LAG - MAGAZIN GESCHICHTE(N) BEWAHREN, ERFORSCHEN, VERMITTELN - DIE ARBEITSSTELLE HOLOCAUSTLITERATUR 23.10.2019 - LERNEN AUS DER ...

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LAG - MAGAZIN GESCHICHTE(N) BEWAHREN, ERFORSCHEN, VERMITTELN - DIE ARBEITSSTELLE HOLOCAUSTLITERATUR 23.10.2019 - LERNEN AUS DER ...
LaG - Magazin

Geschichte(n) bewahren, erforschen,
   vermitteln – Die Arbeitsstelle
        Holocaustliteratur
            23.10.2019
Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Zur Diskussion
Arbeitsstelle Holocaustliteratur: Geschichte(n) bewahren, erforschen, vermitteln................4
Forschungsprojekt „Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur“...................................10
Frühe Textzeugnisse in der Bildungsarbeit – Datenbank „Frühe Texte der Holocaust- und
Lagerliteratur“.........................................................................................................................14
Stimme/n der Überlebenden. Die Zeitschrift „Fun letstn churbn“........................................21
Holocaustliteratur im Deutschunterricht. Eine empirische Untersuchung..........................25

Empfehlung Fachbuch
HolocaustZeugnisLiteratur......................................................................................................31

Empfehlung Fachdidaktik
Lektüreschlüssel XL – Der Junge im gestreiften Pyjama......................................................33

Empfehlung Lebensbericht
Janina Hescheles: Mit den Augen eines zwölfjährigen Mädchen..........................................35
Die Liebe sucht eine Wohnung...............................................................................................38
Michael Kraus: Tagebuch 1942-1945......................................................................................40

                                                                                      Magazin vom 23.10.2019 2
Einleitung

Liebe Leser*innen,                              Lehr- und Lernsettings auf.

wir begrüßen Sie zum LaG-Magazin im             Die jiddische Zeitschrift „Fun letstn churbn“
Oktober. Diese Ausgabe entstand in Zu-          / „Von der letzten Zerstörung“ ist ein frühes
sammenarbeit mit der Arbeitsstelle Holo-        Publikationsorgan aus der Nachkriegszeit,
caustliteratur (AHL) an der Justus-Liebig-      das sich der Aufarbeitung des Holocaust
Universität in Gießen. Dementsprechend          widmete. Dieser sollte alltags- und kultur-
befasst sich das Magazin mit der Arbeit der     geschichtlich aufgearbeitet werden und den
AHL im wissenschaftlichen Umfeld sowie          Überlebenden eine Möglichkeit gegeben
im universitären, schulischen und außer-        werden, Zeugnis abzulegen. Markus Roth,
schulischen Bildungsbereich.                    der aktuell an der AHL ein Editionsprojekt
                                                zur jiddischen Zeitschrift betreut, geht auf
Der einführende Beitrag von Charlotte Kit-
                                                Hintergründe und Kontexte sowie auf die
zinger stellt die Arbeitsstelle Holocaustli-
                                                Motive der Herausgeber für die Sammlung
teratur in Gießen vor und zeigt auf, was die
                                                und Veröffentlichung des Materials ein.
bundesweit bislang einmalige literaturwis-
senschaftliche Einrichtung unter dem Be-        Nicole Silvia Widera stellt ihre empirische
griff Holocaust- und Lagerliteratur versteht.   Untersuchung zur Verwendung von Holo-
                                                caustliteratur im Deutschunterricht in Hes-
„Frühe Texte der Holocaust- und Lagerli-
                                                sen vor. Dabei fragt sie auch nach dem Ver-
teratur“ ist ein Forschungsprojekt der AHL
                                                ständnis der Deutschlehrer*innen von der
in Zusammenarbeit mit der Universitätsbi-
                                                Gattung sowie nach den Einsatzmöglichkei-
bliothek der Justus-Liebig-Universität Gie-
                                                ten der Texte im Unterricht.
ßen. In der Online-Datenbank werden frühe
deutschsprachige Texte der Holocaust- und       Wir bedanken uns insbesondere bei Anika
Lagerliteratur von 1933 bis 1949 erfasst und    Binsch und Charlotte Kitzinger für die aus-
Informationen zu Autor und Werk bereitge-       gesprochen gute und reibungslose Zusam-
stellt. Zum Projekt gehört auch eine digitale   menarbeit.
Sammlung mit frei verfügbaren Werken der        Ein großer Dank gilt auch dem Förderver-
Holocaust- und Lagerliteratur. Charlotte        ein der Arbeitsstelle Holocaustliteratur so-
Kitzinger geht in ihrem zweiten Beitrag auf     wie der Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung zu
das Projekt und auf die Bedeutung der frü-      Lich, die die vorliegende Ausgabe großzügig
hen Literatur für den Erinnerungsdiskurs        unterstützt haben.
ein.
                                                Das nächste LaG-Magazin erscheint am
Anika Binsch stellt didaktische Überlegun-      27. November 2019. Es setzt sich mit dem
gen zum Einsatz früher Textzeugnisse und        gesellschaftlichen Umgang mit Antisemi-
der Online-Datenbank in der Bildungsarbeit      tismus und Rassismus auseinander und er-
an und zeigt das Potential der Einbindung       scheint in Kooperation mit dem Zentrum
der literarischen Werke in unterschiedliche     für Antisemitismusforschung.

                                                         Magazin vom 23.10.2019 3
Zur Diskussion

Arbeitsstelle                                       Die Erinnerungen und Erzählungen der Ho-
Holocaustliteratur:                                 locaust- und Lagerliteratur dienen zudem
Geschichte(n) bewahren,                             nicht nur dem Überlebenden, Zeitzeugen
erforschen, vermitteln                              oder auch unbeteiligten Autor dazu, dem
                                                    (persönlichen) Trauma der systematischen
Von Charlotte Kitzinger
                                                    Verfolgung und Ermordung auf erzähleri-
Erinnert und weitergegeben wird, was so-            scher Ebene zu begegnen und erzählerisch
wohl individuell als auch kollektiv bewahrt         zu gestalten, sondern tragen auch dazu bei,
wird. Es bedarf der Geschichtsschreibung,           das Wissen über den Holocaust generatio-
um Fakten und historisches Wissen zu                nen- und zeitübergreifend weiterzugeben.
strukturieren, zu kontextualisieren und
                                                                                Die Arbeitsstelle
auch zu überprüfen. Sie dokumentiert und
                                                                               Holocaustliteratur
trägt die Daten, Orte, Personen und Er-
eignisse zusammen und bildet so gleich-             Die Literaturwissenschaft hat „als ‚Gedächt-
sam den Rahmen für jede Form der Erin-              nisagentur‘ erheblich dazu beigetragen […],
nerungsarbeit in Gedenkstätten, Schulen,            dass Texten der Holocaust- und Lagerli-
Universitäten und in der Öffentlichkeit. Es         teratur eine seit nunmehr fast 30 Jahren
bedarf jedoch auch individueller und mehr-          wachsende Aufmerksamkeit zuteil wird“
stimmiger Erinnerungen, um der Masse der            (Feuchert 2009: 148). Sie hat daran mitge-
Fakten und des Wissens Bedeutung, Pers-             wirkt, dass das Wissen um den Holocaust
pektive und Relevanz für den Einzelnen zu           breiter und eine empathische Identifikation
geben. Die Literatur – damit ist die ganze          mit den Opfern möglich und schließlich zur
Bandbreite autobiografischer, berichtender          gängigen öffentlichen und kulturellen Pra-
und fiktionaler Erzeugnisse gemeint – kann          xis wurde.
einen entscheidenden und gänzlich anderen           Als bundesweit bislang einzige Ein-
Beitrag als jener – ebenso wichtige – der           richtung befasst sich die Arbeitsstelle
Historiker leisten. Denn Literatur ist Erin-
nerungs- und Zukunftsarbeit auf individu-           Geschichten über Geschichte“ von Charlotte Kitzin-
eller Ebene, sie kann dem*der Rezipient*in          ger wird das Erzählen von Geschichten als Grund-
daher eindringlicher Geschichte(n) erzählen         bedürfnis des Menschen verstanden, da es für seine
und ihn*sie dazu bringen, sich in gänzlich          Identitäts- und Sinnstiftung unerlässlich ist. Die Ver-
fremde, unverständliche Situationen sowie           fasserin widmet sich in ihrer Arbeit daher der Frage,
Zeiten hineinzudenken und einzufühlen. Sie          wie fiktionale Texte der Holocaust- und Lagerlitera-
kann so also dem Erstarren und Ritualisie-          tur von dem geschichtlichen Ereignis des Holocaust
ren der Erinnerung entgegenwirken.1                 und oftmals von den individuellen und persönlichen
                                                    Lebensgeschichten und Traumata der Autor*innen
1 Im Dissertationsprojekt „Fiktionen über den Ho-   erzählen. Einige der nachfolgenden Überlegungen
locaust. Zu der Notwendigkeit und den Grenzen von   entstammen diesem Forschungsprojekt.

