Wann ist eine soziale Innovation innovativ? - Der erkenntnistheoretische Status eines "Index der Non-Exklusion" als Fluchtpunkt ...

Die Seite wird erstellt Thomas Kühne
 
WEITER LESEN
Wann ist eine soziale Innovation innovativ? - Der erkenntnistheoretische Status eines "Index der Non-Exklusion" als Fluchtpunkt ...
Frank Schulz-Nieswandt

        Wann ist eine soziale
       Innovation innovativ?
   Der erkenntnistheoretische Status eines
»Index der Non-Exklusion« als Fluchtpunkt
      gesellschaftspolitischer Orientierung
Wann ist eine soziale Innovation innovativ? - Der erkenntnistheoretische Status eines "Index der Non-Exklusion" als Fluchtpunkt ...
Frank Schulz-Nieswandt

Wann ist eine soziale
Innovation innovativ?
Der erkenntnistheoretische Status
eines »Index der Non-Exklusion«
als Fluchtpunkt gesellschaftspolitischer
Orientierung
Wann ist eine soziale Innovation innovativ? - Der erkenntnistheoretische Status eines "Index der Non-Exklusion" als Fluchtpunkt ...
„Denn man ist immer in den Augen
 irgendeines Menschen komisch.“
           (Simenon, 1957: 97)

                    2
Wann ist eine soziale Innovation innovativ? - Der erkenntnistheoretische Status eines "Index der Non-Exklusion" als Fluchtpunkt ...
Inhalt                                                                    Seite

     Vorwort

     Narratives Präludium: Postmoderne Diskurse ohne Anker
     Vorbemerkungen
     Einleitung

1.   Thematische Kontexte und kulturmutative
     Transformationsperspektiven
     1.1 Stationäre Sonderwelten - Quo vadis?                                     6
     1.2 Sozialwirtschaft freier Träger - Quo vadis?                             66
     1.3 Kommunale Steuerung
     1.4 Die De-Isolierung der Alterspolitik und die gesellschaftspolitische
     Generalisierung der Problemanzeige

2.   Ein Index der »Non-Exklusion« für eine Suchmaschine
     von Innovationen
     2.1 Der Index als erkenntnistheoretische Problematik
     2.2 »Vermessung« der sozialen Wirklichkeit?
     2.3 Folgen für die Strukturqualitätsfixiertheit der Regulationsregime
     2.4 Transformatives Recht

3.   Digitalisierung: Kultur sozialer Interaktionen bei
     eingebauter Substitutionsprothetik
4.   Makulaturdesign und modische Zyklen
5.   Partizipationsgeschehen als Innovation?
6.   Die Desiderata einer Kritischen Theorie der Innovativität
     von sozialen Innovationen
7.   Dichte Vertiefungen
     7.1 Was ist Inklusion?
     7.2 Was ist der Index (I)? Prozessstruktur-Performance
     7.3 Was ist der Index (II)? Gestalt-Metamorphosen
     7.4 Inklusion und Postmoderne

8.   Fazit und Ausblick
9.   Die Frage des Gegenstandes der Applikation

     Literatur

                                                       3
Wann ist eine soziale Innovation innovativ? - Der erkenntnistheoretische Status eines "Index der Non-Exklusion" als Fluchtpunkt ...
Vorwort                                                         pelung mit der Haltung der angebotenen (ange-
                                                                drohten) Hilfe. Die Paternalismus-Problematik
                                                                (Düber, 2016; Adam-Paffrath, 2016; Schmidt,
                                                                2016) ist offensichtlich. Das Alter wird zum Ob-
Der Text ist im Rahmen der Begleitung einer Ar-                 jekt der fürsorglichen Begierde. Diese Haltung
beitsgruppe eines Projektteams entstanden, das                  ist immer noch aus der Position einer Defizit-
im KDA ein DHW-gefördertes Projekt zum Scree-                   theorie des Alters heraus motiviert. Aus dem
ning von innovativen Ideen, Projekten und Initia-               archaischen »Elterngebot« (Köckert, 2007b) des
tiven im Bereich der »Alter(n)shilfe« bearbeitet.               Katalogs der »Zehn Gebote« (Köckert, 2007a)
Zentrale Ideen und das Argumentationsgebäude                    im Alten Testament wird eine diskriminierende
des Textes wurden dort zur theoretischen Fun-                   Reinfantilisierung des Alters, dessen Vulnerabili-
dierung eingebracht und diskutiert. So sind dann                tät (Stöhr u. a., 2019) als Argument bis hin zur aus-
auch infolge dieser fruchtbaren Gespräche kriti-                grenzenden »Kasernierung« (Schulz-Nieswandt,
sche Kommentare und plausible Anregungen so-                    2021c)1 dienen muss. Offensichtlich kann eine
wie sprachliche und technische Korrekturen aus                  falsch verstandene Kultur der Fürsorge zur Politik
diesen Diskussionen in die vorliegende Abhand-                  des »soziales Todes« führen. Eine humangerechte
lung eingegangen. Die fachliche Begleitung durch                lebensverlaufsorientierte Alternssozialpolitik als
das KDA übernahmen Tatjana Frei, Caroline Reh-                  Gesellschaftsgestaltungspolitik sieht anders aus
ner, Christine Freymuth und Ingeborg Germann.                   (Schulz-Nieswandt, Köstler & Mann, 2021a).

Die Abhandlung ist aber nicht nur in diesem                     Sprache spielt in der Lektüre der vorliegenden Ab-
Projektbezug zu verstehen. Der Beitrag soll den                 handlung sicherlich auch nochmals in anderer Wei-
vom KDA geführten Fundamentaldiskurs einer                      se eine Rolle. Dass die Sprache des Textes nicht ein-
radikalen Neuorientierung der Altershilfe als Teil              fach ist, ist hiermit gar nicht in erster Linie gemeint.
der Sozialpolitik als Teil der gestaltenden Gesell-             Wie immer wird die Reaktion auf die Textperfor-
schaftspolitik fortführen.                                      mance der Abhandlung gemischt sein. Aber nicht
                                                                nur die Kompliziertheit des Textes ist auch ein Spie-
Schon der Begriff der »Altershilfe« ist erneue-                 gel der Komplexität der Problematik. Entscheidend
rungsbedürftig. Das meint keine oberflächliche                  dürfte vielmehr sein: Die Wege aus den Sackgassen
Sanierung der Fassade. Der Begriff muss sub-                    der etablierten Pfadabhängigkeit (Kempski, 2013)
stituiert werden. Innovationen beginnen im-                     der Praxis (des Denkens oder auch der Ignoranz,
mer auch in der Sprache, denn Sprache ist die                   der interpretativen Wahrnehmung oder auch des
Grundlage von Sprechakten (Krämer, 2001).                       Wegschauens oder Verdrängens und des Tuns oder
Und Sprechakte schaffen soziale Wirklichkeit.                   auch des Unterlassens) erfordern zu Beginn eines
Das Denken spielt sich in der Welt der Sprache                  Wandels als Transformation der Kultur des Um-
ab. Das kann auch nonverbaler Art sein und                      gangs mit dem komplexen Phänomen des Alterns
Formen der Bildsprache (Schmitt, 2017) – die                    ganz neue Sichtweisen, die eben auch neue Arten
Bedeutung von Methapern sind zu einem der                       des verstehenden Lesens der neuen Sichtweisen er-
großen Themen der Philosophie wie auch der                      fordern. Der transformative Wandel der Kultur des
Sozialforschung geworden – annehmen. Radika-                    Sozialen beginnt in den Köpfen, wobei der Geist ge-
les und somit kritisches Denken muss sich also                  trübt sein kann von der Abgründigkeit der Seele im
auch in einer entsprechenden Sprache zum Aus-                   Sinne der modernen Psychodynamik (Schulz-Nies-
druck bringen. Der Begriff der »Altershilfe« ist                wandt, 2020e) und der Körper aus Hygieneangst
mehrfach problematisierbar. Aus der Sicht der                   und Ekel (Schulz-Nieswandt, 2021a) ausgrenzend
differenziellen Gerontologie (Schulz-Nieswandt,                 auf soziale Distanz geht. Damit bestimmt dennoch
2020f) spricht die Heterogenität des Alterns (die               nicht das Bewusstsein das Sein, denn das Denken ist
inter- wie intra-individuelle Varianz) und des Al-              und bleibt immer »standortgebunden«, wie es die
ters (die »Vielfalt der Gesichter«) gegen die pau-              moderne Wissenssoziologie in Anlehnung an den
schale Redeweise von dem Alter. Die Redeweise                   soziologischen Klassiker Karl Mannheim (Barboza,
von »dem Alter« isoliert auch eine Altersklasse.                2015) formuliert. Das Bewusstsein bestimmt nicht
Damit stigmatisiert sie, vor allem in der Verkop-               das Sein, sondern ist aus der Einbettung in dem
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
1 Zu dieser Dramatik unter Corona-Bedingungen vgl. auch vor dem Hintergrund von Schulz-Nieswandt (2021a): Schulz-Nieswandt,
   2020m; 2021b.

