Wie funktioniert eine Interessenabwägung?

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Wie funktioniert eine
                              Interessenabwägung?
Die sogenannte „Interessenabwägung“ ist immer dann erforderlich, wenn der Verantwortliche als Rechts-
grundlage einer Verarbeitung sein „berechtigtes Interesse“ gemäß Artikel 6 (1f) geltend macht. Das hier
vorliegende Dokument liefert einen objektiven Ansatz zur Durchführung einer Interessenabwägung.

Einleitung
Im Kern geht es um die Konsequenzen dieser Aussage gemäß Artikel 6 (1f) (stark gekürzt):

    Die Verarbeitung ist rechtmäßig, wenn die Verarbeitung zur Wahrung der berechtigten Interessen des
    Verantwortlichen erforderlich ist, sofern nicht die schutzwürdigen Interessen der betroffenen Person über-
    wiegen.

Aus diesem Satz folgert die Fachwelt einhellig, dass eine „Interessenabwägung“ durchgeführt werden muss.
Doch wird nirgendwo thematisiert, wie diese durchgeführt werden soll. Weder die Aufsichtsbehörden noch
die Fachliteratur noch die einschlägigen Gerichtsurteile helfen hier weiter. 1 Dieser Umstand ist eigentlich
unhaltbar.

An einem simplen Beispiel (Weitergabe von Mieterdaten an Handwerker) widersprechen sich zwei Aufsichts-
behörden, wobei keine der beiden Behörden ihre Auffassung konkret begründet.

Im Kern ist die Interessenabwägung eine Rechtsgüter-Abwägung. In der einen Waagschale haben wir das
Interesse des Verantwortlich; hierbei wird es sich in aller Regel um finanzielle Interessen handeln (also z.B.
in Form von Gewinnstreben). In der anderen Waagschale haben wir das Persönlichkeitsrecht der betroffenen
Personen (insbesondere die informationelle Selbstbestimmung). Ganz offensichtlich müssen hier „Äpfel mit
Birnen“ verglichen werden. Das ist schwierig.

Die Herleitung der Zusammenhänge ist sehr lang und erst ganz zum Schluss (also in sieben Seiten) werden
alle Details zusammengeführt. Bitte haben Sie Geduld…

In Sinne dieser rechtlichen Unsicherheit sei der Kommentar von Simitis zitiert, der in gewohnt klarer Weise
den Gesetzgeber anprangert:

    „Das BDSG entscheidet sich zwar für eine Interessenabwägung, lässt aber bei den Abwägungsmaßstä-
    ben jede Präzision vermissen. Schon die „berechtigten Interessen“ sind nur schwer zu definieren. Fast
    noch schwieriger ist es, die „schutzwürdigen Interessen“ einigermaßen verlässlich zu umschreiben. Der
    Gesetzgeber ist in Wirklichkeit jedem Versuch aus dem Weg gegangen, klare Anhaltspunkte zu formulie-
    ren, und hat sich stattdessen darauf beschränkt, eine bereits im BDSG 77 verwendete, letztlich nichtssa-
    gende Generalklausel zu wiederholen.“ [Quelle 19 in RdNr. 126 zu § 38 BDSG-alt]

1
 Einzig der „Beck’sche Online-Kommentar Datenschutz“ (Quelle 18) geht einigermaßen konkret auf die Interessenabwägung
ein, und ist insofern außerordentlich lesenswert.
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Eine Interessenabwägung ist übrigens eher die Ausnahme. In ca. 75% aller Fälle des Umgangs mit perso-
nenbezogenen Daten ist keine Interessenabwägung notwendig. Dies ist vereinfacht gesagt dann der Fall,
wenn der Umgang mit personenbezogenen Daten

        auf einer Einwilligung des Betroffenen basiert – Artikel 6 (1a),
        im Rahmen der Vertragserfüllung erforderlich ist – Artikel 6 (1b),
        zur Erfüllung rechtlicher Verpflichtungen erforderlich ist – Artikel 6 (1c),
        im Rahmen des Beschäftigungsverhältnisses erforderlich ist - § 26 BDSG

Die restlichen 25% der Fälle sind z.B. bei Videoüberwachungen und sonstigen eigenen geschäftlichen Zwe-
cken gegeben. Hier müssen die Interessen abgewogen werden. (Siehe Dossier „Interessenabwägung“.)

