Was tun wir, wenn wir lehren? Zu einer Allgemeinen Pädagogik des Unterrichts anhand Hannah Arendts Tätigkeitsformen - Ingenta Connect

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PR 2021, 75. Jahrgang, S. 537-551
                      © 2021 Cornelia Rémon - DOI https://doi.org/10.3726/PR052021.0051

                                            Cornelia Rémon

              Was tun wir, wenn wir lehren?
           Zu einer Allgemeinen Pädagogik des
           Unterrichts anhand Hannah Arendts
                     Tätigkeitsformen

1. Der geborene Lehrer und                                 „zulegen“ können, um Lehre nicht nur in
    die Technik des Unterrichts                             spontanen sozialen Begegnungen zu voll-
                                                            ziehen, sondern auch vorzubereiten und
Das Verhältnis der Pädagogik zur Technik                    planmäßig zu gestalten. Unterrichten hat
ist so eine Sache. Zu sagen, es wäre um-                    demnach technologische Dimensionen,
stritten, trifft es nicht einmal gut: In philo-             wobei zu klären sein wird, welche Aspekte
sophischer Pädagogik, Systemtheorie und                     des Technischen hier gemeint sind: Sol-
selbst in der empirischen Forschung, wo                     len die Mittel ausgehend von feststehen-
man eine technologisch gedachte Pädago-                     den Unterrichtszielen eingesetzt werden?
gik noch am ehesten vermuten würde, ist                     Braucht es kybernetische Regelkreise?
man sich weitestgehend einig, dass Päda-                    Ist das Kind als Material oder bedienbare
gogik ein Technologiedefizit habe und fügt                  Maschine zu verstehen? Lassen sich Kau-
dazu mancherorts gleich noch ein Techno-                    salzusammenhänge annehmen? Gehört
logieverdikt hinzu: Nicht nur könne päda-                   eine gewisse Gewaltanwendung dazu?
gogisches Handeln keine Technik bieten,                     Es gilt zu klären, welche Aspekte einer
die Pädagogik dürfe es auch gar nicht1.                     Erziehungs- und hier insbesondere Unter-
Insbesondere für das Lehren und, hier                       richtstechnik tatsächlich theoretisch wie
als Unterform des Lehrens verstanden,                       ethisch zu verwerfen sind und in welcher
das planende, systematische Unterrichten                    Hinsicht das Technische seine Berechti-
werden diese Postulate aber fraglich. Dass                  gung für pädagogisches Handeln hat. Die
sich Unterricht nicht darin erschöpft, vor-                 Positionierung in dieser Frage ist nicht trivi-
her gefasste Pläne maschinell abzuarbei-                    al, sie bringt Konsequenzen im Menschen-
ten, ist evident. Das andere Extrem aber,                   bild, Berufsverständnis, in der Gestaltung
es brauche, um zu unterrichten, nur Talent,                 von Studiengängen und nicht zuletzt in den
den „geborenen Erzieher“ oder pädago-                       Abhängigkeiten und Freiheitsgraden der
gisches Genie, lässt ebenfalls zweifeln.                    Lehrenden mit sich.
Unterrichtsziele, -methoden, -strukturen,                        Um das Verhältnis von Unterricht und
-skizzen und -entwürfe verweisen auf ein                    Technik auszuloten, wagt die folgende
„Handwerkszeug“, das Lehrende sich                          Analyse einen Blick über den pädagogi-
                                                            schen Tellerrand. Mit den Grundformen

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menschlicher Tätigkeiten, die Hannah                        Tätigkeiten sind hier ausgeschlossen;
Arendt in Vita Activa beschreibt, kommt                     Politik meint das öffentliche Miteinander,
eine Denkerin zu Wort, die sich eingehend                   das sich im Reden und Handeln, im freien
mit technischem Herstellen im Umgang mit                    Streit der Positionen zeigt.
Menschen befasst hat – dies allerdings nur                       Trotz aller politischen Orientierung
am Rande für die Pädagogik, vielmehr für                    sind es insbesondere anthropologische
die Politik.                                                Fragen, die in ihrer Untersuchung der
                                                            Grundbedingungen menschlichen Lebens
                                                            zum Tragen kommen. Auch im englischen
                                                            Originaltitel The human condition findet
2. Hannah Arendt als Pädagogin?                            dies Ausdruck5. Letztlich sucht Hannah
    Der anthropologische                                    Arendt eine Antwort auf die Frage: „Was
    Ansatz in Vita Activa                                   tun wir, wenn wir tätig sind?“6. Diese fällt
                                                            dreifach aus: Menschliche Tätigkeiten
Es scheint daher gewagt, Hannah Arendts                     werden in das Arbeiten, das Herstellen
Gedanken zu einem Bezugspunkt erzieh­                       und das Handeln unterschieden, orien-
ungswissenschaftlicher Überlegungen zu                      tiert an drei menschlichen Bedingungen –
machen: Explizit pädagogische Veröffentli-                  Leben, Weltlichkeit und Pluralität – die
chungen von ihr beschränken sich auf den                    wiederum in Geburt und Tod gründen.
Vortrag Die Krise der Erziehung, in dem                     Einschränkend erwähnt Arendt, dass sich
sie gleich zu Beginn deutlich macht, dass                   ihre Differenzierung der Tätigkeiten auf
sie von Pädagogik „im Sinne der Experten                    die Spanne bis zum Beginn der Frühen
nichts versteh[t]“.2 Sie selbst sah sich als                Neuzeit bezieht, aber in ihrer Klarheit auch
politische Theoretikerin. Dennoch weist                     die moderne, aus ihrer Sicht weltentfrem-
Arendts Denken zahlreiche Bezugspunkte                      dete Gesellschaft verständlicher machen
und Anschlussstellen zu pädagogischen                       kann7. Für die Neuzeit führt sie als vierte
Sachverhalten auf. So nimmt es nicht wun-                   Tätigkeit das Sich-Verhalten ein. So ent-
der, dass sie in erziehungswissenschaftli-                  steht ein umfassendes Panorama tätigen
chen Diskussionen immer wieder rezipiert                    menschlichen Lebens, das z. B. körper-
wird3, neben dem genannten Vortrag ins-                     liche Arbeit, Handel, Handwerk, Wissen-
besondere ihr philosophisch orientiertes                    schaft und Kunst einschließt. Arendt rein
Werk Vita activa. Dort verortet sie politi-                 auf die Politikwissenschaft zu beschrän-
sches Handeln im Rahmen menschlicher                        ken, wäre wohl sachlich wie rezeptions-
Bedingtheit und Tätigkeiten nach antikem                    historisch unangebracht. Vita Activa ist
Vorbild. Politik versteht sie am Modell der                 historische Beschreibung und Analyse
Polis und grenzt dies von einem moder-                      der modernen Verhältnisse zugleich, ins-
nen Politikverständnis ab: „Was wir unter                   besondere mit Blick auf die Sphäre der
Herrschen und Beherrschtwerden, unter                       Öffentlichkeit, die aufgrund ihres weiten
Macht und Staat und Regierung verste-                       Politikverständnisses disziplin­übergreifend
hen, kurz unsere gesamten politischen                       Relevanz entfaltet.
Ordnungsbegriffe galten umgekehrt als                            Anhand von Arendts Tätigkeitsformen,
präpolitisch; [...] waren im eigentlichen                   die als Kategorien menschlichen aktiven
Wortsinne unpolitisch – nicht der Polis                     Lebens verstanden werden, soll im Fol-
zugehörig.“4 Dieses ungewöhnliche Ver-                      genden erörtert werden, inwiefern das
ständnis von Politik macht u. a. den Reiz                   Lehren mit der jeweiligen Kategorie sinn-
von Arendts Schrift aus. Jegliche an Nütz-                  voll beschrieben werden kann. Dabei soll
lichkeit und Notwendigkeit orientierten                     keine eindeutige Zuordnung erzwungen

