Leben in Leistungsstatistiken - Eine Spurensuche zur Konstruktion und zum Gebrauch grafischer Statistiken in der Schule - Ingenta ...
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PR 2021, 75. Jahrgang, S. 205-218 © 2021 Bernhard Hemetsberger - DOI https://doi.org/10.3726/PR022021.0016 Bernhard Hemetsberger Leben in Leistungsstatistiken Eine Spurensuche zur Konstruktion und zum Gebrauch grafischer Statistiken in der Schule Leistungsstatistiken prägen unseren All- analytisch beizukommen. Von einem his- tag fast ebenso wie Metaphern1 oder torischen Zuschnitt aus scheint es zudem Nachrichtenmeldungen. Ob nach der lohnenswert, sich zuerst einer allgemei- Veröffentlichung der PISA-Studienergeb- neren Popularisierung von Statistik zuzu- nisse, nach Klassenarbeiten, einem Bun- wenden und sich danach dem Einsickern desligaspiel oder gegenwärtig auch im statistischer Darstellungen in pädagogi- medialen Ländervergleich zur COVID-19 sche Felder anzunehmen. Es soll deutlich Pandemie, sie ordnen, hierarchisieren und werden, dass statistische Darstellungen in suggerieren Objektivität, während ihre der Schule und über den Unterricht maß- Konstruktion zumeist verschleiert bleibt. geblich zu heute beinahe unhinterfragten Die dargestellte Normalität leitet, lenkt Interpretationen von Leistungstabellen, und formt mit normativer Kraft, wo strit- -diagrammen, -torten und -ranglisten bei- tig bleibt, wovon die statistische Darstel- getragen haben und ‚normalverteilte‘ lung denn eigentlich handelt. Gerade im Leistung in der Schule zur allgemeinen Er- Schulbereich findet eine Einführung und wartung erhoben haben: nur Wenige sind Kultivierung von Leistungsdarstellungen ausgezeichnet oder miserabel, während statt, dessen Geschichte bisher wenig sich die Mehrzahl im sicheren Mittelfeld Beachtung in der wissenschaftlichen Ana- befindet. lyse gefunden hat.2 Jedoch schreiben sich gerade an diesem Ort Leistungsgrafiken tief in die beschulten Subjekte ein.3 Wer 1. Zur Genese der Statistik und ist besser oder schlechter, schneller oder ihrer grafischen Darstellung langsamer beziehungsweise adäquater oder inadäquater mit den Anforderungen Bis ins achtzehnte Jahrhundert sind ma- von Schule zurechtgekommen? thematische Errungenschaften, vor allem Es soll an dieser Stelle also versucht zur Wahrscheinlichkeit, als Grundlage werden, der Leistungsstatistik innewoh- für die Entwicklung statistischer Arbeiten nenden Überzeugungskraft und damit anzusehen. Eine lange, teils vergesse- einhergehenden Wahrheitsansprüchen ne Vorgeschichte ermöglichte erst, dass 2 / 2021 Pädagogische Rundschau 205 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Statistik als spezifische Verbindung von der sittlichen und geistigen Fähigkeiten Hypothesen und Daten hervortreten konn- des Menschen bestimmen zu können, te.4 Theodore Porter5 konkludierte dazu, wenn sich behaupten ließe, dass dass Statistik, obwohl sie stets eine singu- „1) die Individuen, die wir vergleichen, läre und heikle wissenschaftliche Metho- sich fast genau in denselben Umstän- de blieb, maßgeblich zur Ausbreitung der den befinden; 2) wenn man auch nicht wissenschaftlichen Domäne beigetragen die absolute Zahl der [beispielsweise; hätte. Im Laufe des neunzehnten Jahrhun- Anm.: B.H.] begangenen Diebstäh- derts gelangten Statistiken von ‚Exper- le kenne, so kenne man wenigstens tenkreisen‘ ausgehend zu allgemeiner das wahrscheinliche Verhältniss der- Bekanntheit und verbanden sich rasch mit selben; 3) dieses Verhältniss habe um bürgerlichen Leistungsvorstellungen, wo- so mehr Anspruch auf Vertrauen, je durch auch die fragwürdige Anwendung mehr Jahrgänge die Beobachtungen mathematischer Formeln auf das Ver- umfassen und je enger die Gränzen ständnis von Gemeinschaften und Subjek- seyen, innerhalb derer die Ergebnisse ten gesamtgesellschaftliche Verbreitung schwanken.“8 fand. Kontinuierlich bahnte sich Statistik so im modernen Leben ihren Weg als Ent- Er versuchte sich an der Operationalisie- scheidungs- und Legitimationsanleitung rung der genannten Fähigkeiten und hob des öffentlichen und individuellen Lebens.6 dabei die Notwendigkeit hervor, dass „mit- Dabei wurde es in philosophischen tels eines Maasses gemessen werden“9 Überlegungen früh für möglich gehalten, müsse; es also einer möglichst genauen dass statistische Gesetze Begleiterschei- Definition oder Kategorienbildung bedürfe, nungen von nicht statistischen Fakten um messen zu können, was als Umstände, auf individueller Ebene sind und soziale was als Diebstahl und was als Jahrgang Gesetze von oben wie Gravitationskraft gelten sollte. Wurde eine Setzung gefun- auf Individuen wirken würden.7 Adolphe den, was wie gemessen werden soll, war Quetelet (1796-1874), belgischer Astro- noch nicht sichergestellt, dass an ande- nom und Statistiker, formulierte Anfang ren Orten zwar die Bezeichnung ähnlich des neunzehnten Jahrhunderts daran an- oder gleich, nicht aber die Definition und schließend die Doktrin eines statistischen Operationalisierung übereinstimmend war, Gesetzes. Darin ging er davon aus – auf womit die Vergleichbarkeit oder gar die der Notwendigkeit eines stabilen gesell- Zusammenführung der erhobenen Daten schaftlichen Zustandes aufbauend – dass problematisch wurde. Das Standardi- statistisch begründete Regularien auch in sierungsproblem blieb auch in späteren Zukunft Gültigkeit behalten würden. Es Studien heikel, wo beispielsweise “im schien ihm möglich, allgemeine Wahrhei- Vergleich von Bildungssystemen die erste ten über Massenphänomene durch Sta- Schwierigkeit in der Terminologie und tistikgebrauch zu ergründen, auch wenn Klassifikation liege. Gleichlautende Be- diese auf individueller Ebene ungekannt grifflichkeiten in verschiedenen Ländern oder gar gänzlich unzugänglich wären. würden oft unterschiedliches bedeuten.“10 Quetelet meinte so auch die Entwicklung Schließlich müssten diese so definiert 206 Pädagogische Rundschau 2 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
