Wann ist eine soziale Innovation innovativ? - Der erkenntnistheoretische Status eines "Index der Non-Exklusion" als Fluchtpunkt ...
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Frank Schulz-Nieswandt Wann ist eine soziale Innovation innovativ? Der erkenntnistheoretische Status eines »Index der Non-Exklusion« als Fluchtpunkt gesellschaftspolitischer Orientierung
Frank Schulz-Nieswandt Wann ist eine soziale Innovation innovativ? Der erkenntnistheoretische Status eines »Index der Non-Exklusion« als Fluchtpunkt gesellschaftspolitischer Orientierung
Inhalt Seite Vorwort Narratives Präludium: Postmoderne Diskurse ohne Anker Vorbemerkungen Einleitung 1. Thematische Kontexte und kulturmutative Transformationsperspektiven 1.1 Stationäre Sonderwelten - Quo vadis? 6 1.2 Sozialwirtschaft freier Träger - Quo vadis? 66 1.3 Kommunale Steuerung 1.4 Die De-Isolierung der Alterspolitik und die gesellschaftspolitische Generalisierung der Problemanzeige 2. Ein Index der »Non-Exklusion« für eine Suchmaschine von Innovationen 2.1 Der Index als erkenntnistheoretische Problematik 2.2 »Vermessung« der sozialen Wirklichkeit? 2.3 Folgen für die Strukturqualitätsfixiertheit der Regulationsregime 2.4 Transformatives Recht 3. Digitalisierung: Kultur sozialer Interaktionen bei eingebauter Substitutionsprothetik 4. Makulaturdesign und modische Zyklen 5. Partizipationsgeschehen als Innovation? 6. Die Desiderata einer Kritischen Theorie der Innovativität von sozialen Innovationen 7. Dichte Vertiefungen 7.1 Was ist Inklusion? 7.2 Was ist der Index (I)? Prozessstruktur-Performance 7.3 Was ist der Index (II)? Gestalt-Metamorphosen 7.4 Inklusion und Postmoderne 8. Fazit und Ausblick 9. Die Frage des Gegenstandes der Applikation Literatur 3
Vorwort pelung mit der Haltung der angebotenen (ange- drohten) Hilfe. Die Paternalismus-Problematik (Düber, 2016; Adam-Paffrath, 2016; Schmidt, 2016) ist offensichtlich. Das Alter wird zum Ob- Der Text ist im Rahmen der Begleitung einer Ar- jekt der fürsorglichen Begierde. Diese Haltung beitsgruppe eines Projektteams entstanden, das ist immer noch aus der Position einer Defizit- im KDA ein DHW-gefördertes Projekt zum Scree- theorie des Alters heraus motiviert. Aus dem ning von innovativen Ideen, Projekten und Initia- archaischen »Elterngebot« (Köckert, 2007b) des tiven im Bereich der »Alter(n)shilfe« bearbeitet. Katalogs der »Zehn Gebote« (Köckert, 2007a) Zentrale Ideen und das Argumentationsgebäude im Alten Testament wird eine diskriminierende des Textes wurden dort zur theoretischen Fun- Reinfantilisierung des Alters, dessen Vulnerabili- dierung eingebracht und diskutiert. So sind dann tät (Stöhr u. a., 2019) als Argument bis hin zur aus- auch infolge dieser fruchtbaren Gespräche kriti- grenzenden »Kasernierung« (Schulz-Nieswandt, sche Kommentare und plausible Anregungen so- 2021c)1 dienen muss. Offensichtlich kann eine wie sprachliche und technische Korrekturen aus falsch verstandene Kultur der Fürsorge zur Politik diesen Diskussionen in die vorliegende Abhand- des »soziales Todes« führen. Eine humangerechte lung eingegangen. Die fachliche Begleitung durch lebensverlaufsorientierte Alternssozialpolitik als das KDA übernahmen Tatjana Frei, Caroline Reh- Gesellschaftsgestaltungspolitik sieht anders aus ner, Christine Freymuth und Ingeborg Germann. (Schulz-Nieswandt, Köstler & Mann, 2021a). Die Abhandlung ist aber nicht nur in diesem Sprache spielt in der Lektüre der vorliegenden Ab- Projektbezug zu verstehen. Der Beitrag soll den handlung sicherlich auch nochmals in anderer Wei- vom KDA geführten Fundamentaldiskurs einer se eine Rolle. Dass die Sprache des Textes nicht ein- radikalen Neuorientierung der Altershilfe als Teil fach ist, ist hiermit gar nicht in erster Linie gemeint. der Sozialpolitik als Teil der gestaltenden Gesell- Wie immer wird die Reaktion auf die Textperfor- schaftspolitik fortführen. mance der Abhandlung gemischt sein. Aber nicht nur die Kompliziertheit des Textes ist auch ein Spie- Schon der Begriff der »Altershilfe« ist erneue- gel der Komplexität der Problematik. Entscheidend rungsbedürftig. Das meint keine oberflächliche dürfte vielmehr sein: Die Wege aus den Sackgassen Sanierung der Fassade. Der Begriff muss sub- der etablierten Pfadabhängigkeit (Kempski, 2013) stituiert werden. Innovationen beginnen im- der Praxis (des Denkens oder auch der Ignoranz, mer auch in der Sprache, denn Sprache ist die der interpretativen Wahrnehmung oder auch des Grundlage von Sprechakten (Krämer, 2001). Wegschauens oder Verdrängens und des Tuns oder Und Sprechakte schaffen soziale Wirklichkeit. auch des Unterlassens) erfordern zu Beginn eines Das Denken spielt sich in der Welt der Sprache Wandels als Transformation der Kultur des Um- ab. Das kann auch nonverbaler Art sein und gangs mit dem komplexen Phänomen des Alterns Formen der Bildsprache (Schmitt, 2017) – die ganz neue Sichtweisen, die eben auch neue Arten Bedeutung von Methapern sind zu einem der des verstehenden Lesens der neuen Sichtweisen er- großen Themen der Philosophie wie auch der fordern. Der transformative Wandel der Kultur des Sozialforschung geworden – annehmen. Radika- Sozialen beginnt in den Köpfen, wobei der Geist ge- les und somit kritisches Denken muss sich also trübt sein kann von der Abgründigkeit der Seele im auch in einer entsprechenden Sprache zum Aus- Sinne der modernen Psychodynamik (Schulz-Nies- druck bringen. Der Begriff der »Altershilfe« ist wandt, 2020e) und der Körper aus Hygieneangst mehrfach problematisierbar. Aus der Sicht der und Ekel (Schulz-Nieswandt, 2021a) ausgrenzend differenziellen Gerontologie (Schulz-Nieswandt, auf soziale Distanz geht. Damit bestimmt dennoch 2020f) spricht die Heterogenität des Alterns (die nicht das Bewusstsein das Sein, denn das Denken ist inter- wie intra-individuelle Varianz) und des Al- und bleibt immer »standortgebunden«, wie es die ters (die »Vielfalt der Gesichter«) gegen die pau- moderne Wissenssoziologie in Anlehnung an den schale Redeweise von dem Alter. Die Redeweise soziologischen Klassiker Karl Mannheim (Barboza, von »dem Alter« isoliert auch eine Altersklasse. 2015) formuliert. Das Bewusstsein bestimmt nicht Damit stigmatisiert sie, vor allem in der Verkop- das Sein, sondern ist aus der Einbettung in dem ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 1 Zu dieser Dramatik unter Corona-Bedingungen vgl. auch vor dem Hintergrund von Schulz-Nieswandt (2021a): Schulz-Nieswandt, 2020m; 2021b. 4