                                                                Magazin vom 23.10.2019 4
Zur Diskussion

Holocaustliteratur (AHL) an der Justus-Lie-     von Texten (oder auch Gattung) gehörte.
big-Universität Gießen seit 20 Jahren – kom-
                                                Die Gießener Definition basiert auf einem
plementär zu den historischen Forschungen
                                                weiten Verständnis des Begriffs: Ausgehend
– eigens mit der literaturwissenschaftlichen
                                                von der Tatsache, dass die Verbrechen der
und -didaktischen Untersuchung und Auf-
                                                Nationalsozialisten gegen andersdenkende
bereitung von Texten der Holocaust- und
                                                und vermeintlich andersartige Menschen
Lagerliteratur. Über viele Jahre wurde die
                                                bereits 1933 begannen und dass darüber
AHL überwiegend durch projektbezogene
                                                auch sofort (im weiteren Sinne) literarisch
Drittmittel finanziert. Ganz wesentlich wird
                                                geschrieben wurde, werden hier Texte über
die Arbeit auch durch den Förderverein der
                                                alle Aspekte der nationalsozialistischen
Arbeitsstelle Holocaustliteratur unterstützt.
                                                Verfolgungs- und Vernichtungspolitik be-
Seit 2016 bis 2021 fördert das Hessische Mi-
                                                ginnend mit den ersten Maßnahmen der
nisterium für Wissenschaft und Kunst nun
                                                Ausgrenzung ab 1933 bis hin zu den Mas-
den Ausbau der AHL. Auch die seit dem 1.
                                                senmorden während des Zweiten Welt-
Juni 2017 neu eingerichtete „Ernst-Ludwig-
                                                kriegs zur Gattung gezählt. Dies schließt
Chambré-Stiftungsprofessur für Neuere
                                                Texte zur Verfolgung von Juden*Jüdinnen,
Deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt
                                                politischen Gegner*innen, Homosexuellen,
Holocaust- und Lagerliteratur sowie ihre
                                                Sinti und Roma, Zeugen Jehovas und ande-
Didaktik“, die von Sascha Feuchert beklei-
                                                ren ein.
det wird, trägt zu einer Verankerung und
Verstetigung der Forschung und Lehre zur        Ganz wesentlich hat sich diese Gattung aus
Holocaustliteratur an der Justus-Liebig-        der frühen Lagerliteratur entwickelt, die
Universität bei.                                ihrerseits mit der Tradition der Gefängnis-
                 Der Begriff Holocaust-         und Kriegsgefangenenliteratur vor 1933
                  und Lagerliteratur im         in Verbindung stand. Zu dieser frühen La-
                   Verständnis der AHL          gerliteratur gehören die Texte – Berichte,
                                                Tagebücher, Autobiografien, Romane und
Die Bezeichnung Holocaustliteratur ist spä-
                                                Gedichte – der Opfer und Überlebenden,
testens seit den 1980er Jahren weit verbrei-
                                                die von den Geschehnissen in den national-
tet. Ausgehend von den Vereinigten Staaten,
                                                sozialistischen Lagern vor 1939 Zeugnis ab-
dort unter anderen von der Literaturwissen-
                                                legen und erzählen. Um diese Entwicklung
schaftlerin und Holocaust-Überlebenden
                                                deutlich im Gattungsnamen abzubilden, ist
Susan Cernyak-Spatz angestoßen, hat sich
                                                es deshalb sinnvoll, von Holocaust- und
die wissenschaftliche Beschäftigung mit
                                                Lagerliteratur zu sprechen.
der Holocaustliteratur auch in Deutschland
zu einem vielfältigen Diskurs- und For-         Nach dem Gießener Verständnis fallen
schungsfeld entwickelt. Dabei war es immer      unter Holocaust- und Lagerliteratur folglich
wieder umstritten, was zu dieser Gruppe         alle literarischen Werke, die das Schicksal

                                                         Magazin vom 23.10.2019 5
Zur Diskussion

der politischen, rassischen und anderen Op-      kein Kriterium für die Zuordnung des Werks
fergruppen der Nationalsozialisten zentral       zur Holocaust- und Lagerliteratur dar.
behandeln. Das bedeutet, dass hierzu die         Darüber hinaus prägen Vermischungen und
noch während des Geschehens entstan-             Grenzüberschreitungen, etwa zwischen ver-
den Zeugnisse, Tagebücher und Chroniken          schiedenen Textsorten und zwischen nicht-
ebenso zählen wie nachträglich verfasste         fiktionalen und fiktionalen Darstellungen,
Erinnerungen. Überdies umfasst der Be-           viele Werke der Holocaust- und Lagerlitera-
griff auch fiktionale Werke wie Romane,          tur.
Gedichte und Dramen, die entweder bereits
                                                 Zudem lässt sich – im Hinblick auf die Re-
während der Ereignisse oder aber erst nach
                                                 zeptionshaltung vieler Leser*innen – fest-
Kriegsende entstanden sind. Dies können
                                                 stellen, dass an diese Texte – vor allem an
Texte von unmittelbar betroffenen Opfern
                                                 die der ‚unbeteiligten‘ Autoren – neben lite-
und Überlebenden, von Nachgeborenen der
                                                 rarischen oftmals auch moralische Ansprü-
zweiten und dritten Generation oder aber
                                                 che gestellt werden, sodass diese also sowohl
von gänzlich Unbeteiligten sein.
                                                 ethische wie ästhetische Fragen aufwerfen.
Wesentliches und gemeinsames Merkmal             Dies ließ sich zuletzt etwa an Takis Wür-
dieser Texte ist, dass sie thematisch domi-      gers Roman „Stella“ verfolgen. Er erzählt in
nant auf die Verbrechen der Nationalsozia-       fiktionaler Art und Weise, aber auch unter
listen und ihre Folgen rekurrieren. Die Texte    Einbeziehung von historischem Quellenma-
aus den ersten Jahren des Nationalsozialis-      terial, eine Liebesgeschichte um die zentrale
mus ab 1933 erzählen vor allem von der zu-       Figur der Jüdin Stella, die – nach schwerer
nehmenden Verfolgung, den Gewaltexzes-           Folter und nach der Drohung durch die Ber-
sen und Erfahrungen in den Gefängnissen          liner Gestapo, ihre Eltern zu deportieren –
und frühen Lagern, die späteren (ab Kriegs-      als ‚Greiferin‘ in Berlin untergetauchte Ju-
beginn) dann v.a. von den Deportationen          den denunzierte. Um den Roman ist eine vor
und Vernichtungsmaßnahmen. Dennoch               allem moralische und weniger ästhetische
ist im Erzählen über die Ereignisse ab 1933      Kontroverse um die Frage nach künstleri-
eine gewisse Kontinuität zu beobachten,          scher Freiheit einerseits und Wahrung der
aber auch eine zunehmende Ausdifferenzie-        Persönlichkeitsrechte der historischen Per-
rung, die es plausibilisieren, diese Texte un-   son Stella Goldschlag, auf deren Geschichte
ter einer Bezeichnung zusammenzufassen.          der Roman basiert, andererseits entbrannt.
Die Verbindung des*der Autor*in zum Ge-          Mit dieser und ähnlichen Debatten einher
schehen ist dabei ein wichtiges Merkmal          geht auch ein gesellschaftlicher Diskurs
zur Einordnung (und Beurteilung) des ein-        um jeweils ‚angemessene‘ Erzählformen
zelnen Textes, da sie die Rezeptionshal-         zum Holocaust, der dabei gleichzeitig das
tung des*der Leser*in gegenüber dem Werk         Sprechen über die Ereignisse selbst leben-
(maßgeblich) beeinflusst. Sie stellt jedoch      dig hält. Dieser Diskurs, den nicht zuletzt