Im PrivazyPlan® wird die „Interessenabwägung“ bereits thematisiert:

        Kapitel 4.1.2j weist auf einige Details und Fallstricke der „berechtigten Interessen“ hin
        Kapitel 12.3.1 liefert ein kurzes Formular zu diesem Thema.

Objektivität ist gefordert
Für eine Interessenabwägung muss der Verantwortliche die Rechtsgüter objektiv gegenüberstellen. Dies
wird beispielsweise in dem Kommentar von Taeger/Gabel [14a, Rdnr. 61ff zu § 28 BDSG-alt] gut beschrie-
ben:

   „Weil ein Abwägungsmaßstab fehlt, darf die verantwortliche und hier zugleich abwägende Stelle nicht
   automatisch das eigene Interesse höher bewerten als das auch grundrechtlich geschützte Interesse der
   betroffenen Person.
   Vielmehr muss die abwägende Stelle aus der Perspektive eines unabhängigen, objektiven Dritten ent-
   scheiden, ob sie die gewünschte Datenerhebung oder -verwendung wie beabsichtigt vornimmt bzw. wie
   erfolgt fortsetzt, oder ob sie die Interessen der betroffenen Person als überwiegend einstuft.
   Die verantwortliche Stelle wird bei der Abwägung der Interessen den selbst verfolgten Verarbeitungs-
   zweck zum Maß des Eingriffs in die Persönlichkeitsrechte des Betroffenen (schutzwürdiges Interesse)
   oder in andere Interessen — wie das wirtschaftliche Interesse des Betroffenen — in Beziehung setzen,
   wobei auch die Art und Sensibilität der Daten eine Rolle spielen werden. Liegen nach dieser Abwägung
   prima vista [auf den ersten Blick] keine Anhaltspunkte dafür vor, dass schutzwürdige Interessen des Be-
   troffenen gegenüber den berechtigten Interessen der verantwortlichen Stelle überwiegen, ist die Verar-
   beitung und Nutzung zulässig.“

Das Alles klingt in der Theorie leichter, als es in der Praxis tatsächlich ist. Im Folgenden soll die Interessen-
abwägung etwas konkretisiert werden.

Zur Abwägung braucht man eine vergleichbare Klassifizierung
Eine Interessenabwägung kann man mit dem „Abwiegen“ von Gewichten vergleichen. Letztlich ist es ein
Messvorgang. Für die Interessenabwägung brauchen wir kein absolutes Maß (im Sinne des Kilogramm),
sondern eine relative Abwägung.

Nur wie misst man die schutzbedürftigen Interessen der Betroffenen? Einen Ansatzpunkt könnten die folgen-
den Kriterienkataloge liefern, weil hier die Sensibilität von Daten in verschiedene Klassen eingeteilt wird:

        Die betroffene Sphäre (Öffentlichkeits-, Sozial-, Privat-, Intim-, Geheim- Sphäre)
        Orientierung an Schutzklassen gemäß DIN 663399-1
        Schutzstufen der Landesdatenschutzbeauftragten (A-E)
        …

In der Praxis gibt es aber keinen zwingenden Zusammenhang zwischen dem objektiven Schutzbedarf und
dem subjektiven schutzbedürftigen Interesse. Dazu ein Beispiel: Die private Wohnadresse von Richtern
und Staatsanwälten ist ein Geheimnis. Hier ist der Kontext entscheidend, und eine simple Adress-Informa-
tion wird zu einem Staatsgeheimnis.
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Abgesehen davon helfen die oben beschriebenen Klassifizierungen nicht weiter, wenn es darum geht, die
berechtigten Interessen einer verantwortlichen Stelle zu „messen“. Ein Unternehmen hat nun mal keine In-
timsphäre.

