Wald gegen Wild - Stefanie Hablützel
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Wald gegen Wild JAGD. Der Klimawandel setzt den Schutzwäldern zu. Neue Baumarten würden helfen, doch gegen die Wildtiere haben sie keine Chance. Braucht es mehr Abschüsse? TEXT: STEFANIE HABLÜTZEL | FOTOS: NIK HUNGER 90 Prozent der Jungbäume haben keine Chance, Die Wildtiere hinterlassen Zerstörung: sagt Förster Karl Ziegler. Grosse Teile des Bündner Walds sind zerfressen.
E in milder Frühlingstag im Dom- Andere Bergkantone haben ähnliche Pro- leschg. Revierförster Karl Ziegler bleme. Im Kanton Bern ist der Einfluss des kurvt mit seinem Jeep die Wald- Wilds auf 37 Prozent der Schutzwaldfläche strasse hinauf. Unter der Son- kritisch bis untragbar. Das Wallis will wegen nenblende klemmt ein weicher Waldschäden die Anzahl Hirsche senken, im Tannenzweig, der Nikotinersatz des 56-Jäh- Aletschgebiet gar halbieren. rigen. «Das zergeht im Mund, der Duft!» Was Für die Schutzwälder zahlt der Bund jähr- der Förster mag, schmeckt in den kargen lich 70 Millionen Franken, 16,7 Millionen Wintermonaten dem Wild besonders gut. allein an Graubünden (Stand 2018). Ob diese Der Schutzwald gleich oberhalb des Dörf- Gelder ihren Zweck erfüllen, überprüft das chens Scheid ist sein Sorgenkind. Der Wald Bundesamt für Umwelt mit Stichproben. sieht schön aus, alte Bäume ragen in den «Der Bund verfügt momentan über keine Himmel. Ziegler zeigt aber auf den Boden, flächendeckenden Daten zum Zustand des auf eine 30 Zentimeter kleine Fichte, und Schutzwaldes einzelner Kantone.» Eine fragt: «Wie alt ist sie?» Er antwortet gleich Übersicht sei aber in Entwicklung. selbst: «Der verkrüppelte Baum ist 20 Jahre In Graubünden gelten heute 39 Prozent alt. Er wurde immer wieder verbissen.» der Schutzwälder als vermindert stabil, fast Ein paar Schritte weiter: das Skelett eines 5 Prozent als kritisch. Wenn der Wildbe- Baums, an dem ein Hirsch sein Geweih ge- stand so hoch bleibt, wird es teuer. Das zei- rieben hat. Dann eine Lärche mit abgenagter gen sogenannte monetäre Bewertungen; die Rinde, nutzlos baumeln Kunststoffbänder Methode wurde kürzlich mit dem Alpinen daran. Nichts hat gegen das Wild geholfen. Schutzwaldpreis ausgezeichnet. «Die Arbeit von sieben, acht Jahren – für die Drei Berechnungen sind zugänglich. Für Katz!», sagt Ziegler. 90 Prozent der Jung- den überalterten Schutzwald bei Klosters bäume hätten keine Chance. «Das Wild soll beispielsweise rechnet man mit Zusatzkos- und darf die Vegetation nutzen, aber es hat ten von 1,6 bis 3,4 Millionen Franken in den einfach zu viel.» Experimentiert Klarer Unterschied: nächsten 50 Jahren. Wenn man die Berech- Der 56-Jährige überblickt 30 Jahre Wald- mit «klimafitten» Ein Zaun verdeutlicht nungen auf alle Schutzwälder mit grossem geschichte. Er kennt die Diskussion über Bäumen: Förster die Schäden, die das bis sehr grossem Wildeinfluss hochrechnet, zu hohe Hirschbestände aus den 1980ern. Dominik Mannhart Wild anrichtet. zeigt sich, dass der Kanton in den nächsten Weil damals mehr geschossen wurde, ver- 50 Jahren rund eine halbe Milliarde Franken besserte sich die Situation, bis 2005. Seither zusätzlich investieren müsste – für Zäune, leide der Wald. tert. Sie fressen zarte Tannentriebe, Baum- Auf der digitalen, nicht öffentlichen Wild- Wildschutzmassnahmen, Verbauungen. 