                                                          Magazin vom 23.10.2019 6
Zur Diskussion

auch die Überlebenden selbst immer wieder       Kernaufgabe der AHL. In einer gemeinsa-
sehr kontrovers geführt haben, setzte schon     men Schriftenreihe mit der Ernst-Ludwig-
mit dem Beginn des Schreibens über die          Chambré-Stiftung zu Lich, „Studien und
Ereignisse ein und ist bis heute aktuell.       Dokumente zur Holocaust- und Lagerlite-
                                                ratur“, werden darüber hinaus Zeugnisse
             „Geschichte[n] bewahren,
                                                zugänglich gemacht, die erstmals publiziert
               erschließen, vermitteln“
                                                werden, in Vergessenheit geraten sind oder
Die Texte der Holocaust- und Lagerlitera-       bisher nicht auf Deutsch vorlagen. Erschie-
tur lebendig zu halten, ist ein zentrales An-   nen sind in dieser Reihe seit 2015 sieben
liegen der AHL. „Geschichte[n] bewahren,        Bände.
erschließen, vermitteln“ lautet daher ihr
                                                Eine weitere zentrale Tätigkeit der AHL ist
Motto. Ein wesentliches Beschäftigungsfeld
                                                die universitäre Lehre und die Kooperati-
waren von Anfang an Editions- und Publi-
                                                on mit schulischen und außerschulischen
kationsprojekte, wie die „Chronik des Get-
                                                Bildungsträgern. So gehören neben regel-
tos Lodz/Litzmannstadt“, die 2007 im Wall-
                                                mäßigen Gedenkstättenfahrten mit Stu-
stein-Verlag herausgegeben wurde. Weitere
                                                dierenden, insbesondere des Lehramts,
Editionsarbeiten folgten 2011 mit der Ver-
                                                beispielweise auch Workshops mit Schul-
öffentlichung des Tagebuchs von Friedrich
                                                klassen zum Programm.
Kellner „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hir-
                                                In der universitären Lehre aber auch dar-
ne“, 2013 mit dem Bericht Konrad Heidens
                                                über hinaus stellt natürlich die Ausbildung
„Eine Nacht im November 1938“ über den
                                                von Multiplikator*innen, der vor allem zu-
Novemberpogrom bis hin zur aktuell laufen-
                                                künftig noch größere Bedeutung zukommt,
den Edition der „Enzyklopädie des Gettos
                                                einen wichtigen Bestandteil der Tätigkei-
Lodz/Litzmannstadt“. Ein weiteres laufen-
                                                ten dar. Denn im Hinblick auf das ‚Zeitalter
des Editionsprojekt ist die Erschließung der
                                                nach den Zeitzeugen‘ stellen sich ganz neue
jiddischen Zeitschrift „Fun letstn churbn“
                                                gesellschaftliche Herausforderungen, ganz
(„Von der letzten Vernichtung“) in deut-
                                                wesentlich auch für den Bildungsbereich.
scher Übersetzung. Dieses Publikationsvor-
                                                Haben in der Vergangenheit immer wieder
haben, das von der Friede Springer Stiftung
                                                Überlebende und Zeitzeug*innen an Schu-
finanziert und an der AHL von Dr. Markus
                                                len, in Seminaren sowie im Rahmen von
Roth betreut wird, wird in einem eigenen
                                                Lesungen von ihren Erlebnissen berichtet,
Artikel dieser Ausgabe des LaG-Magazins
                                                werden diese Gespräche nun immer selte-
vorgestellt.
                                                ner möglich und müssen schon in naher Zu-
Aber auch die Sammlung und Aufbereitung         kunft durch andere Formen ‚ersetzt’ werden.
früher Texte der Holocaust- und Lagerli-        Dies kann etwa durch den zielgruppenorien-
teratur – im nachfolgenden Artikel aus-         tierten Einsatz der literarisch überlieferten
führlicher beschrieben – ist seit 2012 eine     Narrative an Schulen und darüber hinaus

                                                         Magazin vom 23.10.2019 7
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z. B. im Rahmen von Gedenkstättenfahrten           Lodz. Begleitend zu den einzelnen Sendun-
oder durch die öffentliche Auseinanderset-         gen wurde von KiKA ein Chat angeboten.
zung mit den Textzeugnissen in Form von            Hier stand auch das Team der AHL für die
Lesungen und Dialogrunden geschehen.               Fragen der Kinder zur Verfügung – und
Wichtig für die AHL ist daher neben der Pu-        konnte über 400 Fragen bereits beantwor-
blikation von Lektüreschlüsseln zu Werken,         ten.
die im schulischen Kontext (bereits) eine          Aus der didaktischen Arbeit in Universitäts-
Rolle spielen, zunehmend auch die Erarbei-         Seminaren heraus entstehen auch immer
tung (literatur-)didaktischer Konzepte zum         wieder Abschlussarbeiten, die einen origi-
Einsatz der Textzeugnisse in der schulischen       nären Beitrag zur Forschung leisten. So hat
und außerschulischen Bildungsarbeit.               beispielsweise Nicole Widera in ihrer Staats-
Gemeinsam mit Kristine Tromsdorf von der           examensarbeit zum Thema „Holocaustli-
Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung zu Lich              teratur: Definitionsproblematik, Potenzial
erarbeitet Anika Binsch von der AHL bei-           und Verwendungsmöglichkeiten im Unter-
spielsweise zurzeit eine Workshopeinheit           richt“ eine empirische Untersuchung zum
inklusive einer Handreichung für Lehrkräf-         Einsatz von Holocaustliteratur im Deutsch-
te zum Textzeugnis „Tagebuch 1942-1945.            unterricht in Hessen unternommen. Diese
Aufzeichnungen eines Fünfzehnjährigen              Studie, für die sie auch als Jahrgangsbeste
aus dem Holocaust“ von Michael Kraus, das          (L3 – Lehramt an Gymnasien) von der Hes-
2015 als erster Band der bereits genannten         sischen Lehrkräfteakademie (Prüfungsstelle
Schriftenreihe erschien.                           Gießen) ausgezeichnet wurde, stellt sie in ei-
Als Fachberater steht die AHL aktuell zu-          nem eigenen Artikel dieser Ausgabe vor.
dem dem MDR/KiKA für die Serie „Der                                                  Literatur
Krieg und ich“ zur Verfügung.2 Die Sendun-         Cernyak-Spatz, Susan: German Holocaust-
gen wurden Ende August und Anfang Sep-             Literature. New York (u.a.): Lang, 1985.
tember 2019 bei KiKA ausgestrahlt und sind
                                                   Feuchert, Sascha: Der ethische Pakt und die
ab Herbst 2019 auch im Ersten zu sehen.
                                                   Gedächtnisagentur Literaturwissenschaft.
Im Umfeld der Ausstrahlung unterstützte
                                                   Überlegegungen zu ethischen Problemfel-
die AHL die KiKA-Fernsehproduktion in
                                                   dern eines literaturwissenschaftlichen Um-
Bezug auf inhaltliche, historische und fach-
                                                   gangs mit Texten der Holocaustliteratur. In:
didaktische Fragen. Prof. Dr. Sascha Feu-
                                                   Lubkoll, Christine/Wischmeyer, Oda (Hg.):
chert begleitete zudem die Dreharbeiten an
                                                   Ethical Turn? Geisteswissenschaften in neu-
den historischen Orten wie Auschwitz oder
                                                   er Verantwortung. München: Fink, 2009, S.
2 Vgl. dazu auch: https://www.kindernetz.de/der-
                                                   137-156.
kriegundich/sendezeiten/der__krieg__und__
ich/-/id=481164/nid=481164/did=481320/uagja6/
index.html (Stand: 29.08.2019).