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werden, die die Sache des Lehrens nicht                     spricht gar davon, dass Arbeit immer Skla-
von selbst anbietet. Vielmehr sollen die                    verei ist, wenn auch nicht im Sinne der
daraus gewonnenen Reflexionen weitere                       Institution, sondern weil sie keine Möglich-
Einsichten in das zwischen den Polen von                    keiten des freien Verfügens und Neuanfan-
technischer Machbarkeit und genialer In-                    gens bietet.11 Zentral für die Bestimmung
tuition schillernde Phänomen des Lehrens,                   der Arbeit erscheint also ihr notwendender
insbesondere des schulischen Unterrich-                     sowie ihr zyklisch-vergänglicher Charakter.
tens, bieten und so einen Beitrag zu einer                       Die Vergänglichkeit, mit der das Arbei-
Allgemeinen Pädagogik des Unterrichts                       ten behaftet ist, betrifft im Gegensatz zu
leisten8.                                                   anderen Tätigkeiten wie dem Herstellen
                                                            nicht nur die Ausführung, sondern auch
                                                            das von ihm Produzierte. Arendt stellt für
3. Lehren als Arbeiten                                     die Antike fest, dass die Verachtung des
                                                            Arbeitens zum einen darin begründet lag,
Die erste von Arendt vorgestellte Tätigkeit                 dass aus ihm kein bleibendes Werk ent-
ist das Arbeiten, dessen anthropologische                   steht12. Sein Gegenstand ist die Natur,
Bedingung „das Leben selbst“9 ist. Leben                    sein Produkt Konsumgüter im wörtlichen
ist hier zunächst vegetativ gemeint: Der                    Sinne: Kaum sind sie in der Welt, müssen
menschliche Organismus verleibt sich                        sie verzehrt werden oder verderben. Wann
die Natur in Form von Nahrung ein, um in                    immer mehr erzeugt wird, als die Arbeiten-
andauernden Stoffwechselkreisläufen fort-                   den verbrauchen können, bedarf es daher
zubestehen. Durch Arbeit sichern Men-                       eines Umtausches in ein Beständigeres,
schen diesen Fortbestand, indem sie an                      wie z. B. Geld, so dass der Verdienst des
den natürlichen Zyklen von Wachsen und                      Lebensunterhalts als monetäres Einkom-
Vergehen kultivierend teilhaben, beispiels-                 men die Arbeit im ursprünglichen Sinn er-
weise in Ackerbau und Viehzucht. Nun                        setzen kann13. Zum anderen mangelte es
wäre Arbeit als Gesamtphänomen aber                         dem Arbeiten aus Sicht antiker Denker an
zu kurz gedacht, verbliebe sie ausschließ-                  Öffentlichkeit: Arbeit spielte sich verbor-
lich im Bereich von Körperfunktionen. Sie                   gen im privaten Haushalt ab, was sich erst
meint zugleich das im Privaten geführte                     mit der modernen Arbeiterbewegung zu
alltägliche Leben mit seiner Last, die von                  ändern begann14.
Menschen eingerichtete Welt vor den                              Pädagogische Überlegungen haben
natürlichen Wachstums- und Verfallspro-                     mancherorts Bilder gebraucht, die aus
zessen zu schützen. Als Beispiele nennt                     dem Horizont des Arbeitens stammen:
Arendt hier Hausarbeiten wie das Aufräu-                    Das Kind als Samen oder Pflanze, die es
men und das Putzen10. All dies hat den                      zu kultivieren und vor widrigen Einflüs-
Anschein einer vergeblichen Tätigkeit: Ar-                  sen zu schützen gilt, findet sich zentral
beit gelangt prinzipiell nie zu einem Ende.                 bei Rousseau und zieht seine Kreise in
Zugleich ist sie aber der Grund, ohne den                   reformpädagogischen Milieus. Der Erzie-
alle anderen Tätigkeiten nicht denkbar                      hende bzw. Lehrende wird zum hegenden
wären. In der Versorgung grundlegender                      Gärtner. Meist ist damit die Vorstellung
menschlicher Bedürfnisse lindert die Ar-                    des schon vollständig veranlagten Kin-
beit im Arendt’schen Sinne Bedrängnisse                     des verbunden, das seine Fähigkeiten
der schieren menschlichen Existenz; sie ist                 nur noch, am besten unter gedeihlichen
im wahrsten Sinne des Wortes Not-Wen-                       Bedingungen, zu entfalten hat. Als Arbeit
dung und ermöglicht so zwar freies Tun,                     verstanden wäre Lehren sodann eine Kul-
birgt aber selbst keine Freiheiten. Arendt                  tivierung des sich natürlich Einstellenden.

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Dies mag zunächst plausibel klingen. Nun                    stammt zwar wie beim Arbeiten aus der
sind es aber gerade die sich selbstentfal-                  Natur, wird aber keinesfalls in seiner na-
tenden Entwicklungsschritte der Kinder,                     türlichen Verfassung belassen. Herstellen
die nicht lehrbar im Sinne von Unterricht                   unterbricht die natürlichen Zyklen, entreißt
sind; man denke z. B. an das Laufenlernen                   die Materie ihrer Einbettung und versucht,
oder die Fähigkeit zur Perspektivübernah-                   sie in umgestaltete, dauerhafte Objekte zu
me. Sie ereignen sich im Miteinander von                    überführen, verdinglicht und verweltlicht
Menschen auch ohne erzieherische Inten-                     sie; man denke z. B. an einen Tisch, der in
tionen. Die üblichen Gegenstände des                        seiner Haltbarkeit die Lebensspanne des
Unterrichts dagegen sind höchstens für                      Schreiners lange überdauern kann. Her-
strenge Platoniker bereits im Kind vorhan-                  stellen zeigt sich so als ein gewalttätiger
den; schon gar nicht sind sie Konsumgü-                     Akt, in dem der Mensch sich des Materi-
ter, die bei Gebrauch aufgezehrt werden.                    als ermächtigt und es nach seinem Willen
Auch wenn in der Antike pädagogische                        formt, als Versuch, seiner kreatürlichen
Tätigkeiten äußerlich den Charakter des                     Vergänglichkeit etwas entgegenzuhalten
Arbeitens hatten, Pädagogen Sklaven und                     und seinem Leben Stabilität zu verleihen.
Eigentum des Hausherren waren und sich                      Arbeiten, Herstellen und Handeln sind in
Erziehung und Unterricht von Kindern al-                    jeweils eigener Weise eine Antwort auf die
lein im Privathaushalt abspielte, müssen                    menschliche Sterblichkeit.
wir für unsere Zeit andere Zuschreibungen                        Das übergeordnete Motiv, dem eige-
finden. Lehren als Tätigkeit in die Katego-                 nen Dasein Dauer zu verleihen, ist nach
rie der Arbeit zu fassen führt in der Mo-                   Arendt aber nicht das maßgebliche, das
derne zu absurden Schlussfolgerungen,                       der Herstellende bei seiner Tätigkeit ver-
sowohl in der Gegenstandskonstitution als                   folgt: „Um des Ideals der Nützlichkeit wil-
auch den Modi und dem Produkt der Tä-                       len, das ihn in seinem Tun leitet, tut Homo
tigkeit. Und doch ist der Vergleich in einer                faber alles, was er betreibt, in der Form
Hinsicht nicht von der Hand zu weisen:                      des Um-zu, um einen bestimmten Zweck
Lehren kann auch im Feld der Arbeit be-                     zu erreichen.“17 Die Bearbeitung des Na-
schrieben werden, sofern es dem Lebens-                     türlichen erfolgt hier zunächst im Sinne
unterhalt dient15. Dabei geht es allerdings                 des zweckrationalen Gebrauchswerts.
um dessen Verwertbarkeit im Sinne eines                     Dies führt den Menschen in die Aporie,
Broterwerbs, nicht um die Sache des Leh-                    dass der Zweck selbst zum Sinn mensch-
rens selbst, die weiter im Fokus stehen                     licher Tätigkeit wird. Bei keiner anderen
soll.                                                       Tätigkeit gilt so sehr wie hier, dass der
                                                            Zweck die Mittel heiligt; mehr noch wer-
                                                            den die Mittel erst durch den Zweck er-
4. Lehren als Herstellen                                   dacht und organisiert: Der geübte Schlag
                                                            wird so ausgeführt, dass er den Stein in
Im Gegensatz zum Arbeiten ist das Her-                      Form bringt, dessen Gestalt wiederum der
stellen bei Arendt eine Tätigkeit, die nicht                Stabilität des Hauses dient.
aus dem Bedürfnis zu überleben, sondern                          Herstellen hat dabei, anders als das
sich eine Welt einzurichten, erwächst16.                    zyklisch gefasste Arbeiten, einen klaren
Als Grundbedingung nennt sie daher                          Anfang und ein definitives Ende, wenn der
Weltlichkeit: den Umstand, dass der                         erdachte Gegenstand als fertiges Ding
Mensch auf Dinge außerhalb seiner selbst                    geschaffen ist. In diesem selbstbestimm-
angewiesen ist, die ihm objektiv entge-                     ten Schaffensprozess und der anschlie-
genstehen. Das Material des Herstellens                     ßenden Möglichkeit, das Werk wieder