Sein als epochaler wie zeitgeschichtlicher Sinnhori- großer Bedeutungsweite, weil die Kultur des sozi- zont seiner Sozialisation heraus zu verstehen, weil alen Miteinanders das Thema ist. Das KDA vertritt das Bewusstsein immer inkorporiert ist im »ver- keine Marktinteressen, keine Parteiprogramme gesellschafteten Subjekt« (Geulen, 1977; Schulz- und keine Kirchenmachtpolitik. Wissenschaftliche Nieswandt, 2021f). Der Mensch ist in diesem Sinn Redlichkeit und soziale Empörung schließen sich immer „Kind seiner Zeit“. Was das Individuum ist, nicht aus. So naiv wird hier das berühmte Theorem ist es immer infolge seiner jemeinigen »Paideia« der Wertfreiheit der Wissenschaft nicht vertreten. als edukative Formung zum Subjekt (Hurrelmann Kritische Wissenschaft ist der Würde und somit ei- u.a., 2018), das da denkt, interpretiert und han- ner Gesellschaftsidee verpflichtet, die helfen will, delt. Doch bleibt die Freiheit dennoch das Wesens- auf das Ziel der solidarischen Kultur der Chancen- merkmal des Menschen. Denn er kann sich auch gleichheit auf Freiheit »Aller« hinzuwirken. Daran anders orientieren und wandeln. Seine Plastizität ist die soziale Wirklichkeit zu messen. (Schwarte, 2015) ist evolutionär ein dominantes Merkmal. Und er kann sich selbst zum Thema einer Und damit bin ich mitten im Thema der vorlie- Metareflexion machen, was Helmuth Plessner „ex- genden Abhandlung: Wann ist eine Innovation zentrische Positionalität“ (Fischer, 2016) nannte. Er innovativ? Und wann ist sozialer Fortschritt fort- kann sich selbst hinterfragen, in Frage stellen und schrittlich? »selbsttranszendierend« neue Wege gehen, die Pfadabhängigkeit überwinden. Das kann er auch Die Abhandlung wird keine handwerklich brauch- im Sinne des kollektiven Tuns, wenn er den Wandel baren Antworten in mobiler Kofferform bieten. kooperativ gestaltet. Ziel ist es, die navigatorischen Perspektiven neu einzustellen. Man muss die richtigen Fragen in Der Text und seine Textur wird also viel einfacher richtiger Art und Weise stellen, dann hat man zu verstehen sein, wenn sich die Rezeption öff- zwar nicht sogleich die passenden Antworten, net, die eigenen Routinebahnen des Denkens aber den Schlüssel, um einen dunklen Raum auf- einklammert, den Käfig der jemeinigen Interes- zuschließen und sodann auszuleuchten. Die In- sen einklammert und bereit ist, nicht im Jetzt der vestition des Denkens in diesen »Schlüsseldienst« Gegebenheiten zu denken, sondern Wege zum hat seinen Preis, ist also kein »free lunch event«. erwünschten Noch-Nicht zu gehen. Das gilt auch Aber es ist eine produktive Umweginvestition. Es für die Wissenschaft, die sich nicht hinter kompli- erleichtert - fundamental mehr noch: ermöglicht zierten Methoden des Empirismus verstecken darf überhaupt erst - den weiteren langen Weg der und sich mit dem fragilen Argument der Wertfrei- Antwortsuche und Lösungsfindung. heit der Wissenschaft den Schutzanzug des Positi- vismus umhängt (Schulz-Nieswandt, 2018b). Auch Die Diskussion des Textes in der besagten Arbeits- Wissenschaft ist zur Verantwortung aufgerufen. gruppe hat eine grundlegende Frage aufgeworfen. Auf welches Was und Wen bezieht sich die ganze Oberflächlich betrachtet ist es die Sprache und Analyse einer Werte-orientierten Indexikalisierung die Verschachtelung der Sätze, sodann die un- eigentlich? Welche Objekte werden in das skalie- gewöhnliche Länge für ein solches Diskussions- rende Visier genommen? Welche Zielgruppe mit papier, das anstoßen und abstoßen mag. Doch welchen Lebenslagen und somit Bedarfen ist die leicht verständlich sind oftmals solche Texte, die Bezugsgruppe der Analyse? Diese Frage ist vollstän- nichts Neues erzählen. Dann ist die Erzählung dig berechtigt und hat dazu geführt, dass noch ein leicht nachzuvollziehen, weil ja alles bekannt ist. weiterer Abschnitt (Kapital 9) am Ende der Abhand- Das Problem liegt in diesem Fall eher in der Gefahr lung aufgenommen wurde, der diese Applikation begründet, über das allzu, ja sattsam Etablierte behandelt. Denn es könnte der Eindruck entstehen, der routinemäßigen Wahrheitsspiele nicht aus dass sich vor dem Hintergrund neuer Diskursbeiträ- bequemer Langeweile heraus einzuschlafen. Das ge des KDA (Schulz-Nieswandt, 2020j; Klie, Ranft KDA will aber auf einem der Sache angemessenen & Szepan, 2021) das Thema auf die Pflegepolitik – theoriefundierten Niveau und dennoch politisch insbesondere auf die kritische Analyse des Sektors engagiert sowie moralisch kohärent Werte-orien- der stationären Langzeitpflege (Schulz-Nieswandt, tiert den Diskurs vorantreiben. So ein Ansinnen 2020b; 2021b) – zentriert. Das ist aber nicht der Fall. gelingt nicht ohne Evokation des Ärgers. Doch Kapitel 9 wird dies explizieren. zur Polis gehört die Streitkultur und es sollte nicht um enge Interessen gehen, sondern um Ideen von 5
Narratives Präludium: ten Testament und seinem Umfeld gut kennen müsste – meint: „Gottes Wege sind unergründ- Postmoderne Diskurse ohne lich … Aber es kommt der Tag …“ Anker 3) Der marxistisch orientierte Student der Philo- Um einen Zugang zu finden will ich zu Beginn eine sophie – Ernst Blochs „Das Prinzip Hoffnung“ fiktive Situation ausmalen und fabuliere2 eine Dis- (Ueding, 2016; Simons, 1983) unter dem Arm kussion unter Studierenden z. B. auf einer Wiese und noch kürzlich mit Giorgio Agambens Rö- des Universitätsgeländes der Universität zu Köln merbrief-Auslegung (Finkelde, 2007) beschäf- zwischen den Vorlesungen. Die Bühne steht da- tigt – interveniert: „Wir dürfen nicht auf das mit. Lebensweltlich wird ein Raum betreten, der Jenseits warten: In der Geschichte der Mensch- zunächst kaum etwas mit dem zu behandelnden heit selbst ist das Reich Gottes zu gründen …“ Themenkreis zu tun haben mag. Doch ist es mit Blick auf die Altersbilder, die die Kultur der Be- 4) Der von Friedrich August von Hayek (Karabelas, gegnung und des sozialen Umgangs mit dem Al- 2010, Brodbeck, 2001) begeisterte neo-liberale ter im gesellschaftlich geprägten Generationen- Student der Volkwirtschaftslehre betont, dass gefüge prägen, nicht ohne Reiz, sich Bilder von er alles nochmals ganz anders sieht: Die Welt der Jugend zu machen, auf deren Gegenwart ja wäre schon längst überbevölkert, wenn all die- die Zukunftserwartungen basieren. se Kinder nicht früh versterben würden. Male ich nun die Geschichte aus: Es geht um die 5) Da eilt ihm der Theologiestudent zur Valida- globale Flüchtlingsdebatte (Friese, 2017; Schulze tion des Arguments zur Seite: „Seht Ihr, das Wessel, 2017). Auch hier geht es um den homo pa- ist (Hegel [1970] wohl nicht kennend) die List tiens in seiner Vulnerabilität. Und es geht um die der Weltgeschichte, vom unbewegten Bewe- uralte Frage nach der Kultur der sozialen Prakti- ger eingewebt in die unergründlichen Wege, ken des »Asyls« (Dreher, 2003; Wagner, 2009), von denen ich sprach: Gott hat gegeben, Gott wie wir mit dem fremden (Reuter, 2010) Mitmen- nimmt auch wieder (Hiob, 1, 20-22).