stadiengerechten Trainingsgruppen. :: Schwertberg (für Perg und Freistadt Süd) 0676-8734 1463, dss.schwertberg@volkshilfe-ooe.at Geistiges und körperliches :: Steyr (für Steyr-Stadt und Steyr Land) Training 0676-8734 2617, dss.steyr@volkshilfe-ooe.at
8 Rundbrief 1/2021 In der Kompetenz-Entwicklungsküche Die klare Trennung zwischen Beratungs- tigte, die ihre Fähigkeiten den Bedarfen durch Bildungs- aktivitäten (ganz kleine Einheiten bis zu großen Lehr- Qualifizierungs- und Beschäftigungs- gängen) anpassen. Betriebe starten mit der Entwicklung angeboten innerhalb der Angebote des AMS von „digitalen Lernmanagement-Systemen“ mit dem verändert sich. Lebenslanges Lernen von Ziel die bestehende Mitarbeiter*innenschaft für die ge- meinsame Zukunft zu rüsten. „Lebenslanges Lernen“ ist kleinen Einheiten bis zu großen Lehrgängen auch für bildungsfernere Gruppen eine notwendige Fä- mit Fokus auf digitiale Vermittlung wird higkeit, um nachhaltig einer Beschäftigung nachgehen immer wichtiger. Das betrifft auch die zu können. Durch diese Erkenntnis haben wir uns im- Angebote des AMS. Madgalena Hutter und mer stärker mit dem Thema „Kompetenzen und Kompe- tenzerwerb“ auseinandergesetzt. Rosemarie Schröck, VFQ Gesellschaft für Frauen und Qualifikation GmbH, erläutern Auf welche Fragen müssen in euren arbeitsmarktpoli- im Interview ihren Zugang. tischen Angeboten Antworten gefunden werden? Wir haben es größtenteils mit Kundinnen zu tun, de- Bildung oder Qualifizierung in arbeitsmarktpolitischen ren Lernerfahrungen, im klassischen Sinne, meist schon Angeboten – seit wann ist das ein Thema für Euch? länger zurückliegen und fallweise auch negativ konno- Magdalena Hutter, Rosemarie Schröck: Vor vielen Jah- tiert sind. Wir sind der Ansicht, dass es Erfolgserlebnisse ren hat es in der Förderlandschaft eine klare Differen- beim Lernen braucht, um Selbstbewusstsein und in wei- zierung zwischen Beratungs-, Qualifizierungs- und terer Folge auch „Lust am Lernen“ entwickeln zu kön- Beschäftigungsangeboten für die Kund*innen des AMS nen. Darum entwickeln wir Angebote, mit deren Hilfe (und anderer Fördergeber*innen) gegeben. Es war bei- unsere Kund*innen positive Lernerfahrungen machen, spielsweise in den Beschäftigungsangeboten schon klar, und begleiten sie bei ihrem individuellen Lernprozess. dass Arbeitsschritte eingeübt und auch notwendige In- Dabei geht es uns weniger um Faktenwissen und Prü- halte für die Arbeitserfüllung vermittelt wurden, aber es fungen, wie früher in der Schule, vielmehr geht es uns wurde kein expliziter Fokus darauf gerichtet. um den Ausbau von Kompetenzen, die es unseren Kun- Das hat sich in den letzten Jahren sehr verändert! Die dinnen erleichtern, in der Arbeitswelt Aufgaben lösen zu Arbeitswelt von heute und morgen benötigt Beschäf- können, sich nachhaltig zu integrieren und für das Wei-
Rundbrief 1/2021 9 terlernen im künftigen Betrieb sensi- chend der drei Kompetenzniveaus bilisiert zu sein. Dort, wo es möglich zu formulieren. Mit Hilfe des Online und sinnvoll ist, ist es in der Folge na- -Tools „Komet“ der Plattform „edu- türlich ideal, seine neu erworbenen „Lebenslanges Lernen“ ist auch standards.org“ erstellten wir unsere bzw. aufgefrischten Kompetenzen für bildungsfernere Gruppen themenbezogenen Lernzielkataloge auch durch eine abgelegte Prüfung und können diese mit Workshopun- eine notwendige Fähigkeit, um zertifizieren zu lassen. terlagen befüllen. nachhaltig einer Beschäftigung Für welche Zielgruppen und Angebote nachgehen zu können. Sind diese Sammlungen öffentlich sollen die Qualifikationsangebote geeignet sein? zugänglich für andere arbeitsmarktpolitische Organisa- Die Qualifikationsangebote sollen für die Zielgruppen tionen? all unserer Projekte geeignet sein. Wir möchten einen Ja, diese Sammlungen sind öffentlich zugänglich. Die Ansatz verfolgen, der uns dabei unterstützt, die Teil- Plattform „edustandards.org“ wie auch das Komet-Tool nehmenden der überbetrieblichen Ausbildung ebenso unterliegen dem Creativ Commens-Prinzip und verfol- gut wie die Teilnehmenden der Beratungseinrichtung gen somit den Sinn und Zweck, Inhalte und Materialien wie auch die Transitarbeitskräfte des Sozialökono- zu teilen um einen überregionalen Wissenstransfer ver- mischen Betriebes zu erreichen. Wir glauben, dass un- schiedener Bildungseinrichtungen zu ermöglichen. sere Kund*innen in den genannten Angeboten in Bezug