werden, dass sie über verschiedene Sys- Institutionalisierung und Expansion im teme und Traditionen hinweg Sinn erge- Laufe des neunzehnten Jahrhunderts ben.11 Aufgrund dieser Notwendigkeit zur verließ Statistik ihre vormals als unzurei- Vereinheitlichung von Methoden, Kategori- chende Wissenschaft von Zuständen und en und Definitionen – prominent diskutiert Verfassungen beschriebene Position. In am ersten International Statistical Con- der neuen Stellung wies sie sich umso gress 1853 in Brüssel, u.a. schon mit der überzeugender als empirische, gewöhn- Sparte Urbanisation and Education – kam lich als quantitative Sozialwissenschaft es zu einer ‚Verwissenschaftlichung‘ und aus und bediente sich grafischer Darstel- Disziplinbildung. So organisiert drängten lungen, um einen bemerkenswerten Sie- Erhebungskategorien und Ordnungsbe- geszug anzutreten. zeichnungen Menschen in eine Zuord- Dabei hatten diese grafischen Darstel- nung, ermöglichten auf der anderen Seite lungsformen selbst, nach H. Gray Funk- aber auch neue Entfaltungsmöglichkeiten houser,16 eine lange Entwicklung hinter – „making up people“12 – das Zurecht- sich gebracht. Der Ursprung von Koordi- machen und Produzieren von Subjekten natensystemen, darin eingebettete Kur- ist ein nicht zu unterschätzendes Produkt ven, die durch Beobachtung erhobenen statistischer Erhebungen. Wenig verwun- numerischen Daten und ihre Übertragung derlich war der Begriff Statistik13 während in Grafiken ist bereits im alten Ägypten zu der 1830er und 40er in den allgemeinen finden.17 Wiederum sind diese jahrhunder- Sprachgebrauch übergegangen, und es teumspannenden Entwicklungen in ‚Exper- schien tenkreisen‘ angesiedelt und kaum in einer erweiterten Öffentlichkeit bekannt, welche „beinahe unmöglich nun über derar- sich nach Habermas18 auch erst ab dem tige Zahlen und numerische Tabellen achtzehnten Jahrhundert im ‚modernen‘ zu sprechen, ohne diesen anachronis- Sinn herausbildet. Eine Öffnung dieser tischen Begriff zu verwenden. Dass Expertenkreise zeichnet sich zusehends in alle vorausgegangenen Generationen der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ohne ihn auskamen lässt erahnen, wie ab, wo sich die Überzeugung durchzuset- verändert die Welt nach dem ersten zen beginnt, dass komplexe Zusammen- Drittel des neunzehnten Jahrhunderts hänge durch Statistiken mit grafischen war – vormals eine Welt ohne Sterb- Darstellungen für die Allgemeinheit attrakti- lichkeitsraten, Arbeitslosenzahlen und ver und leichter erschließbar wären.19 Dazu Intelligenzquotienten.“14 hatte bereits Ende des achtzehnten Jahr- All diese Problematiken und Standardisie- hunderts William Playfair (1759-1823), der rungsnotwendigkeiten haben nicht zuletzt ‚Erfinder‘ von grafischen Statistiken, maß- zu einer großen bürokratischen Maschi- geblich beigetragen. Er publizierte als einer nerie beigetragen, die von sich selbst der Ersten20 mit pointierten Bemerkungen zwar behauptet nur Informationen bereit- versehene Linien-, Kreis-, Balken- und Tor- zustellen, jedoch zum Apparat der neuen tendiagramme zur Beschreibung und Ana- Machttechnologie des modernen Staa- lyse von ökonomischen Trends. tes gehört.15 Durch eine fortschreitende 2 / 2021 Pädagogische Rundschau 207 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Grafik 1: Playfairs Zeitserie zur Handelsbilanz im Commercial and Political Atlas21 Der 1785 von Playfair herausgegebene durchschlagenden Erfolg von statistischen Commercial and Political Atlas; Represen- Grafiken in Museen und Ausstellungen, ting, by Means of Stained Copper-Plate besonders ab der Mitte des neunzehn- Charts, the Exports, Imports, and Gene- ten Jahrhunderts in den aufkommenden ral Trade of England, at a Single View war Weltausstellungen,23 festzumachen. Dort wegweisend für die grafischen Ausgestal- werden sie für Unterhaltungs- wie Infor- tungen von Statistiken und gab dessen mationszwecke mit der Überzeugung Ansinnen einen beispielhaften Slogan: re- verwendet, ‚reale‘ Verhältnisse unmittel- presenting … at a single view. Auf einen bar widerzuspiegeln und entsprechende Blick würden seine Darstellungen also Abweichungen zur Einordnung in das komplexe Inhalte vermitteln. Damit verdich- ‚Normale‘ anzuhalten. Besonders Wel- tete sich auch bei vielen seiner späteren tausstellungen besaßen im neunzehnten Nachahmer die Idee, dass Visualisierungen Jahrhundert noch weitreichenden Modell- mehr als das Lesen eines Textes direkteren charakter beispielsweise für die Zukunft Einfluss auf die Betrachtenden ausüben. von nationalen Bildungssystemen, ihrer Mehr noch, Individuen könnten effektiver Reform, ‚Modernisierung‘ und Internatio- beeinflusst werden, wenn Darstellungen nalisierung. Im Wettstreit der Aussteller um ‚für sich selbst sprechen‘ würden, also Aufmerksamkeit des Publikums galt es als unvermittelt überzeugen und durch ihren ausstellungswürdig gehaltene Errungen- Realismus moralische Triebkraft entfalten schaften und Leistungen selbstbewusst, könnten.22 Die Lenkung des Blickes und möglichst überzeugend und interessant zu die derart präsentierte Erkenntnis schien präsentiert, um auch internationale Nachah- Playfair unproblematisch und folgte eher mer zu finden. Öffentlichkeit und Popularität der Überzeugung: voilà, c´est la réalité. mussten hergestellt werden und grafische Dass diese Entwicklungen kein Statistiken entwickelten sich dabei schnell randständiges Dasein führten ist im zur innovativsten Ausstellungmethode in 208 Pädagogische Rundschau 2 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Europa und Nord Amerika.24 