LAG - MAGAZIN GESCHICHTE(N) BEWAHREN, ERFORSCHEN, VERMITTELN - DIE ARBEITSSTELLE HOLOCAUSTLITERATUR 23.10.2019 - LERNEN AUS DER ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
LaG - Magazin Geschichte(n) bewahren, erforschen, vermitteln – Die Arbeitsstelle Holocaustliteratur 23.10.2019
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Zur Diskussion Arbeitsstelle Holocaustliteratur: Geschichte(n) bewahren, erforschen, vermitteln................4 Forschungsprojekt „Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur“...................................10 Frühe Textzeugnisse in der Bildungsarbeit – Datenbank „Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur“.........................................................................................................................14 Stimme/n der Überlebenden. Die Zeitschrift „Fun letstn churbn“........................................21 Holocaustliteratur im Deutschunterricht. Eine empirische Untersuchung..........................25 Empfehlung Fachbuch HolocaustZeugnisLiteratur......................................................................................................31 Empfehlung Fachdidaktik Lektüreschlüssel XL – Der Junge im gestreiften Pyjama......................................................33 Empfehlung Lebensbericht Janina Hescheles: Mit den Augen eines zwölfjährigen Mädchen..........................................35 Die Liebe sucht eine Wohnung...............................................................................................38 Michael Kraus: Tagebuch 1942-1945......................................................................................40 Magazin vom 23.10.2019 2
Einleitung Liebe Leser*innen, Lehr- und Lernsettings auf. wir begrüßen Sie zum LaG-Magazin im Die jiddische Zeitschrift „Fun letstn churbn“ Oktober. Diese Ausgabe entstand in Zu- / „Von der letzten Zerstörung“ ist ein frühes sammenarbeit mit der Arbeitsstelle Holo- Publikationsorgan aus der Nachkriegszeit, caustliteratur (AHL) an der Justus-Liebig- das sich der Aufarbeitung des Holocaust Universität in Gießen. Dementsprechend widmete. Dieser sollte alltags- und kultur- befasst sich das Magazin mit der Arbeit der geschichtlich aufgearbeitet werden und den AHL im wissenschaftlichen Umfeld sowie Überlebenden eine Möglichkeit gegeben im universitären, schulischen und außer- werden, Zeugnis abzulegen. Markus Roth, schulischen Bildungsbereich. der aktuell an der AHL ein Editionsprojekt zur jiddischen Zeitschrift betreut, geht auf Der einführende Beitrag von Charlotte Kit- Hintergründe und Kontexte sowie auf die zinger stellt die Arbeitsstelle Holocaustli- Motive der Herausgeber für die Sammlung teratur in Gießen vor und zeigt auf, was die und Veröffentlichung des Materials ein. bundesweit bislang einmalige literaturwis- senschaftliche Einrichtung unter dem Be- Nicole Silvia Widera stellt ihre empirische griff Holocaust- und Lagerliteratur versteht. Untersuchung zur Verwendung von Holo- caustliteratur im Deutschunterricht in Hes- „Frühe Texte der Holocaust- und Lagerli- sen vor. Dabei fragt sie auch nach dem Ver- teratur“ ist ein Forschungsprojekt der AHL ständnis der Deutschlehrer*innen von der in Zusammenarbeit mit der Universitätsbi- Gattung sowie nach den Einsatzmöglichkei- bliothek der Justus-Liebig-Universität Gie- ten der Texte im Unterricht. ßen. In der Online-Datenbank werden frühe deutschsprachige Texte der Holocaust- und Wir bedanken uns insbesondere bei Anika Lagerliteratur von 1933 bis 1949 erfasst und Binsch und Charlotte Kitzinger für die aus- Informationen zu Autor und Werk bereitge- gesprochen gute und reibungslose Zusam- stellt. Zum Projekt gehört auch eine digitale menarbeit. Sammlung mit frei verfügbaren Werken der Ein großer Dank gilt auch dem Förderver- Holocaust- und Lagerliteratur. Charlotte ein der Arbeitsstelle Holocaustliteratur so- Kitzinger geht in ihrem zweiten Beitrag auf wie der Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung zu das Projekt und auf die Bedeutung der frü- Lich, die die vorliegende Ausgabe großzügig hen Literatur für den Erinnerungsdiskurs unterstützt haben. ein. Das nächste LaG-Magazin erscheint am Anika Binsch stellt didaktische Überlegun- 27. November 2019. Es setzt sich mit dem gen zum Einsatz früher Textzeugnisse und gesellschaftlichen Umgang mit Antisemi- der Online-Datenbank in der Bildungsarbeit tismus und Rassismus auseinander und er- an und zeigt das Potential der Einbindung scheint in Kooperation mit dem Zentrum der literarischen Werke in unterschiedliche für Antisemitismusforschung. Magazin vom 23.10.2019 3
Zur Diskussion Arbeitsstelle Die Erinnerungen und Erzählungen der Ho- Holocaustliteratur: locaust- und Lagerliteratur dienen zudem Geschichte(n) bewahren, nicht nur dem Überlebenden, Zeitzeugen erforschen, vermitteln oder auch unbeteiligten Autor dazu, dem (persönlichen) Trauma der systematischen Von Charlotte Kitzinger Verfolgung und Ermordung auf erzähleri- Erinnert und weitergegeben wird, was so- scher Ebene zu begegnen und erzählerisch wohl individuell als auch kollektiv bewahrt zu gestalten, sondern tragen auch dazu bei, wird. Es bedarf der Geschichtsschreibung, das Wissen über den Holocaust generatio- um Fakten und historisches Wissen zu nen- und zeitübergreifend weiterzugeben. strukturieren, zu kontextualisieren und Die Arbeitsstelle auch zu überprüfen. Sie dokumentiert und Holocaustliteratur trägt die Daten, Orte, Personen und Er- eignisse zusammen und bildet so gleich- Die Literaturwissenschaft hat „als ‚Gedächt- sam den Rahmen für jede Form der Erin- nisagentur‘ erheblich dazu beigetragen […], nerungsarbeit in Gedenkstätten, Schulen, dass Texten der Holocaust- und Lagerli- Universitäten und in der Öffentlichkeit. Es teratur eine seit nunmehr fast 30 Jahren bedarf jedoch auch individueller und mehr- wachsende Aufmerksamkeit zuteil wird“ stimmiger Erinnerungen, um der Masse der (Feuchert 2009: 148). Sie hat daran mitge- Fakten und des Wissens Bedeutung, Pers- wirkt, dass das Wissen um den Holocaust pektive und Relevanz für den Einzelnen zu breiter und eine empathische Identifikation geben. Die Literatur – damit ist die ganze mit den Opfern möglich und schließlich zur Bandbreite autobiografischer, berichtender gängigen öffentlichen und kulturellen Pra- und fiktionaler Erzeugnisse gemeint – kann xis wurde. einen entscheidenden und gänzlich anderen Als bundesweit bislang einzige Ein- Beitrag als jener – ebenso wichtige – der richtung befasst sich die Arbeitsstelle Historiker leisten. Denn Literatur ist Erin- nerungs- und Zukunftsarbeit auf individu- Geschichten über Geschichte“ von Charlotte Kitzin- eller Ebene, sie kann dem*der Rezipient*in ger wird das Erzählen von Geschichten als Grund- daher eindringlicher Geschichte(n) erzählen bedürfnis des Menschen verstanden, da es für seine und ihn*sie dazu bringen, sich in gänzlich Identitäts- und Sinnstiftung unerlässlich ist. Die Ver- fremde, unverständliche Situationen sowie fasserin widmet sich in ihrer Arbeit daher der Frage, Zeiten hineinzudenken und einzufühlen. Sie wie fiktionale Texte der Holocaust- und Lagerlitera- kann so also dem Erstarren und Ritualisie- tur von dem geschichtlichen Ereignis des Holocaust ren der Erinnerung entgegenwirken.1 und oftmals von den individuellen und persönlichen Lebensgeschichten und Traumata der Autor*innen 1 Im Dissertationsprojekt „Fiktionen über den Ho- erzählen. Einige der nachfolgenden Überlegungen locaust. Zu der Notwendigkeit und den Grenzen von entstammen diesem Forschungsprojekt. Magazin vom 23.10.2019 4