9,3 Weiter zum nächsten Schutzwald, hoch knospen und Rinde von Jungbäumen, die einflusskarte sind weite Teile von Nord- und Hirsche vermehren Diese Zahl weist der stellvertretende Kan- über dem Tal. Eingezäunt von Maschendraht, in der Folge absterben. Das ist dramatisch: Mittelbünden orange bis tiefrot eingefärbt. tonsförster Urban Maissen zurück. Die Hoch- drängen sich junge Weisstannen. Sie sind Fast 40 Prozent der Schutzwälder wachsen Das bedeutet, dass dort einzelne oder alle sich stark rechnung sei «nicht zulässig» und im Mo- 17 Jahre alt – und bis zu zwei Meter gross. Millionen Franken haben der deswegen nicht mehr richtig nach. Und die Baumarten komplett ausfallen. Im Prättigau Entwicklung der Anzahl Rot ment auch nicht nötig, «weil wir davon aus- Ziegler und seine Mitarbeiter hatten das Bund, der Kanton Graubünden Klimakrise verschärft das Problem. Denn bis zu 80 Prozent. Diese Einschätzung hatte hirsche im Kanton Graubünden gehen, dass wir die Probleme lösen werden». Stück abgetrennt. «Ohne etwas zu pflanzen.» und Waldeigentümer in das Wild frisst ausgerechnet die Bäume weg, das Forstamt bis zur Beobachter-Anfrage für in den letzten 20 Jahren. Monika Frehner, ETH-Dozentin und Mit- Geschützt, wachsen die Bäume prächtig. den letzten zehn Jahren aus die es künftig braucht. sich behalten (siehe Karte, nächste Seite). Förster möchten den Bestand verfasserin der Studien, fände eine kanto- INFOGRAFIK: BEOBACHTER/SEE | QUELLEN: AMT FÜR WALD UND NATURGEFAHREN GR, EIDGENÖSSISCHE JAGDSTATISTIK Ein paar Schritte weiter gibt es keine gegeben, um die Bäume vor Der Aufruf im «Bündner Wald» hatte Wir- auf 10 000 begrenzen. nale Abschätzung wichtig: «Bereits die ers- prächtigen Jungbäume. Ziegler zeigt auf dem Wild zu schützen: kung, aber nicht die erhoffte. Der «offene Gesetzliche Mission. Die Zahlen kennt auch ten monetären Bewertungen zeigen, dass eine kürzlich gekeimte Weisstanne – zu Brief einiger Revierförster» helfe nicht, den Robert Brunold, Präsident des Bündner 20 000 Gemeinden mit Millionenkosten rechnen 16 500 klein, um gefressen zu werden, «mehr als Konflikt mit der Jagd zu lösen. Im Gegenteil, Patentjägerverbands. Als Mitglied der neun- müssen, wenn das Wild nicht weniger wird.» fünf Zentimeter wird eine Tanne hier nicht». Vorwürfe der Förster. Im letzten Herbst hat 112 Kilometer Wildzäune die Problemlösung werde «erschwert», sagte Reto Hefti, Leiter des Amts für Wald und Naturgefahren (AWN), zu einer Lokal- köpfigen Jagdkommission berät er die Regierung. Er sagt: «Im Schutzwald haben wir gewisse Probleme.» Es wäre wohl bereits 15 000 10 000 11 000 Baum-Experimente. Zu Besuch im Schutz- wald Prau Pign in der Gemeinde Rhäzüns. eine Gruppe Förster Politik und Verwaltung zeitung. Kooperation statt Konfrontation sei vor etwa acht Jahren sinnvoll gewesen, die Das Gelände ist steil, sonnig und trocken – wurden aufgestellt. in einem Artikel im «Bündner Wald» scharf der richtige Weg. Aber selbst Hefti gab zu: Abschusszahlen zu erhöhen, «aber das soll 5000 Bedingungen, wie sie mit der Klimaerwär- angegriffen. «30 Jahre – und kein bisschen Die wildbedingten Probleme seien «besorg- kein Vorwurf an das Amt sein». Grundsätz- mung häufiger werden. Seit zehn Jahren weiter!», titelten sie. Die üppigen Wild bestände hätten zu «katastrophalen Zustän- den» geführt, Rehe, Gämsen, aber vor allem zu viele Hirsche. 