Aufgrund der obigen Schwierigkeiten sei die folgende Klassifizierung von „berechtigten“ bzw. „schutzwür-
digen“ Interessen vorgeschlagen:

   1. Existentiell (20 Punkte)
      Wenn Interessen dieses Ausmaßes vorliegen, dann geht es um alles. Bei Unternehmen droht die
      akute unvermeidliche Pleite. Bei Personen geht es um Leib & Leben, wie z.B. das Vorliegen einer
      HIV-Infektion, die geheim gehalten werden muss. Für die Abwägung gilt: Interessen dieses Schwe-
      regrades erhalten 20 Punkte.
   2. Substantiell (10 Punkte)
      Hier geht es wortwörtlich um die Substanz. Bei Unternehmen droht ein ganzes Geschäftsmodell zu
      kippen und ein Großteil der Beschäftigten müsste entlassen werden. Bei Personen geht es beispiels-
      weise um den Arbeitsplatz, die Wohnung und die Gesundheit.
   3. Wichtig (5 Punkte)
      Diese Interessen sind wichtig. Bei Unternehmen geht es z.B. um wesentliche Fragen der Effizienz
      und Kosteneinsparung bzw. Neukundengewinnung, um einzelne Entlassungen vermeiden zu kön-
      nen, bzw. um wichtiges Wachstum zu ermöglichen. Bei Personen geht es z.B. um die Privatsphäre,
      damit Kollegen oder Internetnutzer nicht unangemessene Dinge erfahren.
   4. Nützlich (2 Punkte)
      Diese Interessen sind immerhin noch nennenswert. Bei Unternehmen wäre dies z.B. Werbung, die
      noch das letzte Quäntchen herausholt, oder Komfortfunktionen wie ein konzernübergreifendes Tele-
      fonbuch. Bei Personen wären dies bspw. der Wunsch nach Transparenz der Datenverarbeitung.
   5. “Nice to have” (1 Punkt)
      Für diese englische Redewendung gibt es leider keine angemessene deutsche Übersetzung. Hier
      finden sich alle Interessen, die reiner Luxus sind.

Dieser obige Kriterienkatalog hat also den Nutzen, dass er eine gemeinsame Skala für die Interessen von
Unternehmen und Betroffenen bietet. Eine Abwägung wird somit möglich. Die folgenden Kapitel werden
dies konkretisieren.

Gewichtung für betriebliche Interessen
Wir beginnen mit den „berechtigten Interessen“ der verantwortlichen Stelle, weil diese recht objektiv zu klas-
sifizieren sind. (Bei den betroffenen Personen wird es schon wesentlich subjektiver.)

Was ist überhaupt ein „berechtigtes Interesse“? Die DS-GVO äußert sich dazu kaum, und auch die Kommen-
tare tun sich damit schwer und gehen meist überhaupt nicht darauf ein. Das folgende Zitat zeigt, auf welcher
abstrakten Ebene hier gedacht wird:

       „Berechtigtes Interesse ist jedes von der Rechtsordnung nicht missbilligte Interesse, sei es ideeller
       oder wirtschaftlicher Natur. In der [Werbe-] Praxis sind insbesondere die wirtschaftlichen Interessen
       in all ihren Ausprägungen (z.B. Kundengewinnung durch Werbung […]) von Bedeutung.“ [Quelle: 9a
       in RdNr. 231 zu § 28 BDSG-alt]

Insofern muss sich der Verantwortliche erst einmal über seine Interessen klar werden. Einen interessanten
Einblick liefert das Dossier „Berechtigte Interessen des Verantwortlichen“.

