Wat mutt, dat mutt für mehr (Geschlechter-) Gerechtigkeit im echten Norden! - Amt Mittleres Nordfriesland

 
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Wat mutt, dat mutt für mehr (Geschlechter-) Gerechtigkeit im echten Norden! - Amt Mittleres Nordfriesland
Wat mutt, dat mutt …
für mehr (Geschlechter-) Gerechtigkeit im echten Norden!

Frauenpolitische Eckpunkte zur Landtagswahl in Schleswig-Holstein 2022

          Landesarbeitsgemeinschaft der hauptamtlichen kommunalen
          Gleichstellungs- und Frauenbeauftragten in Schleswig-Holstein
Wat mutt, dat mutt für mehr (Geschlechter-) Gerechtigkeit im echten Norden! - Amt Mittleres Nordfriesland
Titelfoto: istock.com | linephoto

       Wir wissen, Gesetze allein                                                               Mädchen und junge Frauen
       können die Gesellschaft nicht                                                            sollten sich von Stereotypen
ändern, aber wir wissen auch, sie sind                                                  nicht verunsichern lassen und
ein wichtiges Werkzeug.“                                                                ihr Ding machen. Sie sollten sich
[Miriam Estrada-Castillo, Mitglied der Frauenrechtskonvention der Vereinten Nationen]   auch dort bewerben, wo es etwas
                                                                                        aussichtslos scheint. Mach‘ es! Mehr
                                                                                        als eine Absage kannst Du Dir nicht
        Eine demokratische und                                                          einhandeln.“
        offene Gesellschaft bietet                                                      [EU-Kommissarin Margrethe Vestager, 2019]
allen Menschen die gleichen Chancen,
Vorstellungen und Lebensentwürfe zu
entwickeln und zu verwirklichen, die                                                           Vor dem Hintergrund
zu ihnen passen.“                                                                              einer zunehmenden
[2. Gleichstellungsbericht der Bundesregierung, 2017]                                   Entdemokratisierung kann ein
                                                                                        neuer ‚Geschlechtervertrag‘ zur
                                                                                        Demokratisierung der Demokratie
         Wartet nicht auf bessere                                                       beitragen.“
         Zeiten – wenn nicht jetzt,                                                     [Birgit Sauer/ Stefanie Wöhl, Friedrich-Ebert-Stiftung, 2011]
wann dann? Was wir heute brauchen,
ist ein Gesetz, das die paritätische
Besetzung von Wahllisten ermöglicht.
Frauen müssen dafür nicht gleich auf
die Straße gehen, aber der Schritt in
die Öffentlichkeit gehört dazu – denn
ohne Öffentlichkeit existiert man
nicht.“
[Rita Süssmuth im Interview zum Weltfrauentag 2020 in der Augsburger Allgemeinen]
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Inhalt

Wat mutt, dat mutt ...                                                   Seite
[1] Für Frauen mit und ohne (Erwerbs-) Arbeit                                6
[2] Für alleinerziehende Mütter und Väter                                  10
[3] Für Mädchen und junge Frauen                                           12
[4] Für von Gewalt betroffene Frauen und ihre Kinder                       14
[5] Für Migrantinnen                                                       18
[6] Für Senior*innen                                                       20
[7] Für Frauengesundheit                                                   22
[8] Für eine geschlechtergerechte Digitalisierung                          24
[9] Für alle Bürger*innen                                                  28
Quellenangaben                                                             30

Herausgeberin

                  Landesarbeitsgemeinschaft der hauptamtlichen kommunalen
                  Gleichstellungs- und Frauenbeauftragten in Schleswig-Holstein

Erarbeitet von:
Brigitte Oeltzen, Birgit Pfennig, Kirsten Schöttler-Martin
Zu beziehen über:
Geschäftsstelle der kommunalen
Gleichstellungsbeauftragten in Schleswig-Holstein
                                                                                  Stand: Januar 2022
Walkerdamm 1 | 24103 Kiel | Tel.: 0431-30 03 47 21                                Auflage: 2.000 Stück
geschaeftsstelle@gleichstellung-sh.de                                             Layout: Sabine Wulff
                                                                                  Druck: Laserline, Berlin
www.gleichstellung-sh.de                                                          Klimaneutral gedruckt auf Recyclingpapier aus 100 % Altpapier
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Wat mutt, dat mutt … für mehr (Geschlechter-) Gerechtigkeit im

                                                                                 So war schon lange vor der Pandemie bekannt:
                                                                                    die ungleiche Verteilung von Erwerbs-
                 Landesarbeitsgemeinschaft der hauptamtlichen kommunalen
                 Gleichstellungs- und Frauenbeauftragten in Schleswig-Holstein      und Sorgearbeit
                                                                                    geringere Chancen der Frauen durch ei-
                                                                                    genes Einkommen finanziell unabhängig
                                                                                    und auskömmlich zu leben
    In Krisenzeiten treten die                                                      hohes Risiko für Altersarmut
    Ungerechtigkeiten der Welt                                                      Voraussetzungen zur gleichberechtigten
                                                                                    Teilnahme am politischen, sozialen, wirt-
    offen zutage
                                                                                    schaftlichen und kulturellen Leben des
                                                                                    Landes teilweise nicht gegeben
    Die COVID-19-Pandemie kann seit Ausbruch
                                                                                    Fehlende Parität in der Besetzung der
    als eine Art Brennglas verstanden werden,
                                                                                    Macht- und Führungspositionen
    das eine Vielzahl bereits existierender struk-
    tureller Defizite offengelegt und durch neue                                    Männliche Gewalt gegen Frauen ist nach
    Herausforderungen und Belastungen zusätz-                                       wie vor eines der größten Gesundheitsrisi-
    lich verschärft hat. Gesellschaftlich relevante                                 ken für Frauen
    Missstände insbesondere in der Gleichstellung
    traten sehr deutlich zutage. Die bezahlte und                                Die Gegebenheiten der Corona-Pandemie hat-
    unbezahlte Arbeit von Frauen (Care-Arbeit)                                   ten auch massive Auswirkungen auf die Ge-
    erfuhr in gesellschaftlichen und medialen Dis-                               staltung der Arbeit und erforderten zeit-
    kursen eine hohe Beachtung und wurde erst-                                   nahe und flexible Anpassungen. So bekam die
    malig als „systemrelevant“ benannt – bisher                                  Digitalisierung einen großen Schub und insbe-
    wurde jedoch versäumt, diesen Erkenntnissen                                  sondere orts- und zeitflexible Arbeitsformen –
    auch Taten folgen zu lassen, die die Missstän-                               auch in der öffentlichen Verwaltung – wurden
    de abbauen und Gleichstellung gewährleisten.                                 mit Hochdruck ausgebaut.

    Es gibt seit Jahren keine Erkenntnisdefizite in                              Home-Office hat die Vereinbarkeit von Er-
    der Gleichstellungspolitik mehr, sondern nur                                 werbs- und Sorgearbeit verbessert, gleich-
    noch Handlungsdefizite.                                                      wohl führte es jedoch auch, insbesondere für
4
Wat mutt, dat mutt für mehr (Geschlechter-) Gerechtigkeit im echten Norden! - Amt Mittleres Nordfriesland
echten Norden!

  Mütter, zu einer Mehrfachbelastung. Hinzu          Wir stellen Ihnen im Folgenden frauenpoli-
  kommt eine stärkere Entgrenzung der Ar-            tische Forderungen für neun Handlungs-
  beitszeit. Es ist notwendig, digitales Arbeiten    felder vor, die aus unserer Sicht das Gemein-
  konzeptionell zu hinterlegen und zukünf-           wohl stärken.
  tig geschlechtergerecht zu gestalten.