                                                             Magazin vom 23.10.2019 8
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 Weitere Informationen und Kontakt
Arbeitsstelle Holocaustliteratur am
Institut für Germanistik der Justus-
Liebig-Universität Gießen
Otto-Behaghel-Str. 10 B / 1
D-35394 Gießen
Deutschland

Telefon: (06 41) 99 290-93, -83
Telefax: (06 41) 99 29094
E-Mail: arbeitsstelle.holocaustliteratur@
germanistik.uni-giessen.de
Internet:
https://www.holocaustliteratur.de

Förderverein der Arbeitsstelle Holo-
caustliteratur e.V. an der Justus-Lie-
big-Universität
Historisches Institut – Osteuropäische Ge-
schichte
Prof. Dr. Hans-Jürgen Bömelburg
(Vorsitzender)
Otto-Behaghel-Straße 10/D
35394 Gießen
www.holocaustliteratur.de/deutsch/Der_
Verein/
E-Mail:hans-juergen.boemelburg@
geschichte.uni-giessen.de

                                             Magazin vom 23.10.2019 9
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Forschungsprojekt                                      publiziert. Nicht nur Erinnerungsberichte
„Frühe Texte der Holocaust-                            und dokumentarische Werke, sondern auch
und Lagerliteratur“                                    Romane, Erzählungen, Gedichte und Dra-
                                                       men erzählen vom Geschehenen.
Von Charlotte Kitzinger
                                                       Diese frühen Texte der Holocaust- und La-
Ein zentrales Projekt an der Arbeitsstelle
                                                       gerliteratur stehen am Anfang der Ausbil-
Holocaustliteratur stellt in Zusammenar-
                                                       dung des Diskursfeldes der Holocaustlite-
beit mit der Universitätsbibliothek (UB) der
                                                       ratur. Diese ersten Autoren wussten nichts
Justus-Liebig-Universität Gießen der Auf-
                                                       von Theodor W. Adornos Diktum2, von der
bau einer Online-Datenbank zu den frühen
                                                       späteren Gattungsdiskussion oder von der
Texten der Holocaust- und Lagerliteratur
                                                       Entwicklung, die die Vergangenheitsbewäl-
von 1933 bis 1949 dar.1
                                                       tigung und Gedenkkultur in Deutschland
  Die Bedeutung der frühen Texte für                   nehmen würde. Es gab noch keine bekann-
                  den Erinnerungsdiskurs               ten oder etablierten Metaphern und Sym-
Bereits ab 1933 erschienen im Exil parallel            bole des Holocaust, keine spezifischen To-
zur nationalsozialistischen Verfolgung und             poi und Textkonventionen und eine damit
späteren Vernichtung literarische Werke,               verbundene Einreihung in eine Tradition
die die vielfältigen und sehr unterschiedli-           des Schreibens über den Holocaust. Mit den
chen Etappen und Ereignisse des Holocaust              frühen Texten wurden diese erst ‚angelegt‘
beschreiben und thematisieren. Vor allem               und tradiert. Insofern waren diese Wer-
aber in der Phase zwischen 1945 und 1949               ke die allerersten Versuche, Möglichkeiten
wurden zahlreiche deutschsprachige Texte               des Schreibens über den Holocaust aus-
                                                       zuloten, eine Sprache für das vermeintlich
1 Das aktuelle Projekt „Frühe Texte der Holocaust-
und Lagerliteratur“ ist aus dem Kooperationspro-       2 1951 schrieb Theodor W. Adorno in „Kulturkritik
jekt „GeoBib – Online-Bibliographie früher Holo-       und Gesellschaft“, nach Auschwitz ein Gedicht zu
caust- und Lagerliteratur“ hervorgegangen. An der      schreiben, sei „barbarisch“. Dieser oft falsch inter-
Entwicklung einer annotierten und georeferenzier-      pretierte und als Diktum missverstandene Satz wur-
ten Online-Bibliographie der frühen deutsch- bzw.      de häufig als Verbot gedeutet, nach Auschwitz über
polnischsprachigen Holocaust- und Lagerliteratur       den Holocaust zu dichten und literarische Texte zu
(1933-1949) zur Erforschung von Erinnerungsnarra-      verfassen (vgl. Adorno 1995 [1951]: 49). Adorno
tiven waren neben der AHL das Zentrum für Medi-        selbst hatte den Satz in der Folge mehrfach einge-
en und Interaktivität (ZMI), die Professur für Ange-   schränkt und schließlich 1966 in „Meditationen zur
wandte Sprachwissenschaft und Computerlinguistik,      Metaphysik“ widerrufen: „Das perennierende Leiden
das Institut für Geographie (alle JLU Gießen) sowie    hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu
das Herder-Institut (Marburg) beteiligt. Gefördert     brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Ausch-
wurde das Projekt von 2012 bis 2015 vom Bundesmi-      witz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben“ (Adorno
nisterium für Bildung und Forschung (BMBF).            1995 [1966]: 57).

                                                                  Magazin vom 23.10.2019 10
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Unsagbare und einen Sinn in der totalen         zuzuführen. Die Texte wurden in der UB di-
Sinnlosigkeit zu finden. Gerade diesen Tex-     gitalisiert und sind dort auch in Printform
ten kommt daher ein besonderer Stellen-         vorhanden. Diese Plattform wird kontinu-
wert zu. Sie legen ein doppeltes Zeugnis ab:    ierlich um digitalisierte vergriffene und so-
Von den nationalsozialistischen Verbrechen      genannte verwaiste deutschsprachige Voll-
selbst, zu denen sie in unmittelbarer zeitli-   texte erweitert.
cher und räumlicher Nähe stehen, aber auch
                                                  Online-Datenbank „Frühe Texte der
von den spezifischen Entstehungskontexten.
                                                      Holocaust- und Lagerliteratur“
Nach wie vor besitzt das Erinnerungsgebot
                                                Ergänzend dazu und verknüpft mit den Voll-
an den Holocaust hohe politische und öf-
                                                texten erfasst die Online-Datenbank „Frühe
fentliche Relevanz. Schon bald wird es je-
                                                Texte der Holocaust- und Lagerliteratur“
doch keine unmittelbaren Zeug*innen der
                                                unter http://www.fruehe-texte-holocaust-
NS-Verbrechen mehr geben. Übrig bleiben
                                                literatur.de die frühen Texte der deutsch-
dann ‚nur‘ noch die Texte, die von der Ka-
                                                sprachigen Holocaust- und Lagerliteratur
tastrophe zeugen, diese dokumentieren
                                                von 1933 bis 1949 erstmals bibliografisch.
oder erzählerisch gestalten. In weiten Teilen
                                                Die Inhalte der Datenbank lassen sich etwa
sind jedoch gerade diese frühen Darstellun-
                                                nach Werktiteln, Autor*innennamen, Gen-
gen vergessen und aus dem kollektiven Ge-
                                                re, Publikationsjahr, Orten und nach Verla-
dächtnis gedrängt worden. Ein Großteil die-
                                                gen durchsuchen und ermöglichen so viel-
ser historisch wichtigen Zeugnisse, die als
                                                fältige Rechercheszenarien.
erste die Verbrechen des Holocaust und der
Konzentrationslager aufgreifen, kann heute      Aufgenommen werden selbstständig publi-
nur mit großem Aufwand beschafft werden.        zierte deutschsprachige Werke. Neben In-
                                                haltszusammenfassungen, in denen mitun-
Die UB Gießen und die AHL stellen daher
                                                ter auch auf auffällige literarische Strategien
in der Sammlung „Frühe Holocaustlitera-
                                                hingewiesen wird, werden Autorenbiografi-
tur“ in dem Portal DIGISAM unter https://
                                                en und Werkgeschichten bereitgestellt, so-
digisam.ub.uni-giessen.de/ubg-ihd-fhl die
                                                fern solche Informationen ermittelt werden
urheberrechtlich frei verfügbaren deutsch-
                                                können. Dies ist jedoch aus unterschiedli-
sprachigen Werke der Holocaust- und La-
                                                chen Gründen nicht in allen Fällen möglich,
gerliteratur von 1933 bis 1949 als elekt-
                                                einige der Werke sind zum Beispiel anonym
ronische Volltexte der Öffentlichkeit zur
                                                erschienen oder wurden unter einem Pseu-
Verfügung. Ziel ist es, gerade mit Blick auf
                                                donym verlegt, das oftmals nicht mehr auf-
ihre wachsende Bedeutung nach dem ‚Zeit-
                                                zulösen ist. Daher führen (Archiv-)Recher-
alter der Zeitzeugen‘, diese Zeugnisse der
                                                chen zu Werk und Autor mitunter nur zu
Opfer wieder auffindbar zu machen und
                                                dürftigen oder keinen Ergebnissen.
sie einer breiteren – öffentlichen, wissen-
schaftlichen und didaktischen – Nutzung         Im Oktober 2019 wurde die Datenbank