auf den Kompetenzerwerb sehr ähnlich sind und daher Wie arbeitet ihr mit den Inhalten weiter? eine grundsätzlich ähnliche Begleitung und Unterstüt- Sobald die Workshopunterlagen den Lernzielen zuge- zung benötigen. ordnet sind, kann es mit dem kompetenzorientierten Training losgehen. Das alleine ist uns jedoch nicht ge- Was sind nun die Grundlagen eurer Herangehensweise? nug. Wir möchten das Training auch digital unterfüt- Uns war wichtig, das Ganze auf ein gut durchdachtes tern. Das ermöglicht uns, die digitalen Fähigkeiten un- Fundament zu stellen und uns war von Anfang an klar, serer Kundinnen indirekt mit zu trainieren und darüber dass wir bereichsübergreifend denken möchten. Der hinaus verschafft es uns eine hohe Flexibilität bezüglich Kompetenzraster von prospect, der sich mit den Kom- des Workshop-Settings – Stichwort „Distance Learning“. petenzansprüchen der Industrie 4.0 beschäftigt, war Im Moment wird zur digitalen Unterstützung häufig das uns ein ideales Vorbild. Wir leiteten davon - unserer Tool Padlet eingesetzt. Zielgruppe und Vermittlungsaufgabe entsprechend - Parallel integrieren wir unsere Kataloge inkl. Unterlagen unseren eigenen VFQ-Kompetenzraster ab: in unsere Moodle-Lernplattform, um sie bereichsüber- Anhand der unterschiedlichen Farbschattierungen in greifend zugänglich zu machen. der Grafik (s. Seite links) wird die Anwendung unseres kompetenzorientierten Ansatzes sichtbar. Wir haben Welche Perspektive habt ihr für 2021? uns für diesen Trainingsansatz entschieden, da dieser Uns schwebt eine „Kompetenz-Entwicklungsküche“ vor. ermöglicht, innerhalb einer Workshop-Situation Per- Wir möchten im Austausch mit anderen unsere Ansätze sonen mit unterschiedlichen Kompetenzstufen bzw. weiterentwickeln: Wissensständen gleichzeitig zu trainieren. Von diesem :: Unterstützung der Kolleg*innen beim Rollenwechsel Zugang erhoffen wir uns, unseren Kundinnen eine indi- von dem/der Fachanleiter*in hin zum/zur Lernbe- viduellere und positive Lernerfahrung zu ermöglichen. gleiter*in inkl. Kompetenzvertiefung hinsichtlich di- gitaler Trainingsinstrumente. Die Farbschattierungen deuten drei unterschiedliche :: Weiterentwicklung unserer Trainingsmodule von klei- Kompetenzniveaus an: nen Einheiten bis zu größeren Lernstrecken mit Teil- :: Basic Light: nahmebestätigungen und gegebenenfalls Prüfungen. die Kundin lernt neue Inhalte und Themen kennen :: Weiterentwicklung unserer Ansätze, mit denen wir :: Basic: unsere KundInnen in eine Arbeitswelt begleiten kön- die Kundin kann Wissen begleitet und oder selbst- nen, die von laufendem Wissenserwerb geprägt ist. ständig anwenden :: Advanced: Ein arbeitsreiches aber auch sehr spannendes Jahr steht die Kundin kann ihr Wissen selbstständig anwenden uns bevor! und es auch zur Bewerbung bzw. Analyse einsetzen. :: Links In welchem Rahmen bewegt ihr euch bei der Definition :: Kompetenzraster prospect der Qualifikationsinhalte? https://www.prospectgmbh.at/wp/wp-content/ Die fachlichen Schwerpunkte für die Organisation wur- uploads/2017/02/Studie_Qualifizierungsma%c3%9f- den im oben angeführten VFQKompetenzraster gesetzt. nahmen_Industrie_4.0_Langfassung.pdf Im nächsten Schritt wurden Themenblöcke ausgewählt um den nächsten Grundstein der Kompetenzorientie- :: Edustandards Plattform und Komet-Tool: rung zu legen, nämlich die Erstellung von Lernzielka- https://edustandards.org/ talogen. Dabei war es essentiell, die Lernziele entspre-
10 Rundbrief 1/2021 © rawpixel.com kaum positive erfahrungen mit demokratie und beteiligung Martina Zandonella vom SORA Institut denken das jedoch nur wenige Menschen. Dies liegt da- ran, dass viele von ihnen bislang kaum positive Erfah- forscht zu Demokratie und Partizipation rungen mit Demokratie und Beteiligung gemacht haben sowie Ungleichheit. Dass die Wahlbeteiligung – zum Beispiel konnten sie schon in der Schule seltener abnimmt, wenn man weniger Einkommen mitbestimmen. Dabei spielt gerade die Schule eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, Demokratie zu er- zur Verfügung hat, hat gute Gründe. Zentrale leben und die Wirksamkeit von Beteiligung zu erfahren. Versprechen der Demokratie erfüllen sich Auch bei der Arbeit haben die Menschen im ökonomisch für das ökonomisch schwächste Drittel schwächsten Drittel kaum Mitsprachemöglichkeiten nicht, erzählt sie im Interview. und sie haben auch seltener einen Betriebsrat. Außer- dem