Zur Diskussion Holocaustliteratur (AHL) an der Justus-Lie- von Texten (oder auch Gattung) gehörte. big-Universität Gießen seit 20 Jahren – kom- Die Gießener Definition basiert auf einem plementär zu den historischen Forschungen weiten Verständnis des Begriffs: Ausgehend – eigens mit der literaturwissenschaftlichen von der Tatsache, dass die Verbrechen der und -didaktischen Untersuchung und Auf- Nationalsozialisten gegen andersdenkende bereitung von Texten der Holocaust- und und vermeintlich andersartige Menschen Lagerliteratur. Über viele Jahre wurde die bereits 1933 begannen und dass darüber AHL überwiegend durch projektbezogene auch sofort (im weiteren Sinne) literarisch Drittmittel finanziert. Ganz wesentlich wird geschrieben wurde, werden hier Texte über die Arbeit auch durch den Förderverein der alle Aspekte der nationalsozialistischen Arbeitsstelle Holocaustliteratur unterstützt. Verfolgungs- und Vernichtungspolitik be- Seit 2016 bis 2021 fördert das Hessische Mi- ginnend mit den ersten Maßnahmen der nisterium für Wissenschaft und Kunst nun Ausgrenzung ab 1933 bis hin zu den Mas- den Ausbau der AHL. Auch die seit dem 1. senmorden während des Zweiten Welt- Juni 2017 neu eingerichtete „Ernst-Ludwig- kriegs zur Gattung gezählt. Dies schließt Chambré-Stiftungsprofessur für Neuere Texte zur Verfolgung von Juden*Jüdinnen, Deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt politischen Gegner*innen, Homosexuellen, Holocaust- und Lagerliteratur sowie ihre Sinti und Roma, Zeugen Jehovas und ande- Didaktik“, die von Sascha Feuchert beklei- ren ein. det wird, trägt zu einer Verankerung und Verstetigung der Forschung und Lehre zur Ganz wesentlich hat sich diese Gattung aus Holocaustliteratur an der Justus-Liebig- der frühen Lagerliteratur entwickelt, die Universität bei. ihrerseits mit der Tradition der Gefängnis- Der Begriff Holocaust- und Kriegsgefangenenliteratur vor 1933 und Lagerliteratur im in Verbindung stand. Zu dieser frühen La- Verständnis der AHL gerliteratur gehören die Texte – Berichte, Tagebücher, Autobiografien, Romane und Die Bezeichnung Holocaustliteratur ist spä- Gedichte – der Opfer und Überlebenden, testens seit den 1980er Jahren weit verbrei- die von den Geschehnissen in den national- tet. Ausgehend von den Vereinigten Staaten, sozialistischen Lagern vor 1939 Zeugnis ab- dort unter anderen von der Literaturwissen- legen und erzählen. Um diese Entwicklung schaftlerin und Holocaust-Überlebenden deutlich im Gattungsnamen abzubilden, ist Susan Cernyak-Spatz angestoßen, hat sich es deshalb sinnvoll, von Holocaust- und die wissenschaftliche Beschäftigung mit Lagerliteratur zu sprechen. der Holocaustliteratur auch in Deutschland zu einem vielfältigen Diskurs- und For- Nach dem Gießener Verständnis fallen schungsfeld entwickelt. Dabei war es immer unter Holocaust- und Lagerliteratur folglich wieder umstritten, was zu dieser Gruppe alle literarischen Werke, die das Schicksal Magazin vom 23.10.2019 5
Zur Diskussion der politischen, rassischen und anderen Op- kein Kriterium für die Zuordnung des Werks fergruppen der Nationalsozialisten zentral zur Holocaust- und Lagerliteratur dar. behandeln. Das bedeutet, dass hierzu die Darüber hinaus prägen Vermischungen und noch während des Geschehens entstan- Grenzüberschreitungen, etwa zwischen ver- den Zeugnisse, Tagebücher und Chroniken schiedenen Textsorten und zwischen nicht- ebenso zählen wie nachträglich verfasste fiktionalen und fiktionalen Darstellungen, Erinnerungen. Überdies umfasst der Be- viele Werke der Holocaust- und Lagerlitera- griff auch fiktionale Werke wie Romane, tur. Gedichte und Dramen, die entweder bereits Zudem lässt sich – im Hinblick auf die Re- während der Ereignisse oder aber erst nach zeptionshaltung vieler Leser*innen – fest- Kriegsende entstanden sind. Dies können stellen, dass an diese Texte – vor allem an Texte von unmittelbar betroffenen Opfern die der ‚unbeteiligten‘ Autoren – neben lite- und Überlebenden, von Nachgeborenen der rarischen oftmals auch moralische Ansprü- zweiten und dritten Generation oder aber che gestellt werden, sodass diese also sowohl von gänzlich Unbeteiligten sein. ethische wie ästhetische Fragen aufwerfen. Wesentliches und gemeinsames Merkmal Dies ließ sich zuletzt etwa an Takis Wür- dieser Texte ist, dass sie thematisch domi- gers Roman „Stella“ verfolgen. Er erzählt in nant auf die Verbrechen der Nationalsozia- fiktionaler Art und Weise, aber auch unter listen und ihre Folgen rekurrieren. Die Texte Einbeziehung von historischem Quellenma- aus den ersten Jahren des Nationalsozialis- terial, eine Liebesgeschichte um die zentrale mus ab 1933 erzählen vor allem von der zu- Figur der Jüdin Stella, die – nach schwerer nehmenden Verfolgung, den Gewaltexzes- Folter und nach der Drohung durch die Ber- sen und Erfahrungen in den Gefängnissen liner Gestapo, ihre Eltern zu deportieren – und frühen Lagern, die späteren (ab Kriegs- als ‚Greiferin‘ in Berlin untergetauchte Ju- beginn) dann v.a. von den Deportationen den denunzierte. Um den Roman ist eine vor und Vernichtungsmaßnahmen. Dennoch allem moralische und weniger ästhetische ist im Erzählen über die Ereignisse ab 1933 Kontroverse um die Frage nach künstleri- eine gewisse Kontinuität zu beobachten, scher Freiheit einerseits und Wahrung der aber auch eine zunehmende Ausdifferenzie- Persönlichkeitsrechte der historischen Per- rung, die es plausibilisieren, diese Texte un- son Stella Goldschlag, auf deren Geschichte ter einer Bezeichnung zusammenzufassen. der Roman basiert, andererseits entbrannt. Die Verbindung des*der Autor*in zum Ge- Mit dieser und ähnlichen Debatten einher schehen ist dabei ein wichtiges Merkmal geht auch ein gesellschaftlicher Diskurs zur Einordnung (und Beurteilung) des ein- um jeweils ‚angemessene‘ Erzählformen zelnen Textes, da sie die Rezeptionshal- zum Holocaust, der dabei gleichzeitig das tung des*der Leser*in gegenüber dem Werk Sprechen über die Ereignisse selbst leben- (maßgeblich) beeinflusst. Sie stellt jedoch dig hält. Dieser Diskurs, den nicht zuletzt Magazin vom 23.10.2019 6