                                                            4
Wann ist eine soziale Innovation innovativ? - Der erkenntnistheoretische Status eines "Index der Non-Exklusion" als Fluchtpunkt ...
Sein als epochaler wie zeitgeschichtlicher Sinnhori-        großer Bedeutungsweite, weil die Kultur des sozi-
zont seiner Sozialisation heraus zu verstehen, weil         alen Miteinanders das Thema ist. Das KDA vertritt
das Bewusstsein immer inkorporiert ist im »ver-             keine Marktinteressen, keine Parteiprogramme
gesellschafteten Subjekt« (Geulen, 1977; Schulz-            und keine Kirchenmachtpolitik. Wissenschaftliche
Nieswandt, 2021f). Der Mensch ist in diesem Sinn            Redlichkeit und soziale Empörung schließen sich
immer „Kind seiner Zeit“. Was das Individuum ist,           nicht aus. So naiv wird hier das berühmte Theorem
ist es immer infolge seiner jemeinigen »Paideia«            der Wertfreiheit der Wissenschaft nicht vertreten.
als edukative Formung zum Subjekt (Hurrelmann               Kritische Wissenschaft ist der Würde und somit ei-
u.a., 2018), das da denkt, interpretiert und han-           ner Gesellschaftsidee verpflichtet, die helfen will,
delt. Doch bleibt die Freiheit dennoch das Wesens-          auf das Ziel der solidarischen Kultur der Chancen-
merkmal des Menschen. Denn er kann sich auch                gleichheit auf Freiheit »Aller« hinzuwirken. Daran
anders orientieren und wandeln. Seine Plastizität           ist die soziale Wirklichkeit zu messen.
(Schwarte, 2015) ist evolutionär ein dominantes
Merkmal. Und er kann sich selbst zum Thema einer            Und damit bin ich mitten im Thema der vorlie-
Metareflexion machen, was Helmuth Plessner „ex-             genden Abhandlung: Wann ist eine Innovation
zentrische Positionalität“ (Fischer, 2016) nannte. Er       innovativ? Und wann ist sozialer Fortschritt fort-
kann sich selbst hinterfragen, in Frage stellen und         schrittlich?
»selbsttranszendierend« neue Wege gehen, die
Pfadabhängigkeit überwinden. Das kann er auch               Die Abhandlung wird keine handwerklich brauch-
im Sinne des kollektiven Tuns, wenn er den Wandel           baren Antworten in mobiler Kofferform bieten.
kooperativ gestaltet.                                       Ziel ist es, die navigatorischen Perspektiven neu
                                                            einzustellen. Man muss die richtigen Fragen in
Der Text und seine Textur wird also viel einfacher          richtiger Art und Weise stellen, dann hat man
zu verstehen sein, wenn sich die Rezeption öff-             zwar nicht sogleich die passenden Antworten,
net, die eigenen Routinebahnen des Denkens                  aber den Schlüssel, um einen dunklen Raum auf-
einklammert, den Käfig der jemeinigen Interes-              zuschließen und sodann auszuleuchten. Die In-
sen einklammert und bereit ist, nicht im Jetzt der          vestition des Denkens in diesen »Schlüsseldienst«
Gegebenheiten zu denken, sondern Wege zum                   hat seinen Preis, ist also kein »free lunch event«.
erwünschten Noch-Nicht zu gehen. Das gilt auch              Aber es ist eine produktive Umweginvestition. Es
für die Wissenschaft, die sich nicht hinter kompli-         erleichtert - fundamental mehr noch: ermöglicht
zierten Methoden des Empirismus verstecken darf             überhaupt erst - den weiteren langen Weg der
und sich mit dem fragilen Argument der Wertfrei-            Antwortsuche und Lösungsfindung.
heit der Wissenschaft den Schutzanzug des Positi-
vismus umhängt (Schulz-Nieswandt, 2018b). Auch              Die Diskussion des Textes in der besagten Arbeits-
Wissenschaft ist zur Verantwortung aufgerufen.              gruppe hat eine grundlegende Frage aufgeworfen.
                                                            Auf welches Was und Wen bezieht sich die ganze
Oberflächlich betrachtet ist es die Sprache und             Analyse einer Werte-orientierten Indexikalisierung
die Verschachtelung der Sätze, sodann die un-               eigentlich? Welche Objekte werden in das skalie-
gewöhnliche Länge für ein solches Diskussions-              rende Visier genommen? Welche Zielgruppe mit
papier, das anstoßen und abstoßen mag. Doch                 welchen Lebenslagen und somit Bedarfen ist die
leicht verständlich sind oftmals solche Texte, die          Bezugsgruppe der Analyse? Diese Frage ist vollstän-
nichts Neues erzählen. Dann ist die Erzählung               dig berechtigt und hat dazu geführt, dass noch ein
leicht nachzuvollziehen, weil ja alles bekannt ist.         weiterer Abschnitt (Kapital 9) am Ende der Abhand-
Das Problem liegt in diesem Fall eher in der Gefahr         lung aufgenommen wurde, der diese Applikation
begründet, über das allzu, ja sattsam Etablierte            behandelt. Denn es könnte der Eindruck entstehen,
der routinemäßigen Wahrheitsspiele nicht aus                dass sich vor dem Hintergrund neuer Diskursbeiträ-
bequemer Langeweile heraus einzuschlafen. Das               ge des KDA (Schulz-Nieswandt, 2020j; Klie, Ranft
KDA will aber auf einem der Sache angemessenen              & Szepan, 2021) das Thema auf die Pflegepolitik –
theoriefundierten Niveau und dennoch politisch              insbesondere auf die kritische Analyse des Sektors
engagiert sowie moralisch kohärent Werte-orien-             der stationären Langzeitpflege (Schulz-Nieswandt,
tiert den Diskurs vorantreiben. So ein Ansinnen             2020b; 2021b) – zentriert. Das ist aber nicht der Fall.
gelingt nicht ohne Evokation des Ärgers. Doch               Kapitel 9 wird dies explizieren.
zur Polis gehört die Streitkultur und es sollte nicht
um enge Interessen gehen, sondern um Ideen von

                                                        5
Narratives Präludium:                                                 ten Testament und seinem Umfeld gut kennen
                                                                      müsste – meint: „Gottes Wege sind unergründ-
Postmoderne Diskurse ohne                                             lich … Aber es kommt der Tag …“
Anker
                                                                   3) Der marxistisch orientierte Student der Philo-
Um einen Zugang zu finden will ich zu Beginn eine                     sophie – Ernst Blochs „Das Prinzip Hoffnung“
fiktive Situation ausmalen und fabuliere2 eine Dis-                   (Ueding, 2016; Simons, 1983) unter dem Arm
kussion unter Studierenden z. B. auf einer Wiese                      und noch kürzlich mit Giorgio Agambens Rö-
des Universitätsgeländes der Universität zu Köln                      merbrief-Auslegung (Finkelde, 2007) beschäf-
zwischen den Vorlesungen. Die Bühne steht da-                         tigt – interveniert: „Wir dürfen nicht auf das
mit. Lebensweltlich wird ein Raum betreten, der                       Jenseits warten: In der Geschichte der Mensch-
zunächst kaum etwas mit dem zu behandelnden                           heit selbst ist das Reich Gottes zu gründen …“
Themenkreis zu tun haben mag. Doch ist es mit
Blick auf die Altersbilder, die die Kultur der Be-                 4) Der von Friedrich August von Hayek (Karabelas,
gegnung und des sozialen Umgangs mit dem Al-                          2010, Brodbeck, 2001) begeisterte neo-liberale
ter im gesellschaftlich geprägten Generationen-                       Student der Volkwirtschaftslehre betont, dass
gefüge prägen, nicht ohne Reiz, sich Bilder von                       er alles nochmals ganz anders sieht: Die Welt
der Jugend zu machen, auf deren Gegenwart ja                          wäre schon längst überbevölkert, wenn all die-
die Zukunftserwartungen basieren.                                     se Kinder nicht früh versterben würden.