arbeiten gerade die Menschen im ökonomisch Der Demokratie-Monitor 2019 erkennt, dass im schwächsten Drittel häufig in Betrieben, wo das Arbeits- ökonomisch stärksten Drittel der Bevölkerung nur 17 recht nicht eingehalten wird – sie erleben also immer Prozent auf ihr Wahlrecht verzichten, im ökonomisch wieder, dass auf demokratischem Weg festgelegte Re- schwächsten Drittel aber 41 Prozent. Zuletzt haben Sie bei geln und Rechte für sie nicht gelten. Auch im Kontakt der Wien-Wahl analysiert, dass Menschen mit geringen mit staatlichen Institutionen und der Politik erleben sie sozioökonomischen Ressourcen häufig fehlende Anerkennung bis hin seltener zur Wahl gehen. Würde zu Abwertungen. Zentrale Verspre- man nicht annehmen, dass man eher chen der Demokratie – dass wir alle wählen geht, wenń s einem nicht so Für Deutschland ist bereits gleich viel Wert sind und unsere Le- gut geht, um etwas zu verändern? nachgewiesen, dass die Ent- bensumstände politisch mitgestalten Martina Zandonella: Das ist nur können – erfüllen sich für das ökono- scheidungen des Bundestages dann der Fall, wenn ich auch davon misch schwächste Drittel nicht. in den letzten 30 Jahren prak- überzeugt bin, dass ich mit meiner tisch ausschließlich den poli- Worin besteht eigentlich die Ge- Stimme etwas verändern kann. Im ökonomisch schwächsten Drittel tischen Interessen der oberen fahr, wenn die Zahl der Nicht-Wäh- Einkommensgruppen folgten. ler*innen – besonders unter Men-
Rundbrief 1/2021 11 schen mit wenig Einkommen – steigt? tatives Abbild der Bevölkerung über Dann finden ihre politischen An- politische Themen diskutieren und liegen und Bedürfnisse kein Gehör Nehmen politische Entschei- entscheiden zu lassen. Außerdem ist mehr und die reicheren Bevölke- dungsträger*innen Demokra- es wichtig, Demokratie als Alltagser- rungsgruppen machen unter sich tie ernst, führt nichts daran fahrung allen Bevölkerungsgruppen aus, in welche Richtung sich unser vorbei, die Menschen im zu ermöglichen: In den Schulen, Be- Land – einschließlich seiner Solidar- ärmsten Drittel wieder in den trieben, in der Nachbarschaft und in systeme – entwickeln soll. Das pas- staatlichen Institutionen. Auch den siert übrigens schon: Für Deutsch- politischen Prozess einzulas- Wert von Arbeit müssen wir neu ver- land ist bereits nachgewiesen, dass sen. handeln: Welche Arbeit gewährlei- die Entscheidungen des Bundestages in den letzten 30 stet das Funktionieren unserer Gesellschaft und wurde Jahren praktisch ausschließlich den politischen Interes- bislang gerne übersehen? Zu Beginn der Corona-Pande- sen der oberen Einkommensgruppen folgten – dies gilt mie war dies zwar Thema, die kurzfristig aufgeflammte im Besonderen für Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, also symbolische Wertschätzung für die Beschäftigen in den für jene Politikfelder, die gerade die ärmeren Bevölke- „systemrelevanten“ Berufen – viele von ihnen Frauen, rungsgruppen besonders betreffen. Der Eindruck vieler Migrant*innen und aus dem ökonomisch schwächsten Menschen im ökonomisch schwächsten Drittel, dass ihr Drittel der Gesellschaft – hat sich bislang jedoch nicht in Leben vielfach von anderen bestimmt wird und dass ihre einer tatsächlichen (auch finanziellen) Aufwertung nie- Stimme nichts zählt, kommt also nicht von ungefähr. dergeschlagen. Warum funktionieren “klassische” Bürgerbeteiligungs- Corona drückt uns allen aufs Gemüt, in einer Studie* in formen nicht bei Menschen mit wenig Einkommen. Wa- Wien haben Sie allerdings herausgefunden, dass Men- rum wären breite Beteiligungsmöglichkeiten so wichtig? schen mit geringem Einkommen besonders gefährdet Diese Beteiligungsformen sind aufwendig. Sind wir z.B. in sind, dass sich ihre psychische Situation verschlechtert. einer Bürgerinitiative aktiv, brauchen wir nicht nur Zeit, Warum ist diese Zielgruppe speziell betroffen? auch Geld ist nötig, wir müssen uns spezifisches Wissen Dies ist keine neue Erkenntnis – aus zahlreichen Studi- aneignen, sollten rechtlich informiert sein und am be- en wissen wir, dass Ausnahmesituationen wie die Coro- sten auch noch Kontakte in die Politik haben. Menschen na-Pandemie bestehende Ungleichheiten verschärfen mit wenig Einkommen haben jedoch schon genug damit und dass gerade die Menschen mit geringem Einkom- zu tun, über die Runden zu kommen – wobei sie häufig men besonders betroffen sind: Sie haben ein höheres nicht