“ Die Pro- schen (Löwith, 2013) umgehen. bleme (Müller, 1995; Schüßler & Röbel, 2013), die die Theologie mit der Problematik des Wie verläuft nun die Debatte der Debatte in die- „Tun-Ergehen-Zusammenhangs“ und dem Lei- sem kleinen informellen Kreis? den (Benini & Eusterschulte, 2021) des Men- schen als Problem der Theodizee (Gerlitz u. a., 1) Auftritt der ersten Protagonistin des Dreh- 2002) hat, verschweigt er dabei.4 buchs: „Hört ihr die Kinder weinen …?“ (de- Mause, 1992) bringt die Studentin der Heil- 6) Der Philosophiestudent, der sich etwas in der pädagogik ein, die sich mit der Kultur- und analytischen Sprachphilosophie auskennt, Psychohistorie der Kindheit (hierbei geht es weist darauf hin, dass der Theologiestudent um Menschenrechte3, die uns nachfolgend vor entweder in einem Auslandssemester in Del- allem in Bezug auf das höhere Alter interessie- phi ausgebildet worden sein müsse oder er den ren) beschäftigt, aktuell aber die Flüchtlings- logischen Widerspruch nicht verstünde: Die kinder – doch die Komplexität des Flucht- und Wege Gottes seien doch unergründlich, habe Asylthemas, das dahinter steht, wird in der der Theologiestudent doch behauptet. fiktionalen Geschichte von den Akteuren gar nicht aufgerufen – auf Lesbos meint. 7) Nun mischt sich der Student der Rechtswissen- schaft ein und argumentiert: „Leute, lasst Euch 2) Der orthodoxe Student der katholischen Theo- erklären. Andere Länder, andere Verhältnisse, logie – der das Thema Flucht und Asyl (bzw. andere Sitten: Es gilt eben immer das jeweilige des Exils: Maeding & Siguan, 2017) aus dem Al- Recht.“ Er, der von Gustav Radbruch (Borows- ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 2 Keine Fabel im engeren Sinne: Fischer, 2007. 3 Exemplarisch sind die Themen der Beschneidung (Wermke, 2014; Göttsche, 2020) und Zwangsverheiratung (Riano & Dahinden, 2010) von Mädchen (Klimke, 2019). Das vorliegend behandelte Thema ist generalisierter Art und betrifft den Menschen über den gesamten Lebenszyklus hinweg. Hier wird die Auffassung vertreten, dass diese Universalität auch in kulturübergreifender Pers- pektive Relevanz aufweist. 6
ki & Paulson, 2015) nie etwas gehört hat, weil der Markt der Meinungen schon die Welt des Gu- er das sogenannte Geschwafel der rechtsphi- ten, des Schönen, des Wahren? Hier waren alle losophischen Vorlesungen nicht mag, ahnt partizipierend in selbstbestimmter Weise dabei. nicht, dass er als Rechtspositivist durchaus tief Jedoch sind die Konfliktlinien offensichtlich: in philosophische Kontroversen verstrickt ist. a) Die Studentin der Heilpädagogik fühlt sich von Ihm fehlt jegliche Nähe zur Haltung der Empö- der männlichen Dominanz ausgegrenzt und in rung der Marburger Schule des Neu-Kantianis- ihrer tiefen Empathie gekränkt. mus (Sieg, 2016). Er trägt es arrogant (Badura & Kreuzer, 2014) vor, nur halbbewusst mer- b) Der orthodoxe Theologe erinnert sich an ei- kend, dass er damit Rache an Dritten nimmt, nen Index der verbotenen Bücher und träum- aber die Studentin der Rechtswissenschaft, te wehmütig von besseren, aber vergangenen Hermine ist ihr Name, treffen will, die ihn kürz- Zeiten, als die Welt noch geordnet war; aber er lich argumentativ geplättet hatte, da sie um war großmütig: Er vergab die verschiedenen Bücherberge belesener war als er. Varianten der Sünden. Den Hayek-Schüler fand er aber interessant, was er später in einer auf- 8) Ein Psychologiestudent in der Runde merkt geklärten Predigt einbringen könnte. davon nichts, weil er a) den Fall nicht genau kennt und b) ohnehin nichts von der Psycho- c) Der Bloch-Kenner kennt solche Diskurse: Er sei dynamik hält. der nette, aber naive Träumer. Wenn er über 30 Jahre alt sei, würde sich das bekanntlich le- 9) Da meldet sich, die Debatte beendend, aber gen, wenn er nicht dumm sei.7 Die Bücher von dabei alle etwas im Ungewissen haltend, wie Erich Kästner könnte er lesen: Sie würden ihn er das wohl gemeint haben könnte, der Stu- trösten, um innerlich stark zu bleiben und sei- dent der Humanities5 und legt dar: Er habe nen Charakter nicht zu verlieren. Da er davon von diesen Problemen des Elends in der Welt nichts ahnt, fühlte er sich etwas einsam, selbst keine rechte Ahnung: Er schalte immer recht- in der Gruppe, besser: gerade in der Folge des zeitig die Nachrichtensendung ab. Das war für Geschehens in der Gruppe. alle wieder typisch: Meinte er das ernst oder als bösartigen Witz, wohl möglich kritisch ge- d) Sogar der Psychologie-Student hat fast ein meint? Sprach er über sich oder ironisch über »Aha«-Erlebnis (um das die psychologische einen Teil der Anderen?6 Forschung, aber auch der berühmte und mit- unter berüchtigte Volksmund weiß): Er spürte Das fiktionale Erzählstück ist eine imaginierte doch gewisse Spannungen, schlug aber vor, in Welt der Diversität. Dabei geht es nun gar nicht den Biergarten zu wechseln. um die Diversität im modernen sozialtheoreti- schen Sinne, wobei u. a. Generationenunterschie- e) Die erwähnte Studentin der Rechtsphilosophie8 de oder ethnische Differenzen wirksam werden. wird wohl wissen, dass sie in diesem Kreis die Innerhalb einer Generation ist infolge der diszipli- Komplexität der Spannungen vergrößert hätte9, nären Zugänge zur Welt eine Vielzahl der Auffas- eine Gefahr, die ja durch die Flucht in den Bier- sungen gegeben. Diese verdichten sie offensicht- garten vermieden wurde. lich zu Haltungen. Die Frage ist nun: Ist Buntheit ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4 Immerhin - noch später in Goethes Faust aufgegriffen - behandeln auch einige griechische Tragödien von Aischylos und Euripides das Verhältnis des menschlichen Leidens zur göttlichen Vorsehung bzw. Ordnungsgebung. Doch in mythologischer Komparatistik versteht der Theologiestudent sich eben auch nicht. 5 Er hätte sich weiter oben zum Thema Flucht und Asyl (Barboza u. a., 2016; Friese, 2014, 2017; Fleischmann, 2020; Devlin, Evers & Goebel, 2021; Dinkellaker, Huke & Tietje, 2021; Kukovetz, 2017; Johler & Lange 2019; Schulze Wessel, 2017; Klepp, 2011) melden können. 