  In der kommenden Legislaturperiode wird es
  darum gehen, diese gesellschaftlichen Erfah-
  rungswerte und Erkenntnisse zu nutzen und          Politische Handlungsfelder:
  konkrete Handlungsschritte auszuarbeiten,
  um Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes „Män-
  ner und Frauen sind gleichberechtigt. Der          [1]    Für Frauen mit und
                                                            ohne (Erwerbs-) Arbeit

                                                     [2]
  Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung               Für alleinerziehende
  der Gleichberechtigung von Frauen und Män-                Mütter und Väter
  nern und wirkt auf die Beseitigung bestehen-
  der Nachteile hin.“ umzusetzen. Es gibt eine
  Verpflichtung, die rechtliche und tatsächliche
                                                     [3]    Für Mädchen und
                                                            junge Frauen
  Gleichstellung herbeizuführen.
                                                     [4]    Für von Gewalt betroffene
                                                            Frauen und ihre Kinder
  Ein klarer politischer Wille zu einer tatsächli-
  chen Gleichstellung zeigt sich darin, Missstän-    [5]    Für Migrantinnen

  de nicht nur zu analysieren und zu benennen,
  sondern auch kurz- und langfristig geschlech-
  tergerechte Lösungen zu entwickeln und kon-
                                                     [6]    Für Senior*innen

  sequent umzusetzen.
  In Krisen wird sichtbar, was schon lange
                                                     [7]    Für Frauengesundheit

  schwelte und nun nach einer Lösung verlangt,
  wenn unsere Demokratie, in der Frauen und
                                                     [8]    Für eine geschlechtergerechte
                                                            Digitalisierung
  Männer die gleichen Rechte und Pflichten ha-
  ben, erhalten bleiben soll.                        [9]    Für alle Bürger*innen

                                                                                                     5
[1] Für Frauen mit und ohne (Erwerbs-) Arbeit

    Heute gehen in Schleswig-Holstein deut-   Fakt ist:
    lich mehr Frauen einer Erwerbstätigkeit   Frauen verdienen im Durchschnitt weniger als Männer.
                                              Im Jahr 2020 betrug der Bruttostundenverdienst von
    nach als vor einigen Jahrzehnten. Die     Frauen in Schleswig-Holstein durchschnittlich 17,50 Euro.
    Erwerbstätigenquote von Frauen und        Männer verdienten dagegen 20,15 Euro. Der Verdienst-
    Männern im Alter von 15 bis 65 Jahren     unterschied – der unbereinigte Gender Pay Gap – von
                                              2,65 Euro pro Stunde betrug damit 13 %.2
    liegt in Deutschland in 2019 bei 72,8 %
    und bei Männer bei 80,5 %.1               Fakt ist:
                                              Die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern fällt bei
                                              einer Bezahlung ohne Tarifbindung höher aus und liegt
                                              in Schleswig-Holstein bei 24 %, ist also deutlich höher
                                              als im Bundesdurchschnitt (18 %). Wirtschaftsbetriebe
                                              können sich mit dem Verkauf von Betriebsteilen der
                                              Tarifbindung entledigen. Der Anteil der Beschäftigten
                                              mit Tarifvertrag sank seit 2010 bundesweit auf 51 %.
                                              Fakt ist:
                                              Frauen arbeiten mehr in Teilzeit und in Minijobs. Bei-
                                              nahe viermal so viele Frauen wie Männer arbeiten
                                              bundesweit in Teilzeit und knapp zwei Drittel aller
                                              ausschließlich geringfügig entlohnt Beschäftigten im
                                              erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 65 Jahren sind
                                              weiblich.3
                                              Fakt ist:
                                              Der hohe Teilzeitanteil der Frauen weist insbesondere
                                              auf die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in Fami-
                                              lien hin und damit auch auf die Schwierigkeiten der
                                              Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die Folgen die-
                                              ser Doppelbelastung sind geringere Chancen auf dem
                                              Arbeitsmarkt, Erwerbsunterbrechungen sowie Beschäf-
                                              tigung in Formen, die vielfach keine eigenständige Exis-
                                              tenzsicherung erlauben und damit ein höheres Risiko
                                              für Altersarmut mit sich bringen.

6
Fakt ist:                                                  Fakt ist:
Der „Gender Care Gap“ (die Verteilung der unbezahlten      Obwohl in den vergangenen Jahren massiv in den
Sorge- und Hausarbeit zwischen Frauen und Männern)         Ausbau der Kinderbetreuung investiert wurde, fehlen
beträgt 52,4 %, in Paarhaushalten mit Kindern 83,3 %.      so viele Plätze wie noch nie. So meldeten 2019 mehr
In Stunden heißt das: Männer verwenden 2 Stunden           als 80 % der Eltern für ihre zweijährigen Kinder und
46 Minuten pro Tag und Frauen 4 Stunden 13 Minuten         64 % der Eltern für ihre einjährigen Kinder Bedarf an.
für Sorge- und Hausarbeit. In Paarhaushalten mit Kin-      Landesweit waren am 01.03.20 insgesamt 35,2 % der
dern kümmern sich die Mütter zweieinhalb Stunden           Kinder unter drei Jahren in einer Kindertagesbetreu-
länger um Haushalt und Betreuung als die Väter.4           ung. Die Betreuungslücke, also die Differenz zwischen
Fakt ist:                                                  den erforderlichen und den tatsächlich bereitgestell-
Gleichzeitig hat sich das Selbstverständnis der heutigen   ten Betreuungsplätzen, beträgt in Schleswig-Holstein
Väter stark gewandelt. Rund 70 % sagen aus, dass sie       15,4 %. Das bedeutet, dass 11.800 Kinder im Jahr 2020
sich mehr an der Erziehung und Betreuung der Kinder        keinen Betreuungsplatz bekamen.7
beteiligen als die Väter ihrer Elterngeneration – und      Fakt ist:
sie bewerten das als persönlichen Gewinn. Und mehr         Der Bedarf nach Hilfen bei der Bewältigung der alltäg-
als die Hälfte der Väter mit Kindern unter sechs Jahren    lichen Hausarbeiten (haushaltsnahe Dienstleistungen)
würde gerne mindestens die Hälfte der Kinderbetreu-        in Privathaushalten hat sich in den letzten Jahren deut-
ung übernehmen.5                                           lich erhöht und steigt ständig weiter an. Dieser Bedarf
Fakt ist:                                                  erwächst sowohl aus der demografischen Entwicklung
Die Pandemie hat die Aufgabenverteilung zwischen           als auch aus dem Anspruch der gleichberechtigten Teil-
Müttern und Vätern teilweise stark „durcheinander-         habe von Frauen am Erwerbsleben. Die in den haus-
gebracht“. Aufgrund der Tatsache, dass Männer über-        haltsnahen Dienstleistungen Beschäftigten finden sich
durchschnittlich häufig in Kurzarbeit waren, haben         allerdings in Deutschland häufig in prekären Beschäf-
sie sich mehr in der Familienarbeit, wie Haushalt oder     tigungsverhältnissen, wie z. B. in Minijobs, in kleiner
Homeschooling, eingebracht. Gleichzeitig waren Frauen      Teilzeit mit hoher Leistungsverdichtung oder in einem
in den systemrelevanten Berufen (in der Krankenpflege,     illegalen Arbeitsverhältnis, wieder.8
Erziehung, Betreuung oder als Verkäuferinnen im
Lebensmitteleinzelhandel) überproportional vertreten,      Fakt ist:
in der Pandemie unentbehrlich und somit einem erhöh-       Die Beraterinnen von Frau & Beruf bieten ein landesweit
ten Infektionsrisiko ausgesetzt.                           flächendeckendes Beratungsangebot für Berufseinstei-
                                                           gerinnen, Rückkehrerinnen in die Erwerbstätigkeit und
Fakt ist:                                                  passgenaue, individuelle Angebote zur Vereinbarkeit
In anderen Familien arbeiteten die Väter weiterhin an      von Beruf und Familie. Das Förderprogramm hat die
ihren Arbeitsplätzen, während die Mütter, die bereits      Verbesserung der Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt
vor Corona die meiste Familienarbeit leisteten, noch       zum Ziel. Allerdings beträgt die Förderperiode immer
zusätzlich die Corona-bedingte Mehrarbeit schulter-        nur sechs Jahre und auch innerhalb der Förderperiode
ten. Rund 52 % der Mütter mit Kindern unter 14 Jahren      müssen die Träger Anträge zur Fortführung der Arbeit
haben ihre Erwerbsarbeitszeit zu Beginn der Pandemie       stellen. Verbunden damit sind auch die befristeten
im April 2020 zumindest teilweise auf die Abendstun-       Arbeitsverträge der Beraterinnen hinfällig.
den oder das Wochenende verlagert. Für Väter traf dies
auf rund 31 % zu.6
                                                                                                                      7
[1] Für Frauen mit und ohne (Erwerbs-) Arbeit