Museen mit was die Welt uns zu zeigen hätte. Ausstel- statistischen Dauerausstellungen25 kom- lungen und grafischen Darstellungen wer- plettierten den Trend, der bis zum Beginn den Ende des neunzehnten Jahrhunderts des zwanzigsten Jahrhunderts einen Höhe- beinahe unhinterfragt Bildungs- und Er- punkt erreichte. ziehungswert zugeschrieben. Daran wird Neben der Standardisierung statisti- Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts der scher Datenerhebung wurden auch die Wiener Otto Neurath28 anschließen und Elemente der grafischen Darstellung Piktogramme als universale und neutrale angeglichen, die dann zu einer ‚neuen Kommunikationsform entwickeln, die uns Sprache‘ in den Ausstellungen aufsteigen bis heute an öffentlichen Plätzen nach sta- konnten. Dies stellte eine Form einer uni- tistischen Abwägungen den Weg weisen. versellen Sprache dar, die über Gesell- Ein sogenannter Schleifeneffekt – loo- schaft unvermittelt zum Betrachter sprach. ping effect29 – lässt sich hier analysieren: Im Ausstellungskontext, wo limitierte Zeit, während Kategorien Menschen in eine Aufmerksamkeit und Mobilität zum tat- Zuordnung drängen, legitimieren und ver- sächlichen Realitätsabgleich vorhanden festigen sich diese hervorgebrachten sind, schien es reizvoll möglichst direkt Kategorien gerade durch Zuordnungen; und ohne zusätzliche Vermittlungsleistung gegenseitige Bedingtheit würden es dy- zu kommunizieren. Vermehrt galten Grafi- namische Nominalisten nennen. Ähnliches ken als optimale Präsentationsmöglichkeit, lässt sich für Statistiken und ihre grafischen um soziale ‚Realitäten‘ in einer bisher un- Darstellungen zeigen. Durch den quantita- erreichten Klarheit und Simplifizierung zu- tiven Zuwachs derselben wuchs auch ihre gänglich zu machen. Hubert H. Bancroft, öffentliche Legitimität und Ian Hacking30 ein Enthusiast der Chicagoer Weltausstel- argumentiert, dass soziale Fakten in ihrer lung 1893, pries dies überschwänglich als Wahrnehmung zunehmend statistischen bisher unerreichte Ausstellungsmethode, Charakter annahmen, woran Theodore die dem Besucher mehr Einsichten er- Porter31 seine Analyse zum bis heute wach- möglichen würde als eine ausgedehnte senden Vertrauen in Zahlen anschloss. Weltreise.26 Schon dieses Beispiel zeugt Die zusehends tiefer reichenden Wur- von einer enormen und schwärmerischen zeln von statistischen Darstellungen als Erkenntnishoffnung und Erwartung an sta- legitimatorische Grundlage32 in Politik und tistische Darstellungen. Die vermeintliche öffentlichem Diskurs als einzig anzuerken- Klarheit der dargestellten Unterschiede er- nenden Basis für Urteile wie für die Effi- schuf sichtbaren und diskursiven Raum.27 zienz medizinischer Prozeduren und der Die Lenkung des Blickes der Betrachten- Sicherheit von Chemikalien, im Geschäfts- den und der Diskursraum, welcher zugleich leben wie der Industrie für Qualitätskontrol- Erwartungen, Aussagemöglichkeiten und le und nachweisbar für wissenschaftliche Darstellungsformen generiert und prägt, Arbeiten, scheinen unerschütterlich. Vor waren in die Welt gesetzt. Dabei werden allem im Erziehungswesen wäre es nun nicht nur Einsichten sondern auch Sinn angebracht zu analysieren, wie Menschen erschaffen. Während das Dargestellte zurechtgemacht werden. Wie werden hier informativ auftritt, hat es zugleich erzie- mittels Statistik Räume für persönliche henden Charakter und produziert Erwar- Entfaltung ermöglicht oder eingeengt? tungshaltungen. So meinte Bancroft, dass Denn würden hier neue Beschreibungs- während die gesamte Ausstellung in sich modi hervortreten, werden diese auch von selbst erziehenden Charakter hätte, wären neuen Handlungs- und Ausdrucksmöglich- die Darstellungen Miniaturen all dessen, keiten begleitet. 2 / 2021 Pädagogische Rundschau 209 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
2. Frühe Statistiken in der Schule andererseits verengen sie diese auf ihre Definition. Es ist daher kaum verwunder- Trotz der sporadischen wissenschaftlichen lich, dass sich daran seither wiederkehrend Annäherung an eine ‚datafication‘ päda- öffentliche Diskussionen und Schulkritik an- gogischer Felder aus historisch-systemati- schließen. Besonders mit der Einführung scher Perspektive, scheint im Allgemeinen und Durchsetzung allgemeiner Schul- und gut belegt zu sein, dass statistisches Den- Unterrichtspflichten werden wahrgenom- ken und ihre Darstellungen zu einer ‚Ver- mene und bewertete wie unberücksichtigte wissenschaftlichung der Welt‘ maßgeblich aber für wichtig erachtete Schulleistungen beigetragen haben. So darf angenommen zum Zankapfel. Es wird deutlich, dass Leis- werden, dass auch im ‚Pädagogischen‘ tung eine problematische und nicht per den Statistiken in praktischen Handlungen se existente Kategorie ist, sondern unter wie in theoretischen Überlegungen Einfluss den jeweils sozialen Gegebenheiten zuge- zugesprochen werden kann. Martin Lawn33 schrieben, bewertet, ausverhandelt und an- und Kollegen haben erste historische Spu- erkannt werden muss.35 ren freigelegt, die zu den heute machtvollen Für Schülervergleiche und -reihungen Steuerungsinstrumenten im Erziehungs- setzten sich Ziffernnoten, drei Gruppen sektor führen. Wo aber sind diese für Leis- (gut, mittel, schlecht) und Jahrgangsklas- tungsstatistiken ausfindig zu machen? sen durch, während sich auf institutionel- In einer Studie zur Geschichte der No- ler Ebene am Übergang vom achtzehnten tengebung in Österreich34 hat sich gezeigt, zum neunzehnten Jahrhundert, Erhebun- dass Schulen ab dem Mittelalter ihre Leis- gen wie das Stapfer-Enquête (1799) in der tung und jene ihrer Schüler nach innen und Schweiz, das L´enquête Guizot (1833) in nach außen darstellten. Einerseits spiegel- Frankreich oder bayrische Schulbefragun- ten Sitzordnungen im