6 Die Leserschaft sei in der Lektüre dieser fiktionalen Geschichte angeregt, sich die Charaktere der jungen Menschen selbst noch etwas weiter auszumalen. 7 https://falschzitate.blogspot.com/2019/07/wer-mit-20-jahren-nicht-sozialist-ist.html. Tag des Zugriffs: 16. Februar 2021. 8 Hier wird nochmals deutlich, dass die fiktionale Geschichte Sozialtypen auf professionsbezogener Basis konstruiert. Die impli- zite Annahme kollektiver Deutungsmuster der Professionen ist hier der Freiheit der Erzählkunst geschuldet. Mag sein, dass das Problem eher auf einer individualisierten Grundlage der Vielfalt der Meinungen zu verstehen ist. Dann jedoch bleibt ein anderes Problem bestehen: Wie steht es um die Reflexion des hinreichenden Grundes einer Meinungsbildung? 9 Allerdings mit der Möglichkeit zu Schwierigkeiten Mehrheitsbildungen in der figurativen Feldbildung, deren hegemoniale Domi- nanzkämpfe (kumuliert mit Gender-Code-Dekonstruktionen) Positionen der Insider und Outsider generiert hätten. 7
Vielleicht wären sogar Freundschaften zerfallen, ment hin, es wäre ja eine Win-Win-Situation, da die allerdings nie wirklich welche waren. Doch auch Arbeitsplätze geschaffen und die konsum- hierbei taucht die Idee einer »wahren« Freund- tiven Sehnsüchte der Verbraucher*innen durch schaft auf: Und Wahrheit ist in dieser Diversitäts- neuartig gefüllte »Produktregale« in den Kauf- kultur, die offensichtlich in kollektiv akzeptierte häusern (Lindemann, 2015) und Online-Shops Ignoranz mündete, ein unangenehmes Thema der erfüllt werden? Besteht die größte Innovation klassischen, also längst untergegangenen Mo- darin (Haug, 2009; Drügh, Metz & Weyand, 2011), derne. Man lebe in der Postmoderne: »Anything wenn das Jahr eine permanente Weihnachtsver- goes« und »All is possible«. anstaltung der Kathedralen des Konsums ist? Wie sieht tatsächlich die Sozialbilanz im Lichte eines Warum diese fiktionale Geschichte? Sie erzählt erweiterten gesellschaftlichen Rechnungswesens von der Schwierigkeit, sich ein gemeinsam ge- aus? Oder ist diese Kritik naive (weil angesichts teiltes Bild von einem Problem zu erarbeiten. In der faktischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte der vorliegenden Abhandlung wird ja die Frage [Zimmermann, 2015; König, 2013] als Moderni- interessieren, wie Innovation zu verstehen sein sierung »rückwärtsgewandte«) Kulturkritik (Brie- wird bzw. was unter Fortschritt validiert gemeint sen, 2020)? Jedenfalls ist auch der Gesundheits-, sein mag. Diese Schwierigkeit der Findung kollek- Pflege-, Bildungs- und Sozialsektor des sonstigen tiv geteilter Auffassungen bezieht sich scheinbar »Sozialklimbim« und »Sozialgedöns« dem Sog wertneutral, als rein analytisch auf die Diagnose der digitalen Kapitalisierung ausgesetzt. »Anti- der Ursachen, ist aber (weil Kausalität und Schuld Aging« ist das Dispositiv dieser kollektiven Well- und Verantwortung der Schuld verknüpft werden) ness-Gesellschaft. Aus dem Ekel – das Pflegeheim schnell eine normative Herausforderung: Wie um- der alten Körper stinkt nach schleichender Verwe- gehen mit dem Problem als Herausforderung? sung – wird aus der Angst vor der eigenen zukünf- tigen Involviertheit (Schulz-Nieswandt, 2021a; Der Diskussionsverlauf der fiktiven Erzählung ge- 2021c) mittels einer Fülle von gouvernementalen nerierte eine Vielfalt der Meinungen. Aber wo soll Selbsttechnologien der Kult der ewig schönen denn hier das Problem sein? In der liberalen Gesell- Jugend als Heros der Produktivität ritualisiert ze- schaft ist dies Ausdruck der Demokratie. Demokra- lebriert. Der Kapitalismus erweist sich hier – die tie als Markt der Meinungen? Doch geht es hier um Tradition der Kontroverse um den »Kapitalismus Grundrechte des Menschen in einem menschen- als Religion« aufgreifend – in eigentümlicher Wei- rechtskonventionellen Sinne. Ist die Würde des se als liturgische Produktionsweise. Menschen individuelle Ansichtssache? Gibt es kei- ne Wesensaussagen über die Natur des Menschen, In dieser Welt des Habenwollens als neurotische die die Grundlage der Meinungsbildung bilden? Praxis von Objektbesetzungen als Ersatzhandlun- gen für gelingende Daseinsführung zählt alles als In der Welt der individualisierten Meinungen geht Innovationen, was eine in Marktpreise bewertete die Ankerfunktion von Kernelementen eines ver- Umsatzdynamik (Lepenies, 2013) aufweist. Ist das bindlichen Menschenbildes – die Rede ist von Wohlstand? Lebensqualität? Daseinswahrheit? der Personalität (als »Dritter Weg« des Denkens und der Gesellschaftspolitik jenseits von Indivi- Was ist Fortschritt? Auf welcher Bahn verläuft dualismus oder Kollektivismus) als Idee der »hei- der Fortschritt? Eine Bahn als strukturierter Ent- ligen« Ordnung der Würde der Person (Schulz- wicklungsraum braucht einen Ausgangspunkt, Nieswandt, 2017c; Möbius, 2020) als Telos der von dem die Kurve (als mittlere Linie eines Inter- Geschichte des Menschen (Schulz-Nieswandt, valls) der Reise in die Zukunft verläuft. Wann ist 2020d) – verloren. Damit fehlt aber auch ein Kom- ein Fortschritt eigentlich ein Rückschritt? Oder pass, der orientieren hilft. ein Fehltritt? Und vor diesem Hintergrund - im vorliegenden Text also erst nach einigen Seiten Damit ist der Gang der Argumentation an das - wird der zentrale Begriff des Titels der Abhand- zentrale Thema und an die Kernfragestellung der lung aufgegriffen: Was ist eine Innovation, die vorliegenden Abhandlung angelangt: Was sind den Fortschritt treibt? Wann ist eine Innovation Innovationen? Wie kann die Innovativität von In- innovativ? Woran kann man die Innovativität ei- novationen bestimmt werden? Ist eine Innovation ner Innovation »messen«? Es geht also darum, dann innovativ, wenn sie neue Märkte und neue dass empirische (im Sinne von faktisch getrof- Gewinndynamiken generiert? Reicht das Argu- fenen) Aussagen („Es geht voran!“, „Es wird bes- 8