    Eine zentrale Aufgabe der Landespoli-      Wir fordern:
    tik besteht darin, die Vereinbarkeit von
    Erwerbsarbeit und Privatleben/Familie            die Schaffung einer breiten Infrastruktur sowohl
                                                     für die Betreuung und Erziehung von Kindern, als
    zu ermöglichen, um Frauen und Män-         auch für die Sorge für pflegebedürftige Personen mit
    nern gleiche Chancen am Arbeitsmarkt zu    qualitativ hochwertigen und bedarfsgerechten Ange-
    sichern.                                   boten, die flexibel und für Familien mit geringem Ein-
                                               kommen kostenfrei zugänglich sind.
                                                     als ein wichtiges gleichstellungspolitisches Ziel ist
                                                     die Förderung einer stärkeren Übernahme von
                                               Sorgearbeit durch Männer einzufordern. Dieses Ziel
                                               hat insbesondere Konsequenzen für die Arbeitszeitge-
                                               staltung: sie muss lebenslauforientiert Flexibilität und
                                               Arbeitszeitsouveränität ermöglichen, sowie Überforde-
                                               rung und Gesundheitsgefahren begegnen. Gerade die
                                               öffentliche Verwaltung als Arbeitgeberin hat einen sehr
                                               großen Einfluss auf die tatsächliche Vereinbarkeit von
                                               Beruf und Familie, muss aber ihre Rolle noch viel stärker
                                               ausfüllen.
                                                     die Vorstellungen von beruflicher Kompetenz
                                                     dürfen nicht länger mit einem bestimmten Voll-
                                               zeitmodell („Präsenzkultur“) verbunden sein, sondern
                                               müssen auch Führen in Teilzeit und darüber hinaus eine
                                               Vielfalt an Vollzeitmodellen einschließen.
                                                     die Landesregierung sollte sich auf Bundese-
                                                     bene für die Ausweitung der Partnermonate des
                                               Elterngeldes einsetzen. Zur langfristigen Förderung der
                                               egalitären Aufteilung der Kinderbetreuung sollten für
                                               jedes Elternteil vier Elterngeldmonate exklusiv und acht
                                               weitere Monate zur freien Aufteilung zwischen beiden
                                               Elternteilen gesetzlich verankert werden. Eine zehntä-
                                               gige Freistellung für den zweiten Elternteil rund um die
                                               Geburt sichert zusätzlich zur Elternzeit Partnerschaft-
                                               lichkeit.

8
neue Arbeitszeitmodelle (Home-Office, mobiles              den Erhalt und die Absicherung der Beratungsstel-
      Arbeiten) mit flankierenden Maßnahmen. Dazu                len Frau & Beruf im Land durch eine verstetigte
gehören Gewährleistung der institutionellen Kinderbe-      Förderung durch das Wirtschaftsministerium. Der frau-
treuung, klare Regelungen bezüglich der Arbeitszeit-       enspezifische Ansatz wird weder von der Bundesagentur
begrenzung (Gesundheitsschutz), Verbot der Benach-         für Arbeit noch vom Jobcenter verfolgt und dient nicht
teiligung von Beschäftigten im Home-Office (berufliche     nur dazu, die Teilhabe der Frauen am Arbeitsmarkt und
Teilhabechancen), weitergehender Schutz über die           damit ihre persönliche Lebenssituation zu verbessern,
gesetzliche Unfallversicherung, steuerliche Absetzbar-     sondern auch dazu, das ungenutzte Erwerbspotential
keit etc. Es braucht zudem klare hinreichende Regelun-     auszuschöpfen. Aus Sicht der Beraterinnen muss und
gen zu Freistellungen nach dem Infektionsschutzgesetz.     kann bei einer fest verankerten Beratungsstelle eine
                                                           Entfristung der Arbeitsverträge stattfinden.
      dass für gleiche sowie gleichwertige Tätigkeiten
      von Frauen und Männern gleiches Entgelt bezahlt
werden muss. Dies schließt selbstverständlich die glei-
che Bezahlung für gleichwertige Tätigkeiten auch in
sogenannten typischen Männer- bzw. Frauenberufen
ein und bedeutet in der Konsequenz eine deutliche
Aufwertung sozialer Berufe. Es gibt keinen sachlichen
Grund, psycho-soziale Fähigkeiten geringer zu bewer-
ten als technische Fähigkeiten.
      dass die Landesregierung auf Bundesebene eine
      Tarifflucht von Betrieben verhindern und sich für
eine Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen ein-
setzen muss. Tarifverträge sind nicht nur für die allge-         Tendenziell gibt es
meine Entwicklung von Löhnen von großer Bedeutung,
sondern leisten einen wichtigen Beitrag zur Schaffung            bei Frauen eine gewisse
von mehr Geschlechtergerechtigkeit. Die Vergabe öf-        Sehnsucht nach Effizienz.“
fentlicher Aufträge ist an die Zahlung von Tariflöhnen
zu koppeln.                                                [Bundeskanzlerin Angela Merkel, 2021]

       die Politik auf, sich auf Bundesebene dafür ein-
       zusetzen, haushaltsnahe Dienstleistungen als
einen Teil des Arbeitsmarktes anzuerkennen, aufzuwer-
ten und zu professionalisieren. Dafür muss das bishe-
rige System der steuerlichen Förderung haushaltsnaher
Dienstleistungen weiterentwickelt werden und private
Haushalte müssen bei der Inanspruchnahme von Dienst-
leistungen, die von sozialversicherungspflichtig und
tariflich abgesicherten Beschäftigten erbracht werden,
bezuschusst werden.

                                                                                                                     9
[2] Für alleinerziehende Mütter und Väter

     Fakt ist:                                                  Fakt ist:
     Laut dem Mikrozensus 2019 betrug der Anteil der            Alleinerziehende Mütter und Väter haben Anspruch auf
     Alleinerziehenden in Schleswig-Holstein 22,9 %. Davon      eine Vielzahl von unterschiedlichen Sozialleistungen.
     sind 85,23 % alleinerziehende Mütter.9                     Es ist nicht ungewöhnlich, dass bedürftige Personen
                                                                Anträge an fünf unabhängige staatliche Sozialleistungs-
     Fakt ist:                                                  träger stellen müssen, um ihren Anspruch auf SGB II,
     Das Armutsrisiko von Alleinerziehenden verharrt auf
                                                                Kindergeld, Kindergeldzuschlag, Wohngeld, Elterngeld
     hohem Niveau. Das höhere Armutsrisiko alleinerziehen-
                                                                und Unterhaltsvorschuss geltend zu machen.
     der Familien ist dabei nicht auf mangelnde Erwerbs-
     tätigkeit zurückzuführen. So gehen alleinerziehende        Fakt ist:
     Mütter sogar häufiger einer Beschäftigung nach als         Das Ehegattensplitting nutzt kinderlosen Paaren, igno-
     andere Mütter und arbeiten öfter in Vollzeit. Zudem        riert jedoch die alleinerziehenden Eltern. Die Entlastung
     üben auch 40 % der Alleinerziehenden im SGB II-Bezug       durch das Ehegattensplitting liegt bei bis zu 15.000 Euro
     eine Erwerbstätigkeit aus. Trotzdem reicht das Einkom-     im Jahr, unabhängig davon, ob Kinder vorhanden sind
     men häufig nicht aus: „Arm trotz Arbeit“. Das Armuts-      oder nicht. Alleinerziehende erhalten die Steuerklasse II,
     risiko alleinerziehender Eltern ist die größte Belastung   deren jährlicher Entlastungsbetrag auf 4.008 Euro ange-
     für die Zukunftsperspektiven ihrer Kinder.10               hoben wurde. Beim Ehegattensplitting kann der Frei-
                                                                betrag zweimal angesetzt werden und somit wird die
     Fakt ist:                                                  Lebensform Ehe gefördert, nicht aber die Familie.13
     Mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland wuchs 2018
     in einer Armutslage auf – das sind hochgerechnet 2,8       Fakt ist:
     Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.          In 2020 betrug der finanzielle Anteil des Landes Schles-
     Besonders hoch ist das Armutsrisiko für Kinder von         wig-Holstein an Zahlungen für den Unterhaltsvorschuss
     Alleinerziehenden: 44,7 % aller Kinder im SGB II-Bezug     für 33.860 schleswig-holsteinische Kinder mehr als
     wachsen landesweit in einer Ein-Eltern-Familie auf.11      56,5 Millionen Euro. Durch eine Reform hatte sich zuvor
                                                                die Zahl der begünstigten Jungen und Mädchen fast
     Fakt ist:                                                  verdoppelt (Anhebung der Altersgrenze auf 18 J. und
     Während der Corona-Pandemie waren Kinder von
                                                                Aufhebung der Höchstleistungsdauer von 72 Monaten).
     Familien im SGB II-Bezug beim Homeschooling enorm
                                                                Die Rückholquote lag in 2020 in Schleswig-Holstein
     benachteiligt: die Hälfte der Familien im SGB II-Bezug
                                                                lediglich bei 18 %.14
     hat nicht ausreichend Zimmer in ihrer Wohnung zur
     Verfügung und ein Viertel besitzt keinen Computer mit      Der Bundesrechnungshof geht davon aus, dass optimal
     Internetanschluss.12                                       arbeitende Verwaltungen die Rückholquote im Bundes-
                                                                durchschnitt erheblich steigern könnten.15