Zur Diskussion auch die Überlebenden selbst immer wieder Kernaufgabe der AHL. In einer gemeinsa- sehr kontrovers geführt haben, setzte schon men Schriftenreihe mit der Ernst-Ludwig- mit dem Beginn des Schreibens über die Chambré-Stiftung zu Lich, „Studien und Ereignisse ein und ist bis heute aktuell. Dokumente zur Holocaust- und Lagerlite- ratur“, werden darüber hinaus Zeugnisse „Geschichte[n] bewahren, zugänglich gemacht, die erstmals publiziert erschließen, vermitteln“ werden, in Vergessenheit geraten sind oder Die Texte der Holocaust- und Lagerlitera- bisher nicht auf Deutsch vorlagen. Erschie- tur lebendig zu halten, ist ein zentrales An- nen sind in dieser Reihe seit 2015 sieben liegen der AHL. „Geschichte[n] bewahren, Bände. erschließen, vermitteln“ lautet daher ihr Eine weitere zentrale Tätigkeit der AHL ist Motto. Ein wesentliches Beschäftigungsfeld die universitäre Lehre und die Kooperati- waren von Anfang an Editions- und Publi- on mit schulischen und außerschulischen kationsprojekte, wie die „Chronik des Get- Bildungsträgern. So gehören neben regel- tos Lodz/Litzmannstadt“, die 2007 im Wall- mäßigen Gedenkstättenfahrten mit Stu- stein-Verlag herausgegeben wurde. Weitere dierenden, insbesondere des Lehramts, Editionsarbeiten folgten 2011 mit der Ver- beispielweise auch Workshops mit Schul- öffentlichung des Tagebuchs von Friedrich klassen zum Programm. Kellner „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hir- In der universitären Lehre aber auch dar- ne“, 2013 mit dem Bericht Konrad Heidens über hinaus stellt natürlich die Ausbildung „Eine Nacht im November 1938“ über den von Multiplikator*innen, der vor allem zu- Novemberpogrom bis hin zur aktuell laufen- künftig noch größere Bedeutung zukommt, den Edition der „Enzyklopädie des Gettos einen wichtigen Bestandteil der Tätigkei- Lodz/Litzmannstadt“. Ein weiteres laufen- ten dar. Denn im Hinblick auf das ‚Zeitalter des Editionsprojekt ist die Erschließung der nach den Zeitzeugen‘ stellen sich ganz neue jiddischen Zeitschrift „Fun letstn churbn“ gesellschaftliche Herausforderungen, ganz („Von der letzten Vernichtung“) in deut- wesentlich auch für den Bildungsbereich. scher Übersetzung. Dieses Publikationsvor- Haben in der Vergangenheit immer wieder haben, das von der Friede Springer Stiftung Überlebende und Zeitzeug*innen an Schu- finanziert und an der AHL von Dr. Markus len, in Seminaren sowie im Rahmen von Roth betreut wird, wird in einem eigenen Lesungen von ihren Erlebnissen berichtet, Artikel dieser Ausgabe des LaG-Magazins werden diese Gespräche nun immer selte- vorgestellt. ner möglich und müssen schon in naher Zu- Aber auch die Sammlung und Aufbereitung kunft durch andere Formen ‚ersetzt’ werden. früher Texte der Holocaust- und Lagerli- Dies kann etwa durch den zielgruppenorien- teratur – im nachfolgenden Artikel aus- tierten Einsatz der literarisch überlieferten führlicher beschrieben – ist seit 2012 eine Narrative an Schulen und darüber hinaus Magazin vom 23.10.2019 7
Zur Diskussion z. B. im Rahmen von Gedenkstättenfahrten Lodz. Begleitend zu den einzelnen Sendun- oder durch die öffentliche Auseinanderset- gen wurde von KiKA ein Chat angeboten. zung mit den Textzeugnissen in Form von Hier stand auch das Team der AHL für die Lesungen und Dialogrunden geschehen. Fragen der Kinder zur Verfügung – und Wichtig für die AHL ist daher neben der Pu- konnte über 400 Fragen bereits beantwor- blikation von Lektüreschlüsseln zu Werken, ten. die im schulischen Kontext (bereits) eine Aus der didaktischen Arbeit in Universitäts- Rolle spielen, zunehmend auch die Erarbei- Seminaren heraus entstehen auch immer tung (literatur-)didaktischer Konzepte zum wieder Abschlussarbeiten, die einen origi- Einsatz der Textzeugnisse in der schulischen nären Beitrag zur Forschung leisten. So hat und außerschulischen Bildungsarbeit. beispielsweise Nicole Widera in ihrer Staats- Gemeinsam mit Kristine Tromsdorf von der examensarbeit zum Thema „Holocaustli- Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung zu Lich teratur: Definitionsproblematik, Potenzial erarbeitet Anika Binsch von der AHL bei- und Verwendungsmöglichkeiten im Unter- spielsweise zurzeit eine Workshopeinheit richt“ eine empirische Untersuchung zum inklusive einer Handreichung für Lehrkräf- Einsatz von Holocaustliteratur im Deutsch- te zum Textzeugnis „Tagebuch 1942-1945. unterricht in Hessen unternommen. Diese Aufzeichnungen eines Fünfzehnjährigen Studie, für die sie auch als Jahrgangsbeste aus dem Holocaust“ von Michael Kraus, das (L3 – Lehramt an Gymnasien) von der Hes- 2015 als erster Band der bereits genannten sischen Lehrkräfteakademie (Prüfungsstelle Schriftenreihe erschien. Gießen) ausgezeichnet wurde, stellt sie in ei- Als Fachberater steht die AHL aktuell zu- nem eigenen Artikel dieser Ausgabe vor. dem dem MDR/KiKA für die Serie „Der Literatur Krieg und ich“ zur Verfügung.2 Die Sendun- Cernyak-Spatz, Susan: German Holocaust- gen wurden Ende August und Anfang Sep- Literature. New York (u.a.): Lang, 1985. tember 2019 bei KiKA ausgestrahlt und sind Feuchert, Sascha: Der ethische Pakt und die ab Herbst 2019 auch im Ersten zu sehen. Gedächtnisagentur Literaturwissenschaft. Im Umfeld der Ausstrahlung unterstützte Überlegegungen zu ethischen Problemfel- die AHL die KiKA-Fernsehproduktion in dern eines literaturwissenschaftlichen Um- Bezug auf inhaltliche, historische und fach- gangs mit Texten der Holocaustliteratur. In: didaktische Fragen. Prof. Dr. Sascha Feu- Lubkoll, Christine/Wischmeyer, Oda (Hg.): chert begleitete zudem die Dreharbeiten an Ethical Turn? Geisteswissenschaften in neu- den historischen Orten wie Auschwitz oder er Verantwortung. München: Fink, 2009, S. 2 Vgl. dazu auch: https://www.kindernetz.de/der- 137-156. kriegundich/sendezeiten/der__krieg__und__ ich/-/id=481164/nid=481164/did=481320/uagja6/ index.html (Stand: 29.08.2019). Magazin vom 23.10.2019 8
Zur Diskussion Weitere Informationen und Kontakt Arbeitsstelle Holocaustliteratur am Institut für Germanistik der Justus- Liebig-Universität Gießen Otto-Behaghel-Str. 10 B / 1 D-35394 Gießen Deutschland Telefon: (06 41) 99 290-93, -83 Telefax: (06 41) 99 29094 E-Mail: arbeitsstelle.holocaustliteratur@ germanistik.uni-giessen.de Internet: https://www.holocaustliteratur.de Förderverein der Arbeitsstelle Holo- caustliteratur e.V. an der Justus-Lie- big-Universität Historisches Institut – Osteuropäische Ge- schichte Prof. Dr. Hans-Jürgen Bömelburg (Vorsitzender) Otto-Behaghel-Straße 10/D 35394 Gießen www.holocaustliteratur.de/deutsch/Der_ Verein/ E-Mail:hans-juergen.boemelburg@ geschichte.uni-giessen.de Magazin vom 23.10.2019 9
