EINKOMMENS VERTEILUNG - FÜR DIE VIELEN, NICHT DIE WENIGEN - Jahoda-Bauer-Institut
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Gerechtigkeit ist gekommen, um zu bleiben. Die Arbeiterkammer setzt sich seit 100 Jahren für die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein. Sie steht für soziale Gerechtigkeit in Österreich. Damals. Heute. Für immer. ARBEITERKAMMER.AT/100 #FÜRIMMER
VORWORT Das wichtigste Leitmotiv der Arbeiterkammer – seit ihrer Gründung vor 100 „Als Interessens- Jahren – ist soziale Gerechtigkeit. Heute wie damals ist die AK die erste An- vertretung von fast laufstelle für Menschen, die in der Arbeitswelt Ungerechtigkeit oder Ungleich- behandlung erfahren. 4 Millionen arbei- Die AK ist ein wichtiger Schutzschild gegen die mit zunehmendem Druck vor- tenden Menschen gebrachten Interessen von Konzernen, Vermögenden und deren finanzkräf- sind wir täglich tigen Lobbys. Als Interessensvertretung von fast vier Millionen arbeitenden und unermüdlich Menschen sind wir unermüdlich im Einsatz für den sozialen Ausgleich in im Einsatz für Wirtschaft und Gesellschaft. Die faire Entlohnung für ArbeitnehmerInnen sozialen Ausgleich spielt dabei eine große Rolle, denn eine hohe Ungleichheit bei Einkommen in Wirtschaft und und Vermögen schwächt den Zusammenhalt und gefährdet die Demokratie. Gesellschaft.“ Ohne die Umverteilung durch den Wohlfahrtsstaat wäre die Einkommens- ungleichheit in Österreich spürbar höher. Unkontrollierte Märkte sorgen für besorgniserregende Schieflagen bei den Einkommen. So lukrieren die Vor- stände in börsennotierten Unternehmen heute etwa das 64-fache des mittle- ren Einkommens der ArbeitnehmerInnen. Rund 316.000 Menschen verdienen hingegen so wenig, dass sie trotz Erwerbstätigkeit als armutsgefährdet gelten. In Österreich ist es über die vergangenen Jahrzehnte besser als in den meis- ten anderen Industrieländern gelungen, einen hohen Lebensstandard für die breite Bevölkerung zu sichern. Dazu haben das umfassende Kollektivvertrags- system und der gut ausgebaute Wohlfahrtsstaat wesentlich beigetragen. Sie lindern die an den Märkten verursachte Ungleichheit und stärken den gesell- schaftlichen Zusammenhalt. Auch in Zukunft gilt es den erkämpften Wohl- Renate Anderl, AK Wien Präsidentin stand für alle zu verteidigen und den Wohlfahrtsstaat weiterzuentwickeln und auszubauen. Denn Ungleichheit ist kein unabwendbares Schicksal, sondern kann durch engagierte politische Entscheidungen bekämpft werden. Entscheidend ist, dass der Ruf der Vielen nach mehr Verteilungsgerechtigkeit nicht von einigen Wenigen übertönt wird, die es sich mit ihrem Vermögen richten können. Dafür macht sich die Arbeiterkammer seit 100 Jahren und auch in Zukunft stark.
EINKOMMENS VERTEILUNG IMPRESSUM 1. Auflage, März 2020 Medieninhaber: Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, Prinz Eugen Straße 20-22, 1040 Wien, Telefon: ( 01) 501 65 0 Offenlegung gem. § 25 MedienG: siehe wien.arbeiterkammer.at/impressum Redaktion: Valerie Buttler, Franziska Disslbacher, Michael Ertl, Vera Glassner, Julia Hofmann, Georg Hubmann, Markus Marterbauer, Johannes Rendl, Matthias Schnetzer Konzeption: Georg Hubmann, Jahoda-Bauer-Institut, www.jbi.or.at Grafik: contentschmiede Hersteller: Bösmüller Printmanagement GesmbH & Co. KG, 2000 Stockerau, Bestell-Telefon: ( 01) 310 00 10 591 Die Broschüre und die Grafiken stehen auf der Homepage der AK Wien unter http://wien.arbeiterkammer.at/verteilungsgerechtigkeit zum Download bereit.
INHALT 0 Wo stehe ich in der Einkommensverteilung? …………………………… 06 1 Einkommen in Europa ………………………………………………………………… 08 2 Reallöhne, Kollektivverträge & Produktivität ……………………………… 10 3 Mehr- und unterjährige Beschäftigung ……………………………………… 12 4 Gender Pay Gap in Europa …………………………………………………………… 14 5 Lohnquote ……………………………………………………………………………………… 16 6 Lohn- und Nichtlohneinkommen …………………………………………………. 18 7 Das oberste Prozent ……………………………………………………………………… 20 8 Steuern und Abgaben ………………………………………………………………… 22 9 Transferleistungen ……………………………………………………………………… 24 10 Armutsgefährdung ……………………………………………………………………… 26 11 Umverteilung durch den Staat …………………………………………………… 28 12 Überblick und Forderungen ………………………………………………………… 30 13 Glossar …………………………………………………………………………………………… 32
WO STEHE ICH IN DER EINKOMMENSVERTEILUNG? WER VERDIENT WIEVIEL? „Für Beschäftigte ist entscheidend, dass sie mit ihrem Ein- kommen möglichst gut auskommen. Unter 1.700 Euro ist ein gutes Leben kaum bis gar nicht möglich. Darum müssen wir all unsere Kraft in die weitere Erhöhung der Mindestlöhne und -gehälter investieren.“ Barbara Teiber (GPA-djp) 0 Jeder Mensch stellt sich im Laufe seines Berufsle- bens die Frage, wie man mit dem eigenen Einkom- men im Vergleich zu anderen dasteht. Die Grafik oben leistet eine Hilfestellung bei der Selbstver- ortung. Entgegen einer gängigen Volksweisheit wollen wir sehr wohl über Geld sprechen. Breite Mitte hört wer mehr als 4.390 Euro brutto im Monat verdient. Die Schere geht immer weiter auf: Vorstandsgehälter machen das 64-fache des Me- dianlohns aus. In den obersten 10 % finden sich abgesehen von Vorständen ATX-notierter Unter- nehmen auch SpitzenmanagerInnen in großen Unternehmen. Im europäischen Vergleich liegt die Einkommensungleichheit in Österreich aber Bei Vollzeitbeschäftigung beträgt das Median- unter dem EU-Schnitt. Gemessen wird das am bruttoeinkommen in Österreich 2.370 Euro (ca. Verhältnis der Einkommen des obersten Fünftel 1.680 Euro netto), die Hälfte der Menschen ver- zum untersten Fünftel. In Österreich liegt dieser dient weniger, die andere Hälfte mehr. Die Grafik Wert beim Vierfachen, in Deutschland, Spanien oben zeigt geringe Abstände bei den Gehältern oder Italien ist die Zahl deutlich höher. in der Mitte der Verteilung, diese liegen auch etwa 20 % über dem europäischen Durchschnitt. Wer weniger als 60 % des Medianeinkommens Die breite Abdeckung durch Kollektivverträge verdient, gilt nach EU-Definition als armutsge- mit der gemeinsamen Lohnverhandlung nach fährdet. In Österreich sind das 14,3 % der Men- Branchen sichert das relativ gute Lohnniveau der schen, ohne sozialstaatliche Leistungen läge der Mitte in Österreich. Im mittleren Segment findet Wert aber knapp 30 % höher. Frauen sind viel man sich als Köchin oder Koch genauso wieder, stärker betroffen als Männer. Was darüber hi- wie als BauarbeiterIn oder Pflegeassistenzkraft. naus Sorgen bereitet, ist die wachsende Zahl an Am oberen Ende stehen z. B. Angestellte in der Menschen, die trotz Beschäftigung in Armut le- Finanzbranche, ganz unten sind es meist gering- ben müssen. fügig und Teilzeitbeschäftigte. Um Armut zu verhindern und sicherzustellen, Spaltung zwischen Arm und Reich dass man von einem Vollzeitjob auch leben kann, Zu den 10 % mit den höchsten Einkommen ge- müssen untere Einkommen deutlich angehoben 6 | Einkommensverteilung