Was sind die betrieblichen Ziele?
Es gibt grundlegend verschiedene betriebliche Ziele und somit auch sehr verschiedene Interessenlagen:

       Ein klassisches Unternehmen strebt letztlich die Gewinnmaximierung an. Dieses Ziel kann z.B. mittels
       Rentabilität, Umsatzwachstum, Vergrößerung des Marktanteils und Qualitätsverbesserung erreicht

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werden. (Es mag auch Unternehmen geben, die das gute Miteinander der Beschäftigten als Ziel hat,
       aber das muss schon gut belegbar sein, und kann nicht einfach nur so vorgeschoben werden.)
       Bei Non-Profit-Organisationen stehen die gemeinnützigen sozialen, kulturellen oder wissenschaftli-
       chen Ziele im Vordergrund. Hier geht es vor allem um das Miteinander und Füreinander. Insbeson-
       dere der eher „lockere“ Umgang mit Adressdaten ist hier wichtig.
       Bei öffentlichen Stellen stehen der Dienst am Bürger und die Interessen von Bund, Ländern und
       Gemeinden im Vordergrund. Dies mag auch für Unternehmen gelten, die zu 49% in öffentlicher Hand
       sind; hier mag das Gewinnstreben etwas hintenanstehen.

Im Übrigen wird auch immer wieder der Erwägungsgrund 47 zitiert, der besagt: „Die Verarbeitung perso-
nenbezogener Daten zum Zwecke der Direktwerbung kann als eine einem berechtigten Interesse dienende
Verarbeitung betrachtet werden“. In diesen Satz wird viel hineininterpretiert… doch letztlich besagt er rein
gar nichts (weil er keine Interessenabwägung beinhaltet).

Fazit: Die berechtigten Interessen müssen an der Zielrichtung der verantwortlichen Stelle gemessen werden.
(In den folgenden Ausführungen wird der Einfachheit halber nur der Fall des „klassischen Unternehmens“
berücksichtigt.)

Zuordnung der betrieblichen Interessen zu der Klassifizierung
Die folgenden Beispiele zeigen auf, wie sich die berechtigten Interessen eines „klassischen“ (also gewinn-
strebenden) Unternehmens klassifizieren lassen:

1. „Existenzielle“ Interessen des Unternehmens (20 Punkte)
   Hier besteht eine existenzielle Notwendigkeit. Beispielsweise soll ein Unternehmen den Besitzer wech-
   seln. Der Interessent will Details zu den Mitarbeitern und den Kunden wissen. Dies will er im Rahmen
   einer sorgsamen Prüfung (due-dilligence) herausfinden. Ohne solch eine Prüfung ist manch ein Unter-
   nehmensverkauf nicht möglich. Das Unternehmen würde liquidiert und alle Mitarbeiter entlassen. Daher
   besteht ein massives Interesse an der Übermittlung dieser Daten.

2. „Substanzielle“ Interessen des Unternehmens (10 Punkte)
   Ein Unternehmen hat beispielsweise zwei essenzielle Geschäftsmodelle (also Produkte oder Dienstleis-
   tungen), wobei eines der Interessenabwägung unterliegt. Würde dies den schutzwürdigen Interessen
   der Betroffenen untergeordnet werden, so müsste sich das Unternehmen drastisch verkleinern. Zahlrei-
   che Entlassungen wären die Folge. Dementsprechend hoch ist das Interesse an der Fortführung des
   Geschäftsmodells.

3. „Wichtige“ Interessen des Unternehmens (5 Punkte)
   Die Auslagerung der steuerlichen Betreuung und der Lohnabrechnung ist ein nachvollziehbares Anlie-
   gen, wenn man sich die komplizierte Steuergesetzgebung anschaut. Einen eigenen Steuerberater (mit-
   samt Krankheitsvertretung) können sich die meisten Unternehmen nicht leisten. Daher wird man die Da-
   ten an den Steuerberater übermitteln wollen. Würde man darauf verzichten, so würden die Kosten das
   Unternehmen sehr stark abbremsen und andere wichtige Investitionen verhindern. Das Unternehmen hat
   ein wirklich nennenswertes Interesse an einem externen Steuerberater.