ser!“; „Wir sind auf einem guten Weg!“ etc.) ohne auf Kindeswohl einerseits und des („natürlichen“) Skalierung aus der Perspektive eines prädikativen Grundrechts der Eltern auf die Erziehung ihrer Referenzpunktes bedeutungslos (sinnlos) sind. Kinder andererseits gehen. Gerade deshalb sollen Der geschichtsteleologische Fluchtpunkt des so- ja Konzepte, wie die der Sozialraumorientierung, zialen Wandels ergibt sich entlang der Bahn der der Empowerment-Orientierung im Sinne der Be- Entwicklungskurve aus dem »normativen« Aus- fähigung von familialen Settings im Rahmen par- gangspunkt. tizipativer Hilfeplanung etc., als problemlösende Innovationen dienen. Dass es dazu auch Innova- Kann sich das KDA mit einem werterelativisti- tionen in dem Programmcode der Ämter und im schen Fortschrittsverständnis abfinden? Keine Habitus (Eylmann, 2015) der Professionen bedarf, Angst! Die gesellschaftliche Ordnung soll nicht sei angefügt. – wie in der idealen Staatsidee von Carl Schmitt – den Staat als Kirche auf der Grundlage einer Die Selbstvermessung (der Lebensführung) des kanonischen Dogmatik, von der sodann das all- Individuums mit digitalen Apps gilt heute als In- tägliche Denken und Wahrnehmen sowie der ge- novation. Doch wie vermessen wir die Innova- samte Alltag von Kultus und Ritus reguliert wird, tivität solcher Vermessungsinnovationen? Mag entworfen werden. Die Moderne des säkularen eine Präventionsidee sogar in Präventionsterror Rechtsstaates hat mit diesem Wahrheitsspiel im umschlagen? Wird die Idee des produktiven, er- Namen der Freiheit gebrochen. Doch basiert mit folgreichen Alter(n)s (Schulz-Nieswandt, 2021d) den Ideen von 1789 die Freiheit auf der univer- nicht unterschwellig codiert durch eine Kultur salistischen Gleichheit der Chancen »Aller«, die sozialdisziplinierender Kontrolle? Was treibt ei- ohne Solidarität nicht möglich ist. Die moderne gentlich diese unkritische Akzeptanz jeder Neu- Gesellschaft ist in ihrem Wunsch auf soziale Ver- erung als Innovation, wonach das Mögliche auch wirklichung an diesem Funktionszusammenhang das »Gute, Wahre, Schöne« sei? Geht es nicht um quasi-transzendental gebunden. den fetisch-artigen Ökonomismus unserer Pro- duktionsweise, die sich als Wechselwirkung von Dient der soziale Wandel, der als Fortschritt zu Wunschmaschine (Nachfrage im Horizont der klassifizieren sein soll, diesem Bild vom Men- Bedürfnisse des Habenwollens) und Wunscher- schen als Person, also der Idee der Personalität füllungsmaschine (Angebot als Raum der unbe- als Grundlage einer Gesellschaft der »Miteinan- grenzten Möglichkeiten) aufschaukelt? derfreiheit im Modus der Miteinanderverantwor- tung«? Korrelieren Innovationen immer nur mit der Ent- deckung neuer Märkte in Verbindung mit neuen Verantwortungsethisch wird die Antwortfindung Geschäftsmodellen (Wendt, 2016)? Der Innova- – man denke an die digitale Transformation oder tionsbegriff ist an solche Geldmaschinen gebun- konkret an Pflegerobotik oder an (sogenannte den. Reicht es, die Versorgungslandschaften im »gouvernementale«) »self-tracking«-Strategien Kern nur als Marktinnovationsdynamik voranzu- und andere Selbsttechnologien im Namen der treiben. Etwas Neues, noch nicht Anwesendes, Dispositive der Schönheit, der Gesundheit, der aber Imaginierbares denken zu können und als Jugend, der Produktivität etc. ausfallen. Ambi- Vorstellung zu wollen, gehört zur evolutionären valenz ist ein Begriff, der Mindeststandards kriti- Ausstattung des Menschen (Eibl, 2009; Blumen- scher Reflexion ermöglicht, doch wird man einige berg, 2014). Die Versorgungslandschaften müs- Schritte weitergehen müssen. Es geht nicht nur sen als Aufgabe der öffentlichen Daseinsvor- um die Alltagsweisheit, dass alle Dinge immer sorge (Schulz-Nieswandt, 2019a) als fördernde zwei Seiten haben. Die zwei Seiten können in Gewährleistung der bürgerschaftlichen Genos- einem unauflösbaren Zielkonflikt stehen. Dann senschaftlichkeit der Gemeinde aus den Klauen wird es tragisch, denn, wie auch immer man sich der Märkte zurückerobert werden und als Sorge- entscheidet: Man wird »schuldlos schuldig«. Es geschehen von der (erodierenden) Lebenswelt kann zu Fragen der Verhältnismäßigkeit kom- (Blumenberg, 2010; 2015; Mumford, 1981) – nicht men. Dabei kann es auch um die Abwägung zwi- vom etablierten System (und der Logik der öko- schen verschiedenen Grundrechten kommen. Um nomischen Zweckrationalität und der regulativen z. B. eine Daseinsthematik jenseits des Fokus der Verwaltungslogik: Kreutzer & Remmers, 2010) vorliegenden Abhandlung zu wählen: Es kann um her (Schulz-Nieswandt, 2019c) – phantasiert wer- Abwägung zwischen dem Grundrecht des Kindes den. Sorgelandschaften sind in ihrem kulturellen 9
Code letztlich nicht vereinbar mit der Rendite- neutischen Fallbezug statt in der Maschinenlogik Geldmaschine der Kapitalanlage. Die Politik des [Remmele, 2003] von Verrichtungen am Men- würdevollen Alter(n)s als »Kultur«politik – we- schen: Hülsken-Giesler, 2008; Lanius, 2010) ist. der Volks- noch Hochkultur im Sinne der Künste Einst vergruben Menschen alter Kulturen ihre To- meinend – zu verstehen, meint, dass die Gesell- ten unter dem Fußboden des Wohnhauses, um schaft als Miteinander der Individuen sich ande- die bösen Geister zu kontrollieren. Heute kon- re Würde-zentrierte Altersbilder – genau dieser trollieren wir das Alter in Formen des »sozialen Raum der Entwicklung neuer Altersbilder ist ein Todes« (Hasenfratz, 1982) durch Ausgrenzungen konstitutives Beispiel für notwendige Innovati- schon bevor wir sie begraben haben. So wie es onsprozesse – machen muss und aus dieser res- uns (vergessend: Reik, 1920) an einem positiven pektvollen Quelle der Wahrnehmung heraus ge- Ahnenkult (Müller, 2016) als Erinnerungskultur trieben zu andersartigen sozialen Praktiken im (Cornelißen, 2003) unserer eigenen Entstehung Umgang mit dem Alter kommen muss, wobei das und unseres eigenen Werdens zunehmend man- Alter nicht Objekt der Für-Sorge (auf der Basis der gelt, so werden wir selbst einmal entsorgt wer- Mindeststandards des »Sauber, satt, sicher, still«- den. Wo bleibt die Einsicht in die uralte »goldene Dispositivs) ist, sondern durch anregende Umwelt Regel«? Das Alter gehört in die Mitte des Lebens. (Lenz, 2012) »aktualisiertes« Subjekt (im herme- Sogar der Tod gehört dorthin. 10