BRUTTO JAHRESLÖHNE VON ARBEITNEHMERINNEN 214.759 € Quelle: Lohnsteuerstatistik, 2017; AMS Gehaltskompass, Einstiegsgehälter. Bauarbeiter 27.700 € brutto = Bäckerin 1.480 € netto/Monat Führungskräfte Student 19.320 € brutto = Dipl. Krankenpflegerin 86.000 € brutto = 8580 € brutto = 1.145 € netto/Monat 35.900 € brutto = 3.600 € netto/Monat 715 € netto/Monat 1.780 € netto/Monat 61.555 € 46.437 € 32.113 € 38.129 € 26.483 € 14.336 € 20.645 € 7.659 € 2.453 € 10. 20. 30. 40. 50. 60. 70. 80. 90. 100. Perzentil Perzentil Perzentil Perzentil Perzentil Perzentil Perzentil Perzentil Perzentil Perzentil und ein kollektivvertraglich festgelegter Min- Zum Weiterlesen: destlohn für alle Branchen durchgesetzt werden. Müller, Torsten/Schulten, Thorsten (2019): From Um ein weiteres Aufgehen der Lohnschere zu ver- minimum to living wages, https://bit.ly/2u74nlV hindern, braucht es höhere Spitzensteuersätze Weiss, Alexia (2019): Ein gutes Leben für alle, In: und eine effektive Besteuerung von Einkommen Arbeit & Wirtschaft 8/2019, https://bit.ly/2SESmO9 aus großen Vermögen. Als kluge Maßnahme zur Linktipp: Umverteilung und Schutz vor Armut gilt es sozial- https://www.verteilung.at/#/loehne-gehaelter staatliche Leistungen auszubauen. Das Ziel muss eine Gesellschaft sein, in der man mit einer Voll- zeitarbeit frei von Sorgen leben kann. EINKOMMENSUNGLEICHHEIT IN EUROPA Je höher, desto ungleicher Bulgarien 7,66 Italien 6,09 Spanien 6,03 Griechenland 5,51 Portugal 5,22 Europäische Union 5,17 ARM Deutschland 5,07 REICH Polen 4,25 Frankreich 4,23 Quelle: Eurostat 2019 [tessi180] Dänemark 4,11 Niederlande 4,05 Österreich 4,04 Belgien 3,78 Finnland 3,65 Tschechien 3,32 Verhältnis der Einkommen der obersten 20 % zu den untersten 20 %. Einkommensverteilung | 7
EINKOMMEN IN EUROPA KEINE STARKE MITTELSCHICHT OHNE KOLLEKTIVVERTRÄGE UND SOZIALSTAAT Wer zählt wirklich zur Mittelschicht? wesentlich von der Entwicklung der gesamtwirt- Für die Betrachtung des materiellen Wohlstandes schaftlichen Arbeitsproduktivität pro Stunde ge- der Mittelschicht wird der Median des real ver- prägt, an der sich die gewerkschaftlichen Lohnfor- fügbaren Äquivalenzeinkommens herangezogen. derungen neben der Inflationsrate orientieren. Dieser wies in Österreich 2018 mit 23.183 Euro den zweithöchsten Wert der EU auf und hat seit der Sozialstaat nutzt der Mittelschicht Überwindung der Finanzkrise 2008/09 um fast 10 % In einem zweiten Schritt beeinflusst die Umvertei- zugenommen. Die Kennzahl basiert auf den Lohn-, lung durch den Staat mittels Abgaben und Sozial- Gewinn- und Vermögenseinkommen der Haushalte leistungen die Einkommen der Mittelschicht. Auf abzüglich der Steuern; dazu kommen die Geldtrans- der Abgabenseite fallen vor allem Sozialversiche- 1 fers des Sozialstaates (wie die Mindestsicherung, rungsbeiträge und die Lohnsteuer an. Erhaltene So- das Arbeitslosengeld oder Kinderbeihilfen). Dieses zialleistungen umfassen etwa Kinderbeihilfe oder sogenannte verfügbare Haushaltseinkommen wird Pensionen. Insgesamt ist die breite Mittelschicht auf Einzelpersonen umgerechnet. Der Median da- in hohem Maß vom Sozialstaat begünstigt, weil von zeigt, was sich die Person in der Mitte der Ein- dieser bei solidarischer Finanzierung immer dann kommensverteilung jährlich leisten kann. Wie bei umfassende Hilfe durch Geld- und Sachleistungen vielen Befragungsdaten unterschätzt der Wert al- bereitstellt, wenn diese gebraucht werden. Schließ- lerdings das tatsächliche Einkommen, weil Haus- lich hat auch die allgemeine Wirtschaftspolitik, halte an der Spitze der Verteilung in freiwilligen Befragungen nur schlecht erfasst sind. Zudem sind nur Geldtransfers, nicht aber die für den Wohlstand „Zur Mitte wollen alle gehören. sehr wichtigen sozialen Sachtransfers (z. B. Gesund- heitsleistungen) erfasst. So kommt es, dass vom Standpunkt einer individuellen Lebensführung Reallohnsteigerung durch Kollektivverträge Zugehörigkeit nichts anders bedeu- Entscheidend für die verfügbaren Einkommen der tet als die Utopie, ein ruhiges, Mittelschicht sind zunächst Entwicklung und Ver- abgesichertes Leben führen zu teilung der Markteinkommen. Dabei kommt der Lohnentwicklung besondere Bedeutung zu. In Ös- können. Die Mitte ist so attraktiv, terreich decken Kollektivverträge die Einkommen dass trotz steigender Ungleichheit von 98 % der unselbständig Beschäftigten ab. Mit sich immer mehr Menschen ihr den Kollektivvertragsabschlüssen werden merk- zugehörig fühlen.“ liche Reallohnerhöhungen (im Durchschnitt etwa Armin Thurnher 0,75 % pro Jahr) erzielt. Die Reallohnerhöhung wird (Stadtzeitung Falter) 8 | Einkommen in Europa
etwa die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik oder die Industrie- und Regionalpolitik Einfluss auf die Einkommenslage der Mittelschicht. Höhe und Entwicklung des real verfügbaren Medianäquiva- FAKTEN lenzeinkommens bilden gute Anhaltspunkte für den materiellen Wohlstand in der Mitte der Gesell- • Österreich weist dank hoher Produktivität, ausgebautem Sozialstaat schaft. Sie müssen allerdings um Indikatoren des und kollektivvertraglicher Lohnpolitik ein im EU-Vergleich hohes real immateriellen Wohlstandes und der Lebensbedin- verfügbares Einkommen pro Kopf auf. gungen ergänzt werden. Auch bei vielen von diesen • Die Person in der Mitte der Einkommensverteilung hat ein verfügbares Indikatoren liegt Österreich im europäischen Ver- Einkommen, das etwa 20 % über dem Durchschnitt der Eurozone liegt. gleich recht gut. • Die Schlüssel für die Anhebung des real verfügbaren Äquivalenzein- Zum Weiterlesen: kommens bilden eine produktivitätsorientierte und solidarische Buxbaum, Adi/Kranawetter, Pia/Wukovitsch, Florian Kollektivvertragspolitik und eine Wirtschaftspolitik, die die Arbeits- (2019): AK-Wohlstandbericht 2019, Materialien zu Wirt- produktivität hebt und auf gerechte Verteilung setzt. Ein starker schaft und Gesellschaft Nr. 194, Sozialstaat ist neben der Armutsbekämpfung auch auf die Interessen https://bit.ly/2OXaUqP einer breiten Mittelschicht ausgerichtet. AK Wien/Stadtzeitung Falter (2017): Das Rätsel Mitte, https://bit.ly/2uxTeed Marterbauer, Markus (2019): Österreich: Bei BIP und real verfügbaren Einkommen pro Kopf an der EU-Spit- ze, A&W-Blog, 24. Juli, https://bit.ly/2OIht07 Linktipp: www.inequalityin.eu WER VERDIENT WIEVIEL Quelle: Eurostat 2019 [ilc_di03] IN EUROPA? 