Unterrichtsraum den gen36 statistischer Methoden bedienten, Fortschritt und das Betragen eines Schü- um Zustände der Schulen zu analysieren lers, andererseits wurden bei Prozessionen und Reformen einzuleiten. Systemver- mittels Gruppierungen und bei öffentlichen gleiche sind in eben dieser Zeit bei einer Prüfungen mit Preisauszeichnungen Leis- ‚Gründerfigur‘ vergleichender Erziehungs- tungen der Lernenden und der Institution wissenschaft, Marc-Antoine Jullien de sichtbar und für Außenstehende anschluss- Paris (1775-1848), verstärkt betrieben fähig gemacht. Leistungsaufzeichnungen worden. Aber es schien allgemein ein durch numerischen Noten werden spätes- wachsender Trend der Zeit zu sein, mit sta- tens ab 1599 bei den Jesuiten prominent. tistischen Erhebungsmethoden pädagogi- Diese Entwicklungen kulminieren bei den sche Settings zu erkunden. Besonders die Philanthropen in der bekannten Dessauer lange existenten und gepflegten Schulmat- Meritentafel, die mit goldenen und schwar- riken (auch Schülerstammblätter genannt) zen Punkten Fleiß und Versagen öffent- mit Zusatzinformationen zur Herkunft der lich sichtbar auswies und Vorrechte im Schüler, ihrer Noten, dem Beruf der Eltern Schulalltag damit verband. Ob in der ratio und deren ‚Schulkarriere‘ stellten sich für studiorum der Jesuiten oder den Schulord- immer voraussetzungsreicher werdende nungen, Weisungen und Reformentwürfen Erhebungen als interessant heraus. Wilde der Aufklärung, Skizzierungen dessen, was Verknüpfungen von Gewicht und Körper- geleistet werden soll, beinhalteten auch, größe bei amerikanischen Schulkindern, wie es bewertet und sichtbar gemacht wer- erstmals systematisch Durchgeführt von den könnte. Derartige Kategorisierungen H. P. Bowditch 1872, oder von Krimi- vermitteln einerseits schulische Leistungen, nalstatistiken und Bildungsniveau nach 210 Pädagogische Rundschau 2 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Heiratsregistern 1849 von Fletcher für an die Tradition des Anschauungs- und England und Wales beziehungsweise von Objektunterrichts an. Auf die behauptete Unterrichtssprache, Stipendienerhalt und Aufklärungs- und Lehrfunktion, welche Lehrer-Schüler-Proportion im deutsch-dä- Statistiken und ihren Grafiken innewohnen nischen Schleswig 1845 von Paulsen (im sollte baut beispielsweise der französische Lichte des ausbrechenden Deutsch-Däni- Algebra- und Geographieunterricht auf. schen Konflikts 1848-51) zeugen vom stei- Émil Levasseur brachte ab 1868 Schulbü- genden, jedoch fraglos auch politischen cher auf den Markt, die mit farbigen Bal- Interesse an Bildungssystemen. Alle hier kendiagrammen die Einwohneranzahl pro genannten Beispiele inkludieren grafische Quadratkilometer europäischer Staaten Darstellungen zu ihrem statistischen Mate- gegenüberstellte, die Schülerpopulation rial. Bemühen diese Produktionen Statisti- pro hundert Einwohner auswies, die An- ken über die Schule, so finden sich selbige zahl an Eisenbahnkilometern pro hundert früh auch im Unterricht. Quadratkilometer und vieles mehr gra- Wie schon bei Weltausstellungen und fisch abbildete, um ‚leichter‘ verständlich Museen den grafischen Darstellungen Er- zu sein und in Relation gesetzt werden zu ziehungs- und Bildungswert zugesprochen können. Der Internationale Statistische wurde, indem komplexe Zusammenhän- Kongress in Den Haag empfahl 1869 in ge simplifiziert, unmittelbar und auf einen Levasseurs Sinne statistisch unterstützen Blick verständlich gemacht werden wür- Unterricht von der Primarschule bis zur den, so kommen spätestens ab Mitte des Universität, neben einer Einschulung in neunzehnten Jahrhunderts solche auch statistische Methoden für Lernende aller im Unterricht zum Einsatz. Sie schließen Bildungsstufen. Grafik 2: Levasseurs Karte zu Ländergrößen der 1870er37 2 / 2021 Pädagogische Rundschau 211 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Die Rolle der Schule als Wegbereiter, Ver- Abstammung, Herkunft und An- oder breiter und Einführer statistischen Weltver- gar Aussehen materielle und soziale Le- ständnisses verwundert kaum, wenn nach bens- und Teilhabechancen verteilt und Theodor Porters38 Analyse, im öffentlichen ent- oder bestehende Hierarchien und Raum mehr noch als in privaten Angele- Ungleichheiten legitimiert werden,“40 so genheiten Expertise zusehends von sta- wäre es wissenschaftlich redlich soziale tistisch unterlegter Objektivität legitimiert Aushandlungsprozesse, was jeweils als wurde. So konnte bei Schulkindern früh Leistung gelten solle, einer Analyse zuzu- eine Blickführung und Kultivierung von führen. Rekurrieren doch nicht zuletzt mo- Erwartungshaltungen, was als Repräsen- derne ‚Leistungsgesellschaften‘ beinahe tation von Wahrheit, Wissenschaft, Rea- permanent darauf, dass Bevor- und Be- lität und Ästhetik Geltung beanspruchen nachteiligungen beziehungsweise legitime könnte, eingeübt werden. Ungleichbehandlungen im Sozialen durch Vom Ende des achtzehnten bis zur Mitte unterschiedliche Leistungen möglich und des neunzehnten Jahrhunderts finden sich gar geboten wären. Wie lässt sich diese also zuerst vereinzelte, dann eine steigende Legitimierung jedoch fassen? Was gilt als Anzahl grafischer Darstellungen über die erwartbar oder berechtigt? Welche ‚Aus- Schule und im Unterricht wieder. Beiden reißer‘ sind annehmbar? Dafür müssten Stoßrichtungen von Statistik – in und über tief verankerte und tradierte Übereinkünfte den Unterricht – sind Wahrheitsanspruch ausfindig gemacht werden, die den Grund und Lehrfunktion, d.h. normative Absichten der hier verhandelten Fragestellung berüh- gemeinsam. Der Schüler, die Schule oder ren. das Bildungssystem sollten reformiert und Eine Beobachtung, aus privatem wie ihre Leistung gesteigert werden respektive medialem Erfahrungsschatz, stellt der