Zur Diskussion Forschungsprojekt publiziert. Nicht nur Erinnerungsberichte „Frühe Texte der Holocaust- und dokumentarische Werke, sondern auch und Lagerliteratur“ Romane, Erzählungen, Gedichte und Dra- men erzählen vom Geschehenen. Von Charlotte Kitzinger Diese frühen Texte der Holocaust- und La- Ein zentrales Projekt an der Arbeitsstelle gerliteratur stehen am Anfang der Ausbil- Holocaustliteratur stellt in Zusammenar- dung des Diskursfeldes der Holocaustlite- beit mit der Universitätsbibliothek (UB) der ratur. Diese ersten Autoren wussten nichts Justus-Liebig-Universität Gießen der Auf- von Theodor W. Adornos Diktum2, von der bau einer Online-Datenbank zu den frühen späteren Gattungsdiskussion oder von der Texten der Holocaust- und Lagerliteratur Entwicklung, die die Vergangenheitsbewäl- von 1933 bis 1949 dar.1 tigung und Gedenkkultur in Deutschland Die Bedeutung der frühen Texte für nehmen würde. Es gab noch keine bekann- den Erinnerungsdiskurs ten oder etablierten Metaphern und Sym- Bereits ab 1933 erschienen im Exil parallel bole des Holocaust, keine spezifischen To- zur nationalsozialistischen Verfolgung und poi und Textkonventionen und eine damit späteren Vernichtung literarische Werke, verbundene Einreihung in eine Tradition die die vielfältigen und sehr unterschiedli- des Schreibens über den Holocaust. Mit den chen Etappen und Ereignisse des Holocaust frühen Texten wurden diese erst ‚angelegt‘ beschreiben und thematisieren. Vor allem und tradiert. Insofern waren diese Wer- aber in der Phase zwischen 1945 und 1949 ke die allerersten Versuche, Möglichkeiten wurden zahlreiche deutschsprachige Texte des Schreibens über den Holocaust aus- zuloten, eine Sprache für das vermeintlich 1 Das aktuelle Projekt „Frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur“ ist aus dem Kooperationspro- 2 1951 schrieb Theodor W. Adorno in „Kulturkritik jekt „GeoBib – Online-Bibliographie früher Holo- und Gesellschaft“, nach Auschwitz ein Gedicht zu caust- und Lagerliteratur“ hervorgegangen. An der schreiben, sei „barbarisch“. Dieser oft falsch inter- Entwicklung einer annotierten und georeferenzier- pretierte und als Diktum missverstandene Satz wur- ten Online-Bibliographie der frühen deutsch- bzw. de häufig als Verbot gedeutet, nach Auschwitz über polnischsprachigen Holocaust- und Lagerliteratur den Holocaust zu dichten und literarische Texte zu (1933-1949) zur Erforschung von Erinnerungsnarra- verfassen (vgl. Adorno 1995 [1951]: 49). Adorno tiven waren neben der AHL das Zentrum für Medi- selbst hatte den Satz in der Folge mehrfach einge- en und Interaktivität (ZMI), die Professur für Ange- schränkt und schließlich 1966 in „Meditationen zur wandte Sprachwissenschaft und Computerlinguistik, Metaphysik“ widerrufen: „Das perennierende Leiden das Institut für Geographie (alle JLU Gießen) sowie hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu das Herder-Institut (Marburg) beteiligt. Gefördert brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Ausch- wurde das Projekt von 2012 bis 2015 vom Bundesmi- witz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben“ (Adorno nisterium für Bildung und Forschung (BMBF). 1995 [1966]: 57). Magazin vom 23.10.2019 10
Zur Diskussion Unsagbare und einen Sinn in der totalen zuzuführen. Die Texte wurden in der UB di- Sinnlosigkeit zu finden. Gerade diesen Tex- gitalisiert und sind dort auch in Printform ten kommt daher ein besonderer Stellen- vorhanden. Diese Plattform wird kontinu- wert zu. Sie legen ein doppeltes Zeugnis ab: ierlich um digitalisierte vergriffene und so- Von den nationalsozialistischen Verbrechen genannte verwaiste deutschsprachige Voll- selbst, zu denen sie in unmittelbarer zeitli- texte erweitert. cher und räumlicher Nähe stehen, aber auch Online-Datenbank „Frühe Texte der von den spezifischen Entstehungskontexten. Holocaust- und Lagerliteratur“ Nach wie vor besitzt das Erinnerungsgebot Ergänzend dazu und verknüpft mit den Voll- an den Holocaust hohe politische und öf- texten erfasst die Online-Datenbank „Frühe fentliche Relevanz. Schon bald wird es je- Texte der Holocaust- und Lagerliteratur“ doch keine unmittelbaren Zeug*innen der unter http://www.fruehe-texte-holocaust- NS-Verbrechen mehr geben. Übrig bleiben literatur.de die frühen Texte der deutsch- dann ‚nur‘ noch die Texte, die von der Ka- sprachigen Holocaust- und Lagerliteratur tastrophe zeugen, diese dokumentieren von 1933 bis 1949 erstmals bibliografisch. oder erzählerisch gestalten. In weiten Teilen Die Inhalte der Datenbank lassen sich etwa sind jedoch gerade diese frühen Darstellun- nach Werktiteln, Autor*innennamen, Gen- gen vergessen und aus dem kollektiven Ge- re, Publikationsjahr, Orten und nach Verla- dächtnis gedrängt worden. Ein Großteil die- gen durchsuchen und ermöglichen so viel- ser historisch wichtigen Zeugnisse, die als fältige Rechercheszenarien. erste die Verbrechen des Holocaust und der Konzentrationslager aufgreifen, kann heute Aufgenommen werden selbstständig publi- nur mit großem Aufwand beschafft werden. zierte deutschsprachige Werke. Neben In- haltszusammenfassungen, in denen mitun- Die UB Gießen und die AHL stellen daher ter auch auf auffällige literarische Strategien in der Sammlung „Frühe Holocaustlitera- hingewiesen wird, werden Autorenbiografi- tur“ in dem Portal DIGISAM unter https:// en und Werkgeschichten bereitgestellt, so- digisam.ub.uni-giessen.de/ubg-ihd-fhl die fern solche Informationen ermittelt werden urheberrechtlich frei verfügbaren deutsch- können. Dies ist jedoch aus unterschiedli- sprachigen Werke der Holocaust- und La- chen Gründen nicht in allen Fällen möglich, gerliteratur von 1933 bis 1949 als elekt- einige der Werke sind zum Beispiel anonym ronische Volltexte der Öffentlichkeit zur erschienen oder wurden unter einem Pseu- Verfügung. Ziel ist es, gerade mit Blick auf donym verlegt, das oftmals nicht mehr auf- ihre wachsende Bedeutung nach dem ‚Zeit- zulösen ist. Daher führen (Archiv-)Recher- alter der Zeitzeugen‘, diese Zeugnisse der chen zu Werk und Autor mitunter nur zu Opfer wieder auffindbar zu machen und dürftigen oder keinen Ergebnissen. sie einer breiteren – öffentlichen, wissen- schaftlichen und didaktischen – Nutzung Im Oktober 2019 wurde die Datenbank Magazin vom 23.10.2019 11