31.995 € 23.183 € 21.426 € 21.680 € 21.830 € 20.300 € 20.352 € 15.992 € 16.695 € EU-Schnitt: 17.137€ 13.323 € 11.604 € 10.871 € 9.203 € 8.607 € 6.241 € Rumänien Ungarn Griechenland Portugal Polen Tschechien Spanien Italien Frankreich Schweden Niederland Dänemark Deutschland Österreich Luxemburg Median Nettoeinkommen in Kaufkraftstandards Einkommen in Europa | 9
DIE PRODUKTIVITÄT STEIGT. Quelle: Gerhartinger et al. (2018) KÖNNEN DIE LÖHNE MITHALTEN? Produktivitätswachstum Lohnwachstum 1966 47,5 - 50,1 1976 1976 76 - 71 1986 1986 88,4 - 81,2 1996 1996 93,2 - 61,9 2006 2 2006 99,5 - 105,1 2016 Arbeitsproduktivität = BIP pro Arbeitsstunde Löhne = ArbeitnehmerInnenentgelt pro gearbeiteter Stunde REALLÖHNE, KOLLEKTIVVERTRÄGE & PRODUKTIVITÄT REALLÖHNE MÜSSEN MIT DER PRODUKTIVITÄT STEIGEN Die von den SolzialpartnerInnen verhandelten Reallohnerhöhungen und bessere Arbeitsbedin- Nominallohnerhöhungen berücksichtigen die gungen ein (z. B. Arbeitszeitverkürzung, sechste Preissteigerungen (Inflation) des vergangenen Urlaubswoche). Jahres und sichern somit den Erhalt der Kaufkraft der ArbeitnehmerInnen. Darüber hinaus müssen Die Abbildung zeigt die Entwicklung des Stun- Beschäftigte aber auch am Wohlstandswachstum denlohns sowie die Produktivitätszuwächse je beteiligt sein, denn sie produzieren pro Stunde geleisteter Arbeitsstunde. Bis in die 1990er Jahre Jahr für Jahr mehr. Ihre Produktivität stieg seit stiegen die Arbeitseinkommen mit der gesamt- dem Jahrtausendwechsel um insgesamt fast ein wirtschaftlichen Produktivität. Danach blieb das Viertel (22,7 %). Im Rahmen der Kollektivvertrags- Lohnwachstum bis zur Finanzkrise 2008 hinter verhandlungen setzt sich die Gewerkschaft für dem Produktivitätsfortschritt zurück. 10 | Reallöhne, Kollektivverträge & Produktivität
„Unser solidarischer Kampf um höhere Löhne […] ist bis heute die beste Möglichkeit für ArbeitnehmerInnen, einen nachhaltigen Anteil am Fortschritt und am Wohlstandswachstum zu bekommen.“ Rainer Wimmer (PRO-GE) Krise und Deregulierung Zum Weiterlesen: Mehrere Faktoren trugen zu dieser Entwicklung AK Wien (2018): Eine produktivitätsorientierte und bei: So brachte die Liberalisierung der Finanz- solidarische Lohnpolitik für die EU-Länder, In: märkte eine enorme Expansion des Finanzsek- Wirtschaft und Gesellschaft 44/2, 155-168. tors und stetig steigende Kapitaleinkommen für Gerhartinger, Philipp/Haunschmid, Philipp/Ta- einige wenige mit sich. Zusammen mit der stei- mesberger, Dennis (2018): Sieben Thesen zur Lohn- genden Kapitalintensität der Produktion folgte entwicklung in Österreich, In: Wirtschaft und Ge- eine Verstärkung der Markt- und Machtkon- sellschaft 44/1, 73-103. zentration. Nach der Phase der Prosperität und Linktipp: www.verteilung.at Vollbeschäftigung in den 1970er Jahren folgte eine Periode mit steigender Arbeitslosigkeit, die unter anderem auch durch die beginnende Glo- balisierung in den 1980er Jahren geprägt wurde. Hinzu kam auch die Zunahme von atypischer Be- schäftigung ab den 1990er Jahren. In Verbindung mit dem sinkenden gewerkschaftlichen Organi- sationsgrad führten die genannten Aspekte zu FAKTEN Machtverschiebungen hin zum Faktor Kapital und schwächten die Verhandlungsmacht der Ge- • Die Kollektivvertragsverhandlungen, die zwischen Gewerkschaften und werkschaften schleichend. Fachverbänden der Wirtschaftskammer stattfinden, betreffen neben Nominallohnerhöhungen auch Arbeitszeiten und -bedingungen. Löhne und Produktivität in Einklang bringen Erst seit der Finanzkrise 2008 entwickeln sich die • Nominallohnerhöhungen müssen sowohl Preisniveausteigerungen Löhne wieder leicht in Richtung des Produktivi- (Erhalt des Realeinkommens) als auch die Produktivität von Arbeitneh- tätsfortschritts, aber der Rückstand aus den Peri- merInnen berücksichtigen (Erhöhung des Realeinkommens), um die oden davor konnte noch nicht aufgeholt werden. Teilhabe am wirtschaftlichen Wohlstand zu sichern. Diese Annäherung ist wichtig, damit Arbeitgeb- • Die Stundenproduktivität, also die Produktion pro geleisteter erInnen und ArbeitnehmerInnen zu gleichen Tei- Arbeitsstunde, ist in Österreich seit dem Jahr 2000 um fast ein len vom wirtschaftlichen Fortschritt profitieren. Dazu braucht es noch eine längere Periode mit Viertel (+22,7 %) gestiegen. ordentlichem Lohnwachstum, damit eine Wie- • In manchen Branchen hinken die Lohnerhöhungen dem gesamtwirt- derangleichung des Niveaus von Löhnen und der schaftlichen Produktivitätswachstum hinterher. Gründe dafür sind Produktivität über den Zeitverlauf gelingt. unter anderem die Zunahme atypischer Beschäftigung, steigende Arbeitslosigkeit und ein niedriger gewerkschaftlicher Organisa- tionsgrad. Reallöhne, Kollektivverträge & Produktivität | 11
MEHR- UND UNTERJÄHRIGE BESCHÄFTIGUNG LOHNZUWÄCHSE FÜR ALLE? In den letzten Jahrzehnten kam es zu einer ver- stärkten Arbeitsmarktsegmentierung in siche- „Die Reallöhne wären 2000 re, gut bezahlte und unsichere, meist schlecht bis 2015 um 10 % stärker bezahlte Arbeitsplätze. Der Anteil der Arbeit- gestiegen, wenn sich die Löhne nehmerInnen, die in zeitlich befristeten Ar- der instabil Beschäftigten gleich beitsverhältnissen beschäftigt sind, ist seit der entwickelt hätten wie jene der Jahrtausendwende gewachsen. Der Anteil der Beschäftigten in Vollzeitarbeitsverhältnissen stabil Beschäftigten.