Male ich nun die Geschichte aus: Es geht um die                    5) Da eilt ihm der Theologiestudent zur Valida-
globale Flüchtlingsdebatte (Friese, 2017; Schulze                     tion des Arguments zur Seite: „Seht Ihr, das
Wessel, 2017). Auch hier geht es um den homo pa-                      ist (Hegel [1970] wohl nicht kennend) die List
tiens in seiner Vulnerabilität. Und es geht um die                    der Weltgeschichte, vom unbewegten Bewe-
uralte Frage nach der Kultur der sozialen Prakti-                     ger eingewebt in die unergründlichen Wege,
ken des »Asyls« (Dreher, 2003; Wagner, 2009),                         von denen ich sprach: Gott hat gegeben, Gott
wie wir mit dem fremden (Reuter, 2010) Mitmen-                        nimmt auch wieder (Hiob, 1, 20-22).“ Die Pro-
schen (Löwith, 2013) umgehen.                                         bleme (Müller, 1995; Schüßler & Röbel, 2013),
                                                                      die die Theologie mit der Problematik des
Wie verläuft nun die Debatte der Debatte in die-                      „Tun-Ergehen-Zusammenhangs“ und dem Lei-
sem kleinen informellen Kreis?                                        den (Benini & Eusterschulte, 2021) des Men-
                                                                      schen als Problem der Theodizee (Gerlitz u. a.,
1) Auftritt der ersten Protagonistin des Dreh-                        2002) hat, verschweigt er dabei.4
   buchs: „Hört ihr die Kinder weinen …?“ (de-
   Mause, 1992) bringt die Studentin der Heil-                     6) Der Philosophiestudent, der sich etwas in der
   pädagogik ein, die sich mit der Kultur- und                        analytischen Sprachphilosophie auskennt,
   Psychohistorie der Kindheit (hierbei geht es                       weist darauf hin, dass der Theologiestudent
   um Menschenrechte3, die uns nachfolgend vor                        entweder in einem Auslandssemester in Del-
   allem in Bezug auf das höhere Alter interessie-                    phi ausgebildet worden sein müsse oder er den
   ren) beschäftigt, aktuell aber die Flüchtlings-                    logischen Widerspruch nicht verstünde: Die
   kinder – doch die Komplexität des Flucht- und                      Wege Gottes seien doch unergründlich, habe
   Asylthemas, das dahinter steht, wird in der                        der Theologiestudent doch behauptet.
   fiktionalen Geschichte von den Akteuren gar
   nicht aufgerufen – auf Lesbos meint.                            7) Nun mischt sich der Student der Rechtswissen-
                                                                      schaft ein und argumentiert: „Leute, lasst Euch
2) Der orthodoxe Student der katholischen Theo-                       erklären. Andere Länder, andere Verhältnisse,
   logie – der das Thema Flucht und Asyl (bzw.                        andere Sitten: Es gilt eben immer das jeweilige
   des Exils: Maeding & Siguan, 2017) aus dem Al-                     Recht.“ Er, der von Gustav Radbruch (Borows-

–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
2 Keine Fabel im engeren Sinne: Fischer, 2007.
3 Exemplarisch sind die Themen der Beschneidung (Wermke, 2014; Göttsche, 2020) und Zwangsverheiratung (Riano & Dahinden,
   2010) von Mädchen (Klimke, 2019). Das vorliegend behandelte Thema ist generalisierter Art und betrifft den Menschen über den
   gesamten Lebenszyklus hinweg. Hier wird die Auffassung vertreten, dass diese Universalität auch in kulturübergreifender Pers-
   pektive Relevanz aufweist.

                                                               6
ki & Paulson, 2015) nie etwas gehört hat, weil                  der Markt der Meinungen schon die Welt des Gu-
   er das sogenannte Geschwafel der rechtsphi-                     ten, des Schönen, des Wahren? Hier waren alle
   losophischen Vorlesungen nicht mag, ahnt                        partizipierend in selbstbestimmter Weise dabei.
   nicht, dass er als Rechtspositivist durchaus tief               Jedoch sind die Konfliktlinien offensichtlich:
   in philosophische Kontroversen verstrickt ist.                  a) Die Studentin der Heilpädagogik fühlt sich von
   Ihm fehlt jegliche Nähe zur Haltung der Empö-                      der männlichen Dominanz ausgegrenzt und in
   rung der Marburger Schule des Neu-Kantianis-                       ihrer tiefen Empathie gekränkt.
   mus (Sieg, 2016). Er trägt es arrogant (Badura
   & Kreuzer, 2014) vor, nur halbbewusst mer-                      b) Der orthodoxe Theologe erinnert sich an ei-
   kend, dass er damit Rache an Dritten nimmt,                        nen Index der verbotenen Bücher und träum-
   aber die Studentin der Rechtswissenschaft,                         te wehmütig von besseren, aber vergangenen
   Hermine ist ihr Name, treffen will, die ihn kürz-                  Zeiten, als die Welt noch geordnet war; aber er
   lich argumentativ geplättet hatte, da sie um                       war großmütig: Er vergab die verschiedenen
   Bücherberge belesener war als er.                                  Varianten der Sünden. Den Hayek-Schüler fand
                                                                      er aber interessant, was er später in einer auf-
8) Ein Psychologiestudent in der Runde merkt                          geklärten Predigt einbringen könnte.
   davon nichts, weil er a) den Fall nicht genau
   kennt und b) ohnehin nichts von der Psycho-                     c) Der Bloch-Kenner kennt solche Diskurse: Er sei
   dynamik hält.                                                      der nette, aber naive Träumer. Wenn er über
                                                                      30 Jahre alt sei, würde sich das bekanntlich le-
9) Da meldet sich, die Debatte beendend, aber                         gen, wenn er nicht dumm sei.7 Die Bücher von
   dabei alle etwas im Ungewissen haltend, wie                        Erich Kästner könnte er lesen: Sie würden ihn
   er das wohl gemeint haben könnte, der Stu-                         trösten, um innerlich stark zu bleiben und sei-
   dent der Humanities5 und legt dar: Er habe                         nen Charakter nicht zu verlieren. Da er davon
   von diesen Problemen des Elends in der Welt                        nichts ahnt, fühlte er sich etwas einsam, selbst
   keine rechte Ahnung: Er schalte immer recht-                       in der Gruppe, besser: gerade in der Folge des
   zeitig die Nachrichtensendung ab. Das war für                      Geschehens in der Gruppe.
   alle wieder typisch: Meinte er das ernst oder
   als bösartigen Witz, wohl möglich kritisch ge-                  d) Sogar der Psychologie-Student hat fast ein
   meint? Sprach er über sich oder ironisch über                      »Aha«-Erlebnis (um das die psychologische
   einen Teil der Anderen?6                                           Forschung, aber auch der berühmte und mit-
                                                                      unter berüchtigte Volksmund weiß): Er spürte
Das fiktionale Erzählstück ist eine imaginierte                       doch gewisse Spannungen, schlug aber vor, in
Welt der Diversität. Dabei geht es nun gar nicht                      den Biergarten zu wechseln.
um die Diversität im modernen sozialtheoreti-
schen Sinne, wobei u. a. Generationenunterschie-                   e) Die erwähnte Studentin der Rechtsphilosophie8
de oder ethnische Differenzen wirksam werden.                         wird wohl wissen, dass sie in diesem Kreis die
Innerhalb einer Generation ist infolge der diszipli-                  Komplexität der Spannungen vergrößert hätte9,
nären Zugänge zur Welt eine Vielzahl der Auffas-                      eine Gefahr, die ja durch die Flucht in den Bier-
sungen gegeben. Diese verdichten sie offensicht-                      garten vermieden wurde.
lich zu Haltungen. Die Frage ist nun: Ist Buntheit
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
4 Immerhin - noch später in Goethes Faust aufgegriffen - behandeln auch einige griechische Tragödien von Aischylos und Euripides
   das Verhältnis des menschlichen Leidens zur göttlichen Vorsehung bzw. Ordnungsgebung. Doch in mythologischer Komparatistik
   versteht der Theologiestudent sich eben auch nicht.
5 Er hätte sich weiter oben zum Thema Flucht und Asyl (Barboza u. a., 2016; Friese, 2014, 2017; Fleischmann, 2020; Devlin, Evers &
   Goebel, 2021; Dinkellaker, Huke & Tietje, 2021; Kukovetz, 2017; Johler & Lange 2019; Schulze Wessel, 2017; Klepp, 2011) melden
   können.
6 Die Leserschaft sei in der Lektüre dieser fiktionalen Geschichte angeregt, sich die Charaktere der jungen Menschen selbst noch
   etwas weiter auszumalen.
7 https://falschzitate.blogspot.com/2019/07/wer-mit-20-jahren-nicht-sozialist-ist.html. Tag des Zugriffs: 16. Februar 2021.
8 Hier wird nochmals deutlich, dass die fiktionale Geschichte Sozialtypen auf professionsbezogener Basis konstruiert. Die impli-
   zite Annahme kollektiver Deutungsmuster der Professionen ist hier der Freiheit der Erzählkunst geschuldet. Mag sein, dass das
   Problem eher auf einer individualisierten Grundlage der Vielfalt der Meinungen zu verstehen ist. Dann jedoch bleibt ein anderes
   Problem bestehen: Wie steht es um die Reflexion des hinreichenden Grundes einer Meinungsbildung?
9 Allerdings mit der Möglichkeit zu Schwierigkeiten Mehrheitsbildungen in der figurativen Feldbildung, deren hegemoniale Domi-
   nanzkämpfe (kumuliert mit Gender-Code-Dekonstruktionen) Positionen der Insider und Outsider generiert hätten.