4. „Nützliche“ Interessen des Unternehmens (2 Punkte)
   Das Unternehmen hätte durch die Datenverarbeitung eine erhebliche Steigerung der Effizienz. Beispiels-
   weise hilft ein konzernweites Telefonverzeichnis dabei, die verschiedenen Abteilungen zu vernetzen. An-
   dernfalls müssten sich die Mitarbeiter jeweils die Telefonzentrale der Konzerntöchter anrufen und sich
   mit den Abteilungen verbinden lassen.

5. „nice to have“ Interessen des Unternehmens (1 Punkt)
   Hier geht es um Kleinigkeiten, die den Interessenten oder Bestandskunden zugutekommen. Dies kann
   beispielsweise irgendeine (eigentlich unerhebliche) Komfortfunktion im Rahmen der Internetpräsenz sein
   (beispielsweise das Durchsuchen der Kontaktliste des Besuchers). Davon profitiert das Unternehmen
   wegen der zufriedenen Webseitenbesucher.

Die Beispiele zeigen, dass die hier vorgeschlagene Klassifizierung für die Unternehmensinteressen durch-
aus praktikabel ist.

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Gewichtung für die schutzwürdigen Interessen der Betroffenen
Auch die schutzwürdigen Interessen der betroffenen Personen müssen klassifiziert werden. Die Gewichtung
von Persönlichkeitsrechten ist aber sehr kompliziert. Das oben schon aufgeführte Beispiel der privaten Woh-
nadressen von Richtern und Staatsanwälten hatte das bereits gezeigt.

Was sind schutzwürdige Interessen?
Auf den ersten Blick ergeben sich die schutzwürdigen Interessen aus der „informationellen Selbstbestim-
mung“, welche seit 1983 als verfassungsmäßig garantiertes Recht gilt. Dies ist aber ein sehr abstraktes
Recht, welches sich kaum klassifizieren lässt.

Konkreter wird es schon bei den Rechten, die durch Gesetze und Verordnungen garantiert werden.

        Allem voran liefert die DS-GVO den betroffenen Personen eine Vielzahl an Rechten. Eine interessante
        Liste liefert das Dossier „Berechtigte Interessen der betroffenen Personen“. Aber es gibt selbstre-
        dend noch viele andere Rechte.
        Viele andere Gesetze geben den Betroffenen Rechte, die geachtet werden müssen. Beispielsweise
        sichert der § 203 StGB die Achtung des Privatgeheimnisses zu. Auch das TKG räumt den betroffenen
        Personen gewisse Rechte ein, sofern es um die Nutzung des Internets etc. geht.
        Auch die verfassungsmäßig garantierte Meinungsfreiheit ist ein Grundrecht, wie das OLG Stuttgart
        urteilte (11.04.2013, 2 U 111/12). Demnach ist eine „AGG-Hopper“-Warndatei eine Sammlung von
        Meinungsäußerungen, die man nur schwer verbieten kann. 2

Fazit: In den Gesetzen befinden sich viele dutzend schutzwürdige Interessen. Manche werden sich direkt
dem Wortlaut entnehmen lassen, andere wird man indirekt ableiten können. Ein konkret fassbarer Rechte-
Katalog wird aber weder seitens der Gesetze noch seitens Kommentatoren oder Aufsichtsbehörden zu-
sammengestellt. All dies muss sich der Verantwortliche selbst erarbeiten.

Es geht in der Regel um den „typischen“ Betroffenen
Wenn es um die betroffenen Personen geht, dann stellt sich die Frage, inwieweit sich die verantwortliche
Stelle in die Einzelinteressen dieser Menschen hineinversetzen muss. Der Sammelbegriff der „Betroffenen“
umfasst ja das ganze Spektrum vom „internetbegeisterten Jugendlichen“ bis zum „paranoiden Bürgerrecht-
ler“.

