"Wir haben die Soziale Arbeit geprägt" - Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählen von ihrem Wirken seit 1950 Herausgegeben von AvenirSocial - Haupt ...

Die Seite wird erstellt Tom Eder
 
WEITER LESEN
"Wir haben die Soziale Arbeit geprägt" - Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählen von ihrem Wirken seit 1950 Herausgegeben von AvenirSocial - Haupt ...
3

«Wir haben die Soziale
Arbeit geprägt»
Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählen
von ihrem Wirken seit 1950

Herausgegeben von AvenirSocial

Haupt Verlag
Bern · Stuttgart · Wien
147

«Nur mit wissenschaftlichen Grundlagen kann sich
die Soziale Arbeit weiterentwickeln»

Ruth Brack

Sozialarbeiterin, geboren 1933, lebt in Gwatt bei Thun

«Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, war ich sechs Jahre alt. Ich weiss noch sehr gut,
wie ich eines Nachts mit meinen Eltern bei uns daheim auf der Terrasse stand, als weit,
weit weg, jenseits der Ostschweiz, die Stadt Konstanz bombardiert wurde. Der Horizont
leuchtete rot und in der Luft lag ein Geräusch wie ferner Donner.

Geborgenheit und Verluste
Meine Eltern führten das Kurhaus ‹Feusisgarten› in Feusisberg, einem in den grünen Hügeln
oberhalb des Zürichsees gelegenen Bauerndorf. Das Haus gehörte den Krankenkassen des
linken und rechten Seeufers. Patientinnen und Patienten aus unteren Bevölkerungsschich-
ten wurde bei uns die Möglichkeit geboten, sich von Operationen zu erholen. Es waren
die Jahre der Nahrungsmittelrationierung. Trotzdem habe ich als Kind nie auch nur den
geringsten Mangel empfunden. Dem Kurhaus war ein Bauernhof angegliedert, wir hatten
Kühe, wir hatten Kartoffeläcker, wir hatten das Fleisch unserer Schweine, Hühner und
Chüngel. Die Mutter schickte mich regelmässig mit zwei Flaschen frischer Milch zu den
Pfarrersleuten in der Nachbarsgemeinde, die ein kleines Kind hatten.
Meine drei Brüder und ich kamen mit vielen verschiedenen Menschen in Kontakt. Beim
Frühstück sassen wir mit allen Angestellten um einen grossen Tisch herum – am oberen
Ende die Familie, am unteren die Knechte – und assen Rösti mit Schweineschmalz. Tags-
über machte ich gelegentlich Abstecher ins Büro des Vaters und hörte aufmerksam zu,
wenn die Kurgäste ihm dort ganze Lebensgeschichten erzählten.
Ich war eine gute Schülerin, das Lernen fiel mir leicht. So hatte ich die Hausaufgaben
immer im Nu erledigt und konnte in Feld und Stall helfen. Das machte ich gern. Im Herbst
148
Ruth Brack   149

begleitete ich den Vater auf die Jagd, im Winter fuhr ich Ski an den Hängen oberhalb des
Dorfs. Ich ging voll und ganz in dieser ländlichen Welt auf.
Und dann kam plötzlich alles anders. Als ich in der zweiten Sek war, erlitt mein Vater
einen schweren Herzinfarkt, von dem er sich nie mehr ganz erholte. Meine Eltern muss-
ten das Kurhaus und den Bauernbetrieb aufgeben und zogen in eine Ferienwohnung bei
Verwandten im Tessin. Ich kam in ein Internat mit Handelsschule. Als meine Mutter dann
ein Hotel im hoch über dem Walensee gelegenen Dorf Amden übernahm, alleine, weil der
Vater im Tessin geblieben war, half ich ihr im Betrieb.
Es waren harte Zeiten. Wir mussten beide wie wild krampfen, denn das Hotel war alt und
heruntergewirtschaftet. Meine Mutter sehnte sich nach meinem Vater, sie fühlte sich über-
fordert und rutschte in eine depressive Verstimmung hinein. Damals wusste ich nicht, was
mit ihr los war, aber ich unterstützte sie, so gut ich konnte. Ich war sechzehn Jahre alt.
Dann kam auch der Vater nach Amden. Aber es war nicht mehr so wie früher. Die meiste
Zeit lag er im Liegestuhl auf der Hotelterrasse und sagte uns von dort aus, was zu tun
war. Er starb bereits nach einem Jahr an einer Herzschwäche.
Für mich war der Tod meines Vaters der Anfang einer äusserst schwierigen Phase. Ich
hatte sehr an ihm gehangen und nun plagte mich ein schlechtes Gewissen, weil ich aus
pubertärer Auflehnung heraus oft mit ihm gestritten hatte. Mit meiner Mutter hielt ich
es nicht mehr aus, sie versuchte mir den Vater zu ersetzen, und das ertrug ich nicht.
Schliesslich riss ich von daheim aus und fuhr zu einer in der Nähe von Zürich lebenden
Tante, wo ich einige Tage bleiben konnte.