                                                               7
Vielleicht wären sogar Freundschaften zerfallen,           ment hin, es wäre ja eine Win-Win-Situation, da
die allerdings nie wirklich welche waren. Doch             auch Arbeitsplätze geschaffen und die konsum-
hierbei taucht die Idee einer »wahren« Freund-             tiven Sehnsüchte der Verbraucher*innen durch
schaft auf: Und Wahrheit ist in dieser Diversitäts-        neuartig gefüllte »Produktregale« in den Kauf-
kultur, die offensichtlich in kollektiv akzeptierte        häusern (Lindemann, 2015) und Online-Shops
Ignoranz mündete, ein unangenehmes Thema der               erfüllt werden? Besteht die größte Innovation
klassischen, also längst untergegangenen Mo-               darin (Haug, 2009; Drügh, Metz & Weyand, 2011),
derne. Man lebe in der Postmoderne: »Anything              wenn das Jahr eine permanente Weihnachtsver-
goes« und »All is possible«.                               anstaltung der Kathedralen des Konsums ist? Wie
                                                           sieht tatsächlich die Sozialbilanz im Lichte eines
Warum diese fiktionale Geschichte? Sie erzählt             erweiterten gesellschaftlichen Rechnungswesens
von der Schwierigkeit, sich ein gemeinsam ge-              aus? Oder ist diese Kritik naive (weil angesichts
teiltes Bild von einem Problem zu erarbeiten. In           der faktischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte
der vorliegenden Abhandlung wird ja die Frage              [Zimmermann, 2015; König, 2013] als Moderni-
interessieren, wie Innovation zu verstehen sein            sierung »rückwärtsgewandte«) Kulturkritik (Brie-
wird bzw. was unter Fortschritt validiert gemeint          sen, 2020)? Jedenfalls ist auch der Gesundheits-,
sein mag. Diese Schwierigkeit der Findung kollek-          Pflege-, Bildungs- und Sozialsektor des sonstigen
tiv geteilter Auffassungen bezieht sich scheinbar          »Sozialklimbim« und »Sozialgedöns« dem Sog
wertneutral, als rein analytisch auf die Diagnose          der digitalen Kapitalisierung ausgesetzt. »Anti-
der Ursachen, ist aber (weil Kausalität und Schuld         Aging« ist das Dispositiv dieser kollektiven Well-
und Verantwortung der Schuld verknüpft werden)             ness-Gesellschaft. Aus dem Ekel – das Pflegeheim
schnell eine normative Herausforderung: Wie um-            der alten Körper stinkt nach schleichender Verwe-
gehen mit dem Problem als Herausforderung?                 sung – wird aus der Angst vor der eigenen zukünf-
                                                           tigen Involviertheit (Schulz-Nieswandt, 2021a;
Der Diskussionsverlauf der fiktiven Erzählung ge-          2021c) mittels einer Fülle von gouvernementalen
nerierte eine Vielfalt der Meinungen. Aber wo soll         Selbsttechnologien der Kult der ewig schönen
denn hier das Problem sein? In der liberalen Gesell-       Jugend als Heros der Produktivität ritualisiert ze-
schaft ist dies Ausdruck der Demokratie. Demokra-          lebriert. Der Kapitalismus erweist sich hier – die
tie als Markt der Meinungen? Doch geht es hier um          Tradition der Kontroverse um den »Kapitalismus
Grundrechte des Menschen in einem menschen-                als Religion« aufgreifend – in eigentümlicher Wei-
rechtskonventionellen Sinne. Ist die Würde des             se als liturgische Produktionsweise.
Menschen individuelle Ansichtssache? Gibt es kei-
ne Wesensaussagen über die Natur des Menschen,             In dieser Welt des Habenwollens als neurotische
die die Grundlage der Meinungsbildung bilden?              Praxis von Objektbesetzungen als Ersatzhandlun-
                                                           gen für gelingende Daseinsführung zählt alles als
In der Welt der individualisierten Meinungen geht          Innovationen, was eine in Marktpreise bewertete
die Ankerfunktion von Kernelementen eines ver-             Umsatzdynamik (Lepenies, 2013) aufweist. Ist das
bindlichen Menschenbildes – die Rede ist von               Wohlstand? Lebensqualität? Daseinswahrheit?
der Personalität (als »Dritter Weg« des Denkens
und der Gesellschaftspolitik jenseits von Indivi-          Was ist Fortschritt? Auf welcher Bahn verläuft
dualismus oder Kollektivismus) als Idee der »hei-          der Fortschritt? Eine Bahn als strukturierter Ent-
ligen« Ordnung der Würde der Person (Schulz-               wicklungsraum braucht einen Ausgangspunkt,
Nieswandt, 2017c; Möbius, 2020) als Telos der              von dem die Kurve (als mittlere Linie eines Inter-
Geschichte des Menschen (Schulz-Nieswandt,                 valls) der Reise in die Zukunft verläuft. Wann ist
2020d) – verloren. Damit fehlt aber auch ein Kom-          ein Fortschritt eigentlich ein Rückschritt? Oder
pass, der orientieren hilft.                               ein Fehltritt? Und vor diesem Hintergrund - im
                                                           vorliegenden Text also erst nach einigen Seiten
Damit ist der Gang der Argumentation an das                - wird der zentrale Begriff des Titels der Abhand-
zentrale Thema und an die Kernfragestellung der            lung aufgegriffen: Was ist eine Innovation, die
vorliegenden Abhandlung angelangt: Was sind                den Fortschritt treibt? Wann ist eine Innovation
Innovationen? Wie kann die Innovativität von In-           innovativ? Woran kann man die Innovativität ei-
novationen bestimmt werden? Ist eine Innovation            ner Innovation »messen«? Es geht also darum,
dann innovativ, wenn sie neue Märkte und neue              dass empirische (im Sinne von faktisch getrof-
Gewinndynamiken generiert? Reicht das Argu-                fenen) Aussagen („Es geht voran!“, „Es wird bes-