10
Wir fordern:                                                    die Landesregierung auf, sich auf Bundesebene
                                                                dafür einzusetzen, dass wenigstens im Eingangs-
      eine deutliche Erhöhung von Familienleistungen,     steuerbereich eine vergleichbare steuerliche Entlastung
      um das Armutsrisiko von Alleinerziehenden und       von Alleinerziehenden mit Ehepaaren erfolgt. Dafür
ihren Kindern nachhaltig zu senken. Darüber hinaus        muss die Höhe des Entlastungsbetrags an den Grund-
würde die Zusammenführung der Beantragung von             freibetrag (derzeit 9.984 Euro) gekoppelt und regel-
Familienleistungen in einer Behörde zu einer Vereinfa-    mäßig angepasst werden. Langfristig sollte das Ziel die
chung und Entbürokratisierung führen.                     Abschaffung des Ehegattensplittings und die Umgestal-
                                                          tung des bestehenden Steuersystems zu einer Besteue-
      die Vermeidung von Kinderarmut muss politisch       rung sein, die die Menschen begünstigt, die Sorge für
      Priorität haben. Sie erfordert neue sozial- und     Kinder tragen.
familienpolitische Konzepte. Dazu gehören Struktu-
ren für eine konsequente Beteiligung von Kindern und            dass durch einen konsequenten Rückgriff auf
Jugendlichen am gesellschaftlichen Leben und eine               Unterhaltsschuldnerinnen und -schuldner sich
Absicherung des spezifischen soziokulturellen Existenz-   diese nicht ihrer unterhaltsrechtlichen Verantwortung
minimums, z. B. durch Teilhabeleistungen, sowie einen     gegenüber ihren Kindern entziehen können. Für Ver-
eigenständigen Anspruch auf Kindergrundsicherung,         besserungen im Unterhalts-Vorschuss-Vollzug braucht
die bei der Berechnung der Sozialleistungsansprüche       es mehr Personal (angemessene Quantität und Qualifi-
der Eltern nicht als Einkommen angerechnet wird.          kation), eine Ausübung und Ausgestaltung der Aufsicht
                                                          über den Vollzug, die Schaffung eines Forderungsma-
     einen erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt für      nagements inklusive der IT-Sicherheit und der Mittel-
     Alleinerziehende durch bedarfsgerechte Betreu-       bewirtschaftung.
ungsangebote und flexiblere Arbeitszeitmodelle.

                                                                                                                    11
[3] Für Mädchen und junge Frauen

     Fakt ist:                                                   Fakt ist:
     Bei der Berufswahl (Ausbildung und Studium) zeigen          Die meisten Kinder haben bereits im Alter von sechs
     sich nach wie vor deutliche Unterschiede zwischen den       Jahren geschlechtsbezogene Fähigkeitszuschreibungen
     Geschlechtern.                                              verinnerlicht – etwa eine vermeintlich bei Männern vor-
                                                                 handene bessere Befähigung zu Mathematik (Cvencek
     Sowohl die Wahl der Ausbildungen, als auch der Stu-
                                                                 et al. 2011).19
     dienfächer entspricht in vielen Fällen weiterhin traditi-
     onellen Rollenmustern: Frauen dominieren in sozialen        Fakt ist:
     Bereichen bzw. im Dienstleistungssektor, Männer in          In vielen Schulbüchern werden beide Geschlechter sehr
     den technischen Berufen bzw. Fächern. Deutlich unter-       stereotyp dargestellt: Frauen kümmern sich um Ernäh-
     repräsentiert sind Frauen in der zukunftsweisenden          rung, Pflege und Haushalt, Mädchen treten als pas-
     Fachrichtung „Informations- und Kommunikationstech-         siv und konformistisch in Erscheinung. Dagegen sind
     nologien“ (19 %)16 und generell in den MINT-Berufen.        fast alle beeindruckenden, noblen und aufregenden
                                                                 Zuschreibungen Jungen und Männern vorbehalten (Stu-
     Fakt ist:                                                   die im Auftrag der UNESCO, 201620). Auf diese Weise
     Das Land Schleswig-Holstein plant im Schuljahr 2022/23
                                                                 werden die Rollenmuster immer weiter verfestigt.
     das Fach Informatik verpflichtend in der Sekundarstufe I
     an den weiterführenden Schulen Schleswig-Holsteins          Fakt ist:
     und damit an den Gemeinschaftsschulen und den Gym-          In Deutschland wurden 70 % der befragten Mädchen
     nasien einzuführen; u.a. um den MINT-Bereich zu stär-       bereits online belästigt, beschimpft oder bedroht, das
     ken.17                                                      sind deutlich mehr als im weltweiten Durchschnitt, der
                                                                 bei 58 % liegt. Besonders oft fanden Belästigungen auf
     Fakt ist:                                                   Instagram (45 %) und Facebook (35 %) statt (ebd.: 5).
     Soziale Berufe sind bei jungen Menschen – insbeson-
                                                                 Um sich selbst zu schützen, achten viele Mädchen und
     dere bei Männern – aufgrund der Arbeitsbedingungen
                                                                 junge Frauen darauf, ob und wie sie etwas posten.
     und der geringen Bezahlung weniger attraktiv als
                                                                 Einige verlassen die Plattformen ganz.21
     andere Berufe. Durch die Anhebung der Personal-
     schlüssel in den Kindertageseinrichtungen (Gute KITA-
     Gesetz) ergibt sich ein jährlicher Mehrbedarf von mehr
     als 70.000 Fachkräften.18

12
Wir fordern:                                                      Themen wie Gleichstellung, Rollenstereotype,
                                                                  geschlechtsbezogene Gewalt und Aufklärung über
      Das Land Schleswig-Holstein sollte der Initiative     gängige Sexual- und Vergewaltigungsmythen müssen
      Klischeefrei (Initiative zur Berufs- und Studien-     in die offiziellen Lehrpläne auf allen Ebenen des Bil-
wahl) als wichtigem Partner aus der Politik beitreten.22    dungssystems aufgenommen werden (siehe dazu auch
Schleswig-Holstein kann es sich nicht leisten, in Zeiten    Art. 14 der Istanbul-Konvention).
des Fachkräftemangels auf das Wissen und Können der               dass die Berufe der Kinder- und Jugendhilfe als
gut ausgebildeten Frauen zu verzichten.                           Zukunftsberufe für Frauen wie Männer attraktiver
       Die MINT-Förderprogramme müssen ausgewei-            werden müssen. Dafür braucht es eine Reform der (voll-
       tet und insbesondere auf den Bereich der frühen      zeitschulischen) Ausbildung mit dem Ziel, sie kostenfrei
Bildung ausgedehnt werden. Es sollten Strategien ent-       zu gestalten und zu vergüten. Angebote von Weiterbil-
wickelt werden, wie Mädchen dann gezielt davon pro-         dungen sollten durch ein transparentes und modulares
fitieren können.                                            System finanziell geförderte Aufstiege ermöglichen.

      dass bei der Akquisition von „Ausbildungsbot-         Das bedeutet auch den Ausbau der Berufsfach- und
      schafter*innen“ (ESF-Projekt der Industrie- und       Fachschulkapazitäten, sowie (von der Bundesagentur
Handelskammer Schleswig-Holstein) für die Berufs-           für Arbeit finanzierte) Umschulungen zum/zur Erzie-
wahlorientierung ein Fokus auf Frauen in Männer-            her*in für Beschäftigte aus anderen Branchen.
berufen, sowie Männer in Frauenberufen in ihrer
Vorbildfunktion gelegt werden sollte.23
     Für ein zukünftiges Schulfach „Informatik“ muss
     die Vermittlung fachbezogener IT-Kompetenzen
mit Gender- und Diversity-Kompetenz verknüpft wer-
den. Dazu gehören Aufklärung und Schulung zu Medi-
enkompetenz und öffentlicher Teilhabe.
      dass in die Aus-, Fort- und Weiterbildung der Lehr-
      kräfte digitalisierungsbezogene Kompetenzen zu
integrieren sind, die das Wissen, die Sensibilisierung
und den Umgang mit geschlechtsbezogener digitaler
Gewalt beinhalten.