ex- ‚normalisiert‘ werden. Selbst diese Absich- emplarische Vorwurf dar, dass sich bei ten werden Anfang des zwanzigsten Jahr- unerwartet vielen sehr guten oder nicht hunderts einer statistischen Untersuchung ausreichenden Leistungen ein Konstrukti- zugeführt beziehungsweise davon einge- onsfehler in der Leistungsüberprüfung ein- holt. Die Verwendung von grafischen Dar- geschlichen haben muss. Die enttäuschte stellungen für Unterrichtszwecke ist dabei Überzeugung, dass wenige sehr gut oder eines der ersten Interessensgebiete, das schlecht, die Mehrzahl aber mittelmäßig ‚evaluiert‘39 wird. Wie ein derart geführter abschneiden müsste, führt gemeinhin in Unterricht und seine statistische Untersu- sichere Diskussion, wenn nicht zu einer chung sowie daran angeschlossene Refor- neuerlichen Um-/Bewertung, im Sinne men Mitte des neunzehnten Jahrhunderts normalverteilter Leistung. Die Vagheit und ausgesehen haben könnte, lässt sich mit Verhandelbarkeit der Leistungskategorien Charles Dickens´ Hard Times (1854) führen hier, von Unsicherheit befeuerter erahnen. Strittigkeit zur Einordnung in das ‚Normale‘ und ‚Erwartbare‘, die Erfolg und Scheitern in gewissen, ‚natürlichen‘ Dosen legitimie- 3. Zur Naturalisierung von ren.41 Diese Dosis orientiert sich, so die Schülerleistung durch Statistik These, an der Glockenkurve respektive Normalverteilung und lenkt zugleich die Fasst man (Schul-)Leistung mit Nina Ver- Diskussion alternativer Leistungskategori- heyen zugleich als subjektive Erfahrung en in ihre Bahnen. wie soziales Ordnungskriterium, wo- Die historische Entwicklung der durch „in Abgrenzung von Geburt und Normalverteilung haben Fendler und 212 Pädagogische Rundschau 2 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Muzaffar42 eindrücklich aufgearbeitet. Von Beobachtbarkeit von empirischen Fakten Münzwurfmodellen, als Vermeidungsmit- der Natur, die es einsichtig erscheinen tel von Fehlern bei Berechnungen und lassen, dass eine Normalverteilung auch Messungen, zur Herstellung universeller bei nicht unmittelbar zugänglichen Phä- ‚durchschnittlicher Menschen‘ (Average nomenen vorherrschend wäre. Das Ideal Man), zur Darstellung von Mustern in Be- der Normalverteilung wurde somit im Er- völkerungsaggregaten, als Standard des ziehungssektor naturalisiert und darüber Normalen, bei dem der Durchschnitt das hinaus in der gesamten Gesellschaft Erklä- Ideal darstellt bis hin zur angenommenen rungswert zugesprochen.44 Dabei kam das Basis legitimer rassistischer Diskriminie- Modell zuerst und wurde sozialwissen- rungen lassen sich Entwicklungen nach- schaftlichen Interessensgebieten überge- zeichnen. Dafür hatte 1711 Abraham de stülpt, indem es zugleich darauf hinwies, Moivre die mathematische Grundlegung in was vorzugsweise zu messen wäre und De Mensura Sortis geliefert. Adolphe Que- damit bestimmte, was als empirisch gelten telet wollte in mathematischer Regelmäßig- könne.45 keit in den 1840ern moralische Perfektion Das umgreifende Normalverteilungs- erkannt haben, was Francis Galton 1869 denken im pädagogischen Feld kann als in der Statistik des Ringvergleiches (‘sta- Dreh- und Angelpunkt statistischen Den- tistics of intercomparison‘) dazu bewegte, kens mit all ihren gesellschaftlichen Kon- mittels seiner Logik der Analogie Leistung sequenzen betrachtet werden, „indem es wie empirisch beobachtbare Kategorien, den Status eines objektiven Gesetzes ein- zum Beispiel Körpergröße, zu messen. genommen hat. Daran anschließend lässt „In der neuen Verwendung Galtons wurde sich zeigen, dass die Naturalisierung der die von Quetelet aufgestellte Behauptung Glockenkurve ungerecht ist, da sie die Un- ausgeweitet. Wenn sich nämlich Daten ausweichlichkeit von Versagen perpetuiert derselben Spezies nach der Normalvertei- […] Jedoch ist das Glockenkurvenden- lungskurve anordnen würden, so ließ sich ken nicht in natürlichen Verteilungsgeset- beweisen, dass auch andere beobacht- zen gegründet sondern ein historischer bare Daten dieser Spezies normalverteilt und naturalisierter Zufall.“46 Auch hier tritt auftraten. Daraus resultierte Galton, dass der bereits beschriebene Schleifeneffekt auch Qualitäten, die sich nicht unmittelbar (‘looping-effect‘) zutage, wenn durch die messen ließen, normalverteilt wären.“43 Präsenz des Konzepts das Phänomen her- Damit wurden bisher unmessbare Phä- vorgebracht wird und sich als natürliche nomene messbar und statistisch darstell- Abbildung reproduziert. bar gemacht, während sich damit auch „Solche Praktiken der Zuschreibung die Erwartungshaltung des ‚Normalen‘ von Leistung – (…) als ‚Leistungsprak- entsprechend formierte. In der oben be- tiken‘ bezeichnet – resultieren also schriebenen Manier, durch Statistiken und gerade nicht aus neutralen Beobach- ihre Grafiken, konnten diese Überzeugun- tungen der Welt, wie sie vorzugeben gen entsprechende Popularität erlangen. scheinen. Stattdessen greifen sie par- Bezogen auf Schülerleistung legitimiert teiisch in soziale Ordnungen, soziale diese Auffassung eine gewisse Anzahl von Beziehungen und Selbstwahrnehmun- scheiternden und herausragenden Schü- gen ein. Leistung ist, was sie zur Leis- lern gegenüber einer durchschnittlichen tung machen. Und wir mit ihnen.“47 Mehrzahl. Diese spezielle Verteilung wird historisch zusehends akzeptabel und zur Begeben wir uns auf die Suche nach frü- Norm, gerade auch aus der unmittelbaren hen Leistungsstatistiken im Schulbereich, 2 / 2021 Pädagogische Rundschau 213 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