                                                       8
ser!“; „Wir sind auf einem guten Weg!“ etc.) ohne         auf Kindeswohl einerseits und des („natürlichen“)
Skalierung aus der Perspektive eines prädikativen         Grundrechts der Eltern auf die Erziehung ihrer
Referenzpunktes bedeutungslos (sinnlos) sind.             Kinder andererseits gehen. Gerade deshalb sollen
Der geschichtsteleologische Fluchtpunkt des so-           ja Konzepte, wie die der Sozialraumorientierung,
zialen Wandels ergibt sich entlang der Bahn der           der Empowerment-Orientierung im Sinne der Be-
Entwicklungskurve aus dem »normativen« Aus-               fähigung von familialen Settings im Rahmen par-
gangspunkt.                                               tizipativer Hilfeplanung etc., als problemlösende
                                                          Innovationen dienen. Dass es dazu auch Innova-
Kann sich das KDA mit einem werterelativisti-             tionen in dem Programmcode der Ämter und im
schen Fortschrittsverständnis abfinden? Keine             Habitus (Eylmann, 2015) der Professionen bedarf,
Angst! Die gesellschaftliche Ordnung soll nicht           sei angefügt.
– wie in der idealen Staatsidee von Carl Schmitt
– den Staat als Kirche auf der Grundlage einer            Die Selbstvermessung (der Lebensführung) des
kanonischen Dogmatik, von der sodann das all-             Individuums mit digitalen Apps gilt heute als In-
tägliche Denken und Wahrnehmen sowie der ge-              novation. Doch wie vermessen wir die Innova-
samte Alltag von Kultus und Ritus reguliert wird,         tivität solcher Vermessungsinnovationen? Mag
entworfen werden. Die Moderne des säkularen               eine Präventionsidee sogar in Präventionsterror
Rechtsstaates hat mit diesem Wahrheitsspiel im            umschlagen? Wird die Idee des produktiven, er-
Namen der Freiheit gebrochen. Doch basiert mit            folgreichen Alter(n)s (Schulz-Nieswandt, 2021d)
den Ideen von 1789 die Freiheit auf der univer-           nicht unterschwellig codiert durch eine Kultur
salistischen Gleichheit der Chancen »Aller«, die          sozialdisziplinierender Kontrolle? Was treibt ei-
ohne Solidarität nicht möglich ist. Die moderne           gentlich diese unkritische Akzeptanz jeder Neu-
Gesellschaft ist in ihrem Wunsch auf soziale Ver-         erung als Innovation, wonach das Mögliche auch
wirklichung an diesem Funktionszusammenhang               das »Gute, Wahre, Schöne« sei? Geht es nicht um
quasi-transzendental gebunden.                            den fetisch-artigen Ökonomismus unserer Pro-
                                                          duktionsweise, die sich als Wechselwirkung von
Dient der soziale Wandel, der als Fortschritt zu          Wunschmaschine (Nachfrage im Horizont der
klassifizieren sein soll, diesem Bild vom Men-            Bedürfnisse des Habenwollens) und Wunscher-
schen als Person, also der Idee der Personalität          füllungsmaschine (Angebot als Raum der unbe-
als Grundlage einer Gesellschaft der »Miteinan-           grenzten Möglichkeiten) aufschaukelt?
derfreiheit im Modus der Miteinanderverantwor-
tung«?                                                    Korrelieren Innovationen immer nur mit der Ent-
                                                          deckung neuer Märkte in Verbindung mit neuen
Verantwortungsethisch wird die Antwortfindung             Geschäftsmodellen (Wendt, 2016)? Der Innova-
– man denke an die digitale Transformation oder           tionsbegriff ist an solche Geldmaschinen gebun-
konkret an Pflegerobotik oder an (sogenannte              den. Reicht es, die Versorgungslandschaften im
»gouvernementale«) »self-tracking«-Strategien             Kern nur als Marktinnovationsdynamik voranzu-
und andere Selbsttechnologien im Namen der                treiben. Etwas Neues, noch nicht Anwesendes,
Dispositive der Schönheit, der Gesundheit, der            aber Imaginierbares denken zu können und als
Jugend, der Produktivität etc. ausfallen. Ambi-           Vorstellung zu wollen, gehört zur evolutionären
valenz ist ein Begriff, der Mindeststandards kriti-       Ausstattung des Menschen (Eibl, 2009; Blumen-
scher Reflexion ermöglicht, doch wird man einige          berg, 2014). Die Versorgungslandschaften müs-
Schritte weitergehen müssen. Es geht nicht nur            sen als Aufgabe der öffentlichen Daseinsvor-
um die Alltagsweisheit, dass alle Dinge immer             sorge (Schulz-Nieswandt, 2019a) als fördernde
zwei Seiten haben. Die zwei Seiten können in              Gewährleistung der bürgerschaftlichen Genos-
einem unauflösbaren Zielkonflikt stehen. Dann             senschaftlichkeit der Gemeinde aus den Klauen
wird es tragisch, denn, wie auch immer man sich           der Märkte zurückerobert werden und als Sorge-
entscheidet: Man wird »schuldlos schuldig«. Es            geschehen von der (erodierenden) Lebenswelt
kann zu Fragen der Verhältnismäßigkeit kom-               (Blumenberg, 2010; 2015; Mumford, 1981) – nicht
men. Dabei kann es auch um die Abwägung zwi-              vom etablierten System (und der Logik der öko-
schen verschiedenen Grundrechten kommen. Um               nomischen Zweckrationalität und der regulativen
z. B. eine Daseinsthematik jenseits des Fokus der         Verwaltungslogik: Kreutzer & Remmers, 2010)
vorliegenden Abhandlung zu wählen: Es kann um             her (Schulz-Nieswandt, 2019c) – phantasiert wer-
Abwägung zwischen dem Grundrecht des Kindes               den. Sorgelandschaften sind in ihrem kulturellen

                                                      9
Code letztlich nicht vereinbar mit der Rendite-            neutischen Fallbezug statt in der Maschinenlogik
Geldmaschine der Kapitalanlage. Die Politik des            [Remmele, 2003] von Verrichtungen am Men-
würdevollen Alter(n)s als »Kultur«politik – we-            schen: Hülsken-Giesler, 2008; Lanius, 2010) ist.
der Volks- noch Hochkultur im Sinne der Künste             Einst vergruben Menschen alter Kulturen ihre To-
meinend – zu verstehen, meint, dass die Gesell-            ten unter dem Fußboden des Wohnhauses, um
schaft als Miteinander der Individuen sich ande-           die bösen Geister zu kontrollieren. Heute kon-
re Würde-zentrierte Altersbilder – genau dieser            trollieren wir das Alter in Formen des »sozialen
Raum der Entwicklung neuer Altersbilder ist ein            Todes« (Hasenfratz, 1982) durch Ausgrenzungen
konstitutives Beispiel für notwendige Innovati-            schon bevor wir sie begraben haben. So wie es
onsprozesse – machen muss und aus dieser res-              uns (vergessend: Reik, 1920) an einem positiven
pektvollen Quelle der Wahrnehmung heraus ge-               Ahnenkult (Müller, 2016) als Erinnerungskultur
trieben zu andersartigen sozialen Praktiken im             (Cornelißen, 2003) unserer eigenen Entstehung
Umgang mit dem Alter kommen muss, wobei das                und unseres eigenen Werdens zunehmend man-
Alter nicht Objekt der Für-Sorge (auf der Basis der        gelt, so werden wir selbst einmal entsorgt wer-
Mindeststandards des »Sauber, satt, sicher, still«-        den. Wo bleibt die Einsicht in die uralte »goldene
Dispositivs) ist, sondern durch anregende Umwelt           Regel«? Das Alter gehört in die Mitte des Lebens.
(Lenz, 2012) »aktualisiertes« Subjekt (im herme-           Sogar der Tod gehört dorthin.