Der Weg in die Soziale Arbeit
Mit dieser Tante besprach ich erstmals meine Berufswahlpläne. Ich berichtete von einer
jungen Frau, die im Hotel zu Gast gewesen war und mir von ihrer Ausbildung an der
Schule für Soziale Arbeit Zürich erzählt hatte. Ich hatte das Programm, besonders die
Psychologie, total spannend gefunden. Nun meldete ich mich bei der Schule und traf Paula
Lotmar, meine spätere Klassenleiterin, zu einer Art Aufnahmegespräch. Damals verlief
das alles noch nicht so formell wie heutzutage. Paula Lotmar befand mich für geeignet,
sagte jedoch, ich sei noch zu jung, aber ich müsse ja sowieso noch ein Haushaltlehrjahr
machen. Ein solches war damals Voraussetzung.
150   «Wir haben die Soziale Arbeit geprägt»

Ich verbrachte es bei der Pfarrerfamilie, der ich als Mädchen seinerzeit frische Milch fürs
kleine Kind gebracht hatte. Anschliessend vermittelte mir Paula Lotmar ein Vorpraktikum
bei der privaten Mütter- und Kinderfürsorge Rapperswil, die sich mit Adoptionen und
Übergangspflegeplätzen befasste. In den Gesprächen mit der Stellenleiterin öffneten sich
mir neue Welten: Sie war gerade von einer sozialarbeiterischen Weiterbildung in den USA
zurückgekommen, ein UNO-Stipendium hatte ihr diese ermöglicht. Ich war fasziniert.
Amerika – dort wollte ich auch hin, unbedingt! Mir gefielen die Ideen, die sie von dort
heimgebracht hatte und nun umzusetzen begann: Während es damals in den Städten der
Schweiz noch Erkundigungsstellen gab, die im Auftrag von Fürsorgestellen möglichst viel
über die Klientinnen und Klienten in Erfahrung bringen mussten, bezogen wir die nötigen
Informationen ausschliesslich im direkten Gespräch mit den Klienten.
Und dann war es soweit! 1954 kam ich an die ‹Soz›, die Schule für Soziale Arbeit Zürich,
die seit fünf Jahren diesen Namen trug. Die frühere Bezeichnung, Soziale Frauenschule,
hielt sich jedoch noch lange Zeit hartnäckig. Wenn ich mich später irgendwo vorstellen
ging, musste ich die Leute immer korrigieren und sagen: Ich habe nicht die Frauenschule,
sondern die Schule für Soziale Arbeit gemacht. Das war mir wichtig.
Der Lehrplan war breit angelegt. Soziologie wurde damals noch nicht unterrichtet, aber
wir hatten unter anderem Gesundheitslehre beim Stadtarzt von Zürich und Psychologie
bei Marie Meierhofer, der Gründerin des heutigen Marie Meierhofer-Instituts für das Kind.
Auch der Direktor der Psychiatrischen Klinik Königsfelden war unter den Dozenten. Dane-
ben hatten wir aber auch Fächer wie etwa Rhythmik, und bei Paula Lotmar, die aus der
Beschäftigungstherapie kam, lernten wir lustige Kanons und bearbeiteten unter anderem
Holz. Ich bastelte bei ihr einen Hampelmann. Zum Lehrplan gehörten zudem Exkursionen;
wir besuchten Strafanstalten, Psychiatrische Kliniken, Fabrikfürsorgestellen und weitere
Orte, an denen Sozialarbeiterinnen tätig waren.
In meiner freien Zeit las ich, so viel ich nur konnte. Schon als Kind hatte ich alles gelesen,
was ich in die Finger bekam – auch wenn die Literatur, die mir die Köchin des Dorfpfarrers
regelmässig zugesteckt hatte, nicht wirklich kindgerecht gewesen war.
Meine Diplomarbeit schrieb ich zum Thema ‹Evangelische Alte im Tessin›. Ich interviewte
Personen, die mir von den evangelischen Pfarrämtern vermittelt worden waren, und reiste
dafür bis in die hintersten Krachen, wo meine aus der Deutschschweiz stammenden, oft
steinalten Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner wohnten und immer noch in den
Reben neben dem Haus werkelten. Vorgeschlagen hatte das Thema Marta Muggli, eine
Ruth Brack   151