Vorbemerkungen schritt e. V.11 gegründet. 1936 geschlossen, wur- de sie 1949 wieder neu eröffnet. Nun feiert die „Zeitschrift für Sozialen Fortschritt. Unabhängi- ge Zeitschrift für Sozialpolitik“, die von der Ge- Die Erzählung einer imaginierten Szene im obi- sellschaft für Sozialen Fortschritt (über eine Her- gen Präludium hat eine lange Vorgeschichte. ausgeberschaft mit Beirat) herausgegeben wird, Der Mythos um Antigone (Steiner, 2014) macht 2021 ihr 70jähriges Bestehen und somit ihren 70. dies deutlich. Sieht man die Beerdigung des Bru- Jahrgang des Erscheinens nach der Unterbre- ders als Frage der Würde des Menschen in seiner chung vor 1945. identitätsstiftenden Welt im Sinne der Einbin- dung in Familie und Religion, so ist das Handeln Persönlich war und bin ich der Gesellschaft bis des im König verkörperten Rechts der Polis (mit heute eng verbunden. Meine ersten Aufsätze Blick auf den politischen Verrat des Bruders von (Schulz-Nieswandt, 1989) konnte ich dort seit Antigone) ebenso geltungsbedürftig und Huldi- Ende der 1989er Jahre (insgesamt über 20 Bei- gung heischend: Recht der Familie versus Recht träge) veröffentlichen. Bald rückte ich als junger des Staates, archetypischer formuliert: Natur Privatdozent für „Sozialpolitik und Sozialökono- gegen Zivilisation? Primäres Recht gegen sekun- mik“ in die Vorstandsarbeit nach. 1999 bis 2009 däres Recht? Es soll (und kann auch) gar nicht war ich Vorstandsvorsitzender und wurde so- die ganze Breite und Tiefe der diesbezüglichen dann zum Ehrenvorsitzenden berufen. Mir folg- »Arbeit am Mythos« (vgl. auch Kuehs, 2015) te mein Freund Werner Sesselmeier; heute liegt aufgegriffen und eingebracht werden. Hätte die Verantwortung bei Aysel Yollu-Tok. hier ein Kompromiss gefunden werden können? Ist Antigones Verlangen teilbar gewesen? Hät- Vieles wäre hier nun zu erzählen. Ich will mich te die Polis »vergeben« können? Aber können auf einen Punkt konzentrieren, der für das vorlie- Staat und Recht eine Praxis des Vergebens gende Thema bedeutsam sein mag. Ich führe die praktizieren, ohne die Idee des Rechts der Polis Problematik dieser Zeitschrift hier an, um an ihr und somit die Polis insgesamt in Frage zu stellen? abermals exemplarisch ein Spannungsfeld der Das Recht regelt das soziale Miteinander. Was, aufgeworfenen Frage zu exemplifizieren. Wann wenn Antagonismen auftreten? Müssen dann und warum ist Fortschritt fortschrittlich? Früher Präferenzen gewichtet werden? Doch was, war die Zeitschrift bei aller Wissenschaftlichkeit wenn es nicht um Präferenzen geht, sondern (allerdings immer in der erwünschten transdisiz- um heilige Axiome? Noch bei Freud in der plinären Verbundenheit zur politischen Praxis) Theorie des intra-individuellen Arbeitsapparates ein Forum für fachpolitische Meinungsbildung. wird der Konflikt nicht harmonisch aufgelöst, Heute ist die Zeitschrift („German Review of sondern zu vermitteln versucht: in Gestalt Social Policy“) stärker durch Beiträge metho- eines agonalen Feldes von Begierde und disch kontrollierter empirischer Fundierungen Über-Ich. Die konservative Traditionslinie der geprägt, ohne allerdings Werte-orientierte Dis- Familiensoziologie hat dies erkannt und die kussionen zu meiden und wirtschafts- und so- Familie zur »Keimzelle« des Staates erklärt. Kri- zialordnungspolitische Diskurse zu führen. Das tische Theorie erkannte hier aber die Einschrei- ist angesichts des ambivalenten, zum Teil mehr bung der Dispositive der mystischen Autorität als fragwürdigen Kulturwandels der deutschen (Derrida, 1991) in die Ich-Bildung, damit das Ich Universität (Schulz-Nieswandt, 2021e) ein wert- „Herr im Hause“ sein kann.10 zuschätzender Erfolg aufrechter Haltungspfle- ge. Die Zeitschrift hat ihre Interdisziplinarität Ich will als Zugang zur Problematik des Themas bewahrt. Auch sind die Themenfelder breit. Die noch einen weiteren anderen Umweg gehen. Zeitschrift ist also nicht in einen reinen Empiris- Persönlich habe ich noch einen anderen Weg zur mus oder in modellplatonistische Theologemen- Frage nach dem Sozialen Fortschritt hinter mir. arbeit der Ökonomie als Beweismathematik ab- 1901 wurde die Gesellschaft für Sozialen Fort- geglitten. ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 10 Antigone verkörpert also mit der Beerdigung ihres Bruders das Ringen um eine soziale Innovation in einem Gesellschaftssystem der Polis. Das Ausbalancieren zwischen dem Begehren nach Veränderung und einer feststehenden normativen Ordnung des regu- lativen Systems stellt den Grundkonflikt dar. 11 https://de.wikipedia.org/wiki/Gesellschaft_für_sozialen_Fortschritt. Tag des Zugriffs: 10. Februar 2021. 11
Dennoch, und deshalb bin ich diesen besagten Frage einer werte-orientierten, substantiel- Umweg zur Themeneröffnung nochmals ge- len Füllung der Form (u. a. Schulz-Nieswandt, gangen: 2018a) eine Herausforderung (Kergel, 2021). Dies gilt für Beteiligungsarbeit der Kunst, die, Es ist relativ still geworden um ältere Tradi- wenn sie im Zuge der Inklusionsidee den Men- tionen von »Leitbildern« der Sozialpolitik im schen und seine Not »einbeziehen« will, doch Kontext der Gesellschaftspolitik. Beiträge zur ihre Orientierungswerte klären muss (vgl. auch Rolle von Utopien in der Wissenschaft der So- Keuchel & Werker, 2020). zialpolitik sind selten geworden. Martin Bu- Zwischenfazit: Für die Leserschaft mag es ber (Wolf, 1992) sprach noch über »Pfade in hilfreich sein, wenn an dieser Stelle ein kurzes Utopia« (Buber, 1985; ergänzend dazu Buber, Resümee der unterschiedlichen Bewegungen 1967). Das ist heute verpönt. Schon Dahrendorf dieses Aufeinandertreffens der verschiedenen wollte lieber den Rückzug: »Pfade aus Utopia« Arten des Scheiterns oder auch Ansätze des Ge- (Dahrendorf, 1974). Mit dem Versterben der lingens erfolgt. Es zeichnet sich hierbei durch- Trägergenerationen einer solchen Tradition im aus ansatzweise eine alle Beispiele vereinende Ausschuss für Sozialpolitik im Verein für So- epistemische Bewegung ab. cialpolitik verkümmerte auch dort diese Dis- kursqualität (und war Anlass, dass ich dort mei- Die bisherigen Ausführungen sind, so mein ne Mitgliedschaft beendete). Im Modernismus Verständnis, nun drei Wege gegangen, um al- des angedeuteten universitären Kulturwandels legorisch auf je unterschiedliche Weise ein ten- stellte der besagte Ausschuss für Sozialpolitik denziell eher scheiterndes Aufeinandertreffen im Verlag Duncker & Humblot auch die Traditi- zwischen werteorientierten innovativen Bestre- on der Schriftenreihe ein. Kulturwandel knüpft bungen und gesellschaftlicher Pfadabhängig- sich an Kulturbruch und eben auch an Formen keit zu illustrieren: (1) die Campus-Diskussion des Verfalls und Verlustes. als Beispiel postmoderner Beliebigkeit/Gleich- gültigkeit/Ignoranz, (2) der Antigone-Mythos Eine Leitfrage war innerhalb der Gesellschaft als Konflikt zwischen antagonistischen Axio- für Sozialen Fortschritt und ihrer Zeitschrift men, (3) die Zeitschrift „Sozialer Fortschritt“ als immer wieder ein bedeutsames Thema (Schulz- Geschehensort werteorientierter und leitbild- Nieswandt, 2012b): Was ist denn Fortschritt? generierender innovativer Ideen als vielleicht