Der Beck’scher Onlinekommentar führt aus, dass die verantwortliche Stelle nicht jedes denkbare Einzelinte-
resse berücksichtigen muss (siehe dort in RdNr. 16 zu § 10 BDSG-alt).

        Anzulegen ist eine auf den Betroffenen abstellende objektivierte Betrachtungsweise. Der Verarbeiter
        ist dadurch davon entbunden, die individuelle Interessenlage des Einzelnen vorab zu erkunden. […]
        Im Ergebnis hat der Verarbeiter also den Normalfall zu berücksichtigen, daneben nur den erkennba-
        ren Sonderfall.

Das ist durchaus praxisgerecht, denn es ist immer ein Extremfall denkbar, wo ausnahmsweise ein einzelner
Betroffene ganz besonders beeinträchtigt wird. Im Ergebnis muss also der „typische“ Betroffene berücksich-
tigt werden (siehe auch in Simitis in RdNr. 69 zu § 10 BDSG-alt).

Zuordnung der schutzwürdigen Interessen zu der Klassifizierung
Die folgenden Beispiele zeigen auf, wie sich die schutzwürdigen Interessen der Betroffenen klassifizieren
lassen:

    1. „Existenzielle“ Interessen des Betroffenen (20 Punkte)
       Hier besteht eine existenzielle Notwendigkeit. So hat beispielsweise die Tatsache einer HIV-Infektion

2
 Das Urteil ist sehr interessant zu lesen. Weil der Nachweis des „AGG-Hoppings“ dem Gericht nach „einer Beweisaufnahme
nicht zugänglich“ sei, ist eine dementsprechende Behauptung eine Meinungsäußerung. In RdNr. 91, 111 wird festgestellt, dass
eine Interessenabwägung kaum mehr notwendig ist, weil das Grundrecht auf Meinungsfreiheit so stark ist.
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einen großen Einfluss auf das Leben eines Menschen. Dementsprechend hoch ist das Interesse des
       Betroffenen an einem sorgsamen Umgang. Datenschutzrechtlich gesprochen wäre das Interesse an
       einer wirksamen „Zugriffskontrolle“ und „Weitergabekontrolle“ sehr hoch.
       - Im Problemfall würde ein Betroffener bei der Aufsichtsbehörde sofort eine Beschwerde einreichen,
       und ein Bußgeld und ggf. Schadenersatz für richtig halten.
       - Hier würde man vermutlich die „Geheimsphäre“ ansiedeln.
       - Hinsichtlich der DIN 66399-1 wäre die Schutzklasse 3 betroffen.
       - Die Schutzstufe „E“ der Landesdatenschutzbeauftragten fände Anwendung.
       Betroffen sind die „lebenswichtigen Interessen“ gemäß Art. 6 Abs. 1d DS-GVO).

   2. „Substanzielle“ Interessen des Betroffenen (10 Punkte)
      Hier sind substanzielle Teile eines Lebens betroffen. Dazu gehört der Arbeitsplatz genauso wie die
      Wohnung. Sollte ein unsachgemäßer Umgang mit personenbezogenen Daten diese Lebensbereiche
      gefährden, so hat der Betroffene ein erhöhtes Schutzinteresse.
      - In diesem Bereich dürften sich auch die „besonders schützenswerten Daten“ des Artikel 9 zählen.
      - Im Problemfall würde sich ein Betroffener sofort beim Unternehmen deutlich beschweren, und eine
      Abhilfe verlangen.
      - Hier würde man vermutlich die „Intimsphäre“ ansiedeln.
      - Hinsichtlich der DIN 66399-1 wären die Schutzklassen 2-3 betroffen.
      - Die Schutzstufe „D“ der Landesdatenschutzbeauftragten fände Anwendung.