                                                      10
Vorbemerkungen                                                    schritt e. V.11 gegründet. 1936 geschlossen, wur-
                                                                  de sie 1949 wieder neu eröffnet. Nun feiert die
                                                                  „Zeitschrift für Sozialen Fortschritt. Unabhängi-
                                                                  ge Zeitschrift für Sozialpolitik“, die von der Ge-
Die Erzählung einer imaginierten Szene im obi-                    sellschaft für Sozialen Fortschritt (über eine Her-
gen Präludium hat eine lange Vorgeschichte.                       ausgeberschaft mit Beirat) herausgegeben wird,
Der Mythos um Antigone (Steiner, 2014) macht                      2021 ihr 70jähriges Bestehen und somit ihren 70.
dies deutlich. Sieht man die Beerdigung des Bru-                  Jahrgang des Erscheinens nach der Unterbre-
ders als Frage der Würde des Menschen in seiner                   chung vor 1945.
identitätsstiftenden Welt im Sinne der Einbin-
dung in Familie und Religion, so ist das Handeln                  Persönlich war und bin ich der Gesellschaft bis
des im König verkörperten Rechts der Polis (mit                   heute eng verbunden. Meine ersten Aufsätze
Blick auf den politischen Verrat des Bruders von                  (Schulz-Nieswandt, 1989) konnte ich dort seit
Antigone) ebenso geltungsbedürftig und Huldi-                     Ende der 1989er Jahre (insgesamt über 20 Bei-
gung heischend: Recht der Familie versus Recht                    träge) veröffentlichen. Bald rückte ich als junger
des Staates, archetypischer formuliert: Natur                     Privatdozent für „Sozialpolitik und Sozialökono-
gegen Zivilisation? Primäres Recht gegen sekun-                   mik“ in die Vorstandsarbeit nach. 1999 bis 2009
däres Recht? Es soll (und kann auch) gar nicht                    war ich Vorstandsvorsitzender und wurde so-
die ganze Breite und Tiefe der diesbezüglichen                    dann zum Ehrenvorsitzenden berufen. Mir folg-
»Arbeit am Mythos« (vgl. auch Kuehs, 2015)                        te mein Freund Werner Sesselmeier; heute liegt
aufgegriffen und eingebracht werden. Hätte                        die Verantwortung bei Aysel Yollu-Tok.
hier ein Kompromiss gefunden werden können?
Ist Antigones Verlangen teilbar gewesen? Hät-                     Vieles wäre hier nun zu erzählen. Ich will mich
te die Polis »vergeben« können? Aber können                       auf einen Punkt konzentrieren, der für das vorlie-
Staat und Recht eine Praxis des Vergebens                         gende Thema bedeutsam sein mag. Ich führe die
praktizieren, ohne die Idee des Rechts der Polis                  Problematik dieser Zeitschrift hier an, um an ihr
und somit die Polis insgesamt in Frage zu stellen?                abermals exemplarisch ein Spannungsfeld der
Das Recht regelt das soziale Miteinander. Was,                    aufgeworfenen Frage zu exemplifizieren. Wann
wenn Antagonismen auftreten? Müssen dann                          und warum ist Fortschritt fortschrittlich? Früher
Präferenzen gewichtet werden? Doch was,                           war die Zeitschrift bei aller Wissenschaftlichkeit
wenn es nicht um Präferenzen geht, sondern                        (allerdings immer in der erwünschten transdisiz-
um heilige Axiome? Noch bei Freud in der                          plinären Verbundenheit zur politischen Praxis)
Theorie des intra-individuellen Arbeitsapparates                  ein Forum für fachpolitische Meinungsbildung.
wird der Konflikt nicht harmonisch aufgelöst,                     Heute ist die Zeitschrift („German Review of
sondern zu vermitteln versucht: in Gestalt                        Social Policy“) stärker durch Beiträge metho-
eines agonalen Feldes von Begierde und                            disch kontrollierter empirischer Fundierungen
Über-Ich. Die konservative Traditionslinie der                    geprägt, ohne allerdings Werte-orientierte Dis-
Familiensoziologie hat dies erkannt und die                       kussionen zu meiden und wirtschafts- und so-
Familie zur »Keimzelle« des Staates erklärt. Kri-                 zialordnungspolitische Diskurse zu führen. Das
tische Theorie erkannte hier aber die Einschrei-                  ist angesichts des ambivalenten, zum Teil mehr
bung der Dispositive der mystischen Autorität                     als fragwürdigen Kulturwandels der deutschen
(Derrida, 1991) in die Ich-Bildung, damit das Ich                 Universität (Schulz-Nieswandt, 2021e) ein wert-
„Herr im Hause“ sein kann.10                                      zuschätzender Erfolg aufrechter Haltungspfle-
                                                                  ge. Die Zeitschrift hat ihre Interdisziplinarität
Ich will als Zugang zur Problematik des Themas                    bewahrt. Auch sind die Themenfelder breit. Die
noch einen weiteren anderen Umweg gehen.                          Zeitschrift ist also nicht in einen reinen Empiris-
Persönlich habe ich noch einen anderen Weg zur                    mus oder in modellplatonistische Theologemen-
Frage nach dem Sozialen Fortschritt hinter mir.                   arbeit der Ökonomie als Beweismathematik ab-
1901 wurde die Gesellschaft für Sozialen Fort-                    geglitten.

–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
10 Antigone verkörpert also mit der Beerdigung ihres Bruders das Ringen um eine soziale Innovation in einem Gesellschaftssystem
   der Polis. Das Ausbalancieren zwischen dem Begehren nach Veränderung und einer feststehenden normativen Ordnung des regu-
   lativen Systems stellt den Grundkonflikt dar.
11 https://de.wikipedia.org/wiki/Gesellschaft_für_sozialen_Fortschritt. Tag des Zugriffs: 10. Februar 2021.