                                                          Magazin vom 23.10.2019 11
Zur Diskussion

erstmals zur öffentlichen (und kostenfrei-     allgemeinen Vergangenheitsverdrängung
en) Nutzung freigegeben, wird dabei jedoch     anheimgefallen, zu kurz greift. Vielmehr
kontinuierlich ergänzt und erweitert.          zeigt sich, dass eine Auseinandersetzung
               Forschungsprojekte und          mit dem Nationalsozialismus und der Ver-
                        -perspektiven          folgungs- und Vernichtungspolitik durch-
                                               aus stattgefunden hat und trotzdem zum
Die Online-Bibliografie mit den zugängli-
                                               Ausschluss der überwiegenden Mehrheit
chen Volltexten ermöglicht neue Fragestel-
                                               der Texte aus dem kollektiven Gedächtnis
lungen und Forschungsfelder. Vor allem für
                                               geführt hat.
die Bildungs- und lebendige Erinnerungs-
arbeit kann die Datenbank einen wichtigen      Um das Spannungsfeld offenzulegen, in
Beitrag leisten, weshalb dieser in einem ei-   dem die frühen Zeugnisse entstanden, wer-
genen Artikel nachfolgend ausführlicher        den Akten der amerikanischen und briti-
dargestellt wird.                              schen Besatzungsmacht herangezogen; die
                                               Produktionsphase wird sozusagen als vorge-
An der Arbeitsstelle Holocaustliteratur sind
                                               lagerte Rezeptionsphase verstanden und die
aus dem Projekt heraus außerdem bislang
                                               Zusammenhänge zwischen der Publikation
zwei Dissertationsvorhaben entstanden.
                                               von KZ-Texten und den kulturpolitischen
Anika Binsch setzt sich in ihrem For-          Zielen der beiden westlichen Alliierten wer-
schungsprojekt mit der Produktions- und        den erstmals detailliert offengelegt.
Rezeptionsproblematik der Lagerliteratur
                                               Es werden vor allem aber auch die Texte
deutschsprachiger Autoren unter westal-
                                               selbst intensiv narratologisch analysiert so-
liierter Besatzung von 1945 bis 1949 aus-
                                               wie die damaligen zeitgenössischen Rezen-
einander. Sie lotet aus, unter welchen Be-
                                               sionen zur Rate gezogen. Die Arbeit geht
dingungen diese Texte entstehen konnten
                                               von der These aus, dass die in der offiziel-
und wie sie rezipiert wurden. Die hohe Pu-
                                               len Literaturkritik der unmittelbaren Nach-
blikationsrate im Angesicht der alliierten
                                               kriegszeit häufig formulierte „berechtigt[e]
Besatzungs- und Medienpolitik sowie der
                                               Abwehr“ (Borchert 2015 [1947]: 498) ge-
prekären Verhältnisse im Bereich der Buch-
                                               genüber den Textzeugnissen ganz wesent-
produktion lässt vermuten, dass eben die-
                                               lich mit ihrer narrativen Inszenierung von
sen frühen Textzeugnissen eine gewichtige
                                               Erinnerungs- und Deutungsmustern, aber
Funktion zugesprochen wurde und – trotz
                                               auch ihren paratextuellen Präsentationsfor-
teils rigider – Kontrollmaßnahmen durch
                                               men zusammenhängt.
die Alliierten ein geeignetes Umfeld für
die Veröffentlichung der Texte vorherrsch-     Charlotte Kitzinger des vorliegenden Arti-
te. Zudem weisen Forschungsergebnis-           kels untersucht in ihrem Dissertationspro-
se einschlägiger Studien darauf hin, dass      jekt welche Rolle das Erzählen grundsätzlich
die Argumentation, die Texte seien einer       für den Menschen hat. Insbesondere geht

                                                        Magazin vom 23.10.2019 12
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sie aber der Frage nach der Bedeutung von        Borchert, Wolfgang: Kartoffelpuffer, Gott
Fiktionen über den Holocaust nach – auch         und Stacheldraht. KZ-Literatur [1947]. In:
und gerade für die frühen Texte. Für jede        Wolfgang Borchert: Das Gesamtwerk. Hg.
Form des (narrativen) Erinnerns und der          v. Michael Töteberg. Unter Mitarbeit von
Bewältigung von traumatischen Ereignissen        Irmgard Schindler. Reinbek bei Hamburg:
wie dem Holocaust – etwa in Form des Lite-       Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2015, S. 497-
rarisierens der Lebensereignisse – sind be-      504.
stimmte grundlegende und kognitive Fähig-
keiten nötig, die diese Prozesse ermöglichen
und lenken. Die Arbeit untersucht anhand
                                                                                  Über die Autorin:
zahlreicher Beispiele, wie fiktionale Werke
                                                            Charlotte Kitzinger ist Wissenschaftliche
der Holocaust- und Lagerliteratur von dem                          Mitarbeiterin an der Arbeitsstelle
geschichtlichen Ereignis des Holocaust und               Holocaustliteratur an der JLU Gießen. Ihre
                                                           Forschungsschwerpunkte sind die frühen
oftmals von den individuellen und persönli-         Texte der Holocaustliteratur von 1933 bis 1949,
chen Lebensgeschichten und Traumata der                fiktionale Texte der Holocaustliteratur bis in
                                                     die Gegenwart sowie die Beschäftigung mit der
Autor*innen erzählen. Dargelegt wird auch,        grundsätzlichen Bedeutung des Erzählens für den
wie diese Texte die psychosozialen Kon-             Menschen. Promotionsprojekt: „Fiktionen über
                                                     den Holocaust. Zu der Notwendigkeit und den
sequenzen von Verfolgung, Ausgrenzung,                  Grenzen von Geschichten über Geschichte“.
Krieg, Vernichtung und Tod narrativieren.
Untersucht wird dabei, welche Ausdrucks-
und Bewältigungsstrategien die Fiktion
bietet und welche Bedeutung das Erzählen,
Erschaffen und Gestalten von Lebenser-
innerungen und historischen Ereignissen
durch Geschichten haben kann.

                                  Literatur
Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Ge-
sellschaft [1951]. In: Kiedaisch, Petra (Hg.):
Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die
Dichter. Stuttgart: Reclam, 1995, S. 27-49.
Adorno, Theodor W.: Meditationen zur Me-
taphysik [1966]. In: Kiedaisch, Petra (Hg.):
Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die
Dichter. Stuttgart: Reclam, 1995, S. 55-63.

                                                           Magazin vom 23.10.2019 13
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Frühe Textzeugnisse in der                              allerdings oft wenig berücksichtigt, dass Ge-
Bildungsarbeit – Datenbank                              schichte und Literatur eng miteinander ver-
„Frühe Texte der Holocaust-                             bunden sind. Auch wenn mit den Zeitzeugen
und Lagerliteratur“                                     unwiederbringlich das „Moment der verkör-
                                                        perten Erfahrung“ (Assmann 2015: 74) ver-
Von Anika Binsch
                                                        schwindet, das gerade in der Bildungsarbeit
Wie kann das bedeutsame Nachdenken und                  – eine sorgfältige Vor- und Nachbereitung
Sprechen über den Holocaust zukünftig                   vorausgesetzt – bislang von besonderer Be-
fortgesetzt und ein lebendiger Erinnerungs-             deutung war, bleiben die Spuren, die sie un-
diskurs erhalten werden? Diese Fragen                   ter anderem in Form von literarischen Tex-
werden aktuell (wieder) intensiv diskutiert.            ten hinterlassen haben. Gerade durch die
Dahinter steht die Sorge, dass mit dem Ver-             Einbindung der Texte in Lehr- und Lernset-
schwinden der Zeitzeug*innen auch der                   tings können gewinnbringende Synergien
Erinnerungsdiskurs verstummen könnte,                   zwischen historischem und literarischem
zumal Erkenntnisse aktueller Studien be-                Lernen für eine kritisch-reflexive Auseinan-
tonen, dass das Wissen über die historische             dersetzung mit der historischen Ereignisge-
Ereignisgeschichte unter Jugendlichen oft               schichte genutzt werden: Einerseits hilft das
unzureichend sei.1 Auch das gegenwärtige                Wissen über die Geschehnisse des Holocaust
Erstarken von Antisemitismus und Frem-                  beim Verstehen literarischer Werke über
denfeindlichkeit forciert die Diskussion.               Verfolgungserfahrungen und die Mordpra-
Die Überlegungen und Diskussionen über                  xis unter dem NS-Regime, über Konzentra-
mögliche (neue) Konzepte, um den diversen               tionslager und Gettos. Andererseits können
Herausforderungen in der Bildungsarbeit zu              die literarischen Texte für den Aufbau und
begegnen, betreffen im Augenblick vor allem             die Erweiterung eines vertieften, differen-
den geschichtsdidaktischen und gedenk-                  zierten und individuelleren Verständnisses
stättenpädagogische Bereich. Dabei wird                 der historischen Ereignisgeschichte einen
                                                        wesentlichen Beitrag leisten. Sie machen
1 Vgl. z. B. die nicht unumstrittenen Ergebnisse der    (auch weiterhin) die „humane Dimension
2017 vom Meinungsforschungsinstitut Forsa – im          der Katastrophe deutlich und in Ansätzen
Auftrag der Körber-Stiftung – durchgeführten re-        auch nachvollziehbar“ (Benz 2009: 5). Oder
präsentativen Umfrage zum Geschichtsunterricht an       anders formuliert: Die literarische Indivi-
deutschen Schulen. Der Ergebnisbericht zur Umfrage      dualisierung kann Schicksale sichtbar und
ist online verfügbar unter: https://www.koerber-stif-   fassbar machen. Sie eröffnet damit Deu-
tung.de/fileadmin/user_upload/koerber-stiftung/         tungs- und Verständnishorizonte, die sonst
redaktion/handlungsfeld_internationale-verstaen-        in der Regel verschlossen bleiben. Denn an
digung/pdf/2017/Ergebnisse_forsa-Umfrage_Ge-            die schriftlichen Narrative können Emotio-
schichtsunterricht_Koerber-Stiftung.pdf (letzter Zu-    nen geknüpft werden „und diese Emotionen
griff: 03.07.2019).