nur ihren eigenen Alltag meistern, sondern auch Risiko zu erkranken, die Erkrankung nimmt bei ihnen noch jenen der reicheren Menschen, die sich besonders häufiger einen schweren Verlauf, sie haben seltener Zu- häufig politisch oder zivilgesellschaftlich betätigen: Sie gang zu Gesundheitseinrichtungen. Sie sind auch die er- putzen deren Häuser, betreuen deren Kinder, liefern Pa- sten, die ihre Arbeit verlieren und wenn sie Arbeit haben, kete und Essen oder pflegen deren Angehörige. Indem verrichten sie diese weiterhin am Dienstort und sind die Menschen des ökonomisch schwächsten Drittels damit einer höheren Ansteckungsgefahr ausgesetzt. In diese Arbeiten übernehmen, ermöglichen sie es den rei- Wien haben wir gesehen, dass ökonomische Sicherheit cheren Gruppen vielfach erst, Zeit für politische und zi- gerade in Zeiten wie diesen besonders relevant für die vilgesellschaftliche Beteiligung zu haben. Niederschwel- psychische Gesundheit der Menschen ist: Sowohl bei je- lige Beteiligungsmöglichkeiten, wo sich die Menschen nen Menschen, deren finanzielle Lage sich erst im Zuge auf Augenhöhe begegnen, konkrete Themen bearbeiten der Pandemie verschlechtert hat, als auch bei jenen, die und wo sie die Erfahrung machen, dass etwas verändert bereits vor der Pandemie arbeitslos, armutsgefährdet werden kann, sind das Um und Auf wenn es darum geht, oder ohne finanzielle Rücklagen waren, hat sich die psy- politische Beteiligung wieder zu verbreitern. chische Gesundheit deutlich verschlechtert. * https://www.psd-wien.at/fileadmin/docu- Als wie wichtig erachten Sie es, dass sich politische Ent- ments/200930_Presseunterlage_SORA_Studie.pdf scheidungsträger*innen darum bemühen, Menschen aus dem ärmsten Drittel wieder in den demokratischen Pro- :: Demokratie-Monitor 2020 zess zu bringen? Was müssten deren Maßnahmen bein- Wie bereits in den vergangenen Jahren unterscheidet halten? sich auch 2020 das Vertrauen in die Demokratie allen Nehmen politische Entscheidungsträger*innen Demo- voran entlang der Verfügbarkeit von ökonomischen Res- kratie ernst, führt nichts daran vorbei, die Menschen im sourcen: So fühlen sich nur mehr 44% im ökonomisch ärmsten Drittel wieder in den politischen Prozess ein- schwächsten Drittel als Teil der Demokratie in Öster- zulassen. Dies beinhaltet Interesse für ihre Lebenslagen reich. Und gerade sie sind von der Corona-Krise beson- und die Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse bei poli- ders stark betroffen. In der derzeitigen Situation fühl- tischen Entscheidungen. Es geht aber ebenso um Reprä- ten sich 73% des ökonomisch schwächsten Drittels sehr sentation: Wo in unseren Parlamenten sind die Men- oder ziemlich als Menschen zweiter Klasse behandelt. schen aus dem ökonomisch schwächsten Drittel? Auch Im oberen Drittel sind es nur 28%. Bürgerräte sind ein gutes Instrument, um ein repräsen- https://www.demokratiemonitor.at/
12 Rundbrief 1/2021 ©rawpixel.com 100 Stipendien: Was es für ein gutes Leben braucht Im Herbst 2021 wird in Oberösterreich Politiker*innen haben nicht immer die richtigen Ant- worten und stellen die Frage, wie man Armut verhindern der Landtag gewählt, dabei entscheiden kann, viel zu selten. wir über unsere Zukunft, wir stimmen für 100 einkommensschwache Menschen in OÖ beschäf- politische Ideen oder auch dagegen. Parteien tigen sich für 4 Stunden damit, was sie für ein gutes oder besseres Leben brauchen und was sie dabei von adaptieren ihre Programme, schmieden der Politik erwarten. Dafür gibt es eine Entschädigung Konzepte und bestimmen Themen. Kommen von EUR 100 pro Person. Die Begleitung passiert in den die Anliegen von einkommensschwachen Mitgliedseinrichtungen der Sozialplattform OÖ und in Menschen darin vor? Kaum und sehr Workshops. Eine parteipolitische Einflussnahme lehnen wir ab. abstrakt. Das will die Sozialplattform OÖ Die Erarbeitung wird professionell begleitet, herzlichen ändern und vergibt 100 Stipendien an Dank an Christian Lehner von querdenker Agora, der die Personen, die erleben oder erlebt haben, wie Sozialplattform OÖ bei der Vorbereitung unterstützt. Die Stipendien werden über soziale Organisationen aus- sich Armut anfühlt. gelobt – wichtig sind dabei auch Unterschiede nach Ge- schlecht, Herkunft, Lebenssituationen, Alter, Erwerbs- Wie muss leistbares Wohnen in der Realität aussehen, status, Familiensituation, -stand. was brauchen arbeitslose Menschen