16 500 statt 10 000, wie die 1,7 Millionen Baumspitzen wurden niserregend». Man sei in den letzten Jahren «viel weitergekommen», aber «noch nicht am Ziel». lich sei viel Wild attraktiv für die Jäger, «dann ist die Chance grösser, etwas zu er- legen». Über allem stehe jedoch der gesetz- liche Auftrag. 0 1998 2018 experimentiert hier Förster Dominik Mann- hart mit Arten wie Bergahorn, Bergulme, Linde, Mehlbeere. Jeder einzelne Schutz- baum wächst in einer Baumschutzhülle auf. Kantonsregierung 1986 bestimmt hatte. mit Vergällungsmitteln vor «Beunruhigend.» Ein interner Bericht des Im eidgenössischen Waldgesetz steht: Das ist nötig. Ausgerechnet die «klima- Parlament und Regierung vernachlässig- Verbiss geschützt. AWN fürs Jagdinspektorat von 2019 zeigt, wie Die Kantone müssen die Zahl der Wildtiere fitten» Baumarten sind Delikatessen für die ten den Wald sträflich. «Die Bühne wird weit entfernt dieses Ziel ist. Die Lage im Prät- so begrenzen, dass «die Erhaltung des Wal- zwei Dutzend Gämsen, die hier leben. «Sie 13 400 Jagdplanern und Wildbiologen überlassen, tigau sei «äusserst beunruhigend», «gross- des, insbesondere seine natürliche Verjün- haben schon Tausende Jungbäume weg- die den Erfolg ihrer Arbeit nicht am Zustand flächige Probleme» gebe es in der Region gung mit standortgerechten Baumarten, gefressen», sagt Mannhart. Er bestätigt aus des Walds messen, sondern an der Anzahl Rheintal-Schanfigg. Im Domleschg sei die ohne Schutzmassnahmen gesichert ist». der Praxis, was 2016 die Publikation zum Tiere, die den Jägern in ihren Jagdgebieten Stämme wurden umhüllt. Situation weitgehend «untragbar», die Falls die Vorgaben nicht erfüllt werden, zehnjährigen Forschungsprogramm «Wald bereitgestellt werden können.» Schutzfunktion des Waldes könne «unter müsse der Kanton Wald-Wild-Konzepte und Klimawandel» festhielt: Die hohen 16 500 Hirsche, 13 500 Rehe und 23 000 dem vorherrschenden Wildeinfluss langfris- samt Massnahmenkatalog erstellen. Das ist Wildbestände seien «ein grosses Hindernis» Gämsen haben im Bündnerland überwin- tig nicht sichergestellt werden». in Graubünden in allen Regionen nötig. für einen klimaangepassten Wald. 40 Beobachter 8/2020 Beobachter 8/2020 41
les chg Rhäzüns forderte den Kanton vor vier Jahren deshalb auf, das Rudel zu erlegen. «Es war ein Hilfeschrei», sagt Gemeindeprä- Klosters Chur sident Reto Loepfe. Regierungsrat Mario Rhäzüns Cavigelli habe kurz darauf die Situation per- Scheid sönlich angeschaut, die Gemeinde Rhä- züns dann aber wissen lassen, dass «dies überall im Kanton vorkommt und die Wildhüter die Sache nicht lösen können». Letztes Jahr, nach einem weiteren Brief der Gemeinde, bewilligte das Amt für Jagd und Fischerei dann doch den Abschuss von einem Drittel der Gämsen. Ähnlich harzig lief es mit dem Verbot der Wildtierfütterung. Sie schadet dem Wald, denn die Tiere verbeissen im Umkreis der Futterkrippen die Bäume besonders stark. Noch 2016 wollte die Regierung nichts von einem Verbot wissen, schwenkte aber auf massiven Druck des Waldeigentümerver- bands Selva dann doch noch um. Regie- Winter, mehr Wald und fettere Wiesen hät- rungsrat Mario Cavigelli meinte bloss: Die Da ist der Wald ten die Reproduktion «schleichend» ange- Diskussion habe gezeigt, dass es auch von kurbelt. Rückblickend habe man während Seiten der Jägerschaft kräftigen Support in Gefahr Jahren deshalb die Abschusspläne zu tief gebe und man damit gern diesem «allgemei- So gross war der Einfluss der angesetzt, manchmal auch nicht erfüllt. nen Anliegen» Rechnung trage. Wildtiere 2019 in Graubünden. Auch in der Debatte um den Wolf geht es gering: Der Wald kann Jedes Jahr zählt. Dank neuen Jagdregeln letztlich um den Schutzwald. Gemäss dem gesund nachwachsen. konnten die Hirschbestände wenigstens neuen Jagdgesetz, über das noch dieses stabilisiert werden. 