                                                                                                                       13
[4] Für von Gewalt betroffene Frauen und ihre Kinder

     Fakt ist:                                                 Fakt ist:
     Gewalt, insbesondere häusliche Gewalt, ist eines der      Das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE)
     weltweit größten Gesundheitsrisiken für Frauen und        schätzt die Kosten geschlechtsspezifischer Gewalt in
     Kinder.                                                   der EU auf 366 Milliarden Euro pro Jahr. Gewalt gegen
                                                               Frauen macht 79 % dieser Kosten aus, die sich auf 289
     Fakt ist:                                                 Milliarden Euro belaufen. Die neue Studie schlüsselt
     Der bundesweite Vergleich zeigt für Schleswig-Holstein
                                                               die unterschiedlichen Kosten geschlechtsspezifischer
     besonders viele Frauenmorde: Allein in den letzten drei
                                                               Gewalt auf, wobei die meisten Kosten auf physische
     Jahren wurden hier 40 Frauen durch ihre (Ex-)Partner
                                                               und emotionale Auswirkungen (56 %) zurückzufüh-
     getötet. Gleichzeitig gibt es in Schleswig-Holstein im
                                                               ren sind, gefolgt von Strafjustiz (21 %) und verlore-
     Gegensatz zu anderen Bundesländern kein institutio-
                                                               ner Wirtschaftsleistung (14 %). Andere Kosten können
     nenübergreifendes Gefährdungsmanagement. Schwere
                                                               soziale Dienstleistungen (zum Beispiel für Scheidungen
     Gewalttaten und Tötungsdelikte an Frauen durch Part-
                                                               und Sorgerechtsverfahren), Wohnbeihilfen und Kinder-
     ner oder Ex-Partner haben häufig eine Vorgeschichte
                                                               schutz umfassen.24
     mit eskalierender Gewalt. Nicht selten sind Täter und
     Opfer der Polizei schon von „Kriseneinsätzen“ bekannt,    Fakt ist:
     es wurden in der Vergangenheit bereits Platzver-          Im Jahr 2020 wurde bei 3.450 polizeilichen Einsätzen
     weise erteilt und es bestehen Gewaltschutzanordnun-       aufgrund von häuslicher Gewalt in 676 Fällen eine poli-
     gen; manche Frauen haben Zuflucht bei Verwandten,         zeiliche Wegweisung ausgesprochen. Dies entspricht
     Freund*innen oder in Frauenhäusern gesucht. Patri-        einem Anteil von nur 19,5 %. Die Zeitspanne der Weg-
     archales Herrschafts- und Besitzdenken der Täter wird     weisung muss so angesetzt sein, dass weitere Schritte
     besonders in jenen Situationen zur Gefahr, in denen       nach dem Gewaltschutzverfahren geordnet unternom-
     Frauen sich trennen (wollen). Die Gefährdung steigt       men werden können.
     zudem, wenn Frauen aufgrund umgangsrechtlicher
     Regelungen für die gemeinsamen Kinder mit dem Täter
                                                               Fakt ist:
                                                               In Strafverfolgungsbehörden und Justiz fehlt es oftmals
     in Kontakt stehen müssen.
                                                               an Wissen zur richtigen Einordnung und Ahndung von
                                                               geschlechtsspezifischer Gewalt. Dies birgt die Gefahr,
                                                               dass vorherrschende Geschlechterstereotype und beste-
                                                               hende Vergewaltigungsmythen unkritisch übernom-
                                                               men werden und die Ursachen und Auswirkungen
                                                               dieser Gewalt in strafgerichtlichen Entscheidungen ver-
                                                               kannt werden.

14
Fakt ist:                                                   Fakt ist:
Die vom MILIG (Ministerium für Inneres, Ländliche           In der Istanbul-Konvention hat sich Deutschland ver-
Räume, Integration und Gleichstellung in Schleswig-Hol-     pflichtet, in regelmäßigen Abständen einschlägige,
stein) beauftragte Bedarfsanalyse zeigt, dass das Schutz-   genau aufgeschlüsselte statistische Daten über Fälle
und Hilfesystem für gewaltbetroffene Frauen und ihre        von allen in den Geltungsbereich dieses Übereinkom-
Kinder in Schleswig-Holstein deutlich unterfinanziert       mens fallenden Formen von Gewalt zu sammeln. Um
ist. Besonders für mehrfach diskriminierte Frauen wie       die Wirksamkeit der zur Durchführung dieses Überein-
Frauen mit Behinderungen bestehen Zugangsbarrieren          kommens getroffenen Maßnahmen zu untersuchen
und Schutzlücken. Hoher Verbesserungsbedarf besteht         (Art. 11), wird die Forschung auf dem Gebiet aller in
auch in der personellen und räumlichen Ausstattung          den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallenden
der Frauenfacheinrichtungen.25                              Formen von Gewalt gefördert: ihre eigentlichen Ursa-
                                                            chen und ihre Auswirkungen, ihr Vorkommen und die
Fakt ist:                                                   Aburteilungsquote.
Die Mitarbeiterinnen von Frauenfacheinrichtungen
werden nicht entsprechend ihrer Qualifikation und
anspruchsvollen Tätigkeit vergütet. In der Richtlinie
zur Förderung von Frauenfacheinrichtungen werden
Aufwendungen für Personal höchstens in Anlehnung
an die Entgeltgruppe 10 TVÖD für zuwendungsfähig
erklärt. Diese Deckelung wird den Tätigkeitsmerkmalen
der hochbelastenden Arbeit und der geforderten Qua-
lifikation nicht gerecht. Sie verschärft zudem den Fach-
kräftemangel.
Fakt ist:
Prävention trägt dazu bei, Gewaltsituationen zu verhin-
dern, die Interventionskompetenz in der Bevölkerung
zu erhöhen und Betroffene zu ermutigen, sich Hilfe zu
holen. Die Istanbul-Konvention Kapitel III verpflichtet
den Vertragsstaat zur Förderung von Präventionsarbeit
in diesem Sinne.

                                                                                                                    15
[4] Für von Gewalt betroffene Frauen und ihre Kinder

     Wir fordern:                                                    durch stetige Aus- und Fortbildung der Polizeibe-
                                                                     amtinnen und Polizeibeamten und entsprechende
            die Landesregierung muss die Empfehlungen          Sensibilisierung die durchschnittliche Quote von Weg-
            der Bedarfsanalyse zeitnah umsetzen und einen      weisung (§ 201 a LVwG) durch die Schutzpolizei von
     bedarfsgerechten (deutlich höheren) Ausbau von Frau-      aktuell 19,5 % aller Fälle – inkl. der Dauer der Weg-
     enhausplätzen und zusätzlichen Schutzwohnungen für        weisung – deutlich zu erhöhen. Die Landespolizei muss
     Frauen mit besonderen Bedarfen konkret vorantreiben,      weitere Anstrengungen unternehmen, um die Anwen-
     sowie die realen Miet-, Betriebs- und Personalkosten      dungspraxis zu optimieren und vorhandene regionale
     (inkl. Tarifsteigerungen) fördern. Die Landesregierung    Unterschiede zu minimieren.
     muss die Finanzierung der Frauenberatungsstellen                 verpflichtende Fortbildungen für Justiz, Staatsan-
     bedarfsgerecht und flächendeckend ausbauen und die               waltschaft und Polizei, um diese für Formen und
     komplette Förderung über das FAG gewährleisten.           Dynamik von geschlechtsspezifischer Gewalt zu sensibi-
           ein     flächendeckendes,   interinstitutionelles   lisieren. Um den Schutz vor einer Re-Traumatisierung im
           Gefährdungsmanagement, um sogenannte Hoch-          Prozess zu gewährleisten, bedarf es zudem der regel-
     risikofälle zu erkennen und geeignete Schutzmaßnah-       haften Beiordnung psychosozialer Prozessbegleitung
     men einzuleiten, damit Frauen und ihre Kinder vor         für alle Betroffenen von häuslicher oder sexualisierter
     schwerer Gewalt und Tötungsdelikten geschützt wer-        Gewalt ohne Nachweis der besonderen Schutzbedürf-
     den. Die Erfahrungen des in den beiden Modellprojek-      tigkeit Einzelner. Auch Angehörige von Betroffenen
     ten Flensburg und Herzogtum Lauenburg und Storman         schwerer Straftaten sollten Anspruch auf eine Beglei-
     durchgeführten Gefährdungsmanagements sollten eva-        tung erhalten.
     luiert werden und als Grundlage für einen flächende-            Prävention als einen wichtigen Baustein gegen
     ckenden Einsatz dienen.                                         Gewalt an Frauen zu fördern und auszubauen.
           dass die Eingruppierung der Mitarbeiterinnen der    Prävention mit dem Ziel der Verhütung von Gewalt
           Frauenfacheinrichtungen von EG 10 auf EG 11         muss sich zuallererst auf Männer richten, um gewalt-
     steigen muss.                                             förmiges Handeln im Entstehen zu verhindern und
                                                               gesellschaftlich zu ächten. Parallel müssen Frauen in
                                                               ihrem Selbstbewusstsein gestärkt werden. Hilfreich ist
                                                               in diesem Zusammenhang sicher auch die Ausweitung
                                                               des STOP-Projektes (Stadtteile ohne Partnergewalt26) in
                                                               die Fläche.

16
Schutzkonzepte als verpflichtenden Bestandteil               Nur eine tatsächliche
       der Leitbilder aller formellen und informellen Bil-
dungsbereiche zu etablieren. Bei der Entwicklung und                Gleichstellung und die
Umsetzung wirksamer Schutzkonzepte brauchen die              Förderung der Gleichstellung von
Institutionen Unterstützung durch Facheinrichtungen,
die entsprechend mit finanziellen Mitteln auszustatten       Frauen und Männern kann Gewalt
sind.                                                        gegen Frauen effektiv und nachhaltig
      die Förderung des landesweiten Projektes SCHIFF
      (Schleswig-Holsteinische Initiative für Frauen) zu
                                                             bekämpfen.“
verstetigen, um öffentliches Bewusstsein zu schaffen         [Art. 6 u. Anm. 49 der Istanbul-Konvention, 2018]
und mit den Medien im Gespräch über gewaltsensible
Berichterstattung zu bleiben. Es geht auf gesellschaft-
licher Ebene um die Bekämpfung von patriarchalischen
Denkmustern und Frauenverachtung.
      die Erhebung von Daten geschlechtsbezogener
      Täter-Opfer-Beziehungen verpflichtend vorzu-
schreiben, um die Datengrundlage in allen Bereichen
von physischen und psychischen Gewalttaten (Stalking,
Hasskriminalität etc.) zu verbessern.