so fallen diese in die Mitte des neunzehn- oder gar vergleichen lässt und von ten Jahrhunderts. Auch die bisherigen wem sie letztlich erbracht worden ist. Überlegungen sind in dieser Periode an- Es ist überwiegend diese Vagheit, die zutreffen. Im deutschsprachigen Raum den Begriff der Leistung auch poli- sind Versuche von Schulleistungsstatisti- tisch immer wieder neu umstritten sein ken ab den 1840ern vorzufinden, die an lässt – und zugleich ungemein nutzbar die Erhebung der schulbezogenen Daten macht.“50 entsprechende Reformforderungen und Soweit sollte die wachsende Popularität somit Leistungsverbesserungen knüpften. der problematischen Verbindung von sta- Sie vermitteln eben auch eine gewissen tistischem Denken und ihrer grafischen Planungs- und Kontrollillusion, die eine Repräsentation mit (Schul-)Leistung, die zahlenmäßig wachsende Bürgerschicht sozial normativ-formende Kraft derselben im neunzehnten Jahrhundert gegen eine verständlicher gemacht haben. In der auf- sich formierende Arbeiterschaft in Treffen klärerischen Umstellung von Herkunft auf führte,48 um aus ihrer Sicht destabilisie- Zukunft beziehungsweise von Geburts- renden gesellschaftlichen Zuständen und recht auf Leistung kommt die (altherge- Aufsteigern entgegenzuwirken. Wilhelm II brachte) gesellschaftliche Architektonik in wird an der Berliner Schulkonferenz 1890 die Krise und eine legitimierbare Ordnung in seiner bekannten Eröffnungsrede ge- in Diskussion, wozu Leistungsstatistiken rade die Statusgier unterer Schichten in ihren ‚normativen‘ Beitrag abgeben, den Deutschland zurückweisen, wo das Glo- Schulen seither reproduzieren. ckenkurvendenken als Technik des Risi- komanagements und zum Ausgleich der sozialen Architektonik verwendet wird. 4. Gegenwart und Zukunft Erfolgreiches, also ‚rationales‘ steuern von schulbezogenen Bemühungen (mittels Während die Statistiken und ihrer Darstel- Verordnungen, Standards, etc.) verweist lungen durch ihre lange Geschichte hin- auf die Fähigkeit abzuschätzen, was zu- durch Einsichten generieren und allgemein künftig passieren und welche Probleme zugänglich machen wollten, verbanden auftreten könnten. Die Legitimierung von und tradierten sich damit Vorstellungen sozialen Unterschieden durch Schule und des ‚Normalen‘. Ob es sich in eine legi- ihrer Leistungsbeurteilung, die ebenso auf time, dreiteilige Gesellschaftsarchitektonik Prognosefähigkeit baut wie statistische einzugliedern galt oder das Scheitern in Darstellungen, verbreiten sich. Schule Schulen perpetuiert wurde, die statistisch, kultiviert Vorstellungen der Leistungsver- grafisch und schulisch kultivierte und na- teilung und ihre Darstellung. Bis ins zwan- turalisierte Glockenkurve prägt bis heute zigste Jahrhundert entwickelten sich in in Möglichkeiten und Grenzen eines ‚nor- diesem Umfeld psychotechnische Instru- malen‘ Lebens. Es lässt sich abschließend mentarien,49 die Planung und dessen Ra- also die Frage aufwerfen, wie derartig tionalität im Bildungsbereich und darüber lange tradierte und verwurzelte Überzeu- hinaus verfestigen. gungen aufgebrochen werden können, „Und doch entzieht sich der Begriff um alternativen Leistungskategorien und einer eindeutigen Definition, weil damit verbundenen subjektiven Hand- immer wieder neu fraglich ist, was lungsräumen Geltung zu verschaffen, denn als Leistung jeweils gelten kann, ohne umgehend wieder von Normalver- wie diese sich feststellen, bemessen teilungsdenken eingeholt zu werden. Oder 214 Pädagogische Rundschau 2 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
sind im einundzwanzigsten Jahrhundert die Leistungsstatistiken durchgeführt. Sie legen Chancengleichheitsdiskurse der 1960er nahe, dass bis heute gerade im Erzie- versiegt, ‚vererbte‘ Bildungsabschlüsse hungssektor das empirische Projekt do- legitim und abseits des ‚Normalen‘ volle minant wäre, sich ihre Grundlagen jedoch gesellschaftliche Teilhabe passé? bereits als dysfunktional darstellen wür- Es lässt sich zeigen, dass diese den. Trotz alledem gäbe es eine pragmati- Fragen mitnichten beantwortet oder er- sche Funktion für das Bildungssystem und folgreich überwunden worden wären, aber einen gesellschaftlichen Nutzen. Dies liegt über politische Legitimationsfunktion und wohl nicht in der ‚Wahrheitsfindung‘, son- soziale Akzeptanz verfügen. Statistiken dern sei der Systemerhaltung geschuldet. und ihre grafischen Darstellungen sind tief Gergen und Dixon-Román52 appellieren verwurzelt und nicht aus medialer Bericht- daher dafür, in wissenschaftlichen Ana- erstattung wie wissenschaftlichen Publika- lysen die praktischen Konsequenzen von tionen wegzudenken. Dabei perpetuieren Leistungsstatistiken zu beschreiben, um sie unsere Vorstellungen des ‚Normalen‘, die öffentliche Wahrnehmung von Schule, ‚Akzeptablen‘ und ‚Erwartbaren‘, wie sie Bildung und Erziehung sowie der jeweili- auch unseren Blick führen, Wahrheitsan- gen Leistungsbeurteilung facettenreicher spruch suggerieren und in spezifischer zu gestalten und somit alternative Zuord- Weise Komplexität reduzieren, indem Ein- nungs- und Entfaltungsräume zu eröffnen. zelfaktoren isoliert werden oder zulasten Ironischerweise sind es ja gerade die be- der Vielschichtigkeit Klarheit in strittigen schriebenen Tests und ihre statistischen Feldern ausgewiesen wird. Grafische Sta- Darstellungen, die gesellschaftliches tistiken, das sollte gezeigt worden sein, Vertrauen in die Funktionsweise eines haben kaum Fassbares oder Darstellbares Systems erwecken und erhalten sollen, ‚greifbar‘ und ‚einsehbar‘ gemacht. Ge- wobei vermehrt gerade hier das Gegenteil rade bei (Schul-)Leistungen vermischte auftritt. Unerwartete, schockierende Er- sich jedoch der ‚erhellende‘ Aspekt zu- gebnisse wie PISA 2000 in Deutschland sehends mit einem normativen Anspruch. hervorbrachte oder die unkonventionelle Das scheinbar neutrale Orientierungswis- Leistungsverteilung in einer Überprüfung sen beinhaltet die Facette der impliziten eröffnen gerade, dass Täuschungen und (später auch expliziten) Einordnungsauf- Betrug vorkommen. forderung