2019 schossen die Jäger mässig bis erheblich: Jahr abgestimmt wird, dürfen die Kantone dafür 5470 Hirsche, in Regionen mit Wald- Die Verjüngung ist gestört. Erste «zur Verhütung von Schaden» in Zukunft schäden bis zu 60 Prozent weibliche Tiere. Baumarten verschwinden. Wölfe schiessen lassen – noch bevor ein Viel mehr ist laut Jagdinspektor Arquint gar einziges Schaf gerissen wurde. Aber auch gross bis sehr gross: nicht möglich: «Mit 5500 Hirschen sind wir wenn sie den Jägern zu viel Beute weg- Das Wild verhindert, dass an der Grenze des Machbaren.» Die Hoch- schnappen. einzelne bis alle Baumarten jagd liege eigentlich ungünstig im Septem- Die Bedenken gegen den präventiven Ab- nachwachsen. ber, Hirschjagd brauche Schneewetter. schuss des Wolfs, die der Schweizerische Sobald aber während der Nachjagd im 38,4 Forstverein und die Gebirgswaldpflege November und Dezember Schnee liege und gruppe äusserten, wurden im Parlament es in der Nähe der Dörfer knalle, hagle es nicht einmal diskutiert. Und das, obwohl Proteste. Intensivieren wolle man jedoch Forschungsergebnisse darauf hindeuten, Prozent der Bündner Wälder die Jagd auf die Rehe, die auch einen gros- dass Grossraubtiere den Wald schützen. sind mindestens sen Einfluss hätten. «Wenn ein Schutzwald im engeren erheblich betroffen. Nachbar Liechtenstein geht nun weiter. Kerngebiet von Grossraubtieren liegt und Im Februar beschloss die Regierung ein dieser Wald für Luchs und Wolf gut zugäng- umfangreiches Massnahmenpaket zur Wald- lich ist, dann dürften sich diese lokal positiv verjüngung. Besonders heikle Schutzwälder INFOGRAFIK: BEOBACHTER/SEE | QUELLE: AMT FÜR WALD UND NATURGEFAHREN GR auf die Baumverjüngung auswirken», sollen «gams- und reharm», die Anzahl Hir- formuliert Andrea Kupferschmid von der sche halbiert und die Lebensräume für die Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Tiere verbessert werden. Der Bericht zeigt Landschaft vorsichtig. Viele Fragen seien «im Rahmen einer konservativen Schätzung» aber noch offen. auf, was Nichtstun das kleine Land kostet: mindestens eine halbe Milliarde Franken für Abschuss bewilligt. Besuch beim vom Bund Verbauungen plus 15 Millionen jährlich für für seine Jagdplanung oft gelobten Bündner den Unterhalt. Amt für Jagd und Fischerei. Es entscheidet, Für den Schutzwald zählt jedes Jahr. was und wie viel die 5500 Bündner Jäger Wenn sich die Schweiz so viele Wildtiere und Jägerinnen schiessen dürfen. «Es war leisten wolle, müsse sie wenigstens den nie unser Ziel, die Hirschbestände ansteigen Preis dafür kennen, findet Samuel Zürcher, zu lassen», sagt Jagdinspektor Adrian Ar- Leiter der nationalen Fachstelle für Gebirgs- quint. «Von 2012 bis 2016 waren wir immer waldpflege: «Die Gesellschaft muss ent- einen kleinen Schritt zu spät», räumt Jagd- Manchmal helfen alle scheiden, was ihr wichtiger ist: sehr hohe planer Hannes Jenny ein, «weil wir nicht Schutzmassnahmen nichts: Wildbestände oder längerfristig funktio gemerkt haben, dass die Post abgeht.» Milde abgekaute Bergulme nierende Schutzwälder.» 42 Beobachter 8/2020
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