Neumünster-Schwester und Sozialarbeiterin, die im katholischen Tessin ein evangelisches
Altersheim aufbauen wollte. In den Fünfzigerjahren war sie eine bekannte Persönlichkeit,
sie beriet Leute aus dem ganzen Land zu allen möglichen Lebensproblemen und hielt
gut besuchte Vorträge. In meiner Diplomarbeit kam ich zu Marta Mugglis Leidwesen zum
Schluss, dass die Leute so lange wie möglich daheim bleiben wollten und ein Pflegeheim
deshalb sinnvoller wäre.
Nach meiner Diplomierung als Sozialarbeiterin 1956 drückte ich gleich weiter die Schul-
bank und absolvierte den sechs Monate dauernden Gemeindehelferinnenkurs, ebenfalls an
der Soz in Zürich. Angeboten wurde diese Weiterbildung von der Kirche, die damals ihre
sozialen Angebote stark ausbaute und gleichzeitig mit einem Pfarrermangel konfrontiert
war. Fachleute aus der Sozialen Arbeit waren in den Gemeinden also hochwillkommen,
Voraussetzung für die Teilnahme am Kurs war denn auch das entsprechende Diplom. Ich
genoss dieses halbe Jahr: Altes und neues Testament, Dogmatik, Kirchengeschichte, alles
von herausragenden Vertretern ihres Faches vermittelt.
Mir gefiel die Weiterbildung damals so gut, dass ich ernsthaft erwog, die Matura nach-
zuholen und Theologie zu studieren. Ich entschied mich dann, bei der Sozialarbeit zu
bleiben – Gottlob, muss ich heute sagen – und stieg in die Praxis ein, als Stellvertreterin
von Gemeindehelferinnen, zuerst in Zürich-Affoltern und anschliessend in Uster ZH.
Dort hörte ich dann zum ersten Mal vom deutschen Theologen Dietrich Bonhoeffer, der
1945 von den Nazis hingerichtet worden war. Bonhoeffer sagte unter anderem, es gehe
darum, in der Welt Christ zu sein, im Hier und Jetzt, und nicht auf Gottes Reich im Jen-
seits zu warten. Die Beschäftigung mit Bonhoeffer war für mich eine Erleuchtung. Das
hat meine Lebenshaltung bis heute geprägt.

USA: Ausbildung auf Hochschulniveau
Ab 1958 war ich dann drei Jahre lang Gemeindehelferin in Zug. Altersnachmittage, Spi-
talbesuche, Bücherausleihe an Kinder, Altkleiderbörse, Arbeit mit Jugendgruppen und
vor allem auch Einzelhilfe – die Arbeit war vielfältig und gefiel mir sehr. Jedes Jahr
veranstaltete ich zudem mit einem der Pfarrer Hochtouren- oder Skiwochen.
Und dann reiste ich 1961 per Schiff über den Atlantik in die USA. Ich trat ein zwei Jahre
dauerndes Masterstudium in Sozialer Arbeit an der Universität Denver an. Aufgrund
meiner Erfahrung mit Jugendgruppen hatte ich mich für den Studienschwerpunkt Group
152   «Wir haben die Soziale Arbeit geprägt»