                                                                 Magazin vom 23.10.2019 14
Zur Diskussion

[öffnen] Wege […] zu ethischen Haltungen,      für die Auseinandersetzung anzubieten und
die sich nicht allein aus dem Wissen um        die – mitunter auch widersprüchliche – Di-
Unrecht speisen, sondern aus der Möglich-      versität der Erinnerung aufzuzeigen. Die
keit, sich emotional mit der Vergangenheit     Texte stellen daher eine wichtige Quelle für
in Beziehung zu setzen“ (Wrochem 2015: 7).     den kritisch-reflexiven Erinnerungsdiskurs
Gerade diese ‚Öffnung‘ ist für Lernende von    dar: Sie zeigen nicht nur, wie das Geschehen
großer Bedeutung, um zum einen nachvoll-       narrativiert werden kann, sie machen auch
ziehen zu können, dass „der Holocaust kein     Geschichte durch und in der Literatur fass-
abstraktes und unvermeidbares Geschehen        bar. Der literarische Text wirkt als ‚Verklei-
war, sondern das geschichtliche Ereignis       nerungsglas‘ (vgl. Abram 1996: 48 f.), der
von menschlichen Einstellungen, Hand-          das Abstrakte auf individueller Ebene nach-
lungen und Entscheidungen, die für andere      vollziehbar macht und zu den unterschied-
Menschen entsetzliche Konsequenzen zei-        lichen Erinnerungs- und Deutungsmustern
tigten“ (Feuchert/Zinn 2005: 125). Zum an-     der Autor*innen führt.
deren ermöglicht sie, „Kategorien zur Beur-
                                                                     Für wen eignet sich
teilung damaliger und eigener moralischer
                                                                        die Datenbank?
Entscheidungen“ zu entwickeln „und diese
auf [das] eigen[e] Handeln beziehen“ (Heyl     Zum einen richtet sich die Datenbank an
1996: 62) zu können.                           Lehrkräfte der schulischen und universitä-
                                               ren sowie an Multiplikator*innen der au-
Die Fülle der in der Datenbank „Frühe
                                               ßerschulischen Bildungsarbeit, die sie etwa
Texte der Holocaust- und Lagerlite-
                                               im Rahmen ihrer Vorbereitung von unter-
ratur“ gesammelten deutschsprachigen
                                               schiedlichen Lehr-/Lernformaten nutzen
Werke, die zwischen 1933 und 1949 in un-
                                               können. Mit Hilfe der bibliografischen An-
mittelbarer räumlicher und/oder zeitlicher
                                               gaben und der Annotationen ist neben der
Nähe zu den Geschehnissen entstanden
                                               zielgruppen- und themenorientierten Aus-
und publiziert wurden und die daher die
                                               wahl von Textpassagen oder einzelnen lite-
ersten literarischen Interpretationen der
                                               rarischen Werken auch die Zusammenstel-
Ereignisgeschichte sind, zeigen, dass Men-
                                               lung eines bestimmten Textkorpus möglich,
schen schon während des Geschehens den
                                               insbesondere durch die mit der Datenbank
Wunsch hatten sowie den Drang bzw. die
                                               verlinkten und frei zugänglichen Volltexte
Verpflichtung verspürten, zu berichten und
                                               der digitalen Sammlung „Frühe Holocaust-
zu dokumentieren. Ähnlich einem Kaleido-
                                               literatur“ (https://digisam.ub.uni-giessen.
skop kann die Vielfalt der Texte helfen, die
                                               de/ubg-ihd-fhl).
(Funktions-)Zusammenhänge zwischen li-
terarischem Werk und gesellschaftshistori-     Zum anderen eignet sich die Datenbank
schem Produktions- wie Rezeptionskontext       für Lernende ab der neunten Jahrgangs-
zu diskutieren, verschiedene Perspektiven      stufe als kompaktes und leicht zugängliches

                                                         Magazin vom 23.10.2019 15
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Online-Recherchetool, das ihnen sorgfältig             ermitteln.
erarbeitete Informationen zur Verfügung                                Welches Potential bietet
stellt – über das jeweilige Werk anhand                                       die Datenbank?
von bibliografischen Angaben und Inhalts-
                                                       Grundsätzlich können durch die Arbeit mit
zusammenfassungen und, sofern möglich,
                                                       der Datenbank, mit dem dargebotenen Ma-
über den*die Autor*in sowie die Werkge-
                                                       terial (Zusammenfassung des Werkinhalts,
schichte. Im Gegensatz zu einer Internet-
                                                       Autor*inbiografien, Werkgeschichten) und
suche mit Hilfe einer Metasuchmaschine
                                                       den – wo urheberrechtlich möglich, direkt
ermöglicht die Arbeit an und mit der Daten-
                                                       bereitgestellten – literarischen Werken
bank eine zielorientierte, eingegrenzte und
                                                       selbst Lehr- und Lernsettings gestaltet wer-
strukturierte Recherchesituation, die jedoch
                                                       den. Das Material kann zielgerichtet nach
bei Bedarf auch auf andere Recherchetools
                                                       Informationen durchsucht und anschlie-
ausgedehnt werden kann.2 Anzumerken ist
                                                       ßend aufgearbeitet werden – beispielweise
hier, dass es sich bei einem Großteil der Tex-
                                                       zur Vorbereitung oder im Rahmen von Prä-
te um nicht-kanonisierte Werke handelt,
                                                       sentationen sowie schriftlichen Ausarbei-
die daher teilweise bis heute kaum bekannt
                                                       tungen, und zwar von Lehrenden und Ler-
sind. Eine ‚gewöhnliche‘ Google-Suchanfra-
                                                       nenden gleichermaßen. Zudem bietet die
ge zum Werk und/oder Autor*in liefert da-
                                                       Arbeit mit der Datenbank die Möglichkeit,
her oftmals nur sehr wenige oder keine kon-
                                                       dass Lernende selbstständig einen – sozu-
kreten Treffer.
                                                       sagen ‚ihren‘ – Text aussuchen. Gleichzei-
Aber auch im Rahmen wissenschaftlicher                 tig findet die eigentliche Textarbeit (wei-
Arbeit stellt die Datenbank ein geeignetes             terhin) am Printmedium bzw. an dessen
Informationsmedium dar. Die dargebotenen               digitaler Kopie statt. Jedes Werk kann also
Informationen können etwa die Erarbeitung              in seiner ‚geschlossenen Form‘, in seiner
von Fragestellungen aus unterschiedlichen              Beschaffenheit als literarischer Text wahr-
Forschungsdisziplinen unterstützen. So las-            genommen, analysiert und interpretiert
sen sich zum Beispiel für komparatistische,            werden. Die in der Datenbank zur Verfü-
(literatur-)historische, erzähltexttheoreti-           gung gestellten Informationen über Autor
sche, biografische und/oder gendertheo-                und Werk können als Ausgangspunkt für
retische Forschungen zum Holocaust ers-                die Textauswahl oder für die Auseinander-
te wichtige Hinweise gewinnen oder Texte               setzung mit textimmanenten Merkmalen
2 Für einen Überblick über unterrichtspraktische       (Aufbau, Inhalte, sprachliche Form) und/
Fragen, Potentiale, Herausforderungen bzw. Gren-       oder biografischen, (literatur-)historischen,
zen, die sich im Rahmen des Deutschunterrichts im      rezeptionsgeschichtlichen und/oder regio-
Zusammenhang mit der Internetrecherche nach In-        nalgeschichtlichen Zusammenhängen die-
formationen, Texten u. Ä. ergeben, vgl. die Beiträge   nen oder diese zumindest zur Diskussi-
in: Frederking/Krommer 2016.                           on stellen. Die folgenden Darlegungen