Zur Diskussion erstmals zur öffentlichen (und kostenfrei- allgemeinen Vergangenheitsverdrängung en) Nutzung freigegeben, wird dabei jedoch anheimgefallen, zu kurz greift. Vielmehr kontinuierlich ergänzt und erweitert. zeigt sich, dass eine Auseinandersetzung Forschungsprojekte und mit dem Nationalsozialismus und der Ver- -perspektiven folgungs- und Vernichtungspolitik durch- aus stattgefunden hat und trotzdem zum Die Online-Bibliografie mit den zugängli- Ausschluss der überwiegenden Mehrheit chen Volltexten ermöglicht neue Fragestel- der Texte aus dem kollektiven Gedächtnis lungen und Forschungsfelder. Vor allem für geführt hat. die Bildungs- und lebendige Erinnerungs- arbeit kann die Datenbank einen wichtigen Um das Spannungsfeld offenzulegen, in Beitrag leisten, weshalb dieser in einem ei- dem die frühen Zeugnisse entstanden, wer- genen Artikel nachfolgend ausführlicher den Akten der amerikanischen und briti- dargestellt wird. schen Besatzungsmacht herangezogen; die Produktionsphase wird sozusagen als vorge- An der Arbeitsstelle Holocaustliteratur sind lagerte Rezeptionsphase verstanden und die aus dem Projekt heraus außerdem bislang Zusammenhänge zwischen der Publikation zwei Dissertationsvorhaben entstanden. von KZ-Texten und den kulturpolitischen Anika Binsch setzt sich in ihrem For- Zielen der beiden westlichen Alliierten wer- schungsprojekt mit der Produktions- und den erstmals detailliert offengelegt. Rezeptionsproblematik der Lagerliteratur Es werden vor allem aber auch die Texte deutschsprachiger Autoren unter westal- selbst intensiv narratologisch analysiert so- liierter Besatzung von 1945 bis 1949 aus- wie die damaligen zeitgenössischen Rezen- einander. Sie lotet aus, unter welchen Be- sionen zur Rate gezogen. Die Arbeit geht dingungen diese Texte entstehen konnten von der These aus, dass die in der offiziel- und wie sie rezipiert wurden. Die hohe Pu- len Literaturkritik der unmittelbaren Nach- blikationsrate im Angesicht der alliierten kriegszeit häufig formulierte „berechtigt[e] Besatzungs- und Medienpolitik sowie der Abwehr“ (Borchert 2015 [1947]: 498) ge- prekären Verhältnisse im Bereich der Buch- genüber den Textzeugnissen ganz wesent- produktion lässt vermuten, dass eben die- lich mit ihrer narrativen Inszenierung von sen frühen Textzeugnissen eine gewichtige Erinnerungs- und Deutungsmustern, aber Funktion zugesprochen wurde und – trotz auch ihren paratextuellen Präsentationsfor- teils rigider – Kontrollmaßnahmen durch men zusammenhängt. die Alliierten ein geeignetes Umfeld für die Veröffentlichung der Texte vorherrsch- Charlotte Kitzinger des vorliegenden Arti- te. Zudem weisen Forschungsergebnis- kels untersucht in ihrem Dissertationspro- se einschlägiger Studien darauf hin, dass jekt welche Rolle das Erzählen grundsätzlich die Argumentation, die Texte seien einer für den Menschen hat. Insbesondere geht Magazin vom 23.10.2019 12
Zur Diskussion sie aber der Frage nach der Bedeutung von Borchert, Wolfgang: Kartoffelpuffer, Gott Fiktionen über den Holocaust nach – auch und Stacheldraht. KZ-Literatur [1947]. In: und gerade für die frühen Texte. Für jede Wolfgang Borchert: Das Gesamtwerk. Hg. Form des (narrativen) Erinnerns und der v. Michael Töteberg. Unter Mitarbeit von Bewältigung von traumatischen Ereignissen Irmgard Schindler. Reinbek bei Hamburg: wie dem Holocaust – etwa in Form des Lite- Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2015, S. 497- rarisierens der Lebensereignisse – sind be- 504. stimmte grundlegende und kognitive Fähig- keiten nötig, die diese Prozesse ermöglichen und lenken. Die Arbeit untersucht anhand Über die Autorin: zahlreicher Beispiele, wie fiktionale Werke Charlotte Kitzinger ist Wissenschaftliche der Holocaust- und Lagerliteratur von dem Mitarbeiterin an der Arbeitsstelle geschichtlichen Ereignis des Holocaust und Holocaustliteratur an der JLU Gießen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die frühen oftmals von den individuellen und persönli- Texte der Holocaustliteratur von 1933 bis 1949, chen Lebensgeschichten und Traumata der fiktionale Texte der Holocaustliteratur bis in die Gegenwart sowie die Beschäftigung mit der Autor*innen erzählen. Dargelegt wird auch, grundsätzlichen Bedeutung des Erzählens für den wie diese Texte die psychosozialen Kon- Menschen. Promotionsprojekt: „Fiktionen über den Holocaust. Zu der Notwendigkeit und den sequenzen von Verfolgung, Ausgrenzung, Grenzen von Geschichten über Geschichte“. Krieg, Vernichtung und Tod narrativieren. Untersucht wird dabei, welche Ausdrucks- und Bewältigungsstrategien die Fiktion bietet und welche Bedeutung das Erzählen, Erschaffen und Gestalten von Lebenser- innerungen und historischen Ereignissen durch Geschichten haben kann. Literatur Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Ge- sellschaft [1951]. In: Kiedaisch, Petra (Hg.): Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter. Stuttgart: Reclam, 1995, S. 27-49. Adorno, Theodor W.: Meditationen zur Me- taphysik [1966]. In: Kiedaisch, Petra (Hg.): Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter. Stuttgart: Reclam, 1995, S. 55-63. Magazin vom 23.10.2019 13
Zur Diskussion Frühe Textzeugnisse in der allerdings oft wenig berücksichtigt, dass Ge- Bildungsarbeit – Datenbank schichte und Literatur eng miteinander ver- „Frühe Texte der Holocaust- bunden sind. Auch wenn mit den Zeitzeugen und Lagerliteratur“ unwiederbringlich das „Moment der verkör- perten Erfahrung“ (Assmann 2015: 74) ver- Von Anika Binsch schwindet, das gerade in der Bildungsarbeit Wie kann das bedeutsame Nachdenken und – eine sorgfältige Vor- und Nachbereitung Sprechen über den Holocaust zukünftig vorausgesetzt – bislang von besonderer Be- fortgesetzt und ein lebendiger Erinnerungs- deutung war, bleiben die Spuren, die sie un- diskurs erhalten werden? Diese Fragen ter anderem in Form von literarischen Tex- werden aktuell (wieder) intensiv diskutiert. ten hinterlassen haben. Gerade durch die Dahinter steht die Sorge, dass mit dem Ver- Einbindung der Texte in Lehr- und Lernset- schwinden der Zeitzeug*innen auch der tings können gewinnbringende Synergien Erinnerungsdiskurs verstummen könnte, zwischen historischem und literarischem zumal Erkenntnisse aktueller Studien be- Lernen für eine kritisch-reflexive Auseinan- tonen, dass das Wissen über die historische dersetzung mit der historischen Ereignisge- Ereignisgeschichte unter Jugendlichen oft schichte genutzt werden: Einerseits hilft das unzureichend sei.1 Auch das gegenwärtige Wissen über die Geschehnisse des Holocaust Erstarken von Antisemitismus und Frem- beim Verstehen literarischer Werke über denfeindlichkeit forciert die Diskussion. Verfolgungserfahrungen und die Mordpra- Die Überlegungen und Diskussionen über xis unter dem NS-Regime, über Konzentra- mögliche (neue) Konzepte, um den diversen tionslager und Gettos. Andererseits können Herausforderungen in der Bildungsarbeit zu die literarischen Texte für den Aufbau und begegnen, betreffen im Augenblick vor allem die Erweiterung eines