   3. „Wichtige“ Interessen des Betroffenen (5 Punkte)
      Wichtig könnte beispielsweise das Recht auf unbeobachteten Aufenthalt in öffentlich zugänglichen
      Bereichen sein.
      - Im Problemfall würden sich die meisten Betroffenen belästigt fühlen und sich an der Grenze zur
      Beschwerde bewegen. Vermutlich würden die Betroffenen die Situation meiden.
      - Hier würde man vermutlich die „Privatsphäre“ ansiedeln.
      - Hinsichtlich der DIN 66399-1 wäre die Schutzklasse 2 betroffen.
      - Die Schutzstufe „C“ der Landesdatenschutzbeauftragten fände Anwendung.

   4. „Nützliche“ Interessen des Betroffenen (2 Punkte)
      Hier beginnen die ersten zarten Schutzinteressen. Es handelt sich eher um Details, die aber dem
      einen oder anderen schon wichtig sind (wie z.B. das Geburtsjahr in der Geburtstagsliste der eigenen
      Abteilung).
      - Im Problemfall würde ein Betroffener sich insgeheim ärgern, dies wäre aber schnell wieder verges-
      sen.
      - Hier würde man vermutlich die „Sozialsphäre/Individualsphäre“ ansiedeln.
      - Hinsichtlich der DIN 66399-1 wären die Schutzklassen 1-2 betroffen.
      - Die Schutzstufe „B“ der Landesdatenschutzbeauftragten fände Anwendung.

   5. „nice to have“ Interessen des Betroffenen (1 Punkt)
      Hier geht es um Daten, die sowieso schon (fast) öffentlich sind und somit seitens des Betroffenen
      keine gesteigerten Interessen vorliegen.
      - Ein Problemfall wäre in der Regel nicht zu erwarten.
      - Hier würde man vermutlich die „Öffentlichkeitssphäre“ ansiedeln.
      - Hinsichtlich der DIN 66399-1 wäre die Schutzklasse 1 betroffen.
      - Die Schutzstufe „A“ der Landesdatenschutzbeauftragten fände Anwendung.

Die Beispiele zeigen, dass die hier vorgeschlagene Klassifizierung für die Betroffenenrechte durchaus
praktikabel ist.

Zusätzliche Randkriterien für die Gewichtung der schützenswerten Interessen
Beim Studium verschiedenster Quellen finden sich zusätzliche Aspekte, die einen Einfluss auf die Interes-
senabwägung haben können. Dadurch fällt die Interessenabwägung nicht gerade leichter. Beispiele hierfür
sind:

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Bei Kindern und Jugendlichen besteht wohl generell ein erhöhtes schutzwürdiges Interesse. Dem-
       entsprechend würde die Punktzahl möglicherweise um den Faktor 1,5 erhöht.
       Je höher die Anzahl der Empfänger die Daten erhalten, desto höher ist das schutzwürdige Interesse.
       Die Publikation im Internet ist so gesehen ein besonders starker Eingriff. Die Punktezahl kann sich
       durchaus um den Faktor 1,25 bis 2,0 erhöhen. [Siehe Beck’scher Onlinekommentar in RdNr. 13 zu
       § 10 BDSG-alt]
       Eine stichprobenhafte bzw. anlassbezogene Datenerhebung greifen weniger in die Grundrechte ein
       als eine flächendeckende bzw. anlasslose Erhebungen (siehe BAG-Urteil zu Taschenkontrollen).
       Eine heimliche Datenerhebung greift mehr in die Grundrechte ein als eine Direkterhebung beim Be-
       troffenen.