                                                                Magazin vom 23.10.2019 16
Zur Diskussion

verstehen sich deshalb auch ‚nur‘ als Anre-     Erinnerungsbericht anders aussehen als für
gungen und skizzieren, wie die Arbeit mit       einen fiktionalen Text. Die Diskussion zen-
der Datenbank und den Textzeugnissen in         traler genretypischer Literarisierungsstra-
die Bildungsarbeit eingebettet werden kann.     tegien kann damit genauso Bestandteil der
                 Das literarische Werk          Bildungsarbeit sein, wie die Auseinander-
         als Untersuchungsgegenstand            setzung mit den Funktionen und Leistungen
                                                dieser unterschiedlichen literarischen Inter-
Ein wesentlicher Grundsatz bei der Arbeit
                                                pretationen für den Erinnerungsdiskurs.
an und mit Werken der Holocaust- und La-
gerliteratur besteht darin, dass die Texte       Der*die Autor*in und sein*ihr Werk:
in ihrer doppelten Eigenschaft wahr- und                 Biografische Annäherungen
ernstgenommen werden: Sie legen Zeugnis         Alle Texte, ob autobiografischer Erinne-
ab über die nationalsozialistischen Verbre-     rungsbericht oder Roman, sind subjektab-
chen und gedenken der Opfer, sind aber          hängige Interpretationen der Ereignisge-
zugleich literarische Werke, deren Inhal-       schichte (vgl. Feuchert 2000: 21ff.; Young
te von der Perspektive des*der jeweiligen       1997: 16f.). Diese Perspektivengebundenheit
Autor*in, seiner*ihrer Wahl des Textgenres      birgt zwar einerseits Herausforderungen,
und den Entstehungs- wie Publikationsbe-        andererseits eröffnet sie Deutungs- und Ver-
dingungen des Textes beeinflusst werden.        ständnishorizonte, die sowohl für das litera-
Daher sollten die Werke nicht nur auf ihre      rische als auch historische Lernen wichtig
Funktion als ‚Faktenlieferanten‘ reduziert      sind. So ist beispielsweise die Einteilung von
und danach befragt werden, was in ihnen         Verfasser*innengruppen über ihre Stellung
erzählt wird. Vielmehr sollte immer auch        zum Geschehen nicht immer ganz eindeutig.
analysiert werden, wie sie das Geschehen        Insbesondere wenn die NS-Häftlingskatego-
darstellen und welche Literarisierungsstra-     rien berücksichtigt werden, da hier stigma-
tegien sie verfolgen (Feuchert 2000: 211).      tisierende, diskriminierende und vor allem
Die Inhaltszusammenfassungen bieten hier-       individuelle Selbstbilder als überdeckende
für oftmals erste Ansatzpunkte, da auffällige   Fremdbeschreibungen fortgeführt werden
oder charakteristische narrative Strategien     (können). Zugleich beeinflusste aber die
angemerkt werden. Darüber hinaus zeigt          Stellung des*der Verfasser*in zum Gesche-
die Textsortenvielfalt, dass es viele ver-      hen seine*ihre Erfahrungen, die schließlich
schiedene Formen gibt, um sich sowohl als       im und durch den literarischen Text vermit-
Autor*in als auch als Leser*in mit der Ereig-   telt werden. Die Skizze der Autor*inbiografie
nisgeschichte auseinanderzusetzen. Daher        bietet hier Informationen, um die Perspek-
sind auch Fragestellungen denkbar, die das      tive des*der Autor*in, seine*ihre zeitliche
jeweilige Textgenre in den Mittelpunkt stel-    und räumliche Verbindung mit den Ge-
len oder aber die damit jeweils verbunde-       schehnissen sowie seinen kulturellen und
nen Leser*innenerwartungen, die für einen       familiären Hintergrund offenzulegen. Dies

                                                          Magazin vom 23.10.2019 17
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kann als Ausgangspunkt für die Analyse und       Anfang der 1940er Jahre wird beispiels-
Diskussion dienen, inwiefern die Perspek-        weise oftmals an das Ausland appelliert,
tive des*der Autor*in seine Interpretation       die NS-Verfolgungs- und Vernichtungs-
der Ereignisse beeinflusst hat, die textintern   maschinerie zu stoppen. Werke, die nach
etwa durch die Verwendung von Metaphern,         1945 entstanden und veröffentlicht wurden,
Allegorien und (intertextuellen) Vergleichen     zeichnen sich häufig durch eine dokumen-
sichtbar wird. Fallweise reichen die Skizzen     tierende und aufklärende Funktion aus. Sie
der Autor*inbiografien auch über die Zeit        greifen zum Beispiel eine Schreckensepiso-
der Gefangenschaft hinaus, wodurch mitun-        de des Lageralltags exemplarisch heraus, da
ter auch das Leben ‚davor‘ sowie das ‚Leben      „das ‚Leben‘ in den Vernichtungslagern als
nach dem Überleben‘ in den Blick genom-          Ganzes zu grausam und kaum darstellbar
men werden kann.                                 war“ (Feuchert 2012: 227). Darüber hinaus
                                                 wollten viele Autoren*innen mit ihren Wer-
                        Text und Kontext
                                                 ken oftmals einen Beitrag zum demokrati-
Die Skizze der Werkgeschichte des jeweiligen     schen Wiederaufbau Deutschlands leisten.
Textes bietet Informationen über seine Ent-      Auffällig ist hierbei, dass zwischen 1933 und
stehungs- und/oder Publikationsbedingun-         1949 in einer nicht unerheblichen Anzahl
gen sowie über seine Rezeptionsgeschichte.       vor allem sogenannte politische Häftlinge
Daher können zum einen Zusammenhänge             als Autoren*innen auftraten. Während ei-
zwischen Produktionskontext, Autor*in so-        nige Textzeugnisse aus der jüdischen Opf-
wie Art und Weise der literarischen Dar-         erperspektive erscheinen konnten, fehlen
stellung untersucht werden. Zum anderen          Werke von Autor*innen der anderen Ver-
lassen sich Wechselwirkungen zwischen li-        folgtengruppen, wie der Sinti und Roma,
terarischem Werk und gesellschaftlichem          der Homosexuellen oder der sogenannten
Publikationskontext offenlegen. Gerade die       ‚Kriminellen/Berufsverbrecher‘. Dies ist nur
Fragen danach, ‚wann‘ und ‚wo‘ geschrie-         ein Indiz dafür, dass auch nach 1945 Stig-
ben wurde, sind neben der Frage, ‚wer‘ ‚wie‘     matisierung, Diskriminierung und Ausgren-
schreibt, nicht nur für die konkrete Text-       zung weit verbreitet waren – und teilweise
deutung, sondern auch für das allgemeine         bis heute bestehen. Weiterführend können
(literatur-)historische Lernen wichtig.          solche Beobachtungen ein Ausgangspunkt
Der Zeitpunkt und der Ort, an dem ein*e          für die Auseinandersetzung mit Kanonisie-
Autor*in seinen Blick literarisch auf das Ge-    rungsprozessen und dem Erinnerungsdis-
schehen richten konnte oder wollte, präg-        kurs sein.
te nicht nur seine*ihre Perspektive, son-                           Ortspezifisches bzw.
dern oftmals auch die Funktion, die er*sie             regionalgeschichtliches Arbeiten/
mit seinem*ihrem Text verbunden hat. In                        Lernen anhand der Texte
den publizierten Werken der 1930er und           Mit    Hilfe   der   Datenbank   lässt   sich