Zynische Ökonomen gaben mitunter hinrei- ‚schwindender Stern‘ in einer zunehmend neo- chend ihre Kommentare ab. Für die Gesell- kapitalistisch orientierten Wissenschaft. schaft war diese Fortschrittsidee aber immer in zeitgeschichtlich gebundener Hermeneutik Ich schließe hier mit einer persönlichen Bemer- offen und gerade deshalb lebendig und diente kung ab: Der vorliegende Beitrag ist geschrie- über die Diskurseröffnung genau diesem Sozia- ben nach Beendigung meiner Aufgaben als Vor- len Fortschritt: Denn die diskursive Forumsform standsvorsitzender des Kuratorium Deutsche selbst war von generativer Bedeutung. Für eine Altershilfe e. V. (KDA) im Herbst 2020 (vgl. auch immer nachhaltigere und größere Generierung Schulz-Nieswandt, 2021i). Auch das KDA muss diskursiver gesellschaftlicher Plattformen als sich in grundlegender Weise überlegen, was sie soziale Lernprozesse ist hier die Digitalisierung unter einem sozialen Fortschritt in Bezug auf wirklich eine Chance. Aber auch hier geht es die (Qualität der) Lebenswelt des Alters verste- nicht ohne regulative Prädikation (Schulz-Nies- hen will. wandt, 2019d): Denn die Digitalisierung fördert bekanntlich auch Hasskulturen, Gewaltphanta- Diese wissenschaftlich fundierte Abhandlung sien und den Populismus des Rechtsextremis- ist – ich betone das später nochmals, dann als mus. Erneut zeigt sich: Es ist eine epistemische produktive Redundanz gemeint – ein politischer Illusion, Innovationen werterelativistisch und Essay. Eine Verankerung der komplexen Motiv- ohne substanziellen Ausgangspunkt der Ent- lage ist auch mein Ehrenamt als Vorstandsvor- wicklungskurve des Fortschritts definieren zu sitzender des KDA, das ich abgegeben habe. Es können. Fortschritt ist nur durch die Offenheit sollen – transportiert über diese Thematik der für soziale Lernprozesse als Kultur durch die Abhandlung – zugleich einige provokative Nach- Meta-Kultur achtsamer Pflege eben dieser Of- fragen zur organisationsphilosophischen Wil- fenheit zu gewährleisten. Dennoch bleibt die lensbildung des KDA aufgeworfen werden, aber 12
eigentlich sind diese Fragen an alle, die an der Enklusion13 nicht auch hier14 ein methodischer Agenda-Bildung im Feld als Arena der pfadab- (in seiner wertemateriellen Substanz zugleich hängigen und strukturkonservativen Interes- ein geschichtsteleologischer) Fluchtpunkt der sen „unterwegs“ sind, adressiert. „Unterwegs“ Mittelvergabe sein? Welches Spiel will das – aber wohin? Das KDA muss gesellschaftspoli- KDA mitspielen: Gutes Spiel, falsches Spiel, tisch fundamentale Fragen aufgreifen: Wann ist böses Spiel? Es muss sich in grenzüberschrei- eine soziale Innovation innovativ? Wie können tender Dynamik in mutiger Souveränität und wir die Innovativität von sozialen Innovationen – was kein Widerspruch ist – in gebotener, also erkennen? Es geht also um die Kardinalfrage: achtsam selbstreflexiver Demut positionieren. KDA – Quo vadis?12 Sollte ein Index der Non- Dann nimmt es Gestaltcharakter an. ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 12 Dies gilt auch für die Mitwirkung des KDA im DHW (als Stiftung: Bethmann, 2020; Gerber, 2006; kritisch: Schuler, 2010), dessen gemeinwohl-orientierte Logik einer Soziallotterie – eine Problematisierung, die ich nicht teilen kann – verfassungsrechtlich strit- tig ist (Krüper & Terhechte, 2018; Brauch, 2016; Haltern, 2016). 13 https://www.inklumat.de/glossar/index-fuer-inklusion. Tag des Zugriffs: 5. Februar 2021. 14 https://www.aktion-mensch.de/inklusion/bildung/impulse/index-fuer-inklusion.html. Tag des Zugriffs: 5. Februar 2021. 13
Einleitung Im Lichte der Adorno-Benjamin-Kontroverse (Reijen, 2006) kann man sich fragen, ob nicht der Traum die paradigmatische Grundlage der Idee vom „Paradoxon der Möglichkeit des Unmögli- Hermes (Allan, 2018) mag uns in der Corona-Kri- chen“ (Derrida, 2003) ist. Es wird, wenn dies so se zwar mit Paketen beliefern, der antike Gott, ist, in der vorliegenden Abhandlung nicht um die der den Reisenden den rechten Weg zeigte, ist sogenannten Innovationen des Marktes gehen, uns verloren gegangen. Die alten Seefahrer die ständig neue Angebote des ewig gleichen (Bohn, 2011) orientierten sich an den Sternen, Überflüssigen oder zumindest Fraglichen dar- wenn der Wolkenhimmel es ermöglichte. Hat die stellen, um die es bei sozialen Innovationen, die moderne Gesellschaft und ihre gestaltende Ge- innovativ sind, geht: Denn bei echten, das heißt sellschaftspolitik noch (nautische) Leitsterne? wirklich innovativen, sozialen Innovationen, von Alle reden von Innovationen, zunehmend auch denen hier die Rede sein soll, geht es im Kern von „sozialen“ Innovationen15. Mehr oder weni- um etwas ganz anderes: Soziale Innovationen ger authentisch belesen, orientiert sich die üb- sind humangerechte Innovationen des Sozialen, liche Fachlichkeit an Joseph Schumpeter (Kurz, also des sozialen Miteinanders. Die Humange- 2005; Schäfer, 2008). Aber letztendlich verflacht rechtigkeit skaliert sich an der personalistischen sich die Innovationsforschung – natürlich im se- Philosophie bedingter, d. h. an transzendentale niorischen Tonfall: „for a better world“ – als Inbe- Kontexte gebundener, nämlich kulturell einge- griff von neuen (sprunghaften) Konzepten und betteter und in sozialen Relationen sich verwirk- Geschäftsmodellen, Produkten und Prozessen, lichender partizipativer Autonomie. Das ist der die neue Märkte schaffen (Groys, 2007). Es geht methodisch nutzbare geschichtsteleologische also um den ewigen Kreislauf von Investition Fluchtpunkt eines Referenzsystems, das die so- und Produktion, Zirkulation und Konsumtion. genannten Sollbruchstellen nicht nur erst sicht- Hermes wurde auch als Gott der Märkte disku- bar ( Befunde), sondern überhaupt erst ver- tiert, in eigentumsrechtlicher Tradition (Hein- ständlich ( Sinn als Bedeutung der Befunde) sohn, 1984) treffsicher dabei mit Raub verknüpft macht (Schulz-Nieswandt, 2018a). (Kurnitzky, 1994). Geht es bei den sogenannten Senior*innen (Germann, 2007) auch nur um die Der imaginative Traum ist die Erinnerung16 an Märkte? Das wird ja breit diskutiert. Und die- die unerfüllte Reduktion der Soll-Ist-Bruchstel- se Kommodifizierung des neuen Alters (Hein- len gelingender Daseinsführung menschlicher ze, Naegele & Schneiders, 2011; Femers, 2007) Existenz. Innovative Innovationen des Sozialen – geschlechtsspezifisch diversifiziert – wird sind Schritte (in den Spuren [Bloch, 1959] kon- als gesellschaftliche