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zu zerstören, sieht Arendt die besondere                    sich an der Haltung des Herstellenden:
Freiheit des Herstellenden18. Er ist souve-                 Der Mensch erscheint hier als Mittel, mit
rän in Bezug auf die Dinge, weltnah, aber                   dem verfahren werden kann wie mit einem
unabhängig von den Notwendigkeiten                          beliebigen Material, worin sie eine Miss­
des Lebens. In dieser Souveränität liegt                    achtung der Einzigartigkeit der Person
für Arendt die Verführung, Herstellen zum                   sieht20. Arendt hat dies angesichts des
Grundmodus aller Tätigkeiten zu erheben                     Zweiten Weltkrieges und des Holocausts
und insbesondere das Handeln aus dem                        deutlich vor Augen gestanden; Krieg nennt
öffentlich-politischen Raum zu verdrängen.                  sie als Beispiel, bei dem das zwischen-
Denn das Herstellen kennt neben dem                         menschliche Handeln unter die Zweckge-
planenden und schaffenden Rückzug in                        bundenheit des Herstellens gerät. Für den
die Privatheit auch eine Öffentlichkeit: den                Soldaten spielt die einzelne Persönlichkeit
Tauschmarkt. In diesem Raum zählt nicht                     des Gegners keine Rolle; als unbekann-
allein die Qualität des Produktes und sein                  tem Feind, den es zu töten gilt, ist diesem
Gebrauchswert, sondern sein Tauschwert.                     seine Würde genommen. Eine mahnende
Dass Produkte vorrangig zur Ware wer-                       Veranschaulichung dieses Gedankens
den, Händler und Hersteller auseinander-                    findet sich in der „Halle der Namen“ der
treten, nimmt in kapitalistischen Systemen                  Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad
teilweise groteske Formen an, wenn An-                      Vashem: Die vielen Ermordeten, die in den
gebot und Nachfrage allein über den Wert                    Gaskammern und Massengräbern als blo-
bestimmen. Es ruft Skepsis insbesonde-                      ßes Leichenmaterial erschienen, werden
re dort hervor, wo kommerzielles Denken                     hier mit ihren Namen einzeln aufgeführt.
auf Produkte der Arbeit ausgeweitet wird,                   Der Beginn der Sammlung fiel in die Zeit
die dem Überleben dienen (Lebensmittel-                     der Veröffentlichung von Vita activa und
spekulationen) sowie auf den Menschen                       möchte bis heute „die namenlosen Opfer
selbst (Sklavenmärkte, Humankapital).                       des Holocaust [...] identifizieren, damit ihr
    Dennoch stellt Arendt fest, dass im                     Andenken für immer erhalten bleibt.“21
Grunde jedes hergestellte Ding in seinem                        Mit Arendt wird damit ein starkes ethi-
Sein über das Gebrauchtwerden hinaus-                       sches Argument ins Feld geführt, das
geht – allerdings nicht ökonomisch, son-                    jeden Pädagogen hinsichtlich eines Tech-
dern ästhetisch. Im Extrem zeigen dies                      nologieverbots aufhorchen lässt: Wenn
Kunstwerke, die in sich selbst keinen Nut-                  im Herstellen Zweckrationalität herrscht,
zen haben und denen nur ein willkürlicher                   Souveränität über das Material ange-
Wert zugeschrieben werden kann. Im Be-                      nommen wird, Gewalt der grundlegende
reich der Kunst finden sich selbst Formen                   Modus ist und letztlich in der Missachtung
des Herstellens, die wenig oder gar kein                    der Person die Würde des Menschen auf
Material benötigen, wie Musik oder Dich-                    dem Spiel steht, kann dies doch keine
tung. Es verwundert nicht, dass Arendt an                   Kategorie für pädagogisches Tätigsein
dieser Stelle die passendste Verbindung                     darstellen?
zu der dritten von ihr beschriebenen Tätig-                     Doch finden sich Gegenbeispiele: Dem
keit, dem Handeln, sieht.19                                 klassischen Bild des Pädagogen als „Gärt-
    Was Arendt im Bereich der Kunst le-                     ner“ wird das des „Bildhauers“ gegen-
gitim scheint, gilt jedoch nicht für den                    übergestellt22. Das Kind erscheint hier als
Bereich des Zwischenmenschlichen. Ve-                       rohes Material, dem erst Gestalt verliehen
hement wehrt sie sich gegen einen tech-                     werden muss – in der Analogie tatsächlich
nischen Zugang zu Menschen am Modell                        durch handwerkliche Gewaltanwendung;
des Herstellens. Insbesondere stört sie                     und dies umso mehr, je widerständiger

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das Material sich zeigt. Zwar geschieht                     des Erziehers voraussetzt“.24 Trotz aller
dies in der professionellen Pädagogik                       Einwände, die wohl durchaus im Sinne
heute nicht mehr als körperliche Züch-                      Arendts wären, scheint das technische
tigung, wie noch vor wenigen Jahrzehn-                      Moment, insbesondere des Unterrichtens,
ten üblich. Doch kann sich der Gedanke                      nicht ganz von der Hand zu weisen zu sein.
halten, mit der nötigen Technik oder dem                    Am Begriff der techné, der Kunstfertigkeit,
nötigen „Handwerkszeug“ in Form von                         soll dem Gedanken des Unterrichts im
Methoden, Maßnahmen und Regelkreis-                         Sinne des Herstellens deshalb vertiefend
systemen, denen der Zielwert vorgegeben                     nachgegangen werden.
wird, Schüler und ihr Verhalten formen zu
können. Nicht geht es um die Person des
jeweiligen Lehrenden, sondern um techni-                    5. Einschub: Lehre als techné
sches Können und Kunstfertigkeit, und es
braucht taugliche Werkzeuge sowie eine                      Das antike Denken kennt neben zweck-
Vorstellung davon, was entstehen soll. Si-                  gebundenen (poíesis) und selbstzweck-
cher kann das eigene Können durch Erfah-                    haften Tätigkeiten (prãxis) eine dritte
rung erweitert und gefestigt werden, aber                   Form, die Kunstfertigkeit (techné). Für die
letztlich sind es kausale Zusammenhänge                     Pädagogik findet man den Gedanken
oder zumindest starke Korrelationen, die                    der Erziehung als techné prominent bei
dem Herstellen als Tätigkeitsform zugrun-                   Schleiermacher in seiner Vorlesung von
deliegen. Diese sind, hat man die Gesetze                   1826. Eine rein auf Intuition und Erfahrung
dahinter einmal verstanden, erlernbar und                   beruhende Pädagogik ist ihm darin zuwi-
wissenschaftlich vermittelbar.                              der; das Wissen um das faktisch Gegebe-
    Selbst von manchen Vertretern einer                     ne hält er für nicht hinreichend. Der Titel
geisteswissenschaftlich orientierten Pä-                    Grundzüge der Erziehungskunst kündigt
dagogik wird Lehren explizit als Technik                    sein Verständnis einer wissenschaftlich
verstanden. Otto-Friedrich Bollnow kon-                     gedachten Pädagogik bereits an. Kunst ist
statiert: „Vieles im Unterricht (und in der                 hier nicht verstanden im Sinne modernen
Erziehung allgemein) ist eine Technik: die                  ästhetischen Subjektivismus, sondern als
Anwendung eines erlernten Wissens, wie                      Kunstlehre, die spekulative Prinzipien auf
man es in der Psychologie, der Soziologie                   das jeweils Vorliegende anwendet. Sie
oder speziell der Fachdidaktik gelernt hat,                 setzt sich dabei, analog zum Handwerk,
um damit den Unterricht planmäßig zu ge-                    mit einer Vorstellung (eídos) auseinander,
stalten.“ Und weiter: „[...] so kann man in                 bedenkt Ziel und Zweck des Tuns (télos)
einem gewissen Sinn auch den Lehrer als                     und fragt nach geeigneten Handlungs-
einen Unterrichts-Ingenieur betrachten.“23                  weisen (týpos)25. Dabei geht es hier, im
Bollnow gibt zugleich zu bedenken, dass                     Unterschied zum Handwerk, aber gerade
mangelnde Planbarkeit und „daß hier der                     nicht um eine rücksichtslose Unterord-
Schüler als ein Material betrachtet wird,                   nung unter das télos (und das, obwohl
das es zu bearbeiten gilt“ Grenzüber-                       Schleiermacher darin nicht Nützlichkeit,
schreitungen des technischen Paradigmas                     sondern die jeweilige Idee des Guten
darstellten. Es brauche einen Verständnis-                  sieht). Er betrachtet den Zweck mora-
horizont, vor dem pädagogisches Handeln                     lisch, die Vorstellung anthropologisch, die
stattfindet, dessen Bildung „nicht in Analo-                handelnde Umsetzung politisch. Im eídos
gie zum Erwerb handwerklicher Fertigkeit                    bedenkt Schleiermacher die natürlichen
zu begreifen ist, sondern [...] die Überwin-                Anlagen des Menschen mit. Dem týpos,
dung der natürlichen Selbstbefangenheit                     der im Handwerk bloßes Mittel ist, verleiht