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außerdem ortsspezifisches und/oder regio-      Benz, Wolfgang: Wenn die Zeugen schwei-
nalgeschichtliches Arbeiten und Lernen auf     gen. Anmerkungen zu einem seit langem ak-
unterschiedliche Art und Weise realisieren.    tuellen Problem. In: Dachauer Hefte (2009),
Ausgangspunkt kann dabei beispielswei-         H. 25, S. 3-16.
se die Biografie des*der Verfasser*in sein.    Feuchert, Sascha: Fundstücke. Bemerkun-
Aber auch die im Text erwähnten Leidens-       gen zu Darstellungskonventionen und para-
stationen können als Referenzpunkte her-       textuellen Präsentationsformen früher Tex-
angezogen werden. Vor allem im Rahmen          te deutschsprachiger Holocaustliteratur. In:
von Exkursionen in Gedenkstätten ehemali-      Butzer, Günter/Jacob, Joachim: Berührun-
ger Konzentrationslager bietet sich die Ein-   gen. Komparatistische Perspektiven auf die
bindung eines Textes oder mehrerer Werke       frühe deutsche Nachkriegsliteratur. Mün-
oder einzelner Passagen an, denn gerade in     chen: Wilhelm Fink, 2012, S. 217-230.
solchen Lernkontexten entstehen Synergien
                                               Feuchert, Sascha/Zinn, Katja: Multipers-
zwischen dem historischen Lernen vor Ort
                                               pektivität als Kernkonzept eines didakti-
und dem literarischen Text. Der historische
                                               schen Umgangs mit Holocaustliteratur. In:
Ort kann durch die unterschiedlichen Nar-
                                               Duncker, Ludwig/Sander, Wolfgang/Suhr-
rative ‚zum Sprechen‘ gebracht werden.
                                               kamp, Carola (Hg.): Perspektivenvielfalt im
                                               Unterricht. Stuttgart: Verlag W. Kohlham-
                                               mer, 2005, S. 125-144.
                                               Feuchert, Sascha: Einleitung. In: Feuchert,
                                               Sascha(Hg.): Holocaust-Literatur Ausch-
                                 Literatur     witz. Für die Sekundarstufe I. Stuttgart:
                                               Reclam, 2000 (=Arbeitstexte für den Un-
Abram, Ido: Erziehung und humane Ori-
                                               terricht, Reclams Universal Bibliothek, Bd.
entierung. In: Abram, Ido/Heyl, Matthias:
                                               15047), S. 5-41.
Thema Holocaust. Ein Buch für die Schule.
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1996, S. 11-     Feuchert, Sascha: Arbeitsvorschläge. In:
60.                                            Feuchert, Sascha(Hg.): Holocaust-Literatur
                                               Auschwitz. Für die Sekundarstufe I. Stutt-
Assmann, Aleida: Die Erinnerung an den
                                               gart: Reclam, 2000 (=Arbeitstexte für den
Holocaust. Vergangenheit und Zukunft. In:
                                               Unterricht, Reclams Universal Bibliothek,
Rathenow, Hanns-Fred/Wenzel, Birgit/We-
                                               Bd. 15047), S. 211-225.
ber, Nobert H. (Hg.): Handbuch National-
sozialismus und Holocaust. Historisch-po-      Frederking, Volker/Krommer, Axel/Möbius,
litisches Lernen in Schule, außerschulischer   Thomas (Hg.): Digitale Medien im Deutsch-
Bildung und Lehrerbildung. Schwalbach/         unterricht. Baltmannsweiler: Schneider
Ts.: Wochenschau Verlag, 2013 (=Politik        Verlag Hohengehren, 2016 (=Deutschunter-
und Bildung, Bd. 66), S. 67-78.                richt in Theorie und Praxis, Bd. 8).

                                                        Magazin vom 23.10.2019 19
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Heyl, Matthias: „Erziehung nach Auschwitz“
und „Holocaust Education“. Überlegungen,
Konzepte, Vorschläge. In: Abram, Ido/Heyl,
Matthias: Thema Holocaust. Ein Buch für
die Schule. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt,
1996, S. 61-164.
Wrochem, Oliver von: Die zeitliche Distanz
zu den NS-Verbrechen als Herausforderung
für die Bildungsarbeit zum Nationalsozialis-
mus. In: Gedenkstättenrundbrief (2015), H.
179, S. 3-14.
Young, James: Beschreiben des Holocaust.
Darstellung und Folgen der Interpretation.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997 (=suhr-
kamp taschenbuch, Bd. 2371).

                                  Über die Autorin:
                 Anika Binsch ist Wissenschaftliche
 Mitarbeiterin an der Arbeitsstelle Holocaustlitera-
 tur an der JLU Gießen und leitet dort den Bereich
    „Didaktische Vermittlung und Kooperation mit
      Schulen“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind
     frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur
      von 1933 bis 1949, insbesondere von 1945 bis
      1949, sowie Holocaust- und Lagerliteratur im
      Bildungskontext. Promotionsprojekt: „‚Taube
      Ohren und harte Herzen‘ – Produktions- und
          Rezeptionsproblematik der Lagerliteratur
    deutschsprachiger Autoren unter westalliierter
                          Besatzung 1945 bis 1949“.

                                                       Magazin vom 23.10.2019 20
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Stimme/n der Überlebenden.                                erkannte die Möglichkeiten und wollte sie
Die Zeitschrift                                           nutzen. Im November 1945 rief er dazu auf,
„Fun letstn churbn“                                       Material zu sammeln und Zeugnis abzule-
                                                          gen. Jeder Überlebende sei ein lebendiger
Von Markus Roth                                           Schatz, „ein Zeuge und eine Quelle, die ex-
Ein wichtiges Dokumentationsprojekt zur                   trem wichtiges Material zur Verfügung stel-
Shoah war die jiddische Zeitschrift „Fun let-             len kann, das absolut unerlässlich ist, um
stn churbn“ / „Von der letzten Zerstörung“1.              eine grobe Geschichte der vergangenen Pe-
Gemeinsam mit Frank Beer wird an der                      riode zu konstruieren“2. Kaplan mahnte zur
Arbeitsstelle Holocaustliteratur, finanziert              Eile, denn es war absehbar, dass sich dieses
durch die Friede Springer Stiftung, eine                  Zeitfenster durch die Abwanderung der DPs
vollständige deutschsprachige Edition die-                bald schließen würde.
ser Zeitschrift vorbereitet.                              Noch im November 1945 wurde die Zent-
                        Motivation und Ziele              rale Historische Kommission beim Zent-
                                                          ralkomitee der befreiten Juden*Jüdinnen
Die ersten Nachkriegsjahre boten denjeni-                 in der amerikanischen Besatzungszone
gen, die sich um eine Dokumentation des                   gegründet. Ziel war es, unter der Leitung
Holocaust – der damals freilich noch nicht                von Moshe Feygenboym Material für künf-
so hieß – bemühten, einmalige Chancen. In                 tige Historiker*innen zu sammeln. Die
den DP-Camps lebten an einem Ort Überle-                  Zeitschrift „Fun letstn churbn“ sollte die
bende aus aller Herren Länder zusammen,                   Sammlungstätigkeit unterstützen und die
die über ihren Alltag, die Verfolgung und                 Überlebenden motivieren, zu schreiben und
Ermordung der Juden*Jüdinnen in ihren                     Dokumente zur Verfügung zu stellen. Neben
Heimatorten und in zahllosen Gettos und                   einer Leserschaft in Deutschland wollte Ka-
Lagern Zeugnis ablegen konnten und viel-                  plan auch all jene erreichen, die außerhalb
fach auch unbedingt wollten. Aber es gab                  des NS-Herrschaftsbereichs gelebt hatten,
auch gegenläufige Tendenzen – die Abkehr                  damit diese Informationen aus erster Hand
von der Vergangenheit, das Vergessen-Wol-                 erhalten.
len oder Nicht-Sprechen-Können.
                                                          Feygenboym benannte in der ersten Aus-
Israel Kaplan, ein Historiker aus Riga,                   gabe ein weiteres Ziel. Er sah allerorten
1 ‚Churbn‘ ist die damals gebräuchliche jiddische Be-     eine Ignoranz der Shoah gegenüber oder
zeichnung für Holocaust bzw. Shoah. Sie geht zurück       ein Herunterspielen der Verbrechen. Er
auf die Zerstörung des Ersten und des Zweiten Tem-        schrieb: „Zwar haben die Siegermächte eine
pels in Jerusalem. Da es im Jahr 1946 im Deutschen        2 Die Zitate aus der Zeitschrift folgen der Überset-
weder die Bezeichnung ‚Holocaust‘ noch ‚Shoah‘ gab,       zung nach dem Stand vom Juli 2019. Die Übersetzun-
wird der Titel hier übersetzt als „Von der letzten Zer-   gen aus dem Jiddischen haben Susan Hiep, Sophie
störung“.                                                 Lichtenstein und Daniel Wartenberg angefertigt.

                                                                     Magazin vom 23.10.2019 21
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