                                                             11
Dennoch, und deshalb bin ich diesen besagten             Frage einer werte-orientierten, substantiel-
Umweg zur Themeneröffnung nochmals ge-                   len Füllung der Form (u. a. Schulz-Nieswandt,
gangen:                                                  2018a) eine Herausforderung (Kergel, 2021).
                                                         Dies gilt für Beteiligungsarbeit der Kunst, die,
Es ist relativ still geworden um ältere Tradi-           wenn sie im Zuge der Inklusionsidee den Men-
tionen von »Leitbildern« der Sozialpolitik im            schen und seine Not »einbeziehen« will, doch
Kontext der Gesellschaftspolitik. Beiträge zur           ihre Orientierungswerte klären muss (vgl. auch
Rolle von Utopien in der Wissenschaft der So-            Keuchel & Werker, 2020).
zialpolitik sind selten geworden. Martin Bu-             Zwischenfazit: Für die Leserschaft mag es
ber (Wolf, 1992) sprach noch über »Pfade in              hilfreich sein, wenn an dieser Stelle ein kurzes
Utopia« (Buber, 1985; ergänzend dazu Buber,              Resümee der unterschiedlichen Bewegungen
1967). Das ist heute verpönt. Schon Dahrendorf           dieses Aufeinandertreffens der verschiedenen
wollte lieber den Rückzug: »Pfade aus Utopia«            Arten des Scheiterns oder auch Ansätze des Ge-
(Dahrendorf, 1974). Mit dem Versterben der               lingens erfolgt. Es zeichnet sich hierbei durch-
Trägergenerationen einer solchen Tradition im            aus ansatzweise eine alle Beispiele vereinende
Ausschuss für Sozialpolitik im Verein für So-            epistemische Bewegung ab.
cialpolitik verkümmerte auch dort diese Dis-
kursqualität (und war Anlass, dass ich dort mei-         Die bisherigen Ausführungen sind, so mein
ne Mitgliedschaft beendete). Im Modernismus              Verständnis, nun drei Wege gegangen, um al-
des angedeuteten universitären Kulturwandels             legorisch auf je unterschiedliche Weise ein ten-
stellte der besagte Ausschuss für Sozialpolitik          denziell eher scheiterndes Aufeinandertreffen
im Verlag Duncker & Humblot auch die Traditi-            zwischen werteorientierten innovativen Bestre-
on der Schriftenreihe ein. Kulturwandel knüpft           bungen und gesellschaftlicher Pfadabhängig-
sich an Kulturbruch und eben auch an Formen              keit zu illustrieren: (1) die Campus-Diskussion
des Verfalls und Verlustes.                              als Beispiel postmoderner Beliebigkeit/Gleich-
                                                         gültigkeit/Ignoranz, (2) der Antigone-Mythos
Eine Leitfrage war innerhalb der Gesellschaft            als Konflikt zwischen antagonistischen Axio-
für Sozialen Fortschritt und ihrer Zeitschrift           men, (3) die Zeitschrift „Sozialer Fortschritt“ als
immer wieder ein bedeutsames Thema (Schulz-              Geschehensort werteorientierter und leitbild-
Nieswandt, 2012b): Was ist denn Fortschritt?             generierender innovativer Ideen als vielleicht
Zynische Ökonomen gaben mitunter hinrei-                 ‚schwindender Stern‘ in einer zunehmend neo-
chend ihre Kommentare ab. Für die Gesell-                kapitalistisch orientierten Wissenschaft.
schaft war diese Fortschrittsidee aber immer
in zeitgeschichtlich gebundener Hermeneutik              Ich schließe hier mit einer persönlichen Bemer-
offen und gerade deshalb lebendig und diente             kung ab: Der vorliegende Beitrag ist geschrie-
über die Diskurseröffnung genau diesem Sozia-            ben nach Beendigung meiner Aufgaben als Vor-
len Fortschritt: Denn die diskursive Forumsform          standsvorsitzender des Kuratorium Deutsche
selbst war von generativer Bedeutung. Für eine           Altershilfe e. V. (KDA) im Herbst 2020 (vgl. auch
immer nachhaltigere und größere Generierung              Schulz-Nieswandt, 2021i). Auch das KDA muss
diskursiver gesellschaftlicher Plattformen als           sich in grundlegender Weise überlegen, was sie
soziale Lernprozesse ist hier die Digitalisierung        unter einem sozialen Fortschritt in Bezug auf
wirklich eine Chance. Aber auch hier geht es             die (Qualität der) Lebenswelt des Alters verste-
nicht ohne regulative Prädikation (Schulz-Nies-          hen will.
wandt, 2019d): Denn die Digitalisierung fördert
bekanntlich auch Hasskulturen, Gewaltphanta-             Diese wissenschaftlich fundierte Abhandlung
sien und den Populismus des Rechtsextremis-              ist – ich betone das später nochmals, dann als
mus. Erneut zeigt sich: Es ist eine epistemische         produktive Redundanz gemeint – ein politischer
Illusion, Innovationen werterelativistisch und           Essay. Eine Verankerung der komplexen Motiv-
ohne substanziellen Ausgangspunkt der Ent-               lage ist auch mein Ehrenamt als Vorstandsvor-
wicklungskurve des Fortschritts definieren zu            sitzender des KDA, das ich abgegeben habe. Es
können. Fortschritt ist nur durch die Offenheit          sollen – transportiert über diese Thematik der
für soziale Lernprozesse als Kultur durch die            Abhandlung – zugleich einige provokative Nach-
Meta-Kultur achtsamer Pflege eben dieser Of-             fragen zur organisationsphilosophischen Wil-
fenheit zu gewährleisten. Dennoch bleibt die             lensbildung des KDA aufgeworfen werden, aber

                                                    12
eigentlich sind diese Fragen an alle, die an der                       Enklusion13 nicht auch hier14 ein methodischer
Agenda-Bildung im Feld als Arena der pfadab-                           (in seiner wertemateriellen Substanz zugleich
hängigen und strukturkonservativen Interes-                            ein geschichtsteleologischer) Fluchtpunkt der
sen „unterwegs“ sind, adressiert. „Unterwegs“                          Mittelvergabe sein? Welches Spiel will das
– aber wohin? Das KDA muss gesellschaftspoli-                          KDA mitspielen: Gutes Spiel, falsches Spiel,
tisch fundamentale Fragen aufgreifen: Wann ist                         böses Spiel? Es muss sich in grenzüberschrei-
eine soziale Innovation innovativ? Wie können                          tender Dynamik in mutiger Souveränität und
wir die Innovativität von sozialen Innovationen                        – was kein Widerspruch ist – in gebotener, also
erkennen? Es geht also um die Kardinalfrage:                           achtsam selbstreflexiver Demut positionieren.
KDA – Quo vadis?12 Sollte ein Index der Non-                           Dann nimmt es Gestaltcharakter an.

–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
12 Dies gilt auch für die Mitwirkung des KDA im DHW (als Stiftung: Bethmann, 2020; Gerber, 2006; kritisch: Schuler, 2010), dessen
   gemeinwohl-orientierte Logik einer Soziallotterie – eine Problematisierung, die ich nicht teilen kann – verfassungsrechtlich strit-
   tig ist (Krüper & Terhechte, 2018; Brauch, 2016; Haltern, 2016).
13 https://www.inklumat.de/glossar/index-fuer-inklusion. Tag des Zugriffs: 5. Februar 2021.
14 https://www.aktion-mensch.de/inklusion/bildung/impulse/index-fuer-inklusion.html. Tag des Zugriffs: 5. Februar 2021.

                                                                  13
Einleitung                                                          Im Lichte der Adorno-Benjamin-Kontroverse
                                                                    (Reijen, 2006) kann man sich fragen, ob nicht der
                                                                    Traum die paradigmatische Grundlage der Idee
                                                                    vom „Paradoxon der Möglichkeit des Unmögli-
Hermes (Allan, 2018) mag uns in der Corona-Kri-                     chen“ (Derrida, 2003) ist. Es wird, wenn dies so
se zwar mit Paketen beliefern, der antike Gott,                     ist, in der vorliegenden Abhandlung nicht um die
der den Reisenden den rechten Weg zeigte, ist                       sogenannten Innovationen des Marktes gehen,
uns verloren gegangen. Die alten Seefahrer                          die ständig neue Angebote des ewig gleichen
(Bohn, 2011) orientierten sich an den Sternen,                      Überflüssigen oder zumindest Fraglichen dar-
wenn der Wolkenhimmel es ermöglichte. Hat die                       stellen, um die es bei sozialen Innovationen, die
moderne Gesellschaft und ihre gestaltende Ge-                       innovativ sind, geht: Denn bei echten, das heißt
sellschaftspolitik noch (nautische) Leitsterne?                     wirklich innovativen, sozialen Innovationen, von
Alle reden von Innovationen, zunehmend auch                         denen hier die Rede sein soll, geht es im Kern
von „sozialen“ Innovationen15. Mehr oder weni-                      um etwas ganz anderes: Soziale Innovationen
ger authentisch belesen, orientiert sich die üb-                    sind humangerechte Innovationen des Sozialen,
liche Fachlichkeit an Joseph Schumpeter (Kurz,                      also des sozialen Miteinanders. Die Humange-
2005; Schäfer, 2008). Aber letztendlich verflacht                   rechtigkeit skaliert sich an der personalistischen
sich die Innovationsforschung – natürlich im se-                    Philosophie bedingter, d. h. an transzendentale
niorischen Tonfall: „for a better world“ – als Inbe-                Kontexte gebundener, nämlich kulturell einge-
griff von neuen (sprunghaften) Konzepten und                        betteter und in sozialen Relationen sich verwirk-
Geschäftsmodellen, Produkten und Prozessen,                         lichender partizipativer Autonomie. Das ist der
die neue Märkte schaffen (Groys, 2007). Es geht                     methodisch nutzbare geschichtsteleologische
also um den ewigen Kreislauf von Investition                        Fluchtpunkt eines Referenzsystems, das die so-
und Produktion, Zirkulation und Konsumtion.                         genannten Sollbruchstellen nicht nur erst sicht-
Hermes wurde auch als Gott der Märkte disku-                        bar ( Befunde), sondern überhaupt erst ver-
tiert, in eigentumsrechtlicher Tradition (Hein-                     ständlich ( Sinn als Bedeutung  der Befunde)
sohn, 1984) treffsicher dabei mit Raub verknüpft                    macht (Schulz-Nieswandt, 2018a).
(Kurnitzky, 1994). Geht es bei den sogenannten
Senior*innen (Germann, 2007) auch nur um die                        Der imaginative Traum ist die Erinnerung16 an
Märkte? Das wird ja breit diskutiert. Und die-                      die unerfüllte Reduktion der Soll-Ist-Bruchstel-
se Kommodifizierung des neuen Alters (Hein-                         len gelingender Daseinsführung menschlicher
ze, Naegele & Schneiders, 2011; Femers, 2007)                       Existenz. Innovative Innovationen des Sozialen
– geschlechtsspezifisch diversifiziert – wird                       sind Schritte (in den Spuren [Bloch, 1959] kon-
als gesellschaftliche Wertschätzung verkauft:                       kreter Utopie [Bloch, 2018]) in diesem Wirk-
Das goldene Alter vergoldet die innovativen                         lichwerden des Traumes. Bekanntlich ist – als
Marktanbieter. Über die Ideologie der Innovati-                     Jugendschwarmdenken angegriffen von der
onen wird relativ wenig diskutiert.                                 reaktionären Soziologie von Schelksy (1979) –
                                                                    Gesamtdenkwerk leitender und von Ernst Bloch
Wann ist eine Innovation (Langer, Eurich & Günt-                    (1985) gebildeter Begriff, mit dem die Kultur
ner, 2018) innovativ, also eine innovative Innova-                  einer sozialen Wirklichkeit nach der real mögli-
tion? Wir müssen von einer Funktionskette aus-                      chen Gesellschaftsveränderung gemeint ist.
gehen: Ideologie der Märkte  kapitalistische
Gesellschaft  Wiederholung des »Immer Glei-                        Sozialontologisch gesehen (Falb, 2015) ist Ge-
chen« als Strukturmoment: Daher muss kritisch                       sellschaft als Kollektivität ein Prozess wechsel-
nachgefragt werden: Wann ist eine sogenannte                        seitiger Konstitution, in der Wiederholungen
‚Innovation‘ eigentlich wirklich innovativ, wann                    (Nachahmungen) ebenso wirksam sind wie
könnte man sozusagen von einer ‚innovativen                         Neuerungen. Die Performativität ständiger (ri-
Innovation‘ sprechen?“                                              tualisierter) Replikation induziert die Statik des