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er genauso orientierenden Charakter wie                     verstehen. Somit ist der ,pädagogische
den anderen Dimensionen, wenn er fragt:                     Künstler‘ an die Verantwortung gebunden,
„[...] wie wird die Tätigkeit dem Zweck,                    der Sache, die ihn anspricht, gerecht zu
das Resultat der Tätigkeit entsprechen“26?                  werden.“29 Im „Produkt“ des Unterrichtens
Die Kunst besteht gerade darin, diese                       können sich „fachliches Können und Wis-
Dimensionen begründet und harmonisch                        sen oder Mündigkeit und Mitmenschlich-
aufeinander abzustimmen. So kommen                          keit in einer jeweiligen Person spezifisch
am Modell des Handwerks dennoch mo-                         verwirklichen“30.
ralische und personale Dimensionen zum                          Mit der Lehrkunst als techné ist also
Tragen.                                                     eine Tätigkeit beschrieben, die den kriti-
     Speziell für das Unterrichten hat Jo-                  schen Anfragen nach Personalität, Freiheit
chen Krautz den techné-Gedanken stark                       und Würde standhält. Lehre als Kunstfer-
gemacht und eine wichtige Differenzie-                      tigkeit bedarf dann – das wurde nun deut-
rung von Modus und Gegenstand einge-                        lich – nicht nur methodischen, sondern
bracht27. Er unterscheidet Pädagogik als                    ethischen und anthropologischen Wissens
Kunst mit technischen Anteilen von einer                    sowie Könnens.
technologisch-apersonalen       Pädagogik,                      Ein solches Verständnis der techné
die kybernetischen Steuerungslogiken                        nimmt Arendt nicht in ihre Überlegungen
folgt. Krautz zeigt auf, dass Unterricht                    auf. Für das Zwischenmenschliche be-
im Zuge der neueren Reformen einem                          schreibt sie eine eigene Tätigkeitsform, die
technizistischen Modell folgt, statt an                     die Achtung vor der Person wahren soll:
den Fähigkeiten und der Verantwortung                       das Handeln.
der Lehrperson anzusetzen. Dies wider-
spreche sowohl der Personalität, Mün-
digkeit als auch Freiheit von Schülern                      6. Lehren als Handeln
und Lehrern, da die Lehrpersonen nicht
mehr über die Gründe und Wege ihres                         An oberster Stelle der menschlichen
Handelns befinden und situativ urteilen,                    Tätigkeiten der Vita Activa steht für Arendt
sondern vorliegenden Regeln folgen. Er-                     das Handeln, welches aufs Engste mit
ziehung und Lehre, jeweils verstanden als                   dem Sprechen verbunden ist. Pluralität
techné, entgehen demnach auch hier dem                      bildet hier die Grundbedingung: Nur weil
Arendt‘schen Vorwurf der Beliebigkeit der                   Menschen verschieden sind, bei aller Un-
Mittel und der Verdinglichung der Person,                   terschiedlichkeit aber dennoch Gemein-
bleiben aber herstellende Tätigkeiten.                      sames aufweisen, werden Sprechen und
Bezeichnend ist dabei, dass Krautz nicht                    Handeln überhaupt möglich31. Warum für
das Kind als Werk des Lehrens ansetzt,                      Arendt allein das Handeln dem zwischen-
wie es bspw. Klaus Prange explizit tut28,                   menschlich-öffentlichen Bereich angemes-
sondern die geteilte Sache, den gemein-                     sen ist, wird in Ausführung, Gegenstand
samen Lehr- und Lerngegenstand. Das                         und Produkt dieses Tuns deutlich: Han-
Kind selbst ist relational gedachter Mit-                   deln erfolgt weder im Modus des Konsums
mensch, der das Werk mit bedingt: „Der                      noch der Gewalt, weder ist es bestimmt
Pädagoge gestaltet eine Antwort auf das,                    von Not noch von Zweckrationalität. All
was ihm vom Schüler entgegenkommt.                          dies hält Arendt in Bezug auf Menschen
Er gestaltet nicht den Schüler nach sei-                    für unangemessen, wie ihre Einwände
nem eigenen Willen, sondern nach dem                        zum Herstellen zeigten. Handeln wahrt die
Wunsch und Willen, der ihm entgegen-                        Würde und Personalität des Einzelnen:
kommt und den er sich bemühen muss zu                       Sichtbar werden nicht nur Wort und Tat,