in das dargestellte ‚Normale‘: Der Artikel soll nicht naiv-revolutionär nach Michel Foucault51 ein Dispositiv zur die Absicht positionieren, jegliche (tem- sozialen und moralischen Einordnung in poräre) Übereinkunft zu Leistungskatego- das Gesehene. Die mehrfach proklamier- rien aufzudröseln, sondern appelliert dafür, te Behauptung von positivistisch, empiris- im demokratischen Diskurs für-wahr-gehal- tisch gesinnten Wissenschaftsvertretern, tene Konzepte einer kritischen Überprü- dass empirische Beschreibungen der Welt fung zuzuführen und ihre konzeptionelle keine ideologischen Facetten beinhalten Reichweite für die gesellschaftliche Ent- würden muss offensiver zurückgewiesen wicklung offenzulegen. werden, wie aber auch die bloße Forde- rung nach besseren Methoden ebenso in die Irre führt wie die Verunglimpfung jeg- Anmerkungen licher statistischer Versuche mit allgemei- nem Ideologieverdacht. 1 vgl. Lakoff, George; Johnson, Mark (2003): Gegenwertig werden kritische Stu- Leben in Metaphern. Konstruktion und Ge- dien zur epistemologischen Kraft von brauch von Sprachbildern. 3. Auflage zum 2 / 2021 Pädagogische Rundschau 215 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
1980 engl. Original: Metaphors we live by. Visualization and Uses. Oxford: Symposium Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag. Books; 11-25, hier 18. 2 vgl. Lawn, Martin (Ed.)(2013a): The Rise 12 Hacking, Ian (1999): Making up people of Data in Education Systems: Collection, [Nachdruck 1986]. In: Biagioli, Mario (Ed.): Visualization and Uses. Oxford: Symposium The Science Studies Reader. London: Rout- Books. ledge; 161-171. 3 vgl. Ricken, Norbert (2018): Konstruktion der 13 Im deutschen Sprachgebrauch (vgl. ‚Leistung‘. Zur (Subjektivierungs-)Logik eines DWDS: https://www.dwds.de/wb/Statistik, Konzepts. In: Reh, Sabine; ders. (Hrsg.): 13.09.2020) wie auch im Englischen (vgl. Leistung als Paradigma. Zur Entstehung Funkhouser 1937: Verweis 26), wird das und Transformation eines pädagogischen Wort „Statistik“ respektive “statistics“ ab Konzepts. Wiesbaden: Springer; 43-60, hier der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zu- 52-54. sehends geläufiger und im Sinne „der Er- 4 vgl. Hacking, Ian (1975): The Emergence of fassung, Erforschung und Beschreibung von Probability. A Philosophical Study of Early Massenerscheinungen in Natur und Gesell- Ideas About Probability, Induction and Statis- schaft und [für; Anm.: H.B.] die grafische tical Inference. Cambridge: Cambridge Uni- oder tabellarische Darstellung solcher Ergeb- versity Press; Romeijn, Jan-Willem (2017): nisse“ (s. DWDS) Anfang des neunzehnten Philosophy of Statistics. The Stanford En- Jahrhunderts gemeinhin verwendet. cyclopedia of Philosophy, online unter: 14 Porter 1986, hier 11 (vom Autor ins Deutsche https://plato.stanford.edu/entries/statistics/ übertragen). (13.09.2020); sowie Fendler, Lynn; Muzaffar, 15 Hacking 1991, hier 181; und Caruso, Irfan (2008): The History of the Bell Curve: Marcelo (2013): Policing Validity and Relia- Sorting and the Idea of the Normal. Educatio- bility: expertise, data accumulation and data nal Theory, 58:1; 63-82, hier 72; bis zur Euro- parallelisation in Bavaria, 1873-1919. In: Einführung zierte das Portrait Carl Friedrich Lawn, Martin (Ed.): Modelling the Future: Gauß´ und der Glockenkurve die Vorderseite exhibitions and the materiality of education. des 10-DM-Scheins. Oxford: Symposium Books; 27-39, hier 28. 5 Porter, Theodore M. (1986): The rise of 16 Funkhouser, H. Gray (1937): Historical De- statistical thinking 1820-1900. Princeton: velopment of the Graphical Representation of Princeton University Press, hier 9. Statistical Data. Osiris, Vol. 3; 269-404. 6 Porter 1986, hier 3. 17 Funkhouser 1937, hier 273. 7 vgl. Hacking, Ian (1991): How Should We Do 18 Habermas, Jürgen (2013): Strukturwandel the History of Statistics? In: Burchell, Gra- der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer ham; Gordon, Colin; Miller, Peter (Eds.): The Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. 13. Foucault Effect. Studies in Governmentality. Auflage. Mit einem Vorwort zur Neuauflage Chicago: University of Chicago Press; 181- 1990. Frankfurt/Main: Suhrkamp. 196, hier 182. 19 Ekström, Anders (2008) ‘Showing at one 8 Quetelet, Adolphe (1838): Ueber den Men- view’: Ferdinand Boberg’s ‘statistical ma- schen und die Entwicklung seiner Fähig- chinery’ and the visionary pedagogy of early keiten, oder der Versuch einer Physik der twentieth‐century statistical display. Early Po- Gesellschaft. Deutsche Ausgabe hrsg. durch pular Visual Culture, 6:1; 35-49, hier 36. Riecke. Stuttgart: Schweizerbart´s Verlags- 20 Selbstbewusst wird der Ursprung grafischer handlung; hier 411. Statistiken für sich reklamiert: “I confess I 9 Quetelet 1838, hier 413. was long anxious to find out, whether I was 10 Smyth, John A. (2008): The Origins of the actually the first who applied the principles of International Standard Classification of geometry to matters of Finance, as it had long Education. Peabody Journal of Education, before been applied to chronology with great 83:1; 5-40, hier 5 (vom Autor ins Deutsche success. I am now satisfied, upon due inqui- übertragen). ry, that I was the first; for during fifteen years 11 Lawn, Martin (2013b): The Internationalizati- I have not been able to learn that anything of on of Education Data: exhibitions, tests, stan- a similar nature had ever before been produ- dards and associations. In: ders.: The Rise ced” (Playfair 1786 zit. n. Funkhouser 1937, of Data in Education Systems: Collection, hier 290). 216 Pädagogische Rundschau 2 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