wirklich, von wel- Herauskommen soll ein interessanter und konkreter In- chen Jobs kann man leben, welche Hürden haben Fami- put für die Politik und Institutionen. Ein Themenpapier lien zu bewältigen, was benötigt man für die Ausbildung mit konkreten Forderungen. Denn politische Entschei- oder den Einstieg ins Berufsleben, können sich gute dungen beeinflussen unser Leben. Die Stipendiat*innen Gesundheitsversorgung noch alle leisten, was müsste können anonym bleiben oder mit ihren Forderungen in sich auf Ämtern und Behörden ändern? Diese und ande- Erscheinung treten. re Fragen aus den Themenbereichen Altersversorgung, Arbeit, Bildung, Gerechtigkeit, Gesellschaft, Gesundheit, :: Weitere Infos Familie, Wohnen sowie soziale Unterstützung sollen die zinganell@sozialplattform.at, www.sozialplattform.at Stipendiat*innen als Expert*innen beantworten. Denn
Rundbrief 1/2021 13 ©rawpixel.com DEM21 – Die oö. Initiative für mehr Demokratie In unserer Verfassung steht: Österreich ist Wir erleben hier den rechtlichen Wahlausschluss von ei- ner beträchtlichen Anzahl von Personen. 2019 hatten in eine demokratische Republik. Ihr Recht geht Oberösterreich 11,9% der hier lebenden Bevölkerung im vom Volk aus. Doch wer ist dieses Volk, von wahlberechtigten Alter kein Recht auf politische Mitbe- dem das Recht ausgeht? Wen schließt es stimmung und Mitgestaltung, auch nicht wenn sie hier geboren sind oder schon seit Jahrzehnten hier leben. Im mit ein, und wen schließt es eventuell sogar Herbst 2021 finden in Oberösterreich Landtags- und Ge- aus? migrare meinderatswahlen statt – von der viele Menschen aus- geschlossen sein werden. „Liebe Österreicherinnen und Österreicher! Liebe Bür- Die vor kurzem gegründete Initiative DEM21 unterstützt ger und Bürgerinnen!“ – Anreden, die wir oft von Politi- die Forderung, dass echte politische Mitbestimmung ein ker*innen zu hören bekommen, bei Reden, Pressekonfe- modernes, demokratieförderndes und ausgeweitetes renzen und in Form von Video- und Onlinebotschaften Wahlrecht braucht, damit auch Menschen, die nicht im – besonders auch in Zeiten von Wahlkämpfen. Auch hier Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft sind – stellt sich die Frage, wer denn nun genau damit gemeint aber schon lange hier leben – ihre Lebensumwelt mit- ist? An welches Volk richtet sich die Ansprache der Poli- gestalten können. tiker*innen? Unsere Verfassung bestimmt, dass das Zu- standekommen aller allgemein gültigen Gesetze auf das Kick-Off Volk zurückzuführen sein muss. Wähler*innen entschei- Am 19.01.2021 findet eine Kick-Off Veranstaltung statt, den über die Zusammensetzung des Nationalrates, der die den Grundstein für weitere Aktivitäten und Kampa- Landtage und Gemeinderäte – und genau hier entsteht, gnen der Initiative DEM21 bis zu den Wahlen im Herbst zumindest auf National- und Landesebene, eine Diskre- 2021 legen soll – um eben auf dieses demokratiepoli- panz in der Definition des Volkes, des kollektiven Wir. tische Defizit hinzuweisen und ein Überdenken des ak- Die Ausübung des Wahlrechts ist an bestimmte Voraus- tuell geltenden Wahlrechts zu fordern. Gerd Valchars, setzungen geknüpft, wie z.B. das Alter und die österrei- Politologe an der Universität Wien, wird dazu im Rah- chische Staatsbürgerschaft. Das bedeutet wiederum, men eines Vortrages am 19.01.2021 u.a. der Frage nach- dass hier lebende Migrant*innen, die nicht die österrei- gehen, wie viele Menschen in Österreich tatsächlich chische Staatsbürgerschaft besitzen, auf Bundes- und nicht wählen dürfen. Die Kick-Off Veranstaltung wird Landesebene von der Wahl und somit auch von der online stattfinden. demokratischen Mitbestimmung ihrer Lebensumwelt ausgeschlossen sind – selbst wenn sie schon sehr lange Mitbegründer*innen der Initiative sind: ihren Lebensmittelpunkt in Österreich haben oder sogar migrare – Zentrum für MigrantInnen OÖ, Volkshilfe hier geboren sind. Im Bereich des kollektiven Wir und Flüchtlings- und MigrantInnen-Betreuung GmbH, Cari- in der Definition, wer denn nun das sogenannte Volk ist, tas – Integration, Arcobaleno, Land der Menschen, SOS von dem Recht ausgeht, kommt es zu einer Segregation: Menschenrechte, ZusammenHelfen in OÖ, Jaapo, mehr die einen, die wählen dürfen und die anderen, die dies demokratie!, Sozialplattform, Migrations- und Integrati- nicht dürfen. onsbeirat Linz, maiz, Black Community, IIP VHS OÖ