Liegen mehrere Interessen vor, so werden sie aufaddiert
Wie wird man es beurteilen, wenn seitens des Unternehmens bzw. des Betroffenen gleichzeitig mehrere
Interessen vorliegen? Soll man die jeweiligen Punkte addieren? Oder zählt nur die Punktzahl des höchsten
Interesses? Konkreter ausgedrückt: Sind zwei substanzielle Interessen des Einen schwerwiegender als ein
existenzielles Interesse eines Anderen? Das ist schwer zu beantworten. Eine (mögliche) Antwort findet sich
in einem einzigen BDSG-Kommentar:

       „Kann der Betroffene mehrere Belange geltend machen, die einer Datenverarbeitung entgegenste-
       hen, bildet die Summe dieser Belange das schutzwürdige Interesse.“ [18 in RdNr. 65 zu § 28 BDSG-
       alt]

Fazit: Für das Unternehmen und für die Betroffenen sollten alle relevanten Interessen berücksichtigt werden.
Hinsichtlich der oben vorgeschlagenen Kategorisierung wird man die jeweiligen Punktzahlen addieren.

Konkrete Durchführung der Interessenabwägung
Da nun alle Grundbegriffe und Kriterien genannt sind, kann die eigentliche Interessenabwägung erfolgen.
Die konkrete Vorgehensweise sieht wie folgt aus:

       „Die Interessenabwägung verlangt einen Dreischritt. Erstens sind die Interessen der verarbeitenden
       Stelle festzustellen und zu gewichten, zweitens die des Betroffenen und schließlich drittens sind
       beide Zwischenergebnisse einander gegenüberzustellen und zu prüfen, welche Seite mehr Gewicht
       besitzt […] Die Abwägung ist für jede Art der Datenverarbeitung getrennt zu prüfen. So kann eine
       Abwägung ergeben, dass etwa eine Speicherung und Nutzung gerechtfertigt ist, nicht aber eine
       Übermittlung. Die Abwägung ist von den Gerichten in vollem Umfang nachprüfbar.“ [18 in RdNr. 66
       zu § 28 BDSG-alt]

In diesem Sinne kann die Interessenabwägung durch die folgenden vier Schritte erfolgen:

Schritt 1: Welcher Art des „Umgangs mit personenbezogenen Daten wird geprüft? Ist es - im Sinne des
Artikel 4 (2) - das Erheben, Verarbeiten (Speichern, Verändern, Übermitteln, Sperren und Löschen) oder eine
sonstige Art der Nutzung? Es muss genau geprüft werden, ob der zu prüfende Umgang jeweils der Interes-
senabwägung unterliegt.

Schritt 2: Die berechtigten Interessen des Verantwortlichen werden einzeln dokumentiert und mit Punkten
versehen. Hieraus ist die Summe zu bilden.

Schritt 3: Die schutzwürdigen Interessen der betroffenen Personen werden einzeln dokumentiert und mit
Punkten versehen. Hierbei sind die weiter oben beschriebenen Randparameter (Kinder/Jugendliche, Anzahl
von Daten-Empfängern, Widerstand) zu berücksichtigen und die Interessen dementsprechend anders zu
werten. Danach ist die Summe zu bilden.

Schritt 4: Die Punkte-Summen werden verglichen. Die höhere Punktzahl gewinnt. Im Falle eines Gleichstands
bedarf es einen Blick in die DS-GVO, um zu sehen, wessen Interessen überwiegen müssen.

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Sollte sich im Rahmen dieser Interessenabwägung herausstellen, dass z.B. schon die reine „Erhebung“ von
Daten an den schutzwürdigen Interessen der Betroffenen scheitert, so muss die ggf. nachfolgende Verar-
beitung oder Nutzung gar nicht mehr geprüft werden.

Fazit
Mit Hilfe der hier beschriebenen Klassifizierung ist eine objektive Interessenabwägung denkbar. Zwar ist es
ungewöhnlich, dass im Datenschutz mit einem Punktesystem gearbeitet wird, aber auf anderem Wege ist
eine Lösung derzeit nicht denkbar.

Im Kapitel 12.3.1 des PrivazyPlan® findet sich ein kurzes Formular zu diesem Thema.

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