Work entschieden – Problembearbeitung mit Klientinnen und Klienten in Gruppen. Ein
Stipendium des Ehemaligenvereins der Zürcher Schule ermöglichte mir die Reise, für den
Lebensunterhalt musste ich selber aufkommen, mit Au Pair- und Sommerjobs. Ich weiss
noch gut, dass man mir nach der Ankunft im Hafen von New York am Zoll eine Salami-
wurst abnahm, die ich als Geschenk für einen in den USA lebenden Bruder dabei hatte.
Die Zeit in Denver brachte mir viele neue und wichtige Erfahrungen. Neben der Methode
der sozialen Gruppenarbeit lernte ich auch die Gemeinwesenarbeit kennen, von der ich
vorher noch kaum gehört hatte. Aber zuerst musste ich mir die englische Sprache aneignen,
meine Vorkenntnisse waren rudimentär. Unvergesslich ist mir ein Buch über Community
Organizing, das ich in den ersten Wochen lesen musste: Ich schrieb alle Wörter, die ich
nicht kannte, mit Bleistift an den Seitenrand, übersetzte dann Satz für Satz und las die
fertig übersetzte Seite dann noch im Zusammenhang, um auch den Inhalt zu begreifen.
Während meines Aufenthalts erhielt ich durch die Praktika, aber auch sonst vielfältige
Einblicke in die gesellschaftlichen Realitäten der USA. Eine meiner Professorinnen nahm
an den grossen Friedensmärschen in den Südstaaten teil, es war die Zeit der Bürger-
rechtsbewegung, die Zeit von Martin Luther King und John F. Kennedy. Ich selber reiste
in den langen Sommerferien als Helferin nach Westcolorado, um dort Unterkünfte für
die Scharen von Wanderarbeitern zu organisieren, die unter anderem zum Obstpflücken
dorthin kamen. Ich hatte den Auftrag, die Farmer davon zu überzeugen, dass die zum
Teil sehr primitiven Hütten, die sie den Migranten zur Verfügung stellen wollten, für
diese eine Zumutung seien, denn sie lebten, von Ort zu Ort ziehend, während Monaten
in ähnlichen Unterkünften. Mein Arbeitseinsatz verlief zum Teil ziemlich abenteuerlich.
Im San Luis Valley logierte ich einen ganzen Monat lang mutterseelenallein in einem
einsam liegenden Kirchgemeindehaus, in dessen Küche es Pfannen, Geschirr und Besteck
für mehr als hundert Personen gab. Die Gemeindemitglieder lebten verstreut auf viele,
ebenfalls einsam liegende Höfe.
Wegweisend war für mich die enge Verschränkung von Theorie und Praxis, die an der
Universität Denver gepflegt wurde. Ein Parallelpraktikum dauerte jeweils ein ganzes Jahr.
Ich hörte auf der Schulbank, wie Gruppen funktionieren, wie man sie leitet, und setzte
das Gelernte parallel dazu in der Praxis um, um das dabei Erfahrene dann wieder zurück
in den Unterricht und die begleitende Supervision zu tragen. Dieses Modell überzeugte
mich total. Es ermöglichte mir zudem auf eindrückliche Weise einen Zugang zur Lebenswelt
der Klienten. Das zweite Praktikum absolvierte ich in einem Projekt für Frauen aus den
Ruth Brack   153

untersten Bevölkerungsschichten, in einem Quartier, das einen so schlechten Ruf hatte,
dass der Mann meiner Praktikumsleiterin, von Beruf Polizist, während meinen Prakti-
kumsstunden jeweils unweit des Gebäudes in seinem Streifenwagen sass und aufpasste.
Beim Abschluss des Lehrgangs 1963 musste ich unter anderem eine Praktikumsevaluation
durchführen, für die ich Komplimente bekam. Das Thema Evaluation hat mich von da an
nicht mehr losgelassen. Ich beendete das Studium mit sehr guten Noten. Aber da ich in
der Schweiz keine Mittelschule besucht hatte, blieb mir der formelle Mastertitel verwehrt,
obwohl sich meine Professorinnen beim Universitätsrat für mich eingesetzt hatten.