“ Rainer Eppel/Thomas Leoni/ ging zwischen 2000 und 2017 von 84 % auf 71 % Helmut Mahringer (WIFO) zurück; seit 2017 steigt aber mit dem kräftigen allgemeinen Beschäftigungswachstum auch die 3 Zahl der Vollzeiterwerbstätigen. Arbeitsmarktsegmentierung und Anstieg instabiler Arbeitsverhältnisse gängiger Beschäftigung, sind von 2000 bis 2017 Die Stabilität von Arbeitsverhältnissen lässt sich jährlich gewachsen. Die Realeinkommen aller messen, indem man die Gruppe jener Personen, Erwerbstätigen, also inklusive der instabil Be- die über einen bestimmten Zeitraum durchgän- schäftigten, sind in den meisten Jahren gesun- gig beschäftigt waren, jener Gruppe gegenüber- ken, geringe Zuwächse gibt es nur in einzelnen stellt, die in diesem Zeitraum eine oder mehrere Jahren. Erwerbsunterbrechungen hatte. Rund ein Drittel der unselbständig Beschäftigten ist nicht durch- Die stagnierenden bzw. sinkenden Einkom- gängig im gesamten Kalenderjahr beschäftigt. men der instabil Beschäftigten erzeugen zudem Der Anteil der instabil Beschäftigten ist zwi- Druck auf die Gesamtlohnentwicklung. Obwohl schen 2008 und 2015 von 32,9 % auf 34,1 % gestie- es Verbesserungen in einigen Kollektivverträgen gen. In saisonabhängigen Branchen (Tourismus, zur Abmilderung von Einkommensverlusten bei Bau) und Dienstleistungsberufen sind instabile längeren Unterbrechungen (etwa im Baugewer- Beschäftigungsverhältnisse weit verbreitet. be) gab, bleiben instabil Beschäftigte von kol- lektivvertraglichen Lohnsteigerungen oft ausge- Kaum Einkommenszuwächse bei den schlossen. Das erfordert arbeitsmarktpolitische instabil Beschäftigten Maßnahmen zur Förderung stabiler Beschäfti- Die Realeinkommen der mehrjährig Beschäftig- gung und verstärkte Kontrollen und Strafen bei ten, d. h. jene mit zumindest zwei Jahre durch- Sozialdumping. 12 | Mehr- und unterjährige Beschäftigung
FAKTEN • Ein Drittel der Beschäftigten in Österreich sind während eines Kalenderjahres nicht durchgängig beschäftigt. Saisonarbeit und Erwerbsunterbrechungen konzentrieren sich auf Branchen wie Tourismus, Baugewerbe, Landwirtschaft und Dienstleistungen (z. B. Reinigung). • Jüngere Menschen und MigrantInnen sind am häufigsten instabil beschäftigt. • Instabil Beschäftigte sind überdurchschnittlich häufig atypisch be- schäftigt und verdienen häufiger unter der Geringfügigkeitsgrenze. Zum Weiterlesen: • Die Löhne instabil Beschäftigter sind seit 2000 real nicht gestiegen. Eppel, Rainer/Leoni, Thomas/Mahringer, Helmut (2017): Österreich 2025: Segmentierung des Arbeits- Stabil Beschäftigte verzeichneten hingegen einen Lohnzuwachs. marktes und schwache Lohnentwicklung in Öster- • Nach der Krise 2009 gingen die Reallöhne der instabil Beschäftigten reich, WIFO. sogar zurück, am stärksten bei MigrantInnen und Personen mit Mokre, Patrick (2019): Ausnahmezustand Gering- geringer Qualifikation. verdienst? Ursachen der Beschäftigungsverhältnis- se unter der Steuergrenze, In: Wirtschaft und Gesell- schaft 45/2, 203-227. INSTABILE BESCHÄFTIGUNG FÜHRT Quelle: Einkommensbericht des Rechnungshofes 2018 ZU EINKOMMENSVERLUSTEN durchgängig Beschäftigte 3,42 % 2,82 % 2,78 % 2,8 % 2,46 % 2,27 % 2,37 % 2,86 % 2,43 % 1,73 % 2,01 % 1,86 % 1,72 % 2,24 % 1,93 % 1,71 % 0,85 % alle Beschäftigte (inkl. instabiler Beschäftigung) 0,83 % 1,27 % 0,24 % 0,36 % 0,61 % 0,47 % -0,89 % -0,31 % -0,04 % -0,87 % -0,74 % -0,51 % -0,29 % -0,44 % -0,21 % -1,46 % -1,90 % 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Jährliche Veränderungen der Realeinkommen von unselbstständig Erwerbstätigen (ohne Lehrlinge) Mehr- und unterjährige Beschäftigung | 13
LOHNUNTERSCHIEDE ZWISCHEN MÄNNERN UND FRAUEN Je höher, desto ungleicher Deutschland 21 % Österreich 19,9 % Slowakei 19,8 % Finnland 16,7 % Portugal 16,3 % EU - Schnitt 16,1 % MÄNNER Frankreich 15,4 % Niederlande 15,2 % FRAUEN Spanien 15,1 % Quelle: Eurostat 2019 [earn_gr_gpgr2] Dänemark 14,7 % Irland 13,9 % 4 Schweden 12,6 % Griechenland 12,5 % Slowenien 8 % Belgien 6 % Italien 5 % GENDER PAY GAP IN EUROPA FRAUEN VERDIENEN ZU WENIG Im EU-Vergleich weist Österreich 2017 einen der EU, wirkt indirekt (etwa über eingeschränkte höchsten durchschnittlichen Einkommensunter- Karriere- und Aufstiegschancen) auf Einkom- schiede zwischen Männern und Frauen auf (20 %). men von Frauen. Ebenfalls über dem EU-Durch- Nur in Estland, Tschechien und Deutschland ist schnitt von 21 % liegt der Anteil von Frauen in der Gender Pay Gap noch höher. Geringere Ein- Niedriglohnbeschäftigung (23 % gegenüber 8,7 % kommensunterschiede finden sich in Dänemark bei Männern). In Österreich ist der Einkom- und Schweden, dort ist die Arbeitsmarktbeteili- mensverlust für Frauen nach der Geburt von gung von Frauen höher. Kindern im europäischen Vergleich hoch, und er verringert sich in den Jahren nach dem Wie- Hohe Teilzeitquote und Erwerbsunterbrechungen dereinstieg ins Berufsleben nur wenig. Der ös- Die hohe Teilzeitbeschäftigungsquote der Öster- terreichische Arbeitsmarkt ist stark nach Ge- reicherinnen, mit 48 % die zweithöchste in der schlechtern segmentiert. So arbeiteten 2018 14 | Gender Pay Gap
„Trotz des in der EU geltenden Verbots, dass Frauen für die gleiche Arbeit unterschiedlich bezahlt werden als ihre männlichen Kollegen, verdienen Frauen im EU-Schnitt noch immer 16 Prozent weniger als Männer.“ Evelyn Regner (Abgeordnete zum Europäischen Parlament) 18 % der Frauen im Handel und 12 % im Gesund- Zum Weiterlesen: heits- und Sozialwesen, wo die Einkommen deut- Geisberger, Tamara/Glaser, Thomas (2017): Gender lich unter dem Durchschnittsverdienst liegen. Pay Gap, In: Statistische Nachrichten 6, Statistik Hingegen sind rund 23 % der Männer in der Sach- Austria. güterproduktion beschäftigt, wo die Löhne und Hollan, Katarina/Mader, Katharina (2017): Die Glä- Gehälter überdurchschnittlich hoch sind. serne Vermögensdecke – Zum Zusammenhang von Vermögen und Geschlecht, In: Dimmel, Nikolaus/ Gender Pay Gap führt zu Pensions-Gap Hofmann, Julia/Schenk, Martin/Schürz, Martin Die Einkommensunterschiede zwischen Män- (Hrsg.): Handbuch Reichtum. Neue Erkenntnisse nern und Frauen vertiefen sich über die Lebens- aus der Ungleichheitsforschung, Innsbruck: Stu- zeit. Frauen sind durchschnittlich 5 Jahre weni- dienverlag, 231-242. ger bezahlt vollzeitig erwerbstätig als Männer Linktipp: und leisten einen Großteil der unbezahlten Haus- https://www.equal-pay-day.at/at/epd2019/ halts-, Pflege- und Erziehungsarbeit. Kürzere Dauern der Erwerbstätigkeit, ein reduziertes Beschäftigungsausmaß (z. B. Teilzeit) und nied- rigere Einkommen führen dazu, dass die Pensio- FAKTEN nen von Frauen deutlich niedriger sind als die von Männern. • Der Gender Pay Gap bei Bruttostundenlöhnen ist in Österreich mit rund 20 % der fünfthöchste in der EU. Ein umfassender Sozialstaat, der die Erwerbs- • Der unbereinigte, nicht um die Arbeitszeit korrigierte, Gender Pay Gap beteiligung von Frauen fördert und eine bessere beträgt sogar 37 %. Wird die Arbeitszeit berücksichtigt, beträgt der Vereinbarkeit von Beruf und Familie (z. B. Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen) ermög- Unterschied rund 23 %. Fast 14 % der Einkommensdifferenz zwi- licht, trägt zur Verringerung des Gender Pay Gaps schen Männern und Frauen lassen sich statistisch nicht erklären. bei. Auch die gewerkschaftliche Mindestlohn- • Der von der OECD ermittelte „Gender Pension Gap“, gemessen als politik leistet dazu einen Beitrag. Aber neben den Differenz der durchschnittlichen Pensionen von Frauen und Männern, sozialpolitischen Maßnahmen beeinflussen ge- liegt in Österreich bei 39 % und deutlich über dem OECD-Durchschnitt sellschaftliche Werte und Normen die Verteilung von 25 %. von bezahlter und unbezahlter Arbeit sowie Un- terschiede in der Entlohnung von Männern und • Während fast jede vierte Frau (23 %) in Niedriglohnsektoren beschäf- Frauen. Auch hier gilt es anzusetzen. tigt ist, trifft dies nur auf knapp jeden elften Mann zu (8,7 %). Gender Pay Gap | 15
LOHNQUOTE SINKENDE LOHNQUOTE, STEIGENDE UNGLEICHHEIT 5 „Der Fall der Lohnquote ging Hand in Hand mit höherer Ungleichheit in der Verteilung der Markteinkommen, was den sozialen Zusammenhalt einander auf 100 %. Die Abbildung zeigt Rückgang und Zunahme der Lohnquote in zehn Jahres Perio- den. Berücksichtigt sind hier alle Arbeitseinkom- men, die in Österreich (auch an EinpendlerInnen) bezahlt werden. Über die ideale Höhe der Lohnquo- [...] gefährden könnte.“ te lässt sich trefflich streiten. Unbestritten ist aber, OECD (2012) dass ein Sinken der Lohnquote bedeutet, dass Ge- winne und Vermögenseinkommen stärker steigen als Löhne und Gehälter. ArbeitnehmerInnen sind dann nicht mehr in vollem Ausmaß an wirtschaft- lichen Wohlstandszuwächsen beteiligt. Die klassische Ökonomie im 18. Jahrhundert kam zur Erkenntnis, dass sich das gesamte erzielte Ein- Vollbeschäftigung und Sozialstaat kommen in einer Volkswirtschaft auf die zwei Pro- Die Entwicklung der Lohnquote seit den 1970er duktionsfaktoren „Arbeit“ und Kapital“ aufteilt. Jahren war ein Auf und Ab. Neben den konjunktur- Diese Betrachtungsweise legte den Grundstein für bedingten Schwankungen wirkten auch länger- die sogenannte funktionale Einkommensvertei- fristige Trends. In den 1970er verfolgte Österreich lung. Sie setzt Löhne sowie Gewinne und Vermö- eine Wirtschaftspolitik, die Vollbeschäftigung und genseinkommen in Beziehung zueinander. einen starken Sozialstaat als zentrale Ziele defi- nierte. In dieser Phase erreichte die Lohnquote Ein Stück vom Kuchen 1978 mit 77,2 % ihren Höhepunkt. Die Lohnquote stellt den Anteil der Löhne der un- selbständig Beschäftigten am Gesamteinkommen Der Anstieg der Arbeitslosigkeit prägte die Ent- dar, während Gewinne und Vermögenseinkommen wicklung der Lohnquote in den 1980er und 1990er- zur Gewinnquote zählen. Beide Quoten ergänzen Jahren. Die Macht der Gewerkschaften bei den 16 | Lohnquote
ENTWICKLUNG DER LOHNQUOTE IN ÖSTERREICH Veränderung der Lohnquote 1978 - -5 % 1988 1988 - -3,5 % 1998 Quelle: Statistik Austria 2018, eigene Berechnungen 1998 - -5,8 % 2008 2008 - 6% 2013 2013 - -0,2 % 2018 Die Lohnquote zeigt den Anteil der Löhne am gesamten Einkommen einer Volkswirtschaft Kollektivvertragsverhandlungen ging zurück und ArbeitnehmerInnen wurde die volle Teilhabe am Produktivitätswachstum verweigert. Mit dem Auf- kommen des Neoliberalismus kam es auch zu einem Aufblähen des Finanzsektors und damit zu stark steigenden Vermögenseinkommen. Zusammen mit der Globalisierung und dem Zuwachs bei prekären Arbeitsverhältnissen trugen all diese Faktoren zu FAKTEN einem deutlichen Sinken der Lohnquote bis zur Fi- nanzkrise 2008 bei. Die starken Gewinneinbrüche • Die Lohnquote erreichte im Jahr 1978 ihren historischen Höchstwert mit beendeten den sinkenden Trend, und die Lohnquo- 77,2 % und sank in den darauffolgenden Jahrzehnten. 2018 betrug sie 68,7 %. te erholte sich kurzfristig. • In Krisenzeiten oder Rezessionsphasen steigt die Lohnquote. Gewinne und Vermögenseinkommen brechen rasch ein, während kollektivvertrag- Zum Weiterlesen: lich abgesicherte Löhne stabil bleiben. Umgekehrt sinkt die Lohnquote in AK Wien (2019): Der tendenzielle Fall der Lohnquote und wie man ihn wieder umkehren könnte, In: Wirt- der Hochkonjunktur, wenn Gewinne schneller wachsen. schaft und Gesellschaft 45/1, 3-12. • Zu Beginn der 1980er Jahre fiel die Lohnquote aufgrund steigender Arbeits- Altzinger, Wilfried/Humer, Stefan/Moser, Mathias losigkeit und damit verbundener sinkender Macht der Gewerkschaften bei (2017): Entwicklung und Verteilung der Einkommen, Lohnverhandlungen. Globalisierung und Liberalisierung der Finanzmärk- Sozialbericht. Sozialpolitische Entwicklungen und te trugen schließlich wesentlich zum deutlichen Sinken der Lohnquote Maßnahmen 2015-16, BMASK, 227-268, bis zur Finanzkrise bei. https://bit.ly/3bqDqKK Linktipp: • Die Gewinneinbrüche im Zuge der Finanzkrise 2008 beendeten den https://www.verteilung.at/#/arbeit-kapital sinkenden Trend und die Lohnquote stabilisierte sich – allerdings auf deutlich niedrigerem Niveau als in den 1970er Jahren. Seit 2013 stagniert sie wieder. Lohnquote | 17