14 Rundbrief 1/2021 Steigende Jugendarbeitslosigkeit darf sich nicht verfestigen Ende Oktober 2020 waren in Österreich hohe Belastung der AMS-Akteur*innen. Sie können ihre Rolle als Erstberatungsinstanz und Erstanlaufstelle im 61.161 Jugendliche unter 25 Jahren beim Moment nicht immer adäquat erfüllen. Es braucht daher AMS als arbeitslos gemeldet oder als jetzt eine kooperative und pragmatische Zusammenar- Schulungsteilnehmer*innen vermerkt. beit bei den Zuweisungen.“ Mit der Corona-Stiftung und der - zumindest temporä- Während die Zahl der Schulungs- ren - Ausweitung des AMS-Budgets wurde eine geeig- teilnehmer*innen im Vergleich zum Vorjahr nete finanzielle Basis geschaffen -allerdings gilt es jetzt, mit ca. 26.000 Personen konstant geblieben diese auch effizient zu nützen. Die drei Dachverbände ist, gab es um 5.600 Personen oder fast und Netzwerke sind sich einig, dass ein Schwerpunkt beim Ausbau der vielen, erfolgreich erprobten Instru- 20% mehr Arbeits-lose in dieser Zielgruppe mente liegen sollte. Hier braucht es „Mehr vom Gu- gegenüber dem Vorjahr. Walerich Berger ten“. Gleichzeitig erscheint es sinnvoll, die nicht zuletzt (Sozialwirtschaft Österreich), Schifteh durch Corona offengelegten Bedarfe am Arbeitsmarkt vorausschauend in Form von zusätzlichen Maßnahmen Hashemi (arbeit plus) und Christina zu planen. Diese betreffen speziell den Zugang und die Schneyder (dabei austria) Qualifizierung von jungen Menschen für Zukunftsbran- chen: Vorranging sind dabei insbesondere der Bereich Jugendarbeitslosigkeit ist deswegen so problematisch, der Digitalisierung sowie dauerhaftere Ausbildungspro- weil sie spätere Erwerbschancen und Lebenseinkom- gramme zum Erwerb von Green und White Skills (um die men deutlich mindert und damit eine wesentliche Ursa- nachhaltige Beschäftigungsfähigkeit von jungen Men- che vieler sozialer Folgeprobleme darstellen kann. Eine schen sicherzustellen) zu nennen. Verfestigung der Jugendarbeitslosigkeit führt zwangs- läufig zu „Lost Generations“. Das gilt es mit allen Mitteln Vorschläge zu verhindern. Zentral geht es dabei um Begleitmaßnahmen und ge- zielte Schwerpunktsetzungen. Vorschläge der Dachver- Wirksame MaSSnahmen müssen bände dazu sind: nicht neu erfunden werden :: Forcierung der Qualifikationen für Zukunftsbranchen Die im Bereich der Arbeitsmarktpolitik tätigen Träger (z.B. Green Skills, White Skills: Ausbildungen im Be- haben in den letzten Jahrzehnten -in guter Zusammen- reich der Gesundheits- und Sozialberufe) arbeit mit Auftraggebern wie dem AMS oder dem So- :: Stärkere Berücksichtigung regionaler Arbeitsmarkt- zialministeriumservice- eine Reihe von Instrumenten chancen (differenzierte Betrachtung von Zukunftsbe- entwickelt, die bedarfsbezogene Unterstützung für Ju- rufen je nach Region) gendliche bieten. Beispiele dafür sind: AusbildungsFit, :: Stärkere Vernetzung und Abstimmung der beteiligten Jugendcoaching, Jugenarbeitsassistenz, Berufausbil- Akteur*innen bei Entwicklungsarbeit und Schwer- dungsassistenz, Jobcoaching, Überbetriebliche Lehraus- punktsetzungen :: Stärkere Einbindung der Träger und anderer Institu- bildungen und Qualifizierungsprojekte. tionen zur Unterstützung des AMS bei der Beratungs- und Matchingarbeit Probleme beim Matching: :: Wiederbelebung der Taskforce „Jugendbeschäfti- MaSSnahmen werden zum Teil nicht gung“ unter Einbindung der arbeitsmarktpolitisch tä- ausgeschöpft tigen Trägerorganisationen Das derzeitige Problem besteht vor allem darin, dass :: Ausbau der Programme zur nachhaltigen Begleitung die vorhandenen Maßnahmen nicht voll ausgeschöpft von Berufseinsteiger*innen werden können, weil das vorgelagerte Matching (z.B. :: Unterstützungsangebote im Bereich der Digitali- aufgrund der Verlagerung der AMS-Beratung in den sierung – vielfach finden die Jugendlichen keine ge- virtuellen Raum) nicht ausreichend funktioniert. Vielen eigneten Rahmenbedingungen vor, um digital par- Jugendlichen, die derzeit in Beratung und Betreuung tizipieren zu können. Es mangelt an Endgeräten wie oder in Schulausbildungen sind, fehlt eine geeignete An- Notebooks mit entsprechenden Programmen bzw. an schlussperspektive. Internet-Zugängen Die in den Dachverbänden vertretenen Organisationen bieten angesichts dieser schwierigen Lage ihre aktive Die arbeitsmarkpolitischen Träger*innen bieten diesbe- Unterstützung beim Matching an. „Wir wissen um die züglich ihre Zusammenarbeit an.