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sondern darin er selbst als Person; spre-                   Gerade weil zunächst nichts außerhalb
chend überzeugt der Handelnde seine                         des Handelns und Sprechens selbst ent-
Gegenüber, ohne sie zu überwältigen. Der                    steht, ihr Vollzug immer aktuell ist, haben
Gegenstand des Handelns liegt somit gar                     sie ihren Zweck in sich selbst34. Daran
nicht außerhalb des Menschen, sondern in                    mag man zweifeln und so manchem Han-
seinen Relationen zu anderen Menschen                       delnden doch augenscheinlich eine zweck-
angesichts einer gemeinsamen Welt.                          hafte Intention unterstellen. Arendt kontert,
Als Produkt entsteht ein vielschichtiges                    das Handeln sei „unfähig [...], irgendeinen
System aus öffentlichen Taten und Wor-                      Zweck, so wie er einmal konzipiert ist, je
ten, das Arendt das „Bezugsgewebe der                       zu verwirklichen. Denn alles Handeln fällt
menschlichen Angelegenheiten“32 nennt.                      in ein Netz von Bezügen, in welchem das
Arendt setzt hier eine spezifische Konstel-                 von den einzelnen Intendierte sich sofort
lation von Gemeinschaft und Individuum                      verwandelt und als eindeutig feststehen-
an: Zwar geht dieses Gewebe dem Ein-                        des Ziel, als Programm etwa, gerade sich
zelnen immer schon voraus, doch bringt                      nicht durchsetzen kann“35. Es ist dem
dieser es in seinen individuellen Worten                    Handeln – aufgrund seiner Unabsehbar-
und Taten zugleich mithervor. Nicht ist                     keit und Irreversibilität – wesentlich, dass
der einzelne Mensch nur unspezifisches                      es gar keine Zwecke verfolgen kann36.
Bruchstück einer größeren Gemeinschaft,                          Nachdem Notwendigkeit und Nützlich-
sondern „handelnd und sprechend offen-                      keit von ihr ausgeschlossen wurden, ließe
baren Menschen jeweils, wer sie sind,                       sich angesichts Arendts politischer Per-
zeigen aktiv die personale Einzigartigkeit                  spektive und der Betonung der Pluralität
ihres Wesens“33. Auch unabhängig vom                        vermuten, dass die menschliche Gemein-
gesprochenen Inhalt erkennen wir einen                      schaft zum grundlegenden Motiv des Han-
Menschen am Klang seiner Stimme, an                         delns wird. Erstaunlicherweise bestimmt
seiner Bewegung im Raum, an Gestik und                      sie dieses aber auf Seiten des Einzelnen:
Mimik; alles zeugt von ihm als Person. Und                  „der Antrieb [zum Handeln, CR] scheint
wo uns Menschen nicht bereits bekannt                       vielmehr in dem Anfang selbst zu liegen,
sind, schwingt dennoch in jedem Aus-                        der mit unserer Geburt in die Welt kam,
druck mit, wer jemand ist. Für das Politi-                  und dem wir dadurch entsprechen, daß
sche gesprochen entscheidet sich für uns                    wir selbst aus eigener Initiative etwas
auch daran, ob wir diesen Menschen für                      Neues anfangen.“37 Die menschliche Nata-
vertrauenswürdig halten, wie viel Respekt                   lität wird hier zur treibenden Kraft des Po-
wir ihm zollen und ob er uns überzeugt.                     litischen. Arendt unterscheidet die erste,
Wie wir selbst erscheinen, so Arendt, ist                   faktische Geburt, bei der Menschen als
uns dabei kaum zugänglich. So mancher                       Säuglinge neu in die Welt kommen, von
ist sich seltsam fremd, wenn er die eigene                  einer zweiten Geburt, die dieses Neue in
Stimme hört oder sich in Video-Aufnahmen                    einer unberechenbaren Handlung wieder
sieht.                                                      aufgreift. Dies ist für Arendt weit mehr als
     Streng genommen bringt das Handeln                     eine Metapher. Die erste Geburt, das eige-
und Sprechen, genauso wie das Denken,                       ne Angefangensein, stiftet das grundsätz-
nichts Gegenständliches hervor. Was sich                    liche Vermögen, anzufangen. Im Handeln
im Handeln rückblickend vielmehr von                        sieht sie eine Antwort auf die Gebürtlichkeit
selbst ergibt, sind Geschichten; aber erst                  des Menschen38, durchaus im Sinne einer
wenn diese flüchtigen Erzählungen erin-                     Ver-Antwortung für unsere Existenz, die
nert oder verdinglicht werden – z. B. auf-                  wir übernehmen müssen. Dies geschieht
geschrieben werden – haben sie Bestand.                     nicht, wie in vielen Herrschaftsformen, im

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Modus der Gewalt, sondern des Überre-                       im sozialen Miteinander von Menschen,
dens und Überzeugens39. Handeln ist ge-                     verwobenen Biographien sowie der Ein-
rade nicht das erwartbare Verhalten des                     zigartigkeit und Freiheit des Einzelnen.
braven Bürgers, sondern das Wagnis, ins                     Wie aus einem Lehrbuch zur Bildungsthe-
Licht der Öffentlichkeit zu treten, als Per-                orie ließe sich dies auf das Pädagogische
son für die eigenen Überzeugungen einzu-                    übertragen. Doch darf man sich hier nicht
stehen und mit dieser Initiative das Initium                blenden lassen: Zwar zeigen sich Lehrer
der eigenen Geburt zu aktualisieren. Weil                   und Schüler in ihren Worten und Taten si-
der Mensch selbst Anfang ist, kann er                       cherlich immer auch als Personen. Lehren
immer wieder anfangen; weil er selbst als                   wäre damit, und das entspricht unserer le-
Neuer in die Welt kam, kann er politisch                    bensweltlichen Erfahrung, von jedem Men-
das Neue initiieren. Dieser „Neuanfang                      schen und für jeden Menschen anders,
steht stets im Widerspruch zu statistisch                   weil sich die Einzigartigkeit des Einzelnen
erfaßbaren Wahrscheinlichkeiten, er ist                     darin zeigt oder besser: nicht verbergen
immer das unendlich Unwahrscheinli-                         lässt. In ihren spärlichen Äußerungen zur
che“40, erscheint daher als Wunder. Durch                   Pädagogik zieht Arendt jedoch eine klare
ihre Unvorhersehbarkeit und Ungebun-                        Trennlinie zwischen Politik und Erziehung
denheit wird Natalität so zur Bedingung                     sowie Unterricht42. Diese Trennung beruht
der Möglichkeit von Freiheit41. Dennoch                     im Wesentlichen darauf, dass wir es in
ist die Freiheit des Handelns anders zu                     klassischen pädagogischen Verhältnissen
verstehen als die des Herstellens: Weder                    nicht mit Ebenbürtigen zu tun haben –
besitzt der Handelnde die beschriebene                      zwar Gleichen in Wert und Würde, aber
Souveränität über seinen Gegenstand,                        eben nicht in Können, Wissen und Reife.
noch kann er sich bestimmter Gesetzmä-                      Arendt setzt deshalb auf Traditionsbestän-
ßigkeiten nach Belieben bedienen; frei ist                  de statt Selbstbestimmung und auf Autori-
er gerade darin, das Erwartete initiativ zu                 tät, die in der Verantwortung gründet, die
durchbrechen. Deshalb bedeutet Freiheit                     Erwachsene für die Welt übernehmen43.
für politische Strukturen auch potentielle                  Die Versorgung und Erziehung der Nach-
Zerbrechlichkeit. Immer wieder steht das                    kommen sowie Unterricht können mit
Gewebe der menschlichen Angelegenhei-                       Arendt höchstens prä-politisch gesehen
ten in Frage, weil ständig neue Menschen                    werden, und zwar als Vorbereitung auf das
in die Welt kommen, deren Handlungen                        öffentliche Leben44. Wenn wir also fragen,
und Worte alles umstürzen können. Viel-                     was wir tun, wenn wir unterrichten, so
leicht, wähnt Arendt, ist es gerade diese                   können wir, zumindest aus Arendts Sicht,
Zerbrechlichkeit des menschlichen Mitein-                   nicht von Handeln im beschriebenen Sinne
anders, die von der Antike bis heute dazu                   sprechen. Zugleich müssen wir Einwände
führt, Handeln durch Herstellen ersetzen                    gelten lassen: Überzeichnet Arendt die
zu wollen und das Mittel der Gewalt sowie                   antike Dualität von Privatheit und Öffent-
überhaupt ein Zweck-Mittel-Denken für die                   lichkeit für die heutigen Verhältnisse nicht
Politik zu etablieren.                                      allzu deutlich? Es soll zunächst eine päda-
    Dass diese Gedanken für die Päd-                        gogische Form des Handelns beschrieben
agogik – auch für das Phänomen des                          werden, die nicht auf Öffentlichkeit ange-
Lehrens – Bedeutsamkeit entfalten, liegt                    wiesen ist, bevor Arendts vierte Tätigkeit,
nahe. Überhaupt erscheint der Begriff des                   das Sich-Verhalten in modernen Gesell-
Handelns in oberflächlicher Lesart eine                     schaften, beleuchtet wird. Zuletzt soll nach
ideale Vorlage zu sein: Da ist die Rede                     Schulunterricht als einem Zwischen des
von in Erscheinung tretenden Personen                       Privaten und Öffentlichen gefragt werden.