vertieften, differen- den geschichtsdidaktischen und gedenk- zierten und individuelleren Verständnisses stättenpädagogische Bereich. Dabei wird der historischen Ereignisgeschichte einen wesentlichen Beitrag leisten. Sie machen 1 Vgl. z. B. die nicht unumstrittenen Ergebnisse der (auch weiterhin) die „humane Dimension 2017 vom Meinungsforschungsinstitut Forsa – im der Katastrophe deutlich und in Ansätzen Auftrag der Körber-Stiftung – durchgeführten re- auch nachvollziehbar“ (Benz 2009: 5). Oder präsentativen Umfrage zum Geschichtsunterricht an anders formuliert: Die literarische Indivi- deutschen Schulen. Der Ergebnisbericht zur Umfrage dualisierung kann Schicksale sichtbar und ist online verfügbar unter: https://www.koerber-stif- fassbar machen. Sie eröffnet damit Deu- tung.de/fileadmin/user_upload/koerber-stiftung/ tungs- und Verständnishorizonte, die sonst redaktion/handlungsfeld_internationale-verstaen- in der Regel verschlossen bleiben. Denn an digung/pdf/2017/Ergebnisse_forsa-Umfrage_Ge- die schriftlichen Narrative können Emotio- schichtsunterricht_Koerber-Stiftung.pdf (letzter Zu- nen geknüpft werden „und diese Emotionen griff: 03.07.2019). Magazin vom 23.10.2019 14
Zur Diskussion [öffnen] Wege […] zu ethischen Haltungen, für die Auseinandersetzung anzubieten und die sich nicht allein aus dem Wissen um die – mitunter auch widersprüchliche – Di- Unrecht speisen, sondern aus der Möglich- versität der Erinnerung aufzuzeigen. Die keit, sich emotional mit der Vergangenheit Texte stellen daher eine wichtige Quelle für in Beziehung zu setzen“ (Wrochem 2015: 7). den kritisch-reflexiven Erinnerungsdiskurs Gerade diese ‚Öffnung‘ ist für Lernende von dar: Sie zeigen nicht nur, wie das Geschehen großer Bedeutung, um zum einen nachvoll- narrativiert werden kann, sie machen auch ziehen zu können, dass „der Holocaust kein Geschichte durch und in der Literatur fass- abstraktes und unvermeidbares Geschehen bar. Der literarische Text wirkt als ‚Verklei- war, sondern das geschichtliche Ereignis nerungsglas‘ (vgl. Abram 1996: 48 f.), der von menschlichen Einstellungen, Hand- das Abstrakte auf individueller Ebene nach- lungen und Entscheidungen, die für andere vollziehbar macht und zu den unterschied- Menschen entsetzliche Konsequenzen zei- lichen Erinnerungs- und Deutungsmustern tigten“ (Feuchert/Zinn 2005: 125). Zum an- der Autor*innen führt. deren ermöglicht sie, „Kategorien zur Beur- Für wen eignet sich teilung damaliger und eigener moralischer die Datenbank? Entscheidungen“ zu entwickeln „und diese auf [das] eigen[e] Handeln beziehen“ (Heyl Zum einen richtet sich die Datenbank an 1996: 62) zu können. Lehrkräfte der schulischen und universitä- ren sowie an Multiplikator*innen der au- Die Fülle der in der Datenbank „Frühe ßerschulischen Bildungsarbeit, die sie etwa Texte der Holocaust- und Lagerlite- im Rahmen ihrer Vorbereitung von unter- ratur“ gesammelten deutschsprachigen schiedlichen Lehr-/Lernformaten nutzen Werke, die zwischen 1933 und 1949 in un- können. Mit Hilfe der bibliografischen An- mittelbarer räumlicher und/oder zeitlicher gaben und der Annotationen ist neben der Nähe zu den Geschehnissen entstanden zielgruppen- und themenorientierten Aus- und publiziert wurden und die daher die wahl von Textpassagen oder einzelnen lite- ersten literarischen Interpretationen der rarischen Werken auch die Zusammenstel- Ereignisgeschichte sind, zeigen, dass Men- lung eines bestimmten Textkorpus möglich, schen schon während des Geschehens den insbesondere durch die mit der Datenbank Wunsch hatten sowie den Drang bzw. die verlinkten und frei zugänglichen Volltexte Verpflichtung verspürten, zu berichten und der digitalen Sammlung „Frühe Holocaust- zu dokumentieren. Ähnlich einem Kaleido- literatur“ (https://digisam.ub.uni-giessen. skop kann die Vielfalt der Texte helfen, die de/ubg-ihd-fhl). (Funktions-)Zusammenhänge zwischen li- terarischem Werk und gesellschaftshistori- Zum anderen eignet sich die Datenbank schem Produktions- wie Rezeptionskontext für Lernende ab der neunten Jahrgangs- zu diskutieren, verschiedene Perspektiven stufe als kompaktes und leicht zugängliches Magazin vom 23.10.2019 15
Zur Diskussion Online-Recherchetool, das ihnen sorgfältig ermitteln. erarbeitete Informationen zur Verfügung Welches Potential bietet stellt – über das jeweilige Werk anhand die Datenbank? von bibliografischen Angaben und Inhalts- Grundsätzlich können durch die Arbeit mit zusammenfassungen und, sofern möglich, der Datenbank, mit dem dargebotenen Ma- über den*die Autor*in sowie die Werkge- terial (Zusammenfassung des Werkinhalts, schichte. Im Gegensatz zu einer Internet- Autor*inbiografien, Werkgeschichten) und suche mit Hilfe einer Metasuchmaschine den – wo urheberrechtlich möglich, direkt ermöglicht die Arbeit an und mit der Daten- bereitgestellten – literarischen Werken bank eine zielorientierte, eingegrenzte und selbst Lehr- und Lernsettings gestaltet wer- strukturierte Recherchesituation, die jedoch den. Das Material kann zielgerichtet nach bei Bedarf auch auf andere Recherchetools Informationen durchsucht und anschlie- ausgedehnt werden kann.2 Anzumerken ist ßend aufgearbeitet werden – beispielweise hier, dass es sich bei einem Großteil der Tex- zur Vorbereitung oder im Rahmen von Prä- te um nicht-kanonisierte Werke handelt, sentationen sowie schriftlichen Ausarbei- die daher teilweise bis heute kaum bekannt tungen, und zwar von Lehrenden und Ler- sind. Eine ‚gewöhnliche‘ Google-Suchanfra- nenden gleichermaßen. Zudem bietet die ge zum Werk und/oder Autor*in liefert da- Arbeit mit der Datenbank die Möglichkeit, her oftmals nur sehr wenige oder keine kon- dass Lernende selbstständig einen – sozu- kreten Treffer. sagen ‚ihren‘ – Text aussuchen. Gleichzei- Aber auch im Rahmen wissenschaftlicher tig findet die eigentliche Textarbeit (wei- Arbeit stellt die Datenbank ein geeignetes terhin) am Printmedium bzw. an dessen Informationsmedium dar. Die dargebotenen digitaler Kopie statt. Jedes Werk kann also Informationen können etwa die Erarbeitung in seiner ‚geschlossenen Form‘, in seiner von Fragestellungen aus unterschiedlichen Beschaffenheit als literarischer Text wahr- Forschungsdisziplinen unterstützen. So las- genommen, analysiert und interpretiert sen sich zum Beispiel für komparatistische, werden. Die in der Datenbank zur Verfü- (literatur-)historische, erzähltexttheoreti- gung gestellten Informationen über Autor sche, biografische und/oder gendertheo- und Werk können als Ausgangspunkt für retische Forschungen zum Holocaust ers- die Textauswahl oder für die Auseinander- te wichtige Hinweise gewinnen oder Texte setzung mit textimmanenten Merkmalen 2 Für einen Überblick über unterrichtspraktische (Aufbau, Inhalte, sprachliche Form) und/ Fragen, Potentiale, Herausforderungen bzw. Gren- oder biografischen, (literatur-)historischen, zen, die sich im Rahmen des Deutschunterrichts im rezeptionsgeschichtlichen und/oder regio- Zusammenhang mit der Internetrecherche nach In- nalgeschichtlichen Zusammenhängen die- formationen, Texten u. Ä. ergeben, vgl. die Beiträge nen oder diese zumindest zur Diskussi- in: Frederking/Krommer 2016. on stellen. Die folgenden Darlegungen Magazin vom 23.10.2019 16