–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
15 https://de.wikipedia.org/wiki/Soziale_Innovation. Tag des Zugriffs: 5. März 2021.
16 Der Begriff der Erinnerung als ‚Sehnsucht‘ könnte bedeuten (das ist im Werk von Walter Benjamin so verankert), dass es eine Art
   unbewussten kollektiven Wissens über eine unerfüllte humangerechtere Einheit geben muss. Demnach könnte man Innovationen
   im Grunde als eine Art »Rückkehr-Bewegung« zu einer solchen Einheit betrachten. Das wäre dann sogar quasi ein transgressives
   Denken zur Fortschritts-Leerformel.

                                                               14
Sozialen, die aber aufbrechen kann zu einer Dy-                    entfaltung des menschlichen Wesens) nur eine
namik des Wandels (auf Organisationsebene:                         Vorgeschichte sei und (mit Blick auf das »Wahr-
Froschauer & Lueger, 2015). Zwischen Statik                        werden als Wirklichwerden« des Wesenspoten-
und mutativer Metamorphose stehen transfor-                        zials) noch gar nicht richtig begonnen habe. Die
mative Reformen, um die es hier geht. Dabei                        Welt als Experiment (Bloch, 1975) weist also eine
handelt es sich nicht um jene fiktionale Futuro-                   Richtung (Telos) auf. Bloch analysierte die Reli-
logie (Tarde, 2018a) der klassischen Soziologie                    gionen, allen voran das Christentum auf einen
von Gabriel Tarde (2008a; 2008b; 2018b), der seit                  solchen teleologischen Gehalt an Hoffnung hin.
einigen Jahren erneut entdeckt und breit disku-                    In der Religion, aber auch in der Kunst und der
tiert wird (Borch & Stäheli, 2009). Es geht um In-                 Musik zeige sich ein Vorschein auf eine bessere
novationen (Braun-Thürmann, 2005), die einen                       Welt, die Bloch auch als »Heimat« - damit die
basisinnovativen Charakter transportieren, weil                    notwendige Geborgenheit als Einbettung des
ein ganzes Handlungsfeld betroffen ist und auf                     Subjekts verständlich machend – bezeichnet.
längere Sicht eine radikale, weil disruptive (aber                 –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
nicht im Sinne der Bildung neuer Märkte ver-
standene) Sprunginnovation17 den Unterschied                       Es gehört zum Anspruch kritischen Denkens,
zur inkrementellen Innovation bahnen soll.                         dem Menschen abzuverlangen, das Sich-Ein-
                                                                   lassen auf konkrete Utopien ernsthaft in Erwä-
Um eine solche allgemeine soziologische The-                       gung zu ziehen. Dazu muss der Übergang vom
orie des Wandels, auf die sich auch Howaldt,                       philosophischen Reflektieren der konkreten
Kopp & Schwarz (2014) beziehen, soll es hier gar                   Utopie zur praxisbezogenen Übertragung dieses
nicht gehen. Ich fokussiere hier auf die norma-                    Utopie-Verständnisses im Sinne eines skalierten
tiv-rechtliche Richtungsbestimmtheit des Wan-                      Innovationsverständnisses geleistet werden. In-
dels: Es soll also darum gehen, die Bestimmtheit                   novationen sind in diesem Sinnverständniszu-
der Richtung kompatibel zu machen mit der                          sammenhang als Schritte des »Wirklichwerdens
normativen Gestimmtheit. Wie sollte man sonst                      des Traums« Teil der Wirklichkeit.
die Wirkungen (Bertelsmann Stiftung, 2013) z.
B. von Quartiersarbeit (Burmeister u. a., 2020;                    Oftmals ist das Angebot – z. B. neue Metho-
Kremer-Preiß & Mehnert, 2019) skalieren? Oder                      den und Handlungskonzepte in Heilpädagogik
benötigt man »Barometer« (z. B. Bernhardt,                         und Behindertenhilfe – zwischen Tradition und
2020)? Wenn sogar schon die Ästhetik der Ska-                      Innovation schwer einzuschätzen (Wülleweber
lierung diskutiert wird (Spoerhase u. a., 2002),                   & Theunissen, 2020). Im Sog eines Modernisie-
so sollte doch zuvor geklärt werden, was denn                      rungsdispositivs, nachdem ein linearer Trend
die Maßstäbe sind.                                                 des Fortschritts (neu ist, was neu ist, also noch
                                                                   nicht dagewesen ist) oder modische Zyklen des
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––               »Immer-wieder-erneut-so, aber auch immer et-
Utopisches Denken verstehen:                                       was neu und dennoch ähnlich wie bislang« hohle
Die konkrete Utopie im Sinne einer realen Mög-                     Formwandlungen ohne Inhalt sind, bleibt auch
lichkeit ist für Ernst Bloch ein Synonym für eine                  das Alternativ-Gerede über alternative Formen
»Prozess-Materie«, also für ein substantielles                     zunächst unbestimmt: Wann sind alternative
Telos, sich dialektisch im geschichtlichen Zeit-                   Wohn- und Versorgungsformen (Haefker & Tiel-
strom weiterentwickelnd entfaltend (Schulz-                        king [2017]) innovativ? Auch der Begriff alterna-
Nieswandt, 2020d). In der dialektischen Vermitt-                   tiv muss skaliert werden.
lung von Theorie und Praxis, die sich im Diskurs
wechselseitig überprüfen sollten, generiert sich                   Vertiefungsexkurs:
die »konkrete Utopie«. Im Lichte dieser Ausle-                     Das Problem radikal verstanden:
gung hat die utopische Hoffnung (keineswegs                        Wann ist also eine Innovation innovativ? Kann
– entgegen Rohgalf [2015] – überholt) einen                        man sich in der Antwortsuche oder gar Antwort-
eschatologischen Kern. Mit Karl Marx argumen-                      findung an dem Neuen als paradigmatischer
tiert Bloch, dass die Geschichte der Menschheit                    Wandel im Sinne von Kuhn (1967) orientieren?
bislang (mit Blick auf die humangerechte Selbst-                   Ein paradigmatischer Wandel bleibt nicht im
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
17 Aber nochmals anders gemeint als an anderer Stelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Agentur_für_Sprunginnovation. Tag des Zu-
   griffs: 24. Februar 2021.

                                                              15
Sie können auch lesen