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7. Einschub: Lehre als                                     gerät, wird dies deutlich: Die vom Lehrer
    Lebenslehre                                             als Priorität geforderte gute Schulnote, die
                                                            von einem klugen Schüler mit etwas mehr
Neben der Verortung der Erziehung im Un-                    Fleiß erreicht werden könnte, mag dieser
oder Vorpolitischen sind weitere Einsprü-                   einem ehrenamtlichen Engagement unter-
che gegen Arendts Erziehungsverständnis                     ordnen; das sicher kletternde Kind mag
erhoben worden, insbesondere gegen                          der Sorge der Eltern widerstehen. Auch
ihre Auffassung, die Schule müsse in-                       im sinnorientierten Schulunterricht, in Po-
haltlich konservativ arbeiten und das Kind                  litik, Ethik, Religion, Literatur, kommt das
sei noch kein Mensch im vollen Sinne45.                     Urteilen und Einstehen für die eigene Deu-
Diese Einwände sind sicher überall dort                     tung des Lebens auf. Ob dieses bereits
gerechtfertigt, wo es nicht um Wissen,                      allgemein-politische Relevanz entfalten
Können oder Entwicklungsphasen geht,                        kann, steht pädagogisch zunächst nicht im
sondern um Sinn. Für diesen lässt sich ein                  Fokus. Politisch spricht sich Arendt gegen
pädagogischer Autoritätsanspruch in der                     eine Beteiligung von Kindern und Jugend-
Moderne nicht halten; stets müssen Le-                      lichen aus; deren öffentliches Engagement
bensdeutungen verhandelt werden. Eugen                      in den vergangenen Jahren, insbesonde-
Fink hat dies – in erstaunlicher Nähe zu                    re bei ökologischen Themen, sowie die
Arendts Ausführungen zum Handeln – im                       Kinderrechtsbewegung gibt hier zu den-
Gedanken der Lebenslehre entfaltet46.                       ken. Vielleicht liegt eine Schwäche der
Explizit als ein pädagogisches Phänomen                     Arendt‘schen Einschätzung von Erziehung
beschreibt er, wie Menschen sich in ihrem                   nicht im Gedanken der Schonung und
Lebensvollzug gegenseitig ein Beispiel                      Vorbereitung und nicht in konservativen In-
davon geben, was Leben heißt und wie                        haltssetzungen, sondern in der Annahme,
menschliche Existenz ausgedeutet werden                     Kinder und Jugendliche würden während-
kann. Erwachsene und Kinder werden hier                     dessen die gemeinsame öffentliche Welt
gleichermaßen in eine Beratungsgemein-                      noch nicht mitgestalten.
schaft mit ungewissem und prinzipiell ohne
endgültigen Ausgang gestellt. Fink denkt
hier an ein alltägliches, auch beiläufiges                  8. Lehren als Sich-Verhalten
Miteinander, das wie bei Arendts Handeln
relational zwischen Menschen stattfindet                    Während in Vita Activa den drei Tätigkeits-
und den Einzelnen in seiner Lebensauf-                      formen Arbeiten, Herstellen und Handeln
fassung zeigt47. Im Sinne der Lebensleh-                    jeweils eigene Buchteile gewidmet sind,
re wäre Handeln eine Tätigkeit, die auch                    äußert sich Arendt nur am Rande zu einer
für Erziehungssituationen, in denen Sinn                    vierten, dem Sich-Verhalten48. Im Gegen-
verhandelt wird, Gültigkeit beansprucht                     satz zu den antiken Konzepten stellt das
– nur nicht im politisch-öffentlichen Sinn.                 Sich-Verhalten für sie eine moderne Tätig-
Die rationale Überzeugungskraft des Kin-                    keit dar und meint das durchschnittliche,
des mag dabei nicht immer gegeben sein;                     alltägliche Tun der Menschen in Massen-
wenn wir ehrlich sind, ist sie das auch bei                 gesellschaften. Damit rückt das einst Pri-
Erwachsenen nicht immer. Mit Fink ge-                       vate – z. B. der Raum der Familie, der
sprochen wäre es aber der Lebensvollzug                     Freundschaft und des häuslichen Wirt-
selbst, der überzeugt. Wo die Lebensge-                     schaftens – ins Licht der Öffentlichkeit.
staltung des Kindes in Widerspruch mit                      Wie der Warentausch verdrängt es dabei
den Vorstellungen der Eltern oder Erzieher                  das Handeln, das gerade im Kontrast
                                                            zum Alltäglichen das Unerwartete, Neue

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ins Leben ruft. Ausgeschlossen wird aus                     hergestellt wird, ist wohl die Art der pä-
Arendts Sicht so das unverwechselbare                       dagogischen Technik, die die Kritik vieler
Erscheinen der Person; das Sich-Verhal-                     Pädagogen evoziert, wie exemplarisch
ten ist „Konformismus“49, orientiert an der                 bei Krautz gezeigt werden konnte. Leh-
sozialen Norm und wird so statistisch bere-                 ren generell als Sich-Verhalten zu sehen,
chenbar und vorhersagbar. Längst geht es                    würde das kritische Potential der Schule
also nicht um ein bloßes Erklären sozialen                  verkennen und Arendt in ihrer düsteren
Verhaltens, sondern auch um Anpassung                       Analyse recht geben. Schon im Beamten-
und Modellierung, was mit Blick auf die                     status des Lehrberufs wird aber deutlich,
Anliegen des Behaviorismus, den Arendt                      dass Lehrer sich unabhängig von gesell-
ebenfalls im Sinn hat50, berechtigt ist.                    schaftlichen Zwängen und Konformitäts-
Arendts Sicht auf das Zwischenmensch-                       ansprüchen bewegen können und sollen.
liche in der Moderne ist damit weitaus                      Gerade in seiner Stellung zwischen Pri-
pessimistischer als Finks Konzeption der                    vatheit und Öffentlichkeit kann Unterricht
Lebenslehre. Stellt man sich die Frage, wie                 einer kontroversen Auseinandersetzung
Arendt dazu kommt, in erster Linie antike                   Raum bieten, die im Rahmen der Filterbla-
Tätigkeiten zu beschreiben, wird dies hier                  sen digitaler Kommunikationsplattformen
deutlich: In ihrer, gelinde gesagt, Ableh-                  und Internetforen, aber auch von Familie
nung des Massenphänomens Sich-Verhal-                       und Freundeskreis nicht immer gegeben
ten wird überdeutlich, dass sie alternative                 sind. Produktive Störungen, unerwarte-
Tätigkeitsformen als kritische Kontrastfolie                te Einsprüche und das kritische Denken
benötigt, die das, was sie unter Politik ver-               von Lehrern wie Schülern haben nicht nur
standen wissen will, verständlich zu ma-                    ihren Platz, sondern können aktuell wie
chen vermögen. Vor dem Hintergrund der                      künftig eine wesentliche Dimension des
Entwicklung Künstlicher Intelligenz und al-                 Schulunterrichts sein.
gorhithmisierter Steuerung wären Arendts
Bedenken heute neu zu diskutieren: „die
Gesellschaftswissenschaften          werden                 9. Gedanken zu einer Allgemeinen
schließlich eine Gesellschaftstechnik – ein                     Pädagogik des Unterrichtens
social engineering – ausbilden, durch die
man die Gesellschaft so handhaben und                       Das Unterrichten kann, wie die vorange-
unter wissenschaftliche Kontrolle stellen                   gangenen Reflexionen nahegelegt haben,
wird wie die Technik der Naturwissen-                       nicht eindeutig einer von Arendt beschrie-
schaften die Natur“51.                                      benen Tätigkeit zugeordnet werden: Ge-
    Für die Pädagogik sind diese Beden-                     rade im Spannungsfeld von Herstellen,
ken nicht ganz von der Hand zu weisen.                      Handeln und Sich-Verhalten bewegen
Auch hier haben Steuerungstechnologien                      sich die Positionen im Verhältnis von Pä-
für Schülerverhalten sowie Selbsttechno-                    dagogik und Technik. Was daran deutlich
logien für Schüler und Lehrende durchaus                    wurde, sind einige Hinweise, Irritationen
Konjunktur; im Classroom-Management                         und Grenzen einer Allgemeinen Pädago-
sollen Störungen präventiv vermieden wer-                   gik des Unterrichts.
den, das selbstgesteuerte Lernen bringt                         Mit der Kategorie des Herstellens
ein Verhalten in kybernetischen Regelkrei-                  konnte zunächst die scheinbare Geg-
sen mit sich. Wie viel Konformität Unter-                   nerschaft von Pädagogik und Technik
richt tatsächlich benötigt, wäre an anderer                 auf die Spitze getrieben werden: In der
Stelle zu diskutieren. Dass diese allerdings                Überschärfung von Machbarkeitsfanta-
auf dem Wege von Sozialtechnologien                         sien wird der pädagogische Reflex, alles