Rückkehr als Schulgründerin
Noch während meines Aufenthalts in Denver erhielt ich eine Anfrage der Reformierten
Kirche des Kantons Bern, ob ich interessiert sei, in den Räumlichkeiten der Evangelischen
Heimstätte Gwatt am Thunersee eine kirchliche Schule für Soziale Arbeit mit Schwerpunkt
Gruppen- und Gemeinwesenarbeit aufzubauen – beides für die Schweiz noch weitgehend
unbekannte Ansätze. Der Leiter der Heimstätte hatte auf einer Studienreise in Holland
ein solches Modell kennengelernt und konnte seine Vorgesetzten dafür gewinnen. Ich
sagte zu, unter der Bedingung, dass man mir einen Theologen mit Gemeindeerfahrung
als Co-Leiter zur Seite stellen müsse. Eine enge Verzahnung von Sozialarbeit und Theo-
logie war für mich unabdingbar, ich war mir sicher, dass nur so ein guter Konnex zu den
Pfarrämtern zustande kommen konnte.
Ich bin dann 1963 direkt von den USA nach Gwatt gekommen, um zusammen mit dem
Theologen Doktor Theophil Müller diese neuartige Ausbildung aufzubauen. Ich war dreissig
Jahre alt. Die Zusammenarbeit mit Theo Müller war ein absoluter Glücksfall für mich,
ich hätte mir keinen besseren Arbeitspartner wünschen können. Er war ein offener Geist
und da seine Frau Sozialarbeiterin war, hatte er bereits einen guten Bezug zum Thema.
Theo Müller und ich setzten uns also an einen Tisch und begannen eine Ausbildung aus-
zuhecken, ganz von Grund auf. Wie sollte sie strukturiert sein? Wie sollte der Lehrplan
aussehen? Das Wissen, das ich mir in Zürich und in den USA angeeignet hatte, erwies sich
nun als unbezahlbar. Dennoch war es eine Riesenarbeit, die finanziellen Ressourcen waren
knapp, und dass es aus den konservativeren Reihen der Kirche beträchtlichen Widerstand
gegen unser Vorhaben gab, machte die Arbeit nicht einfacher.
154   «Wir haben die Soziale Arbeit geprägt»

Es waren Jahre, in denen die Soziale Arbeit in der Schweiz gerade tüchtig umgekrempelt
wurde. Auf den Fürsorgeämtern waren damals noch vorwiegend Männer tätig, viele ohne
sozialarbeiterische Ausbildung, und diese fühlten sich von den neuen Ideen aus den USA
und Holland bedroht. Leute wie mich nannte man ‹IAG› – in Amerika gewesen – , und das
war nicht nur nett gemeint. Die Methode des Case Work wurde als ‹Chäs Wörk› verspottet,
und so weiter und so fort. Auch ältere Sozialarbeiterinnen standen den neuen Methoden,
vor allem der sozialen Gruppenarbeit, sehr skeptisch gegenüber.
Schliesslich stellten wir einen Ausbildungsprospekt zusammen. Wir achteten darauf, dass
auf den Fotos Männer zu sehen waren – natürlich auch Frauen, aber das mit den Männern
war uns wichtig, wir wollten sie gezielt ansprechen. Denn für mich stand fest: Nur mit
mehr Männern in der Ausbildung können wir den Beruf aufwerten. Mit dem gleichen
Hintergedanken legten wir die Latte für die Ausbildung ziemlich hoch: Sie dauerte drei
Jahre, und wer keine Matur hatte, musste zuerst einen halbjährigen, von uns konzipier-
ten Vorkurs absolvieren. Wer die Gwatter Schule besuchen wollte, brauchte unbedingt
Englischkenntnisse. Aber auch Fächer wie Wirtschaftsgeografie oder neuste Geschichte
standen auf dem Programm des Vorkurses.
Unsere Rechnung ging auf: Wir hatten in Gwatt von Anfang an den höchsten Männer-
anteil aller Schweizer Tagesschulen. 1965 startete der erste Ausbildungsgang. Die enge
Verschränkung von Theorie und Praxis, wie ich sie an der Universität Denver kennen-
gelernt hatte, war einer der Grundpfeiler. Die Schülerinnen und Schüler besuchten drei
einjährige Parallelpraktika, die Laborcharakter hatten, mit Lernaufträgen und Lernzielen.
Praxisberatung – später hiess sie Supervision – sowie eine Praktikumsleitung gehörten fix
zu diesem Konzept. Damit handelten wir uns erneut Kritik ein, unter anderem von der
Berner Abendschule für Sozialarbeit, die beides als Ausbildungsluxus abtat.
Die Berner Abendschule existierte seit 1955. Sie wandte sich vor allem an die Männer,
die ohne sozialarbeiterische Ausbildung in der Armenfürsorge tätig waren. Die Schule
bot ihnen eine ‹Nach-Bildung› auf Teilzeitbasis, mit Vorlesungen in den Räumen der Uni
Bern. Das war ein wichtiger Schritt in Richtung Professionalisierung, aber verglichen mit
der Gwatter Schule war die Abendschule eine Schmalspurausbildung.
Ruth Brack   155