LOHN- UND NICHTLOHNEINKOMMEN WIE SETZT SICH DAS EINKOMMEN DER HAUSHALTE ZUSAMMEN? Löhne aus unselbständiger Beschäftigung sind für den überwiegenden Anteil der Haushalte die wich- tigste Einkommensquelle. Aber viele Menschen „Nur das oberste 1 % beziehen auch andere Arten von Einkommen, etwa aus selbständiger Tätigkeit, aus ihrem Ersparten der Haushalte erhält oder aus großen privaten Vermögen. nennenswerte Kapitaleinkommen.“ Ungleiche Verteilung bei Vermögenseinkommen Wilfried Altzinger/Stefan Humer/ Laut Statistik Austria verdienten die privaten Mathias Moser (INEQ) Haushalte im Jahr 2018 insgesamt etwa 150 Mil- liarden Euro an Löhnen, rund 36 Milliarden Euro 6 aus selbständiger Tätigkeit (inkl. Vermietung) und ihren Erträgen abzüglich der Aufwendungen und 26 Milliarden Euro Einkommen aus Vermögen (z. B. schwankt über die Jahre oft sehr stark. Das zeigt aus Zinsen und Dividenden). sich auch daran, dass etwa ein Drittel der gut 1 Mil- lion Steuerfälle von Selbständigen wegen niedrigen Aber diese Einkommen sind nicht auf alle Haus- Einkommen, Verlusten oder Abzug von Sonderaus- halte gleich verteilt. Eine Erhebung der EU Statis- gaben kein steuerpflichtiges Einkommen meldet. tikbehörde zeigt, dass Einkommen aus Selbstän- digkeit und Vermögenseinkommen nur bei den Konzentration an der Spitze bestverdienenden Haushalten einen relevanten Vermögenseinkommen sind bei den reichsten Teil ausmachen. Allerdings unterschätzen die- Haushalten konzentriert. Allein dem Top 1 % flos- se Zahlen die tatsächlichen Einkommen bei den sen im Jahr 2018 mehr als 15 % aller Vermögens- reichsten Haushalten deutlich, weil in freiwilligen einkommen zu. Ein Grund dafür ist, dass das Befragungen die Daten der Reichsten nur schlecht reichste 1 % der Haushalte ein Viertel des gesam- erfasst werden. Berechnungen zufolge decken ten Vermögens besitzt. Zählt man die Einkünfte diese Erhebungen nicht einmal 20 % aller Vermö- aus Vermietung zu den Vermögenseinkommen genseinkommen ab. machen diese etwas mehr als die Hälfte aus, priva- te Pensionen ca. 20 % und Einkommen aus Zinsen In Österreich sind die Daten zu Löhnen und Ge- und Dividenden etwa 30 %. Haushalte an der Spit- hältern durch die Lohnsteuerstatistik sehr gut er- ze der Verteilung mit hohen Vermögenseinkom- fasst, während es für die Selbständigeneinkommen men profitieren außerdem davon, dass Zinsen und deutlich schwieriger ist. Denn das steuerpflich- Dividenden steuerlich gegenüber Arbeitseinkom- tige Einkommen der Selbständigen entspricht men begünstigt sind. 18 | Lohn- und Nichtlohneinkommen
FAKTEN • Löhne aus unselbständiger Beschäftigung sind für die meisten Haus- halte die wichtigste Einkommensquelle. • Während die Datenlage bei den Löhnen sehr gut ist, geben Steuerda- ten keine zufriedenstellenden Informationen zu Selbständigen- und Zum Weiterlesen: Vermögenseinkommen. Man muss auf Befragungsdaten zurückgrei- Altzinger, Wilfried/Humer, Stefan/Moser, Mathias fen, in denen diese Einkommen stark untererfasst sind. (2017): Entwicklung und Verteilung der Einkommen, Sozialbericht. Sozialpolitische Entwicklungen und • Nur an der Spitze der Verteilung spielen Einkünfte aus selbständiger Maßnahmen 2015-16, BMASK, 227-268, Tätigkeit sowie Vermögenseinkommen eine bedeutende Rolle. https://bit.ly/3bqDqKK • Dem Top 1 % der Haushalte mit den größten Einkommen fließen rund Guger, Alois/Mayrhuber, Christine/Scheiblecker, 15 % aller Vermögenseinkommen zu, wobei der Großteil aus Mietein- Marcus (2014): Möglichkeiten zur Ermittlung und Systematisierung der Nicht-Lohn-Erwerbseinkom- künften besteht. men und ihrer Verteilung in Österreich, WIFO. Quelle: EU-SILC, 2018 EINKOMMENSARTEN Ein Symbol = € 10.000,- L öhne Vermögen DER HAUSHALTE Pensionen Selbständige Ein Haushalt im 25. Perzentil Ein Haushalt im 50. Perzentil Ein Haushalt im 75. Perzentil Ein Haushalt im 90. Perzentil Ein Haushalt im obersten verfügt über ein Jahres- verfügt über ein Jahres- verfügt über ein Jahres- verfügt über ein Jahres- Perzentil verfügt über ein Jahres- einkommen von € 23.500. einkommen von € 43.300. einkommen von € 72.100. einkommen von € 106.200. einkommen von € 305.300. Lohn- und Nichtlohneinkommen | 19
VERHÄLTNIS VON ATX-VORSTANDSVERGÜTUNG ZUM MEDIANLOHN 1 : 24 1 : 43 1 : 64 7 Quelle: Wieser, 2019 2003 2015 2018 DAS OBERSTE PROZENT DIE HERREN DES GELDES Wer in Österreich zum obersten Prozent der Ein- kommen. Zu den Top 0,1 %, also dem obersten Tau- kommensverteilung zählt, verfügte im Jahr 2016 sendstel der Einkommensverteilung, zählen 7.000 über ein jährliches Bruttogesamteinkommen von Menschen. Im Jahr 2016 hatten diese ein durch- mindestens 185.000 Euro. Frauen sind im obers- schnittliches Einkommen von 1,1 Millionen Euro. ten Prozent kaum vertreten, während Manage- rInnen der Finanz- und Energiebranche sowie Verdreifachung der ManagerInnengehälter Männer mit großem Vermögenseigentum überre- Dieses obere Ende der Einkommensverteilung präsentiert sind. entkoppelt sich immer weiter vom Rest. Das zeigen auch Analysen der Gehälter von Vorständen von In Österreich bezieht das oberste Prozent 8 % der Aktiengesellschaften, eine wesentliche Gruppe im gesamten Einkommen. Die gesamte untere Hälfte obersten Prozent. Zwischen 2003 und 2018 sind die der Einkommensverteilung erhält 26 % der Ein- Vergütungen von ManagerInnen im Vorstand der 20 | Das oberste Prozent
„Die Kluft zwischen ManagerInnengehältern und durch- schnittlichen Löhnen ist in der letzten Dekade deutlich gestiegen: 2003 wurden ManagerInnen mit dem 24-fachen Durchschnittsgehalt entlohnt, 2018 war es bereits das 64-fache Durchschnittsgehalt.“ Christina Wieser (AK Wien) 20 größten Aktiengesellschaften um satte 266 % Spitzensteuersätze, die effektive Besteuerung von gestiegen, sie haben sich mehr als verdreifacht. Im Vermögenseinkommen ohne Schlupflöcher und selben Zeitraum ist das Medianeinkommen nur Ausnahmen, aber auch starke Gewerkschaften und um 34 % gewachsen. Das Verhältnis des Median- BetriebsrätInnen. einkommens zum Durchschnitt der Vorstandsver- gütungen beträgt mittlerweile 1:64. Oder anders Zum Weiterlesen: ausgedrückt, eine Person in der Mitte der Ein- Wieser, Christina (2019): Vorstandsvergütung in den kommensverteilung müsste für ein durchschnitt- ATX Unternehmen. Vergütungspolitik und Gehälter- liches, jährliches Vorstandseinkommen 64 Jahre Ranking 2018, https://bit.ly/37PFb13 lang arbeiten. Schürz, Martin (2019): Überreichtum, Frankfurt: Campus Verlag. Vermögenseinkommen besteuern Linktipp: www.reichtumsmythen.at Auch Menschen, die hohe Vermögenseinkommen, etwa aus Immobilieneigentum oder Unterneh- mensbeteiligungen, beziehen, finden wir ganz oben in der Einkommensverteilung. Dabei handelt es sich um Einkommen, die ohne geistige oder kör- FAKTEN perliche Anstrengung erwirtschaftet werden. Ein Blick auf die Einkommensverteilung zeigt, dass • Das oberste Prozent der Einkommensverteilung erhält 8 % der jedoch die meisten Menschen gar keines oder nur gesamten Einkommen. Die untere Hälfte der Verteilung – das sind geringes Vermögen besitzen und dementsprechend 50 Mal so viele Menschen – bezieht gemeinsam 26 % der Einkommen. auch kaum Einkommen aus ihren Vermögenswer- • Unter dem obersten Prozent der Einkommensverteilung finden wir ten beziehen. Die Ungleichverteilung wird dadurch kaum Frauen, der Frauenanteil liegt hier bei nur 10 %. verstärkt, dass die Vermögenseinkommen im Ver- gleich zu Arbeitseinkommen viel geringer besteu- • Einkommen, die aus dem Eigentum an Vermögen entstehen, etwa Zins- ert werden und damit auch kaum einen Beitrag zur erträge oder Einkommen aus der Vermietung oder Verpachtung von Finanzierung des Sozialstaates leisten. Immobilien sowie Dividenden, konzentrieren sich stark auf das Top 1 %. • Hohe Spitzensteuersätze, effektive Besteuerung von Vermögens- Ein gutes Rezept gegen die immer weiter aufgehen- einkommen ohne Schlupflöcher, sowie starke Gewerkschaften de Schere in der Einkommensverteilung sind hohe sind Rezepte gegen die immer weiter aufgehende Schere in der Einkommensverteilung. Das oberste Prozent | 21