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Technische zu verwerfen, verständlicher.                    Zwischenmenschlichen überhaupt, Schü-
Gleich in zweifacher Hinsicht – funktio-                    ler wie Lehrer in ihrer Einzigartigkeit mit
nal wie ethisch – sind diese zweifelhaft.                   zum Tragen. Unterricht ist aber kein Ent-
Auch ein kurzzeitiges Gelingen als Kon-                     bergen der Person im Raum der diskur-
ditionierung, Dressur oder Sozialtechno-                    siven politischen Freiheit unter Gleichen,
logie kann nicht darüber hinwegtäuschen,                    weil er im Zeichen des Generationenver-
dass wir dem Gegenüber nicht umfäng-                        hältnisses steht und auf die Weitergabe
lich Herr werden können. Zurecht steht                      von Beständen nicht verzichten kann. Die
darüber hinaus in Frage, ob Kinder und                      noch unvollständig entwickelten Fähigkei-
Jugendliche gemäß einer Vorstellung, sei                    ten und das Weniger-Wissen des Kindes
diese ethisch vertretbar oder fragwürdig,                   rufen die Lehre Älterer hervor, die das,
modelliert werden dürfen, ob diesen Zwe-                    was ihnen wertvoll ist, weitergeben, indi-
cken die Mittel unterzuordnen sind und ob                   viduell wie gemeinschaftlich gesprochen.
eine solche Machtposition des Lehrers je                    Was sie lehren, kann so über ihre eigene
zu rechtfertigen wäre. Wenn wir dies ver-                   Lebenszeit hinaus bestehen, verleiht dem
neinen, kann die Freiheit des Lehrenden                     Unterrichten Sinn im Sinne einer profanen
nicht im souveränen Verfügen über Kinder-                   Unsterblichkeit in den Kindern. Als eine
material bestehen, sondern über den Un-                     Grundbedingung des Unterrichts kann
terrichtsgegenstand und Weisen, diesen                      daher Generationalität angesehen wer-
Sachanspruch zur Geltung zu bringen, bei                    den; wie Arendts Grundbedingungen ist
gleichzeitigem Respekt vor den Zugängen                     sie ihrerseits auf die Sterblichkeit und Ge-
und Einsichten der Person des Kindes.                       bürtlichkeit des Menschen zurückzufüh-
Der äußere Zwang der Schulpflicht, der                      ren. Dass ältere Generationen jüngeren im
Aufgaben und Bewertungen wird legiti-                       Bereich des Wissens, Könnens und Erfah-
miert durch die Sachkenntnis und Erfah-                     renseins voraus sind, gilt allerdings nicht
rung der Lehrenden und die Ansprüche                        umfassend. Wo das menschliche Leben
des individuellen wie gemeinschaftlichen                    selbst in Frage steht, treten alle Menschen
Lebens, nicht durch Herrschaft. Gewalt                      gemeinsam in eine Beratungsgemein-
und sozialtechnologische Verfahren in pä-                   schaft, die sich implizit wie explizit darüber
dagogischen Situationen sind daher wohl                     verständigt, wie ihr Dasein auszulegen sei.
weitaus häufiger eine Verzweiflungstat                      In diesem Fall zeigt sich wiederum Nähe
gerade ob der mangelnden Souveränität                       zu Arendts Handeln.
über das Lernen und Gedeihen der Schü-                          Zuletzt bleibt mit Blick auf Arendts Un-
ler als ein Herstellen im Modus derselben.                  terscheidung des Öffentlichen und Priva-
     Unterrichten ist aus dieser Sicht kein                 ten die Verortung der Schule offen. Selbst
technizistisch-zweckrationales Verrichten.                  wenn Schule, wie in Deutschland, größ-
Allerdings ist es auch nicht frei von Tech-                 tenteils von öffentlicher Hand gestiftet ist,
nik: Der Tätigkeitsmodus des Unterrich-                     befinden wir uns innerhalb der Institution
tens ist gekennzeichnet von planenden,                      nicht in einem politischen Raum des freien
zielorientierten Dimensionen, die sich dem                  Diskurses, zu dem alle, nicht nur Schüler
Herstellen im Sinne einer techné zuord-                     und Lehrer, Zugang haben und Entschei-
nen lassen. Im Zwischenmenschlichen                         dungen über die gemeinsame Welt getrof-
erfolgt er dagegen situativ und relational,                 fen werden. Zugleich findet Unterricht in
was an Arendts Handeln erinnert. Gezeigt                    Deutschland nicht mehr, wie zu Hauslehr-
werden konnte jedoch, dass das Handeln                      erzeiten, im Privatraum statt (auch wenn
ebenfalls keine gänzlich passende Ka-                       der pandemiebedingt verordnete Hei-
tegorie ist: Zwar kommen sicher, wie im                     munterricht daran erinnert). Schule und

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Unterricht besetzen vielmehr einen Raum                           nicht auf die bildungspolitische Ebene, son-
des Zwischen: Sie erweitern den Raum                              dern ragen in den privaten Erziehungsbereich
                                                                  hinein, z. B., wenn sie Eltern anspricht.
des Privaten und führen ein in den Raum
                                                            3     Vgl. z. B. Hellekamps, Stephanie (2006):
der Öffentlichkeit. Schule mag Schonraum                          Hannah Arendt über die Krise in der Er-
sein und die Verantwortung für die Welt                           ziehung – Wiedergelesen. In: Zeitschrift
noch nicht umfassend übertragen, aber sie                         für Erziehungswissenschaft, Heft 3, 9. Jg.,
will dazu anregen, sie bereits zu überneh-                        S. 413-423; Reichenbach, Roland (2016): Mit
men. Hier ist das Werden der Kinder und                           Arendt falsch liegen: Die Arenen des Politi-
Jugendlichen maßgeblich. Nicht sind sie                           schen und ihre pädagogische Bedeutung. In:
                                                                  Casale, Rita; Koller, Hans-Christoph; Ricken,
Unverantwortliche, solange sie die Schu-
                                                                  Norbert (Hrsg.): Das Pädagogische und das
le besuchen und plötzlich Verantwortliche,                        Politische. Paderborn, S. 41-59; Stieve, Claus
sobald sie sie verlassen. Ihre Freiheit ist                       (2017): Anfänglichkeit und Pädagogik der frü-
nicht nur eine noch ausstehende, auf das                          hen Kindheit. Versuch einer gegenstandstheo-
Erwachsenenleben verschobene, sondern                             retischen Verortung aus phänomenologischer
gewinnt für sie Raum im Jetzt. So wird Un-                        Perspektive. In: Brinkmann, Malte; Buck,
terricht zu einer gemeinsamen, potentiell                         Marc F.; Rödel, Severin S. (Hrsg.): Pädagogik
                                                                  – Phänomenologie. Verhältnisbestimmungen
kritischen Widmung einer Sache, die von
                                                                  und Herausforderungen. Phänomenologi-
Lehrenden kunstfertig angeleitet wird und                         sche Erziehungswissenschaft 3. Wiesbaden,
mit dem Kind immer wieder neu produziert                          S. 97-115; Zirfas, Jörg (2020): Generativität
wird. Wo diese Kunstfertigkeit die Mittel,                        und Generationalität. Pädagogisch-anthro-
Ziele und Vorstellungen gleichermaßen                             pologische Perspektiven auf Geburt und Er-
anthropologisch wie ethisch bedenkt und                           ziehung. In: Fuchs, Thorsten; Schierbaum,
                                                                  Anja; Berg, Alena (Hrsg.): Jugend, Familie und
das Kind als Mitherstellenden von Wis-
                                                                  Generationen im Wandel. Erziehungswissen-
sen und Können statt als Gegenstand des                           schaftliche Facetten. Wiesbaden, S. 267-283.
Herstellens betrachtet, kann Unterrichten                   4     Arendt, Hannah (2013): Vita activa oder Vom
gewinnbringend und vertretbar technisch                           tätigen Leben. 11. Aufl., München, Zürich,
verstanden werden.                                                S. 42.
                                                            5     Dabei ist es Arendts erklärtes Anliegen
                                                                  nicht, die menschliche Natur zu bestimmen
                                                                  und dem Menschen ein festes Wesen zu-
                                                                  zuschreiben, was zu ihrer Zeit bis heute in
Anmerkungen                                                       Veröffentlichungen der Philosophischen und
                                                                  Pädagogischen Anthropologie ähnlich ab-
1    Vgl. für die gebündelte Rekonstruktion der                   lehnend vertreten wird (vgl. Wulf, Christoph;
     (historischen) Debatte des Technologie-                      Zirfas, Jörg (2014): Homo educandus. Eine
     defizits wie -verdikts: Tenorth, Heinz-Elmar                 Einleitung in die Pädagogische Anthropolo-
     (1999): Technologiedefizit in der Pädagogik?                 gie. In: Dies.: Handbuch Pädagogische An-
     Zur Kritik eines Mißverständnisses. In: Fuhr,                thropologie. Wiesbaden, S. 11; Zirfas, Jörg
     Thomas; Schultheis, Klaudia (Hrsg.): Zur                     (2021): Pädagogische Anthropologie. Eine
     Sache der Pädagogik. Untersuchungen zum                      Einführung. Paderborn, S. 9; 34; 149f).
     Gegenstand der allgemeinen Erziehungswis-              6     Arendt 2013, S. 14.
     senschaft. Bad Heilbrunn, S. 252-260.                  7     Vgl. Arendt, Hannah (1958b): Kultur und Po-
2    Arendt, Hannah (1958a): Die Krise der Er-                    litik. In: Merkur, Heft 130, 12. Jg., S. 1127.
     ziehung. Bremen, S. 5. Genauer könnte man              8     M. W. steht diese in neuerer Zeit noch aus;
     formulieren, dass sie nicht versucht, als Pä-                allgemeinpädagogische Beiträge zur Schule
     dagogin zu sprechen, sondern die damalige                    finden sich aktuell bei Reichenbach, Roland;
     Situation von Schule und Erziehung im Inter­                 Bühler, Patrick (2017) (Hrsg.): Fragmente
     esse der Öffentlichkeit analysiert. Ihre recht               zu einer pädagogischen Theorie der Schule.
     deutlichen Äußerungen zu Formen und Auf-                     Erziehungswissenschaftliche Perspektiven
     gaben der Erziehung beschränken sich dabei                   auf eine Leerstelle. Weinheim, Basel. Zum