Turbulente Schulleitungs-Zeiten

Ich habe in jener Zeit viel gearbeitet. Theo Müller und ich unterrichteten in den ersten zwei
Jahren alleine fast alle Fächer, wobei er sich auf die theologischen Themen beschränkte,
was mir zwar richtig schien, aber für mich bedeutete, dass der grosse Rest an mir hing.
Gleichzeitig verdiente ich viel weniger als er – die Heimstätte bezahlte ihm das Gehalt
eines Theologen, mir dasjenige einer Sozialarbeiterin. Im Laufe der Zeit wurde mein Salär
auf Drängen von Theo Müller ein Stück weit angepasst.
Es war von Anfang an klar, dass Theo Müller und ich Unterstützung brauchten. So machte
ich mich auf die Suche nach geeigneten weiteren Dozenten. Aber das war gar nicht so
einfach. Erstens lag Gwatt alles andere als zentral, und zweitens gab es für gewisse Fächer
noch kaum Fachleute in der Schweiz. So hielt ich auch in den USA Ausschau und fand
eine mir bekannte Group Workerin, die bereit war, an unsere Schule zu kommen, obwohl
sie kaum Deutsch sprach. Sie hat die Sprache dann sehr schnell gelernt, aber die erste
Zeit war schon ziemlich anspruchsvoll, für alle Beteiligten. Als Dozentin für Gemein-
wesenarbeit konnte ich Gertrud Hungerbühler gewinnen, eine Schweizerin, die in den
USA die entsprechende Ausbildung gemacht hatte. Für Soziologie und Sozialpsychologie
inklusive Gruppendynamik hatte ich einen jungen Soziologen aus dem Berner Oberland
gefunden, dem ich sagte, was ich in den USA dazu erfahren hatte und nun von ihm an
Wissensvermittlung erwartete.
An der Gwatter Schule habe ich gelernt, dass man Aussendozenten klar sagen muss, was
Sozialarbeiter brauchen. Wenn ein Psychologe kommt und etwas Gescheites erzählt, das
nichts mit der konkreten Realität der Sozialen Arbeit zu tun hat, bringt alles nichts. Bei den
Juristen dauerte es am längsten, bis wir hier den Rank fanden. Einmal hatten wir eine sehr
bekannte Juristin als Dozentin und die Studierenden nahmen im Unterricht gelangweilt
ihre Lismeten hervor und begannen zu stricken. Gut, das Stricken war damals gross in
Mode – man lismete überall, sogar während des Essens –, aber trotzdem. Es war peinlich.
Die 68er-Unruhen und der ihnen folgende gesellschaftliche Aufbruch schlugen sich auch
in unserem Schulbetrieb nieder. Proteste der Studierenden gehörten zur Tagesordnung, es
gab einen sehr aktiven Schülerverein, es gab für alles und jedes eine Schülervertretung. In
den ersten Jahren gehörte es zum Konzept, dass die Studierenden auf dem Schulgelände
lebten, in einer selbstverwalteten Wohngemeinschaft. Diese Gruppenerfahrung intensi-
vierte natürlich die ganzen Prozesse innerhalb der Schule.
156   «Wir haben die Soziale Arbeit geprägt»