21 Lizenz via https://commons.wikimedia.org/ sowie DasRoteWien: Neurath, Otto (http:// w i k i / F i l e : P l a y f a i r _ Ti m e S e r i e s - 2 . p n g , www.dasrotewien.at/seite/neurath-otto, 13.09.2020. 13.09.2020). 22 Ekström 2008, hier 36. 29 Hacking 1999, hier 165. 23 vgl. Lawn, Martin (Ed.)(2009): Modelling the 30 Hacking 1991, hier 182. Future: exhibitions and the materiality of edu- 31 Porter, Theodore M. (1995): Trust in Num- cation. Oxford: Symposium Books, hier 7. bers. The Pursuit of Objectivity in Science 24 Ekström 2008, hier 35. Daraus ergibt sich and Public Life. Princeton: Princeton Univer- m.E. auch die notwendige Auswahl vorwie- sity Press. gend englischsprachiger Literatur, die dem 32 Lord Kelvin hatte es schon 1883 pointiert Artikel zugrunde liegt. formuliert: “I often say that when you can 25 Beispielsweise an der Stockholmer Ausstel- measure what you are speaking about, and lung 1909 mit der kuriosen Frage-Maschine express it in numbers, you know something ‚Statistikon as Sibylla‘, die Besuchern auf about it; but when you cannot measure it, Knopfdruck statistisch unterlegte Antworten when you cannot express it in numbers, your auf Fragen der erwartbaren Lebensdauer, knowledge is of a meagre and unsatisfacto- das mögliche Heiratsalter, usw. ausgab; der ry kind: it may be the beginning of knowled- Outlook Tower von Patrick Gaddes in Edin- ge, but you have scarcely, in your thoughts, burgh, die 1911 mit einer Ausstellung zu advanced to the stage of science, whatever Civic Survey of Edinbrugh ‚normale Umstän- the matter may be” – zitiert nach Thomson, de‘ der Einwohner wiederspiegelte; das Wie- William (1889): Electrical Units of Measure- ner Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum ment. A Lecture delivered at the Institution of von Otto Neurath 1925 unter Verwendung Civil Engineers on May 3, 1883. Cambridge: der ‚Wiener Methode der Bildstatistik‘ (spä- Cambridge University Press, hier 73f. ter isotype) komplexe soziale und ökonomi- 33 Lawn 2013a. sche Zustände vermitteln wollte. 34 Hemetsberger, Bernhard (2015): Nicht Ge- 26 Bancroft, Hubert H. (1893): The Book of the nügend … Setzen! Zur Geschichte der No- Fair: an Historical and Descriptive Presenta- tengebung in Österreich. Wien, u.a.: LIT tion. Chicago: Bancroft; online: http://colum- Verlag. bus.iit.edu/bookfair/bftoc.html, 13.09.2020, 35 Verheyen, Nina (2018): Die Erfindung der hier 252: “… yet presenting a clearer illustra- Leistung. München: Hansen Berlin, hier 16. tion of methods, appliances, and results than 36 Caruso 2013, hier 27. could be obtained from an extended tour of 37 Grafik 2 entnommen von Funkhouser 1937, the world.“ an späterer Stelle bezieht sich hier 356. der Text auf Bancrofts Aussage, 1893 dann 38 Porter 1986, hier 7. 252, dass “… [w]hile the entire Exposition is 39 Funkhouser 1937, nennt auf Seite 358 Strick- of itself in the nature of an educational display, land, Ruth (1938): A Study of the Possibilities the strongest factors in that display are the of Graphics as a Means of Instruction in the groups which reproduce in miniature what First Four Grades of the Elementary School. the world has to show us.” New York: Teachers College Press; Thomas, 27 Sobe, Noah W. (2013): Educational Data at Katheryne C. (1933): Ability of Children to In- Late Nineteenth- and Early Twentieth-Centu- terpret Graphs. In: Thirtysecond Yearbook of ry International Expositions: 'accomplished the National Society for the Study of Educa- results' and 'instruments and apparatuses'. tion, 492-494. Washburne, John N. (1927): In: Lawn, Martin (Ed.): Modelling the Future: An Experimental Study of Various Graphic, exhibitions and the materiality of education. Tabular and Textual Methods of Presenting Oxford: Symposium Books; 41-56, hier 43. Quantitative Material. The Journal of Educa- 28 vgl. Haller, Rudolf (Hrsg.)(1991): Otto Neu- tional Psychology, XVIII; 361-376 und 465- rath: Gesammelte bildpädagogische Schrif- 476; selbst Funkousers historische Studie ten. Bd. 3. Wien: Höderlin -Pichler-Temsky; muss in diesem Sinne gelesen werden. siehe auch die Ausstellung Wiener Kreis: 40 Zitat von Ricken 2018, hier 43; Verheyen Planung und Gestaltung (https://www. 2018, hier 16. univie.ac.at/AusstellungWienerKreis/pla- 41 Labaree, David F. (2010): Someone Has nung-und-gestaltung.html, 13.09.2020) to Fail. The Zero-Sum Game of Public 2 / 2021 Pädagogische Rundschau 217 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Schooling. Cambridge, a.o.: Harvard Univer- 47 Verheyen 2018, hier 57. sity Press 48 Bollenbeck, Georg (1994): Bildung und 42 Fendler, Lynn; Muzaffar, Irfan (2008): The Kultur. Glanz und Elend eines deutschen History of the Bell Curve: Sorting and the Deutungsmusters. Frankfurt/Main, Leipzig: Idea of the Normal. Educational Theory, 58:1; Insel Verlag, hier 15. 63-82, hier 74. 49 vgl. beispielsweise Gelhard, Andreas (2018): 43 Stigler, Stephen M. (1986): The History of Kritik der Kompetenz. 3. Auflage. Zürich: dia- Statistics: The Measurement of Uncertain- phanes, hier 115-123. ty before 1900. Cambridge, u.a.: Belknap 50 Ricken 2018, hier 44. Press, hier 271 (vom Autor ins Deutsche 51 Foucault, Michel (1994): Überwachen und übertragen). Strafen. Geburt des Gefängnisses. Frank- 44 Fendler/Muzaffar 2008, hier 63f. furt/Main: Suhrkamp, hier 246. 45 Fendler, Lynn (2014): Bell Curve. In: Phillips, 52 Gergen, Kenneth J.; Dixon-Román, Ezekiel J. Denis C. (Ed.): Encyclopedia of Educatio- (2014): Social Epistemology and the Prag- nal Theory and Philosophy. Los Angeles, matics of Assessment. Teachers College London, u.a.: Sage; 83-86, hier 85. Record, 116:11; 1-22, hier 1. 46 Fendler/Muzaffar 2008, hier 65 und 70. 218 Pädagogische Rundschau 2 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
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