STEUERN UND ABGABEN ALLE MENSCHEN ZAHLEN STEUERN 8 Das Steuern- und Abgabensystem hat einen wich- tigen Einfluss auf die Einkommensverteilung. Während die meisten Menschen bei Steuern an die Lohn- oder Einkommensteuer denken, bezah- len Haushalte auch Konsumsteuern, Sozialversi- cherungsbeiträge und die Kapitalertragssteuer. Bei einer gemeinsamen Betrachtung zeigt sich: „Alle Einkommen sollen zur Finanzierung des Sozialstaates herangezogen werden. Damit meine ich auch Zinseinkommen und Vermögenserträge.“ Alois Guger (WIFO) Das österreichische System von Steuern und Ab- gaben verteilt nur geringfügig um. Entlang der Einkommensverteilung zahlen alle Haushalte zwischen 30 und 40,5 % ihres Bruttoeinkommens an Steuern und Abgaben. tel, Miete, Handyrechnung) verwenden, dafür be- zahlen sie Mehrwertsteuer. Haushalte am oberen Umverteilung durch Steuern? Ende der Einkommensverteilung sparen hingegen Laut Statistik Austria hat der Staat 2018 163 Mil- einen beträchtlichen Anteil ihres Einkommens liarden Euro aus Steuern und Abgaben eingenom- und zahlen dafür keine Mehrwertsteuer. men. Der größte Brocken davon, 29 Milliarden Euro, kommt aus der Mehrwertsteuer. Bei dieser Die zweitwichtigste Einzelsteuer ist die Lohn- Konsumsteuer gilt für alle – unabhängig von ih- steuer mit einem Aufkommen von 28 Milliarden rem Einkommen – derselbe Steuersatz. Deshalb Euro. Bei der Einkommenssteuer für selbständige wirken Konsumsteuern regressiv: je höher das Tätigkeiten sind es mit 5 Milliarden Euro deutlich Einkommen, desto niedriger der Einkommensan- weniger. Die Lohn- und Einkommenssteuer ist in teil, der für die Steuer aufgewandt wird. Haushalte Österreich progressiv gestaltet: Einkommen un- mit niedrigem Einkommen müssen einen größe- ter 11.000 Euro pro Jahr werden nicht besteuert. ren Anteil für Konsumausgaben (z. B. Lebensmit- Darüber steigt der Steuerbeitrag schrittweise mit 22 | Steuern und Abgaben
WER TRÄGT WIEVIEL Jedes Symbol = 1 % Steuern und Abgaben vom Einkommen. Steuer auf Konsum Einkommenssteuer ZUM GEMEINWOHL BEI? Sozialversicherung Kapitalertragssteuer Quelle: Humer/Moser, 2016 Steuern und Abgaben des Steuern und Abgaben des Steuern und Abgaben des unteren Drittels: 33,7 %. mittleren Drittels: 37,5 %. oberen Drittels: 40,5 %. dem Einkommen an. Ab einer Million Euro wird Saez, Emmanuel/Zucmann, Gabriel (2020): Der der Spitzensteuersatz von 55 % fällig. Mit 30 Mil- Triumph der Ungerechtigkeit - Steuern und Un- liarden Euro sind auch die Sozialversicherungs- gleichheit im 21. Jahrhundert, Berlin: Suhrkamp beiträge der DienstnehmerInnen ein großer Verlag. Brocken. Diese sind jedoch bis auf die Deckelung Linktipp: www.verteilung.at mit der Höchstbeitragsgrundlage für sehr hohe Einkommen und der Befreiung von geringfügigen Einkommen für alle gleich. Kapitaleinkommen gerecht besteuern Steuern auf Kapitaleinkommen lukrieren nur we- nige Steuereinnahmen und verdeutlichen die un- FAKTEN gleiche Lastenverteilung zwischen Arbeits- und • Entlang der Einkommensverteilung zahlen alle Haushalte Kapitaleinkommen. Etwa 2,3 Milliarden Euro wurden 2018 von den Haushalten bezahlt. Der zwischen 30 und 40 % des Gesamteinkommens an Steuern. Steuersatz ist mit 25 % auf Zinseinkommen bzw. Das heißt: Alle Menschen zahlen Steuern! 27,5 % auf Dividenden niedrig. Ein erster großer • Die Zusammensetzung des Steuerbeitrags variiert entlang der Ein- Schritt in Richtung mehr Gerechtigkeit ist die kommensverteilung. Am unteren Ende entfällt der größte Anteil auf steuerliche Gleichbehandlung von Einkommen Konsumsteuern. In der Mitte sind es Sozialversicherungsbeiträge, aus Arbeit und Kapital. Einkommensteuer und Mehrwertsteuer. Die Kapitalerträge der Zum Weiterlesen: Obersten werden nur gering besteuert. Humer, Stefan/Moser, Mathias (2016): Integrierte • Eine Stärkung vermögensbezogener Steuern und eine einheitliche Steuer- und Abgabenstatistik der privaten Haus- Besteuerung von Arbeits- und Kapitaleinkommen sind für ein gerech- halte in Österreich, WIFO. tes Steuersystem unerlässlich. Steuern und Abgaben | 23
TRANSFERLEISTUNGEN ALLE PROFITIEREN VON ÖFFENTLICHEN LEISTUNGEN Ein großer Teil der Steuereinnahmen fließt di- dungs- und Familienleistungen verteilen sich re- rekt in Form von Geld- und Sachleistungen des lativ gleichmäßig über alle Einkommensgruppen, Sozialstaates an die privaten Haushalte zurück. da alle einmal in Ausbildung sind, Krankheiten Viele dieser Unterstützungen kommen zielge- behandeln lassen oder eine Familie gründen. Von richtet einkommensschwachen Menschen zugute finanzieller Unterstützung bei Arbeitslosigkeit, und reduzieren damit sowohl die Armut als auch von der Mindestsicherung sowie von Förderungen 9 die Ungleichheit. im Bereich Wohnen profitieren hingegen überwie- gend einkommensschwächere Haushalte, da diese Das WIFO hat in einer umfangreichen Studie die öfter von Arbeitslosigkeit, Armut oder Notlagen be- Verteilungswirkungen der Leistungen aus öffent- troffen sind. licher Hand näher beleuchtet. 