Zur Diskussion verstehen sich deshalb auch ‚nur‘ als Anre- Erinnerungsbericht anders aussehen als für gungen und skizzieren, wie die Arbeit mit einen fiktionalen Text. Die Diskussion zen- der Datenbank und den Textzeugnissen in traler genretypischer Literarisierungsstra- die Bildungsarbeit eingebettet werden kann. tegien kann damit genauso Bestandteil der Das literarische Werk Bildungsarbeit sein, wie die Auseinander- als Untersuchungsgegenstand setzung mit den Funktionen und Leistungen dieser unterschiedlichen literarischen Inter- Ein wesentlicher Grundsatz bei der Arbeit pretationen für den Erinnerungsdiskurs. an und mit Werken der Holocaust- und La- gerliteratur besteht darin, dass die Texte Der*die Autor*in und sein*ihr Werk: in ihrer doppelten Eigenschaft wahr- und Biografische Annäherungen ernstgenommen werden: Sie legen Zeugnis Alle Texte, ob autobiografischer Erinne- ab über die nationalsozialistischen Verbre- rungsbericht oder Roman, sind subjektab- chen und gedenken der Opfer, sind aber hängige Interpretationen der Ereignisge- zugleich literarische Werke, deren Inhal- schichte (vgl. Feuchert 2000: 21ff.; Young te von der Perspektive des*der jeweiligen 1997: 16f.). Diese Perspektivengebundenheit Autor*in, seiner*ihrer Wahl des Textgenres birgt zwar einerseits Herausforderungen, und den Entstehungs- wie Publikationsbe- andererseits eröffnet sie Deutungs- und Ver- dingungen des Textes beeinflusst werden. ständnishorizonte, die sowohl für das litera- Daher sollten die Werke nicht nur auf ihre rische als auch historische Lernen wichtig Funktion als ‚Faktenlieferanten‘ reduziert sind. So ist beispielsweise die Einteilung von und danach befragt werden, was in ihnen Verfasser*innengruppen über ihre Stellung erzählt wird. Vielmehr sollte immer auch zum Geschehen nicht immer ganz eindeutig. analysiert werden, wie sie das Geschehen Insbesondere wenn die NS-Häftlingskatego- darstellen und welche Literarisierungsstra- rien berücksichtigt werden, da hier stigma- tegien sie verfolgen (Feuchert 2000: 211). tisierende, diskriminierende und vor allem Die Inhaltszusammenfassungen bieten hier- individuelle Selbstbilder als überdeckende für oftmals erste Ansatzpunkte, da auffällige Fremdbeschreibungen fortgeführt werden oder charakteristische narrative Strategien (können). Zugleich beeinflusste aber die angemerkt werden. Darüber hinaus zeigt Stellung des*der Verfasser*in zum Gesche- die Textsortenvielfalt, dass es viele ver- hen seine*ihre Erfahrungen, die schließlich schiedene Formen gibt, um sich sowohl als im und durch den literarischen Text vermit- Autor*in als auch als Leser*in mit der Ereig- telt werden. Die Skizze der Autor*inbiografie nisgeschichte auseinanderzusetzen. Daher bietet hier Informationen, um die Perspek- sind auch Fragestellungen denkbar, die das tive des*der Autor*in, seine*ihre zeitliche jeweilige Textgenre in den Mittelpunkt stel- und räumliche Verbindung mit den Ge- len oder aber die damit jeweils verbunde- schehnissen sowie seinen kulturellen und nen Leser*innenerwartungen, die für einen familiären Hintergrund offenzulegen. Dies Magazin vom 23.10.2019 17
Zur Diskussion kann als Ausgangspunkt für die Analyse und Anfang der 1940er Jahre wird beispiels- Diskussion dienen, inwiefern die Perspek- weise oftmals an das Ausland appelliert, tive des*der Autor*in seine Interpretation die NS-Verfolgungs- und Vernichtungs- der Ereignisse beeinflusst hat, die textintern maschinerie zu stoppen. Werke, die nach etwa durch die Verwendung von Metaphern, 1945 entstanden und veröffentlicht wurden, Allegorien und (intertextuellen) Vergleichen zeichnen sich häufig durch eine dokumen- sichtbar wird. Fallweise reichen die Skizzen tierende und aufklärende Funktion aus. Sie der Autor*inbiografien auch über die Zeit greifen zum Beispiel eine Schreckensepiso- der Gefangenschaft hinaus, wodurch mitun- de des Lageralltags exemplarisch heraus, da ter auch das Leben ‚davor‘ sowie das ‚Leben „das ‚Leben‘ in den Vernichtungslagern als nach dem Überleben‘ in den Blick genom- Ganzes zu grausam und kaum darstellbar men werden kann. war“ (Feuchert 2012: 227). Darüber hinaus wollten viele Autoren*innen mit ihren Wer- Text und Kontext ken oftmals einen Beitrag zum demokrati- Die Skizze der Werkgeschichte des jeweiligen schen Wiederaufbau Deutschlands leisten. Textes bietet Informationen über seine Ent- Auffällig ist hierbei, dass zwischen 1933 und stehungs- und/oder Publikationsbedingun- 1949 in einer nicht unerheblichen Anzahl gen sowie über seine Rezeptionsgeschichte. vor allem sogenannte politische Häftlinge Daher können zum einen Zusammenhänge als Autoren*innen auftraten. Während ei- zwischen Produktionskontext, Autor*in so- nige Textzeugnisse aus der jüdischen Opf- wie Art und Weise der literarischen Dar- erperspektive erscheinen konnten, fehlen stellung untersucht werden. Zum anderen Werke von Autor*innen der anderen Ver- lassen sich Wechselwirkungen zwischen li- folgtengruppen, wie der Sinti und Roma, terarischem Werk und gesellschaftlichem der Homosexuellen oder der sogenannten Publikationskontext offenlegen. Gerade die ‚Kriminellen/Berufsverbrecher‘. Dies ist nur Fragen danach, ‚wann‘ und ‚wo‘ geschrie- ein Indiz dafür, dass auch nach 1945 Stig- ben wurde, sind neben der Frage, ‚wer‘ ‚wie‘ matisierung, Diskriminierung und Ausgren- schreibt, nicht nur für die konkrete Text- zung weit verbreitet waren – und teilweise deutung, sondern auch für das allgemeine bis heute bestehen. Weiterführend können (literatur-)historische Lernen wichtig. solche Beobachtungen ein Ausgangspunkt Der Zeitpunkt und der Ort, an dem ein*e für die Auseinandersetzung mit Kanonisie- Autor*in seinen Blick literarisch auf das Ge- rungsprozessen und dem Erinnerungsdis- schehen richten konnte oder wollte, präg- kurs sein. te nicht nur seine*ihre Perspektive, son- Ortspezifisches bzw. dern oftmals auch die Funktion, die er*sie regionalgeschichtliches Arbeiten/ mit seinem*ihrem Text verbunden hat. In Lernen anhand der Texte den publizierten Werken der 1930er und Mit Hilfe der Datenbank lässt sich Magazin vom 23.10.2019 18