Auf der anderen Seite gab es den Synodalrat der Berner Kantonalkirche, der zum Teil
konservativ ausgerichtet war. Da gab es immer wieder heftige Konflikte. An einen davon
erinnere ich mich besonders gut: Wir hatten einen Studenten aufgenommen, der Kommu-
nist war und Dienstverweigerer aus Gewissensgründen. Das führte zu einer grossen Krise
mit dem Synodalrat. Auch an der Schule selber kam es deswegen zu Spannungen zwischen
links- und rechtslastigen Studierenden, die sich voneinander bespitzelt fühlten. Es war
echt schrecklich. Ein anderes Mal erschien der Regierungsstatthalter mit Polizeibegleitung
auf dem Heimstättengelände – wegen einer entwicklungspolitischen Veranstaltung, man
hatte offenbar den Verdacht, es werde dort Stunk gegen den Staat gemacht. Auch der
Bundesanwaltschaft war unsere Schule ein Dorn im Auge. Sie legte Fichen an, zu einzelnen
Studierenden, zur Schulleitung und zur Schule als Ganzes.
1975 wurde unsere Schule mit der Berner Abendschule für Sozialarbeit zusammengelegt.
Auch dieser Schritt verlief turbulent. Weil es mit der Heimstättenleitung wegen Fragen
der Raumnutzung immer wieder Friktionen gab und die Finanzen trotz Erfolgen ein Dauer-
thema blieben, hatten wir in Gwatt drei mögliche Modelle entwickelt, wie es weitergehen
könnte. Eines davon war die Zusammenlegung mit der Abendschule. Als die kantonale
Fürsorgedirektion davon Wind bekam, forderte sie uns in einem knappen Schreiben zur
Fusion auf, sonst werde die staatliche Subventionierung gestrichen. Die anderen beiden
Modelle wurden nicht einmal ansatzweise abgeklärt. Wir sahen darin eine krasse Diszi-
plinierungsaktion, die Studierenden gingen auf die Barrikaden, es gab viel böses Blut
und an einer Generalversammlung des neuen, gemeinsamen Trägervereins in Bern kam es
schliesslich gar zur Abwahl von Leuten aus den Kreisen der Abendschule.
Die Zusammenlegung der Schulen kann ich hier nicht im Detail schildern. Nur so viel:
Theo Müller ging damals weg an die theologische Fakultät der Uni. Ich selber über-
nahm zusammen mit dem Psychologen Alex Rauber interimistisch die Leitung der neuen
Institution, die sich ‹Vereinigte Schulen für Sozialarbeit Bern und Gwatt› nannte. Alex
Rauber und ich hatten uns zufällig kurz zuvor in einem mehrtägigen Sensitivity Training
kennengelernt, einem Selbsterfahrungskurs, wie er in den Siebzigerjahren hoch im Kurse
stand. Wir waren uns also ziemlich vertraut, was hilfreich war. Im Laufe der Jahrzehnte
hat sich die Ausbildungsstätte dann zur heutigen Berner Fachhochschule für Soziale
Arbeit weiterentwickelt.
Ruth Brack   157

Aufbau der Fort- und Weiterbildung

Ich übernahm 1975 neben der interimistischen Co-Leitung gleichzeitig noch eine andere
Aufgabe innerhalb der neuen Schule: Ich wurde mit dem Aufbau der Abteilung Fort- und
Weiterbildung beauftragt. Eine solche Abteilung hatte es bis anhin noch an keiner der
Schulen für Sozialarbeit gegeben; erneut entwickelte ich also von Grund auf etwas Neues.
Als Erstes führte ich eine detaillierte Umfrage unter Sozialarbeiterinnen und Sozialarbei-
tern in der Praxis durch. Dabei fragte ich nicht nur: Welche Weiterbildungen wünscht ihr
euch?, sondern vor allem auch: Was habt ihr für Probleme? Damit wollte ich herausfinden,
ob die Befragten sich von Modetrends leiten liessen oder tatsächlich die Themen nannten,
bei denen sie Weiterbildung benötigten.
Ich stellte in der Folge ein Kursprogramm zusammen, in dem es neben problembezogenen
Kursen auch attraktive ‹Zückerchen› gab, Kurse mit Hintergrundwissen. Einer der ersten
bot einen Überblick über verschiedene Handlungsmethoden, darunter auch umstrittene
wie die Verhaltenstherapie, die in der Sozialarbeit als manipulativ verschrien war. Die
meisten von uns waren damals von der Tiefenpsychologie geprägt.
Daneben konzipierte ich auch längere Weiterbildungen, darunter einen Dozentenlehr-
gang für alle Schulen der Deutschschweiz, der mir sehr am Herzen lag. Der Kurs richtete
sich an diplomierte Sozialarbeiter und bereitete sie auf eine Dozententätigkeit vor. Ich
unterrichtete dort Handlungslehre, und zwar sehr intensiv. Auch heute noch bin ich
überzeugt, dass die Handlungslehre – also die Lehre von dem, was man mit den Klienten
in den Gesprächen tut – das Kernstück unserer professionellen Identität ist.
Einer der Hauptdozenten in diesem Lehrgang, neben Silvia Staub-Bernasconi, war der
Soziologe Werner Obrecht von der Schule in Zürich. Von ihm habe ich wahnsinnig viel
gelernt. Er konnte mir zeigen, wie eine wissenschaftlich fundierte Soziale Arbeit aussehen
könnte. Das kam mir sehr entgegen, denn ich hatte immer sehr bedauert, dass viele von
uns die Nase rümpfen über alles, was wissenschaftlich scheint. Ich denke, das hat damit
zu tun, dass es in unseren Reihen viele Leute gibt, die sich trotz Matura einen praxisna-
hen Beruf wünschen. Sie alle wollen nichts wissen von Wissenschaftlichkeit. Ich jedoch
bin fest überzeugt, dass sich die Sozialarbeit nur mit wissenschaftlichem Fundament
weiterentwickeln kann.
In jener Zeit begann ich vermehrt zu publizieren. Zusammen mit Kaspar Geiser, Absolvent
des Dozentenlehrgangs und dann Dozent in Zürich, gab ich ein Standardwerk zur Akten-
158   «Wir haben die Soziale Arbeit geprägt»