                                                                                                                 17
[5] Für Migrantinnen

     Fakt ist:                                                    Fakt ist:
     Die Anzahl der Migrant*innen in Schleswig-Holstein           Die Integration von geflüchteten Frauen in den deut-
     beträgt 272.965 Personen. Sie hatten damit einen Anteil      schen Arbeitsmarkt verläuft langsamer als von geflüch-
     von knapp 10 % an der Gesamtbevölkerung. Davon sind          teten Männern. Obwohl geflüchtete Frauen stark
     146.865 Männer (53,8 %) und 126.100 Frauen (46,2 %).27       von Arbeitslosigkeit betroffen sind und vielfach Hilfe
                                                                  benötigen, erhalten sie nur unzureichend Zugang zu
     Fakt ist:                                                    arbeitsmarktpolitischer Förderung. Der Frauenanteil
     Frauen mit Migrationshintergrund haben überproporti-         bei Flüchtlingen in arbeitsmarktpolitischer Förderung
     onal häufig keinen Schulabschluss (Mikrozensus 2018).        lag im Dezember 2019 bei nur 25 %.30
     Von allen Frauen mit Migrationshintergrund, die nicht
     mehr in Ausbildung bzw. schulpflichtig sind, haben           Fakt ist:
     13,6 % keinen Schulabschluss im Vergleich zu 1,5 % der       In 2019 waren 13 % der geflüchteten Frauen und 53 %
     Frauen ohne Migrationshintergrund.28                         der geflüchteten Männer sozialversicherungspflichtig
                                                                  oder selbstständig erwerbstätig (einschließlich gering-
     Fakt ist:                                                    fügiger und/oder unregelmäßiger Beschäftigung sowie
     Die sogenannte Armutsgefährdungsquote liegt bei              Ausbildung, Lehre oder betrieblichem Praktikum). Die
     Frauen mit Migrationshintergrund doppelt so hoch wie         Erwerbsabsicht geflüchteter Frauen selbst ist hoch:
     bei den Frauen ohne Migrationshintergrund (27,1 %            89 % der 2019 nicht erwerbstätigen, aber erwerbsfähi-
     bzw. 12,3 %). Als armutsgefährdet gilt, wem weniger          gen Frauen möchten „ganz sicher“ oder „wahrschein-
     als 60 % des Durchschnittseinkommens zur Verfügung           lich“ in Deutschland erwerbstätig werden.31
     steht (bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen,
     Mikrozensus 2018).
                                                                  Fakt ist:
                                                                  Im Jahr 2020 wurden in Deutschland Asylverfahren
     Fakt ist:                                                    von rund 145.000 Personen entschieden. Davon wur-
     Geflüchtete Frauen mit kleinen Kindern weisen beim           den lediglich 1.809 Personen aufgrund geschlechtsspe-
     Zugang zu einem Integrationskursus eine nachteilige          zifischer Verfolgung nach § 3 b Abs. 1 Nr. 4 AsylG als
     Ausgangslage auf. Die wohl bedeutsamste strukturelle         Flüchtling anerkannt. Hinderungsgründe für das Gel-
     Hürde ist die unzureichende Finanzierung von kursbe-         tendmachen einer geschlechtsspezifischen Verfolgung
     gleitender Kinderbeaufsichtigung durch das BAMF              vonseiten der geflüchteten Frau können in evtl. emotio-
     sowie der Mangel an Regelbetreuungsangeboten für             nalen Hürden (z. B. Schamgefühle, Angst), aber auch in
     Kinder in den Kommunen und Landkreisen.                      der Unkenntnis ihrer Rechtslage liegen.
     Eine weitere strukturelle Hürde ist die geographische        Fakt ist:
     Entfernung zwischen Wohnort und Integrationskursus           Geflüchtete, die in Deutschland Schutz suchen, brau-
     bzw. Kinderbetreuung, welche in strukturschwachen            chen weit mehr als ein Dach über dem Kopf: nämlich
     Gegenden verstärkt auftritt.29 Es besteht das Risiko, dass   einen Ort, an dem sie sich sicher fühlen und erste Schritte
     viele zugewanderte und insbesondere geflüchtete Müt-         in einen neuen Alltag gehen können.32 Die Standards
     ter mit kleinen Kindern aufgrund fehlender Möglich-          für die Unterbringung von Geflüchteten, insbesondere
                                                                  in Bezug auf Gewaltschutz, werden in den Kommunen
     keiten zum Deutscherwerb auf längere Zeit von einer
                                                                  sehr unterschiedlich gehandhabt und stellen zum Teil
     umfassenden gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlos-
                                                                  keine befriedigende Lösung für die betroffenen Frauen
     sen werden.                                                  und ihre Kinder dar. Überwiegend haben die Konzepte
                                                                  in den Kommunen lediglich Empfehlungscharakter.
18
Fakt ist:                                                  Die hohe Erwerbsabsicht vieler geflüchteter Frauen und
Aus ihrem Minoritätenstatus und Migrationshinter-          deren Potentiale für den Arbeitsmarkt müssen von der
grund können sich spezifische Gesundheitsrisiken für       Politik aufgegriffen werden. Notwendig ist eine nach-
Migrantinnen ergeben. Auch ihr Zugang zur Gesund-          haltige und individuelle Unterstützung auf ihrem Weg
heitsversorgung ist oft schlechter als der der Allge-      in qualifizierte Erwerbsarbeit.
meinbevölkerung. Dies lässt sich hauptsächlich auf drei         ein verbindliches geschlechtersensibles Gewalt-
Ursachenkomplexe zurückführen: Kommunikations-                  schutzkonzept in Landes- und kommunalen Unter-
probleme, differierende Krankheitskonzepte und im          künften für geflüchtete Frauen. Gewaltschutzkonzepte
Zusammenhang mit der Migration gemachte (trauma-           müssen Bestandteil des Vertrages zwischen dem Land/
tische) Erfahrungen. Zusammen stellen diese Faktoren       Kommunen und dem Betreiber der Unterkunft werden.
eine oft schwer überwindbare Barriere dar.                 Die vom Bundesfamilienministerium veröffentlichten
                                                           „Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Men-
                                                           schen in Flüchtlingsunterkünften“32 können als Vorlage
Wir fordern:                                               dienen.
      vorrangig den Ausbau und Zugang zur Kinderta-            die Aufhebung der Residenzpflichten und Wohn-
      gesbetreuung für alle! Es braucht für die Träger         sitzauflagen, soweit diese einem selbstbestimten
von kursbegleitender Kinderbeaufsichtigung deutli-         Gewaltschutz entgegenstehen.
chere finanzielle Anreize, um entsprechende Angebote              unabhängig von ihrer Bleibeperspektive eine
flächendeckend anzubieten. Abhilfe würde eine Har-                umfangreiche individuelle Rechtsberatung der
monisierung der Förderbedingungen im Integrations-         Frauen, z. B. über die Möglichkeit eines getrennten
kursus- und Berufssprachkursus-Bereich (BSK) schaffen.     Asylverfahrens bzw. getrennte Anhörung, und über
Kinderbetreuungsangebote sind die Voraussetzung für        ihren Anspruch auf eine weibliche Verfahrensberaterin
eine stärkere und gleiche Teilhabe auch von Müttern        bzw. eine Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifische
an Bildung und Erwerbsarbeit und bieten ihnen für die      Verfolgung. Ferner muss die Frage der geschlechtsspe-
Zukunft die Möglichkeit für ein selbstbestimmtes Leben.    zifischen Gewalt (z. B. sexualisierte Gewalt, Zwangs-
      ein niedrigschwelliges Angebot zur besseren Vor-     verheiratung, Genitalverstümmelung, Blutrache) schon
      bereitung und Begleitung beim Übergang in den        vor dem Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte*r
Integrationskursus inkl. Kinderbeaufsichtigung vor-        bzw. auf internationalen Schutzstatus geklärt werden.
zuhalten, z. B. durch Förderung und Ausweitung des                den Zugang zum Gesundheitssystem für die Ver-
Bundesprogramms „Migrantinnen einfach stark im All-               sorgung von Migrantinnen zu erleichtern. Hierbei
tag“ (MiA-Kurse33) in Schleswig-Holstein. Die Potentiale   ist z. B. eine unbürokratische Finanzierung des Dolmet-
geflüchteter Frauen sollten erkannt und gestärkt wer-      schens im Gesundheitswesen sowie in der Psychothera-
den.                                                       pie wichtig. Zudem fehlt es landesweit an genügend
      die Teilnahme von Frauen an Qualifizierungs-         Angeboten für Traumatherapien. Und die Erhebung
      maßnahmen zu fördern, die Partizipation an           von geschlechtsspezifischen Daten für eine angemes-
Integrationsmaßnahmen, professionelle Beratung und         sene Gesundheitsversorgung muss forciert werden.
Deutschförderung zu intensivieren und die Anerken-
nung von ausländischen Berufsabschlüssen zu forcieren.