Zur Diskussion außerdem ortsspezifisches und/oder regio- Benz, Wolfgang: Wenn die Zeugen schwei- nalgeschichtliches Arbeiten und Lernen auf gen. Anmerkungen zu einem seit langem ak- unterschiedliche Art und Weise realisieren. tuellen Problem. In: Dachauer Hefte (2009), Ausgangspunkt kann dabei beispielswei- H. 25, S. 3-16. se die Biografie des*der Verfasser*in sein. Feuchert, Sascha: Fundstücke. Bemerkun- Aber auch die im Text erwähnten Leidens- gen zu Darstellungskonventionen und para- stationen können als Referenzpunkte her- textuellen Präsentationsformen früher Tex- angezogen werden. Vor allem im Rahmen te deutschsprachiger Holocaustliteratur. In: von Exkursionen in Gedenkstätten ehemali- Butzer, Günter/Jacob, Joachim: Berührun- ger Konzentrationslager bietet sich die Ein- gen. Komparatistische Perspektiven auf die bindung eines Textes oder mehrerer Werke frühe deutsche Nachkriegsliteratur. Mün- oder einzelner Passagen an, denn gerade in chen: Wilhelm Fink, 2012, S. 217-230. solchen Lernkontexten entstehen Synergien Feuchert, Sascha/Zinn, Katja: Multipers- zwischen dem historischen Lernen vor Ort pektivität als Kernkonzept eines didakti- und dem literarischen Text. Der historische schen Umgangs mit Holocaustliteratur. In: Ort kann durch die unterschiedlichen Nar- Duncker, Ludwig/Sander, Wolfgang/Suhr- rative ‚zum Sprechen‘ gebracht werden. kamp, Carola (Hg.): Perspektivenvielfalt im Unterricht. Stuttgart: Verlag W. Kohlham- mer, 2005, S. 125-144. Feuchert, Sascha: Einleitung. In: Feuchert, Sascha(Hg.): Holocaust-Literatur Ausch- Literatur witz. Für die Sekundarstufe I. Stuttgart: Reclam, 2000 (=Arbeitstexte für den Un- Abram, Ido: Erziehung und humane Ori- terricht, Reclams Universal Bibliothek, Bd. entierung. In: Abram, Ido/Heyl, Matthias: 15047), S. 5-41. Thema Holocaust. Ein Buch für die Schule. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1996, S. 11- Feuchert, Sascha: Arbeitsvorschläge. In: 60. Feuchert, Sascha(Hg.): Holocaust-Literatur Auschwitz. Für die Sekundarstufe I. Stutt- Assmann, Aleida: Die Erinnerung an den gart: Reclam, 2000 (=Arbeitstexte für den Holocaust. Vergangenheit und Zukunft. In: Unterricht, Reclams Universal Bibliothek, Rathenow, Hanns-Fred/Wenzel, Birgit/We- Bd. 15047), S. 211-225. ber, Nobert H. (Hg.): Handbuch National- sozialismus und Holocaust. Historisch-po- Frederking, Volker/Krommer, Axel/Möbius, litisches Lernen in Schule, außerschulischer Thomas (Hg.): Digitale Medien im Deutsch- Bildung und Lehrerbildung. Schwalbach/ unterricht. Baltmannsweiler: Schneider Ts.: Wochenschau Verlag, 2013 (=Politik Verlag Hohengehren, 2016 (=Deutschunter- und Bildung, Bd. 66), S. 67-78. richt in Theorie und Praxis, Bd. 8). Magazin vom 23.10.2019 19
Zur Diskussion Heyl, Matthias: „Erziehung nach Auschwitz“ und „Holocaust Education“. Überlegungen, Konzepte, Vorschläge. In: Abram, Ido/Heyl, Matthias: Thema Holocaust. Ein Buch für die Schule. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1996, S. 61-164. Wrochem, Oliver von: Die zeitliche Distanz zu den NS-Verbrechen als Herausforderung für die Bildungsarbeit zum Nationalsozialis- mus. In: Gedenkstättenrundbrief (2015), H. 179, S. 3-14. Young, James: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997 (=suhr- kamp taschenbuch, Bd. 2371). Über die Autorin: Anika Binsch ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Arbeitsstelle Holocaustlitera- tur an der JLU Gießen und leitet dort den Bereich „Didaktische Vermittlung und Kooperation mit Schulen“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind frühe Texte der Holocaust- und Lagerliteratur von 1933 bis 1949, insbesondere von 1945 bis 1949, sowie Holocaust- und Lagerliteratur im Bildungskontext. Promotionsprojekt: „‚Taube Ohren und harte Herzen‘ – Produktions- und Rezeptionsproblematik der Lagerliteratur deutschsprachiger Autoren unter westalliierter Besatzung 1945 bis 1949“. Magazin vom 23.10.2019 20
Zur Diskussion Stimme/n der Überlebenden. erkannte die Möglichkeiten und wollte sie Die Zeitschrift nutzen. Im November 1945 rief er dazu auf, „Fun letstn churbn“ Material zu sammeln und Zeugnis abzule- gen. Jeder Überlebende sei ein lebendiger Von Markus Roth Schatz, „ein Zeuge und eine Quelle, die ex- Ein wichtiges Dokumentationsprojekt zur trem wichtiges Material zur Verfügung stel- Shoah war die jiddische Zeitschrift „Fun let- len kann, das absolut unerlässlich ist, um stn churbn“ / „Von der letzten Zerstörung“1. eine grobe Geschichte der vergangenen Pe- Gemeinsam mit Frank Beer wird an der riode zu konstruieren“2. Kaplan mahnte zur Arbeitsstelle Holocaustliteratur, finanziert Eile, denn es war absehbar, dass sich dieses durch die Friede Springer Stiftung, eine Zeitfenster durch die Abwanderung der DPs vollständige deutschsprachige Edition die- bald schließen würde. ser Zeitschrift vorbereitet. Noch im November 1945 wurde die Zent- Motivation und Ziele rale Historische Kommission beim Zent- ralkomitee der befreiten Juden*Jüdinnen Die ersten Nachkriegsjahre boten denjeni- in der amerikanischen Besatzungszone gen, die sich um eine Dokumentation des gegründet. Ziel war es, unter der Leitung Holocaust – der damals freilich noch nicht von Moshe Feygenboym Material für künf- so hieß – bemühten, einmalige Chancen. In tige Historiker*innen zu sammeln. Die den DP-Camps lebten an einem Ort Überle- Zeitschrift „Fun letstn churbn“ sollte die bende aus aller Herren Länder zusammen, Sammlungstätigkeit unterstützen und die die über ihren Alltag, die Verfolgung und Überlebenden motivieren, zu schreiben und Ermordung der Juden*Jüdinnen in ihren Dokumente zur Verfügung zu stellen. Neben Heimatorten und in zahllosen Gettos und einer Leserschaft in Deutschland wollte Ka- Lagern Zeugnis ablegen konnten und viel- plan auch all jene erreichen, die außerhalb fach auch unbedingt wollten. Aber es gab des NS-Herrschaftsbereichs gelebt hatten, auch gegenläufige Tendenzen – die Abkehr damit diese Informationen aus erster Hand von der Vergangenheit, das Vergessen-Wol- erhalten. len oder Nicht-Sprechen-Können. Feygenboym benannte in der ersten Aus- Israel Kaplan, ein Historiker aus Riga, gabe ein weiteres Ziel. Er sah allerorten 1 ‚Churbn‘ ist die damals gebräuchliche jiddische Be- eine Ignoranz der Shoah gegenüber oder zeichnung für Holocaust bzw. Shoah. Sie geht zurück ein Herunterspielen der Verbrechen. Er auf die Zerstörung des Ersten und des Zweiten Tem- schrieb: „Zwar haben die Siegermächte eine pels in Jerusalem. Da es im Jahr 1946 im Deutschen 2 Die Zitate aus der Zeitschrift folgen der Überset- weder die Bezeichnung ‚Holocaust‘ noch ‚Shoah‘ gab, zung nach dem Stand vom Juli 2019. Die Übersetzun- wird der Titel hier übersetzt als „Von der letzten Zer- gen aus dem Jiddischen haben Susan Hiep, Sophie störung“. Lichtenstein und Daniel Wartenberg angefertigt. Magazin vom 23.10.2019 21
Sie können auch lesen