führung heraus. Daneben beschäftigte ich mich intensiv mit Fragen des Arbeitspensums
des Sozialarbeiters und schrieb auch dazu ein Buch. Weitere Publikationen zu Minimal-
standards und Qualitätssicherung folgten.

Engagierter Ruhestand
Ich habe bis zu meiner Pensionierung 1993 an der Abteilung Fort- und Weiterbildung der
Berner Schule weitergearbeitet, habe Lehrgänge konzipiert und in diesem unterrichtet.
Daneben habe ich mich selber ebenfalls weitergebildet: Unter anderem liess ich mich
am Institut für Ehe und Familie in Zürich zur Familientherapeutin ausbilden. 1990, mit
57 Jahren, reiste ich dann nochmals in die USA, belegte an der Universität Ohio während
eines Semesters verschiedene Fächer und schmuggelte mich in ein Doktoratsprogramm
in Evaluation hinein.
Das Thema Evaluation hat mich auch nach der Pensionierung noch intensiv beschäftigt.
Ich machte mich auf die Suche nach Leuten aus der Sozialhilfe, die mir Fälle zur Verfügung
stellen würden, damit ich sie auswerten und evaluieren konnte. Wir müssen unsere Arbeit
doch auswerten, um qualitativ weiterzukommen! Aber ich habe trotz grosser Anstren-
gungen – noch mit siebzig Jahren bin ich deswegen herumgeweibelt – nicht genügend
brauchbare Fälle auftreiben können. Sie waren einfach zu wenig genau dokumentiert
und vor allem fehlte eine Konkretisierung dessen, was von den Sozialarbeitenden in den
Gesprächen selber an die Klientinnen und Klienten herangetragen wurde. Das war ein rie-
siger Frust für mich. Als Ausrede hiess es immer: ‹Ich habe einfach keine Zeit dafür.› Aber
ich glaube, der wahre Grund lag darin, dass es den Leuten nicht genügend wichtig war.
Eine Zeitlang habe ich mich nach der Pensionierung noch mit Fachbeiträgen und Kursen
in aktuelle berufliche Diskussionen eingemischt. Unterdessen habe ich mich zurückge-
zogen, ich bin nun doch schon 78-jährig. Auch engagiere ich mich für ein ökumenisches
Frauenbildungszentrum in Tansania und organisiere vor allem Geldmittel sowie Computer,
die ich dann per Container nach Afrika transportieren lasse; das beansprucht viel Zeit
und Energie. Aber ich verfolge die Entwicklungen in der Sozialen Arbeit nach wie vor
aufmerksam.
Dass es mir trotz aller Anstrengungen offenbar nicht gelungen ist, zu meiner Zeit den
Leuten in der Praxis die Bedeutung der praktischen und theoretischen Handlungslehre zu
vermitteln, schmerzt mich. Aber ich sage mir: Vielleicht waren meine Mitstreiterinnen und
Ruth Brack   159

ich halt der Zeit voraus. Dass die Ausbildung in Sozialer Arbeit das Fachhochschulniveau
erreicht hat, dass man heute sogar einen Master in Sozialer Arbeit machen kann, stimmt
mich hoffnungsvoll. Aber nun müssen andere dafür sorgen, dass es in der richtigen Rich-
tung weitergeht. Ich finde, ich habe meinen Teil geleistet.»
Sie können auch lesen