Wertschätzung verkauft: kreter Utopie [Bloch, 2018]) in diesem Wirk- Das goldene Alter vergoldet die innovativen lichwerden des Traumes. Bekanntlich ist – als Marktanbieter. Über die Ideologie der Innovati- Jugendschwarmdenken angegriffen von der onen wird relativ wenig diskutiert. reaktionären Soziologie von Schelksy (1979) – Gesamtdenkwerk leitender und von Ernst Bloch Wann ist eine Innovation (Langer, Eurich & Günt- (1985) gebildeter Begriff, mit dem die Kultur ner, 2018) innovativ, also eine innovative Innova- einer sozialen Wirklichkeit nach der real mögli- tion? Wir müssen von einer Funktionskette aus- chen Gesellschaftsveränderung gemeint ist. gehen: Ideologie der Märkte kapitalistische Gesellschaft Wiederholung des »Immer Glei- Sozialontologisch gesehen (Falb, 2015) ist Ge- chen« als Strukturmoment: Daher muss kritisch sellschaft als Kollektivität ein Prozess wechsel- nachgefragt werden: Wann ist eine sogenannte seitiger Konstitution, in der Wiederholungen ‚Innovation‘ eigentlich wirklich innovativ, wann (Nachahmungen) ebenso wirksam sind wie könnte man sozusagen von einer ‚innovativen Neuerungen. Die Performativität ständiger (ri- Innovation‘ sprechen?“ tualisierter) Replikation induziert die Statik des ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 15 https://de.wikipedia.org/wiki/Soziale_Innovation. Tag des Zugriffs: 5. März 2021. 16 Der Begriff der Erinnerung als ‚Sehnsucht‘ könnte bedeuten (das ist im Werk von Walter Benjamin so verankert), dass es eine Art unbewussten kollektiven Wissens über eine unerfüllte humangerechtere Einheit geben muss. Demnach könnte man Innovationen im Grunde als eine Art »Rückkehr-Bewegung« zu einer solchen Einheit betrachten. Das wäre dann sogar quasi ein transgressives Denken zur Fortschritts-Leerformel. 14
Sozialen, die aber aufbrechen kann zu einer Dy- entfaltung des menschlichen Wesens) nur eine namik des Wandels (auf Organisationsebene: Vorgeschichte sei und (mit Blick auf das »Wahr- Froschauer & Lueger, 2015). Zwischen Statik werden als Wirklichwerden« des Wesenspoten- und mutativer Metamorphose stehen transfor- zials) noch gar nicht richtig begonnen habe. Die mative Reformen, um die es hier geht. Dabei Welt als Experiment (Bloch, 1975) weist also eine handelt es sich nicht um jene fiktionale Futuro- Richtung (Telos) auf. Bloch analysierte die Reli- logie (Tarde, 2018a) der klassischen Soziologie gionen, allen voran das Christentum auf einen von Gabriel Tarde (2008a; 2008b; 2018b), der seit solchen teleologischen Gehalt an Hoffnung hin. einigen Jahren erneut entdeckt und breit disku- In der Religion, aber auch in der Kunst und der tiert wird (Borch & Stäheli, 2009). Es geht um In- Musik zeige sich ein Vorschein auf eine bessere novationen (Braun-Thürmann, 2005), die einen Welt, die Bloch auch als »Heimat« - damit die basisinnovativen Charakter transportieren, weil notwendige Geborgenheit als Einbettung des ein ganzes Handlungsfeld betroffen ist und auf Subjekts verständlich machend – bezeichnet. längere Sicht eine radikale, weil disruptive (aber ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– nicht im Sinne der Bildung neuer Märkte ver- standene) Sprunginnovation17 den Unterschied Es gehört zum Anspruch kritischen Denkens, zur inkrementellen Innovation bahnen soll. dem Menschen abzuverlangen, das Sich-Ein- lassen auf konkrete Utopien ernsthaft in Erwä- Um eine solche allgemeine soziologische The- gung zu ziehen. Dazu muss der Übergang vom orie des Wandels, auf die sich auch Howaldt, philosophischen Reflektieren der konkreten Kopp & Schwarz (2014) beziehen, soll es hier gar Utopie zur praxisbezogenen Übertragung dieses nicht gehen. Ich fokussiere hier auf die norma- Utopie-Verständnisses im Sinne eines skalierten tiv-rechtliche Richtungsbestimmtheit des Wan- Innovationsverständnisses geleistet werden. In- dels: Es soll also darum gehen, die Bestimmtheit novationen sind in diesem Sinnverständniszu- der Richtung kompatibel zu machen mit der sammenhang als Schritte des »Wirklichwerdens normativen Gestimmtheit. Wie sollte man sonst des Traums« Teil der Wirklichkeit. die Wirkungen (Bertelsmann Stiftung, 2013) z. B. von Quartiersarbeit (Burmeister u. a., 2020; Oftmals ist das Angebot – z. B. neue Metho- Kremer-Preiß & Mehnert, 2019) skalieren? Oder den und Handlungskonzepte in Heilpädagogik benötigt man »Barometer« (z. B. Bernhardt, und Behindertenhilfe – zwischen Tradition und 2020)? Wenn sogar schon die Ästhetik der Ska- Innovation schwer einzuschätzen (Wülleweber lierung diskutiert wird (Spoerhase u. a., 2002), & Theunissen, 2020). Im Sog eines Modernisie- so sollte doch zuvor geklärt werden, was denn rungsdispositivs, nachdem ein linearer Trend die Maßstäbe sind. des Fortschritts (neu ist, was neu ist, also noch nicht dagewesen ist) oder modische Zyklen des ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– »Immer-wieder-erneut-so, aber auch immer et- Utopisches Denken verstehen: was neu und dennoch ähnlich wie bislang« hohle Die konkrete Utopie im Sinne einer realen Mög- Formwandlungen ohne Inhalt sind, bleibt auch lichkeit ist für Ernst Bloch ein Synonym für eine das Alternativ-Gerede über alternative Formen »Prozess-Materie«, also für ein substantielles zunächst unbestimmt: Wann sind alternative Telos, sich dialektisch im geschichtlichen Zeit- Wohn- und Versorgungsformen (Haefker & Tiel- strom weiterentwickelnd entfaltend (Schulz- king [2017]) innovativ? Auch der Begriff alterna- Nieswandt, 2020d). In der dialektischen Vermitt- tiv muss skaliert werden. lung von Theorie und Praxis, die sich im Diskurs wechselseitig überprüfen sollten, generiert sich Vertiefungsexkurs: die »konkrete Utopie«. Im Lichte dieser Ausle- Das Problem radikal verstanden: gung hat die utopische Hoffnung (keineswegs Wann ist also eine Innovation innovativ? Kann – entgegen Rohgalf [2015] – überholt) einen man sich in der Antwortsuche oder gar Antwort- eschatologischen Kern. Mit Karl Marx argumen- findung an dem Neuen als paradigmatischer tiert Bloch, dass die Geschichte der Menschheit Wandel im Sinne von Kuhn (1967) orientieren? bislang (mit Blick auf die humangerechte Selbst- Ein paradigmatischer Wandel bleibt nicht im ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 17 Aber nochmals anders gemeint als an anderer Stelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Agentur_für_Sprunginnovation. Tag des Zu- griffs: 24. Februar 2021. 15
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