Rundbrief 1/2021 15 SCHLECHT BEZAHLTE TEILZEITJOBS LASSEN NICHTS ZUM TEILEN. Machen wir uns stark für einen Sozialstaat, der dafür sorgt, dass wir von unserer Arbeit leben können. wir-gemeinsam.at Eine Initiative der ARMUTSKONFERENZ.
16 Rundbrief 1/2021 © Norbert Krammer Medizinische Behandlung setzt Einwilligung voraus! In Zeiten der Corona-Pandemie wird nicht entwickeln wollen. „Schutzberechtigte“ Menschen im Sinn des ABGB, also nur über Schutzmaßnahmen, Lockdown Minderjährige und Personen, die nicht alle ihre Ange- und medizinische Aspekte diskutiert, legenheiten selbst besorgen können, stehen unter dem sondern auch über Tests und Impfungen besonderen Schutz der Gesetze und daher sind auch die Schutzbestimmungen vollumfänglich anzuwenden. in mehr oder weniger freiwilligem Setting. Oft vermischt sich dabei ein fürsorglicher, Beispiel Grippeimpfung ja manchmal auch ängstlicher Standpunkt Der Winter 2020/21 beschert Österreich die gewohnte mit medizinisch oder epidemiologisch jährliche Grippewelle. Und die nachvollziehbare gesund- heitspolitische Empfehlung für vulnerable Personen- fundierten Positionen. Norbert Krammer, gruppen, sich vorsorglich zu einer Grippeimpfung anzu- VertretungsNetz melden. In der kalten Jahreszeit steigt das Grippe-Risiko und mit vermehrten Grippefällen ist in Österreich ab Die einen fordern, am besten die ganze Bevölkerung Jänner zu rechnen. wöchentlich zu testen. Die anderen sehen Schutzimp- Der Impfschutz benötigt 10 bis 14 Tage, bis er vollstän- fungen und Screenings nur dann als notwendig, wenn dig aufgebaut ist. Vor der medizinischen Behandlung es tatsächlich einen Ansteckungsverdacht mit Covid-19 einer Schutzimpfung ist eine ärztliche Aufklärung – gibt. auch über allgemeine und insbesondere individuelle Ri- siken – unabhängig von der Entscheidungsfähigkeit in AuSSergewöhnliche Zeiten jedem Fall erforderlich. Die Ärztin/der Arzt muss sich benötigen bewährte davon überzeugen, dass die/der Patient*in entschei- Vorgangsweisen dungsfähig ist, damit der medizinischen Behandlung Obwohl die Pandemie unsere Gesellschaft mit außer- zugestimmt werden kann. Sollte die Entscheidungsfä- gewöhnlichen Herausforderungen konfrontiert, können higkeit in Zweifel gezogen werden, ist durch einfache wir auf bewährte rechtliche Regelungen bei den vorge- Erklärungen nachweislich ein weiterer Versuch – also sehenen Diagnoseverfahren und Vorsorgeimpfungen durch Dokumentation – einzuleiten, wie dies auch in der zurückgreifen – wenn wir gleichzeitig die rechtstaat- UNBehindertenrechtskonvention vorgesehen ist. Bleibt lichen Errungenschaften weiter umsetzen und weiter- die Einschätzung fehlender Entscheidungsfähigkeit bei
Rundbrief 1/2021 17 der konkreten medizinischen Behandlung, muss ver- :: Rechtsberatung pflichtend ein sogenannter Unterstützer*innen-Kreis durch die Ärztin/den Arzt einberufen werden. Ziel und ausgebaut Aufgabe der Unterstützungsgruppe ist es, sich um ent- sprechende Unterstützung und Erklärung für die Pati- Das präventive Beratungsangebot zur entin / den Patienten zu bemühen, damit die Entschei- Einkommenssicherung für Frauen wird dungsfähigkeit in der konkreten Behandlungssituation erreicht werden kann. Als Unterstützer*innen kommen weiter ausgebaut. Der Stadtsenat Linz Angehörige und andere nahestehende Personen ebenso hat einstimmig eine Erhöhung der in Frage wie Menschen, die im Umgang mit Menschen in Beratungsstunden um 25 Prozent für solchen schwierigen Lebenslagen besonders geübt sind. Genaue Erklärungen, Geduld und leicht verständliche 2021 beschlossen. Sprache, möglicherweise auch Schautafeln oder Zeich- Das 2012 eingeführte Angebot wird durch die Ex- nungen, sollten