                                                                                                                     19
[6] Für Senior*innen

     Fakt ist:                                                  Fakt ist:
     Die Lebenserwartung von Frauen liegt in Schleswig-Hol-     Frauen und Männer sind vom Thema „Pflege“ unter-
     stein bei 83,06 Jahren. Die der Männer bei 78,39 Jah-      schiedlich betroffen, sei es als Pflegebedürftige, pfle-
     ren.34                                                     gende Angehörige und professionell Pflegende.
     Fakt ist:                                                  Insgesamt wurden Ende 2019 insgesamt 73,1 % aller
     Am 31.12.2020 lag der Anteil der alleinlebenden Frauen     Pflegebedürftigen (Pflegestufe 1-5) in Schleswig-Hol-
     im Alter von 65 Jahren und älter bei 25,4 %. 21,2 % der    stein zu Hause versorgt.40 Zwei Drittel der Hauptpflege-
     Männer dieses Altes lebten im Einpersonenhaushalt.35       personen sind weiblich und über 70 % der pflegenden
                                                                Angehörigen sind Frauen.41
     Fakt ist:
     Im Jahr 2019 bezogen Frauen eine Rente, die 46 %           Fakt ist:
     geringer ausfiel als die, die Männer in diesem Jahr        Das Modell der „24-Stunden-Pflege“, vorrangig aus-
     beziehen konnten. Die Deutsche Rentenversiche-             geübt durch Frauen aus Rumänien, Ungarn oder Bul-
     rung legte dazu Zahlen aus dem Jahr 2018 offen. Die        garien, ist durch ein Urteil des Bundesarbeitsgerichtes
     durchschnittliche Alterssicherung bei Männern lag bei      Erfurt (24.06.2021) ins Wanken geraten. Das Arbeits-
     1.148 Euro, während Frauen im Durchschnitt mit             schutzgesetz, sowie der Mindestlohn muss eingehal-
     711 Euro im Monat leben müssen. Der „Gender Pension        ten werden und damit ist der Einsatz rund um die Uhr,
     Gap“ betrug 46 %.36                                        inklusive Nachtbereitschaft, längerfristig nicht erlaubt.
     Fakt ist:                                                  Fakt ist:
     In Schleswig-Holstein haben am Jahresende 2020 fast        Zwischen 4 % und 6 % der alten Menschen erleiden in
     20.900 Personen Grundsicherungsleistungen im Alter         ihrem eigenen Zuhause irgendeine Form von Misshand-
     zur Sicherstellung der laufenden Lebensführung erhal-      lung, wobei die Dunkelziffer von Misshandlungen in
     ten. 56 % der Unterstützten waren Frauen.37                Institutionen vermutlich höher ist, als allgemein ange-
                                                                nommen wird.42 Überträgt man diese Zahlen auf die
     Fakt ist:                                                  etwa 130.000 Menschen mit einem anerkannten Pfle-
     Aktuellen Daten des Mikrozensus zufolge waren im
                                                                gegrad in Schleswig-Holstein entspricht dies ca. 6.500
     Jahr 2018 16,4 % der Frauen und 12,7 % der Männer ab
                                                                Menschen, die Übergriffen, Vernachlässigung, Ausbeu-
     65 Jahren armutsgefährdet. Sie mussten mit weniger als
                                                                tung und in Einzelfällen sogar Tötung ausgesetzt sind.
     60 % des mittleren Einkommens (Median) der Gesamt-
     bevölkerung auskommen.38                                   Fakt ist:
                                                                Laut einer aktuellen Umfrage können sich 21 % der
     Fakt ist:                                                  Jugendlichen eine Berufstätigkeit in der Pflege vorstel-
     Ende 2019 lebten 30 % der Einwohnerinnen und Ein-
                                                                len. Aber nur, wenn die Arbeitsbedingungen und die
     wohner Schleswig-Holsteins im Alter von 90 und mehr
                                                                Bezahlung sich grundlegend verbessern, wird der Pfle-
     Jahren in Pflegeheimen und wurden dort vollstationär
                                                                geberuf an Attraktivität gewinnen, wodurch auch die
     betreut. Frauen befanden sich deutlich häufiger in voll-
                                                                Personalnotlage abgeschwächt wird.43
     stationärer Heimpflege als Männer. Von den ab 90‑jäh-
     rigen Frauen lebten 34 % in Pflegeheimen, bei den          Fakt ist:
     gleichaltrigen Männern waren es dagegen nur 20 %.39        Die ländlich geprägten Regionen sind im Gegensatz zu
                                                                den urbanen Regionen mit Haus- und zum Teil auch
                                                                Fachärzt*innen unterversorgt, was sich in den vergan-
20
genen Jahren sogar noch verstärkt hat. Zu beachten ist      Risikovermeidung wie Tür-auf-Sensoren, Aufstehmel-
außerdem die demografische Entwicklung innerhalb            der, Sturzerkennung und Orientierungslichter).
der Ärzt*innenschaft: 33 % der Hausärzt*innen sind in
                                                                  die Sensibilisierung für geschlechtsspezifische
diesem Jahr 60 Jahre oder älter und werden in absehba-
                                                                  Gewalt in der Aus- und Weiterbildung von Pflege-
rer Zeit in den Ruhestand treten. Die Bereitschaft sinkt,
                                                            kräften zu etablieren, sowie Module zu möglichen Aus-
sich im ländlichen Raum niederzulassen.44
                                                            wirkungen von sexualisierter Gewalt in der Biografie
                                                            von Pflegebedürftigen und die Vermittlung einer inter-
                                                            kulturellen Perspektive einzubringen. Darüber hinaus
Wir fordern:                                                müssen Pflegebedürftige ein Wahlrecht haben, ob sie
                                                            von einer männlichen oder weiblichen Person gepflegt
      eine grundsätzliche Pflegereform. Dazu gehö-          werden wollen.
      ren der Ausbau und die Sicherstellung bedarfs-
gerechter und professioneller Unterstützungs- und                für die hausärztliche Versorgung im ländlichen
Entlastungsangebote. Jeder Pflegehaushalt sollte auf             Raum innovative Konzepte, die über digitale
öffentlich bereitgestellte und aufeinander abgestimmte      Ansätze wie die Telemedizin hinausgehen.
Hilfen und Strukturen zugreifen können: neben medi-
                                                            Ein gutes Beispiel ist das Konzept „Gemeindeschwester
zinischpflegerischen Leistungen u. a. auf Tages-, Nacht-
                                                            plus“ aus Rheinland-Pfalz: das Angebot umfasst sowohl
und Wochenendbetreuung, stundenweise Betreuung,
                                                            präventiv ausgerichtete Beratung („präventiver Haus-
Unterstützung im Haushalt und Bereitschaftsdienste.
                                                            besuch“), beispielsweise zur sozialen Situation, gesund-
Voraussetzung dafür ist u. a. die Sicherstellung von
                                                            heitlichen und hauswirtschaftlichen Versorgung, zur
haushaltsnahen Dienstleistungen durch entsprechende
                                                            Wohnsituation, Mobilität oder zu Hobbys und Kontak-
Angebote. Die Berücksichtigung von Pflegezeiten bei
                                                            ten, als auch die Vermittlung von wohnortnahen und
der Rentenberechnung muss deutlich angepasst wer-
                                                            gut erreichbaren Teilhabeangeboten wie beispielsweise
den, d. h., der zu Grunde gelegte Stundensatz sollte den
                                                            Bewegungsangebote, Veranstaltungen oder interes-
Löhnen des Pflegepersonals entsprechen.
                                                            sante Kurse.45 Die etablierten Pflegestützpunkte sollten
     den Bau weiterer bezahlbarer barrierefreier Woh-       finanziell und personell besser ausgestattet und beson-
     nungen, bzw. Wohnanlagen.                              ders im ländlichen Raum verstärkt eingesetzt werden.
     den weiteren Ausbau des ÖPNV, sowie deutlich                 in Forschung und Praxis Unterschiede in der
     reduzierte Preise für Personen ab 65 Jahren.                 Gesundheit von älteren Frauen im Vergleich zu
                                                            Männern kritisch zu reflektieren, systematisch zu unter-
     eine deutliche Aufwertung der Pflegeberufe, um         suchen und zukünftige Entwicklungen zu beobachten,
     die Fachkräftelücke zu verringern. Dazu gehört:        um frühzeitig geschlechtergerecht reagieren zu kön-
ein nach Qualifikation differenzierter Mindestlohn,         nen. Die Gesundheitsversorgung muss sich auf immer
sowie die Verbesserung der Arbeitsbedingungen.              mehr und älter werdende Frauen mit sich ändernden
      zur Unterstützung in der häuslichen und statio-       Krankheitsspektren einstellen, z. B. mit dem Auftreten
      nären Pflege sowie in Krankenhäusern technische       von neuro-degenerativen Erkrankungen, sowohl in der
Systeme zu Kontroll-, Routine- und logistischen Tätig-      Pflege, als auch in der Prävention.
keiten vermehrt einzusetzen (z. B. robotische Systeme
zum Transport, zur Lagerung und zur Mobilisierung von
Personen, intelligente Pflegewagen sowie Systeme zur
                                                                                                                       21
[7] Für Frauengesundheit