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Lehren allgemein aus Sicht philosophischer                 Erziehung. Interpretationen zur Pädagogik-
      Pädagogik s. Koller, Hans-Christoph; Rei-                  vorlesung von 1826. Düsseldorf, S. 50-62.
      chenbach, Roland; Ricken, Norbert (2012)             26    Schleiermacher 2000, S. 9.
      (Hrsg.): Philosophie des Lehrens. Paderborn.         27    Vgl. Krautz, Jochen (2019): Pädagogik als
9     Arendt 2013, S. 16.                                        ,techné‘, der Lehrer als ‚artifex‘. Kunstlehre/
10    A. a. O., S. 118f.                                         Lehrkunst und ihre Bedeutung für Lehrerbild
11    Vgl. Arendt, Hannah (2016): Denktagebuch                   und Lehrerbildung. In: Pädagogische Korres-
      1950-1973. Erster Band. München, Berlin.                   pondenz, Heft 59, 32. Jg., S. 81.
      Heft VIII [6|, S. 183. Den Bürgern der antiken       28    „Was ist eigentlich das Material des Erzie-
      Stadtstaaten ermöglichte gerade die Arbeit                 hens? [...] Das Material sind die Kinder, die
      der Sklaven, die ihnen das Überleben sicher-               Schüler, die Studierenden und überhaupt all
      te, die Freiheit des politischen Lebens (vgl.              diejenigen, auf die wir uns in erzieherischer
      Arendt 2013, S. 140).                                      Absicht beziehen.“ (Prange, Klaus (2012):
12    Vgl. Arendt 2013, S. 100.                                  Erziehung als Handwerk. In: Die Materialität
13    Vgl. Arendt 2016, XIV [15], S. 331.                        der Erziehung: Kulturelle und soziale Aspek-
14    Vgl. Arendt 2013, S. 275-278.                              te pädagogischer Objekte. 58. Beiheft der
15    Vgl. Arendt 2016, XV [32], S. 366.                         Zeitschrift für Pädagogik. Weinheim, Basel,
16    Vgl. Arendt 2013, S. 16 u. 161-170.                        S. 89).
17    Arendt 2013, S. 183.                                 29    Krautz 2019, S. 86.
18    Vgl. a. a. O., S. 170.                               30    A. a. O., S. 87. Krautz betont dabei auch das
19    „Die Politik bedarf also der Kultur, und das               Situativ der unterrichtlichen Kunstfertigkeiten.
      Handeln bedarf des Herstellens um der Be-                  Diesen Gedanken hat Käte Meyer-Drawe in
      ständigkeit willen und muß doch gleichzeitig               ihren Überlegungen zum Lernen mehrfach
      das Politische und die fertig erstellte Welt               unter dem Begriff des kairos herausgearbei-
      vor der Kultur und dem Herstellen sichern,                 tet (vgl. Meyer-Drawe, Käte (2012): Diskurse
      weil alles Herstellen zugleich Zerstören ist.“             des Lernens. 2. Aufl., München, S. 141ff).
      (Arendt 1958b, S. 1139). Diesen Zusam-               31    Vgl. Arendt 2013, S. 213.
      menhang verdeutlicht sie ebenfalls in Ka-            32    A. a. O., S. 225. Dass der Ort des Politischen
      pitel 23 von Vita activa (vgl. Arendt 2013,                also zwischen und nicht in Menschen anzusie-
      S. 201-212).                                               deln ist, macht Arendt auch an anderen Stel-
20    Vgl. Arendt 2013, S. 218f.                                 len deutlich, z. B. in Arendt, Hannah (2003):
21    Yad Vashem Intenationale Holocaust-Ge-                     Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass.
      denkstätte (2021): Die Halle der Namen.                    Hrsg. v. U. Ludz. München, Zürich, S. 11. Dies
      Online unter: https://www.yadvashem.org/                   ist nicht intersubjektivistisch zu verstehen, als
      de/archive/hall-of-names.html [aufgerufen am               ein modellhaft-losgelöstes Beziehungssche-
      12.04.2021].                                               ma. Gerade die Welt mit ihren Dingen, über
22    Vgl. z. B. Gudjons, Herbert; Traub, Silke                  die gesprochen wird, mit und an denen ge-
      (2016): Pädagogisches Grundwissen. Über-                   handelt wird, formieren das Zwischen dieses
      blick - Kompendium - Studienbuch. 12., aktu-               Gewebes (vgl. Arendt 2013, S. 224).
      al. Aufl., Bad Heilbrunn, S. 192f.                   33    Arendt 2013, S. 219.
23    Bollnow, Otto F. (1978): Theorie und Praxis          34    Sie sind entelecheia, a. a. O., S. 262. Dies
      in der Lehrerbildung. In: Blankertz, Herwig                sagt Schleiermacher auch über den Menschen
      (Hrsg.): Die Theorie-Praxis-Diskussion in                  selbst (vgl. Schleiermacher 2000, S. 10).
      der Erziehungswissenschaft. 15. Beiheft der          35    Arendt 1958b, S. 1138.
      Zeitschrift für Pädagogik. Weinheim, Basel,          36    Vgl. Arendt 2013, S. 279.
      S. 156.                                              37    A. a. O., S. 215.
24    A. a. O. S. 157.                                     38    Vgl. Arendt 2016, XXVI [63], S. 746.
25    Vgl. Schleiermacher, Friedrich D. E. (2000):         39    Vgl. Arendt 1958b, S. 1137; Arendt 2013,
      Grundzüge der Erziehungskunst (Vorle-                     S. 36f.
      sungen 1826). In: Ders.: Texte zur Pädago-          40    Arendt 2013, S. 216.
      gik. Kommentierte Studienausgabe, Band               41    Vgl. Arendt 2016, XXVI [63], S. 746; Arendt
      2. Hrsg. v. M. Winkler und J. Brachmann.                   2013, S. 216. Für den Zusammenhang von
      Frankfurt a. M., S. 9. S. a. Schurr, Johan-                Neuem und Freiheit vgl. Arendt, Hannah
      nes (1975): Schleiermachers Theorie der                    (2000): Freiheit und Politik. In: Zwischen

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