die selbstbestimmte Zustimmung auch pertinnen des autonomen Frauenzentrums durch- für Menschen mit geminderter Entscheidungsfähigkeit geführt und soll auch dazu beitragen, die Armutsge- ermöglichen. fährdung von Frauen in Linz langfristig zu mindern. Linzerinnen können sich vor wichtigen Lebensent- Menschen mit geminderter scheidungen wie Familiengründung von den erfah- Entscheidungsfähigkeit renen Juristinnen des autonomen Frauenzentrums Die Bestimmungen über ärztliche Aufklärung und er- über Rechte und Ansprüche in der Partnerschaft be- forderlicher Zustimmung zu jeder medizinischen Be- ziehungsweise nach einer etwaigen Trennung sowie handlung sind allgemein gültig. Dadurch sollen auch zu allgemeinen Fragen der finanziellen Absicherung, Menschen mit geminderter Entscheidungsfähigkeit vor kostenlos beraten lassen. Behandlungen ohne gültiger Einwilligung geschützt werden. Ersatzweise Zustimmungen für eine nicht Autonomes Frauenzentrum Linz entscheidungsfähige Person sind nur in ganz engen Starhembergstraße 10, Ecke Mozartstraße, 2. Stock Grenzen und nur durch Vorsorgebevollmächtigte oder 4020 Linz Erwachsenenvertreter*innen denkbar, wenn dies im 0732-60 22 00, hallo@frauenzentrum.at Wirkungsbereich mit umfasst ist und es nicht gegen den https://www.frauenzentrum.at/ Willen erfolgen sollte. Die Aufklärung der behandelten Person ist abgestimmt nach Umfang und Intensität der Behandlung durchzuführen, zumindest der Grund und die Bedeutung der medizinischen Behandlung ist in ver- :: migrare unter neuem ständlicher Weise zu erläutern. Natürlich ist auch die vorsitz Vertreterin/der Vertreter über die geplante konkrete Behandlung aufzuklären. Eine Impfung ist eine Schutzmaßnahme und im Regelfall Ein Gründungsmitglied des Vereins nicht zwingend notwendig. Da Anwendung von Zwang wurde zum neuen Vorsitzenden hier nicht möglich ist, kann eine Grippeimpfung ohne gewählt: Drago Velebit ist Jurist und Einwilligung der Patientin/des Patienten nicht umge- setzt werden. Eine Behandlung gegen den körperlichen Arbeitsrechtsexperte der AK OÖ und Widerstand ist jedenfalls unzulässig und kann nur im hat die Anfänge von migrare selbst Rahmen des Unterbringungsgesetzes in der Psychiatrie mitgestaltet. bei Einhaltung der hohen Prüfungskriterien erfolgen. „Ich möchte meinen Beitrag dazu leisten, dass wir Aufklärung und Unterstützung eine Gesellschaft verwirklichen, in der alle gleichbe- stehen im Mittelpunkt rechtigt leben“ – so Velebit über seine neue Aufgabe. Die Bemühungen müssen daher mehr in Richtung Auf- Die Geschäftsführung freut sich darüber, dass ein klärung und Unterstützung zum Erreichen der Ent- Kreis geschlossen wird und heißt den neuen Vorsit- scheidungsfähigkeit kanalisiert werden. Dieser Ablauf zenden herzlich willkommen! – Klärung Notwendigkeit der Behandlung (beispiels- Während ein neues Mitglied im Vorstand begrüßt weise Impfung), Aufklärung durch Behandler*in, Fest- wird, heißt es auch gleichzeitig sich beim langjäh- stellen der Entscheidungsfähigkeit oder Maßnahmen rigen Mitgestalter und Weggefährten Walter Haberl zur Unterstützung, rechtsgültige Einwilligung in medi- zu verabschieden. Er hat migrare jahrzehntelang zinische Behandlung – ist auch auf andere Maßnahmen geprägt. Ein weiteres Dankeschön ergeht an Bet- in Grundzügen übertragbar. Also auch auf die Zustim- tina Bayr-Gschiel. In all ihren unterschiedlichen mungserfordernisse bei einer möglichen Schutzimpfung beruflichen Stationen hatte sie immer ihr Herz bei gegen das Sars-CoV-19-Virus. migrare. Sie war seit Mitte der 80er Jahre Teil des Vorstandes und für einige Zeit auch Vorsitzende.
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