     Fakt ist:                                                  Fakt ist:
     Indikatoren für die reproduktive Gesundheit bzw. sexu-     Laut Auskunft des Statistischen Bundesamtes gibt es
     elle Selbstbestimmung von Frauen sind u.a. ein vorhan-     heute 45 % weniger Ärzt*innen bzw. Krankenhäuser
     denes Budget für Familienplanung (Verhütungsmittel),       (Meldestellen49) als vor zehn Jahren, die Schwanger-
     eine bedarfsgerechte gesundheitliche Versorgung rund       schaftsabbrüche durchführen (im Jahr 2003 waren es
     um die Geburt, ausreichend finanzierte Beratungs-          2.050 und 2021 nur noch 1.110). In Schleswig-Holstein
     stellen, sowie die Verfügbarkeit von Angeboten für         variieren die Zahlen zwischen aktuell 61 und 66 Anlauf-
     Schwangerschaftsabbrüche.                                  stellen. Die Folge: Frauen müssen immer längere Wege
                                                                zu Ärzt*innen zurücklegen.
     Fakt ist:
     Die Kosten für die Verhütung stellen eine Zugangs-         Fakt ist:
     barriere für Frauen mit niedrigem Einkommen dar. Im        Das Präventionsgesetz (PrävG) sieht vor, dass bei den
     Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung können         Leistungen der Krankenkassen geschlechtsspezifischen
     Frauen lediglich bis zum vollendeten 22. Lebensjahr        Besonderheiten Rechnung zu tragen ist (§ 2b). Darüber
     verschreibungspflichtige Verhütungsmittel (einschließ-     hinaus sollen die Leistungen insbesondere zur Vermin-
     lich der Spirale) sowie die „Pille danach“ auf Kassenre-   derung sozial bedingter und geschlechtsbezogener
     zept erhalten. In der Studie „frauen leben 3“ berichten    Ungleichheiten zu den Gesundheitschancen beitragen
     8,1 % der Frauen, schon einmal aus Kostengründen auf       (§ 20). Außerdem haben Versicherte von dem 18. Lebens-
     die Pille oder die Spirale verzichtet zu haben.46          jahr an Anspruch auf alters-, geschlechter- und zielgrup-
                                                                pengerechte ärztliche Gesundheitsuntersuchungen zu
     Fakt ist:                                                  Erfassung und Bewertung gesundheitlicher Risiken und
     Die Anzahl der Krankenhäuser in Deutschland, in denen
                                                                Belastungen (§ 25).50
     Entbindungen durchgeführt werden, hat sich seit dem
     Jahr 1991 um ca. 43 % reduziert, seit 2007 um ca. 22 %.    Fakt ist:
     Gemäß den im iGES-Gutachten wiedergegebenen Daten          Zu den Erkrankungen, von denen Frauen häufiger
     des Statistischen Bundesamtes gab es im Jahr 1991 in       betroffen sind als Männer, gehören eine Reihe psychi-
     Deutschland 1.186 Krankenhäuser mit Entbindungen,          scher Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen
     im Jahr 2007 noch 865 und im Jahr 2017 nur noch 672.47     und Essstörungen. Auch sind Suizidversuche bei Frauen
                                                                häufiger als bei Männern; die Anzahl der vollzoge-
     Fakt ist:                                                  nen Suizide ist jedoch geringer.51 Gleichzeitig nehmen
     Den Geburtskliniken fehlen Hebammen, dies verdeut-
                                                                Frauen häufiger Angebote von Gesundheitsförderung
     licht der vergleichsweise hohe Anteil von 57 % der Kli-
                                                                und Prävention sowie der Gesundheitsversorgung in
     niken mit Vakanzen im Umfang von durchschnittlich
                                                                Anspruch.
     18 % ihrer Planstellen. Von denen hat wiederum etwa
     die Hälfte Schwierigkeiten, diese zu besetzen.             Fakt ist:
                                                                Frauen sind anders krank. Frauen zeigen manchmal
     Als Hemmnis gilt vor allem die hohe Arbeitsbelastung
                                                                andere Symptome als Männer und brauchen nicht sel-
     für Hebammen im Verhältnis zum Gehaltsniveau.48
                                                                ten eine andere Therapie bzw. eine andere Dosierung
     Auch die Geburtsvorbereitung und -nachbetreuung
                                                                von Medikamenten.
     durch Hebammen und die Versorgung mit Familien-
     hebammen sind nicht mehr im erforderlichen Umfang          Häufig wird vernachlässigt, dass Frauen und Männer
     sichergestellt.                                            unterschiedlich auf dasselbe Medikament, dieselbe The-

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rapie reagieren (können). Zum Beispiel kommen Frauen            ein ausreichendes und flächendeckendes Angebot
mit einem Herzinfarkt in Schnitt erst zwei Stunden spä-         sowohl ambulanter als auch stationärer Einrich-
ter als Männer in die Notaufnahme. Sie zeigen öfter       tungen, das die Vornahme von Schwangerschaftsab-
andere Symptome und der Herzinfarkt wird häufiger         brüchen sicherstellt. Dies erfordert eine entsprechende
nicht erkannt.                                            Bedarfsanalyse unter Einbeziehung von Expert*innen
                                                          zu erstellen, sowie die Entwicklung eines umfassenden
                                                          Konzepts zu ausreichender professionell ausgestatteter
Wir fordern:                                              Versorgung für Schwangerschaftsabbrüche in Schles-
                                                          wig-Holstein und dessen regelmäßige Fortschreibung
      die Sicherstellung einer flächendeckenden ge-       sowie eine fachgerechte Ausstattung der Beratungsstel-
      burtshilflichen Versorgung. Es muss endlich die     len nach dem Schwangerschaftskonfliktgesetz.
selbst gegebene Verpflichtung aus dem Krankenhaus-              dass das Lehren und Erlernen aktueller fachge-
plan 201752 umgesetzt werden, nämlich „die Sicherstel-          rechter Methoden zum Abbruch einer Schwan-
lung einer umfassenden stationären Versorgung, auch in    gerschaft Teil des Medizinstudiums sein muss, sowie
der Fläche“. Um dies zu gewährleisten, müssen Bedarfs-    eine Vertiefung dieser Inhalte in der gynäkologischen
gerechtigkeit, Leistungsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit,    Fachärzt*innen-Ausbildung. Den öffentlich finanzier-
Erreichbarkeit und Trägervielfalt in der Krankenhaus-     ten Kliniken kommt hierbei eine besondere Rolle zu.
planung berücksichtigt werden. Als neues Planungsziel
ist im KHG (§ 6) zusätzlich Qualität aufgeführt. Gerade          dass die Qualifizierungsreihe „Genderkompe-
im ländlichen Raum ist nicht nur die Entfernung allein           tenz in der Medizin“ am UKSH, die dazu beiträgt,
ein Merkmal, sondern auch die Überbrückung dieser         geschlechterbezogenes Wissen zu vermitteln, die Sensi-
von großer Bedeutung. Nicht mehr als 40 Minuten zur       bilität für Genderthemen im medizinischen Kontext zu
nächsten Geburtsstation sollte die Fahrt zur Entbindung   erhöhen und damit die Motivation für gleichstellungs-
dauern. Die Schließung weiterer Geburtenabteilungen       orientiertes Handeln zu steigern, in die Ausbildungs-
ist unbedingt zu vermeiden!                               pläne übernommen und nachhaltig gefördert wird.53
     dass die Arbeitsbedingungen von Hebammen
     in Kreißsälen hinsichtlich der Vereinbarkeit von
Erwerbsarbeit und Privatleben/Familie, von beruflichen
Entwicklungsmöglichkeiten sowie einer angemessener
Vergütung deutlich verbessert werden.

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