2015 stellte der Sozialstaat rund 13,5 Milliarden Euro an Geldleis- Die öffentlichen Leistungen des Sozialstaates nut- tungen (z. B. Familienbeihilfe, Pflegegeld, Arbeits- zen vor allem den unteren und mittleren Einkom- losengeld, Mindestsicherung, Wohnbeihilfe) und mensgruppen. Zum Beispiel verursacht eine Blind- 45,8 Milliarden Euro an Sachleistungen (z. B. In- darmoperation für alle etwa gleich hohe Kosten. anspruchnahme von Gesundheits- und Bildungs- Wäre diese Gesundheitsleistung aber privat zu be- leistungen, Nutzung von Kinderbetreuungsinfra- zahlen, so würde sie Haushalte mit niedrigem Ein- struktur, Schulbücher, AMS-Kurse) bereit. Die kommen überfordern, bei hohen Einkommen fiele Sachleistungen, von denen der Großteil auf die sie hingegen kaum ins Gewicht. Bereiche Gesundheit und Bildung entfällt, sind in Summe also drei Mal so hoch wie die Geldleistun- gen, die hauptsächlich für Familie und Arbeitslo- sigkeit aufgewendet werden. Nicht einberechnet sind hierbei die öffentlichen Pensionen, die noch- „Der größte Beitrag zur mals 48,5 Milliarden Euro ausmachen. Verringerung der Ungleichheit der Einkommen [geht] von den Öffentliche Leistungen verringern die Ungleichheit Zur Messung der Verteilungswirkung von Geld- öffentlichen Sachleistungen aus.“ und Sachleistungen werden die Haushalte nach Silvia Rocha-Akis/Christine Mayrhuber (WIFO) ihrem Einkommen geordnet und in drei gleich große Gruppen eingeteilt. Die Gesundheits-, Bil- 24 | Transferleistungen
Ein Sozialstaat für Alle FAKTEN Sozialstaatliche Leistungen verringern also die • Von sozialstaatlichen Leistungen profitieren alle Menschen quer Ungleichheit, weil niedrige und mittlere Einkom- men davon am stärksten profitieren. Der Sozial- durch die Gesellschaft im Laufe ihres Lebens, sei es in Ausbildung, bei staat erhöht aber nicht nur den Lebensstandard Krankheit, im Alter oder bei der Familiengründung. von Menschen mit kleinen Einkommen, sondern • Die öffentlichen Geld- und Sachleistungen des Sozialstaates redu- unterstützt alle Menschen je nach Bedarf und Le- zieren die Ungleichheit, weil ärmere Haushalte gemessen an ihrem bensphase – sei es bei Ausbildung, Krankheit, Ru- Einkommen stärker vom Leistungsangebot profitieren. hestand oder Familiengründung. • Sachleistungen machen in etwa das dreifache von Geldleistungen aus und leisten den größten Beitrag zur Verringerung der Einkom- Zum Weiterlesen: mensungleichheit. Rocha-Akis, Silvia/Mayrhuber, Christine (2019): Um- verteilung durch den Staat 2015 – Überblick über die Gesamteffekte, WIFO Monatsberichte 92/5, S. 323- 337, Kurzfassung: https://bit.ly/2w8oy3P WER PROFITIERT VON WELCHEN TRANSFERLEISTUNGEN? Quelle: WIFO-Monatsberichte, 2019, 92(5) Jedes Symbol entspricht 1 % der Transferleistung. Arbeitslosigkeit/BMS Gesundheit/Pflege Familie Bildung Wohnen Das untere Drittel Das mittlere Drittel Das obere Drittel erhält 40,3 % aller erhält 32,1 % aller erhält 27,6 % aller Transferleistungen. Transferleistungen. Transferleistungen. Transferleistungen | 25
DER SOZIALSTAAT Ein Symbol entspricht 5 % armutsgefährdeter Menschen. Armutsgefährdung vor Sozialleistungen SCHÜTZT VOR ARMUT Armutsgefährdung nach Sozialleistungen 50 % 45,7 % 45,8 % 40,5 % 43,3 % 44,3 % 43,7 % 44,6 % EU-Schnitt 42 % 34 % 21,5 % 20,3 % Quelle: Eurostat 2019 [ilc_li03, ilc_di09, ilc_di10] 17,3 % 18,4 % EU-Schnitt 16 % 16,3 % 13,3 % 13,3 % 14,3 % 9,6 % 10 Tschechien Slowenien Frankreich Österreich Deutschland Schweden Portugal Griechenland Italien Spanien ARMUTSGEFÄHRDUNG DER SOZIALSTAAT REDUZIERT DIE ARMUT DEUTLICH Als armutsgefährdet gelten jene Personen, deren rend 2010 jedeR zwölfte Erwerbstätige von Armut äquivalisiertes Nettohaushaltseinkommen unter bedroht war, ist es mittlerweile jedeR achte. 60 % des Medianeinkommens liegt. Für einen Ein- personenhaushalt lag dieser Wert in Österreich Sozialstaat reduziert die Armut deutlich 2018 bei einem Monatseinkommen von 1.259 Euro. Ohne sozialstaatliche Umverteilung und ohne Insgesamt lag jeder siebte Mensch in Österreich öffentlichen Pensionen wäre die Armutsgefähr- unter dieser Grenze. Betroffen sind vor allem Al- dungsquote beträchtlich höher. Wie die Abbildung leinerziehende, Langzeitarbeitslose, Frauen und zeigt, läge sie bei 43,3 %. Werden sozialstaatliche Menschen mit geringer Ausbildung. Ein weiteres Leistungen und öffentliche Pensionen in der Rech- Problem ist die steigende Zahl der Armut bei er- nung berücksichtigt, liegt die Quote deutlich nied- werbstätigen Personen, den „Working Poor“. Wäh- riger bei 14,3 %. Die Reduktion von fast 70 % zeigt, 26 | Armutsgefährdung
wie wichtig der Sozialstaat für die Bekämpfung „Armut setzt sich aus vielen von Armut ist. Aspekten zusammen. Es ist nicht nur der Mangel an Geld, sondern Armut im internationalen Vergleich Im internationalen Vergleich liegt die Armuts- es ist auch ein Mangel an Bildung, gefährdungsquote in Österreich unter dem EU- ein Mangel an Information, Durchschnitt. Tschechien und Slowenien weisen ein Mangel an Inklusion und niedrigere Quoten auf, Spanien und Italien die Bewusstsein, etc. “ höchsten. Die Armutsgefährdungsquote gibt al- Esther Duflo lerdings keinen Aufschluss über die Lebenslagen, (Massachusetts Institute Kostenstrukturen und Rahmenbedingungen der of Technology) Haushalte wie: Alt-Jung, Stadt-Land, Mietwoh- nung-Eigentum. Denn Bedingungen und Leistbar- keit eines „guten“ Lebens unterscheiden sich maß- geblich trotz gleichem Einkommen. Eindeutig ist, dass sozialstaatliche Maßnahmen im EU-Vergleich für alle Länder die Einkommens- armut deutlich reduzieren, wenn auch nicht im gleichen Ausmaß. In Spanien verringern Sozial- transfers die Quote um 50 %, in Deutschland um 60 % und in Frankreich um 70 %. Ausschlaggebend FAKTEN für die Armutsgefährdung sind also einerseits so- zialpolitische Maßnahmen, aber auch die Lebens- • In Österreich sind 1,2 Millionen Menschen armutsgefährdet. standards in den jeweiligen Ländern. • 11 % der Erwerbstätigen fallen trotz Arbeit unter die Armutsgrenze und 16 % aller Armutsgefährdeten arbeiten in prekären Beschäfti- Zum Weiterlesen: gungsverhältnissen. Armutskonferenz (2019): Aktuelle Armutszahlen. Zah- len-Überblick zu Armut und Verteilung in Österreich, • Armut ist weiblich, jung und alt: jede siebte Frau, jeder fünfte Jugend- https://bit.ly/2HcQRjA liche und jede siebte Person älter als 65 ist armutsgefährdet. Schenk, Martin/Schriebl-Rümmele, Martin (2017): • Ohne sozialstaatliche Leistungen und öffentliche Pensionen wären Genug gejammert! Warum wir gerade jetzt ein in Österreich dreimal so viele Menschen armutsgefährdet. starkes soziales Netz brauchen, Unteraichwald: Ampuls Verlag. Armutsgefährdung | 27
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