WIRvom 1921 Jahrgang Kindheit und Jugend - Wartberg Verlag

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WIRvom 1921 Jahrgang Kindheit und Jugend - Wartberg Verlag
Liese-Lotte Ressing
   Christina Jahnke

     WIR
      Jahrgang
                    vom

          1921
   Kindheit und Jugend

N
W Wartberg Verlag
WIRvom 1921 Jahrgang Kindheit und Jugend - Wartberg Verlag
Liese-Lotte Ressing
Christina Jahnke

 WIRJahrgang
                vom

      1921
Kindheit und Jugend

         Wartberg Verlag
WIRvom 1921 Jahrgang Kindheit und Jugend - Wartberg Verlag
Impressum
Bildnachweis:
Privatarchiv Ressing: S. 5, 6 l., 8 o., 11, 26, 30 o./u., 31 u., 35 u., 36 o./M., 45, 46, 49 u., 57, 60, 62 o.; Pri-
vatarchiv Schulte-Dony: S.4, 12 o., 18, 19, 21, 35 o., 36 u., 42 o./u., 47, 59 o., 61, 63 u.; Privatarchiv Faure:
S. 8 u., 49 o., 55 r., 63 o.; Privatarchiv Blecher: S. 9, 14 o./u., 28, 29, 31 o.; Privatarchiv Langenbahn: S. 13 l.,
25, 62 u.; Privatarchiv Siegmund: S. 13 r.; Privatarchiv Pohl: S. 41;
ullstein bild – Horst Prange: S. 6 r.; ullstein bild – AKG Wittenstein: S. 7; ullstein bild: S. 10, 22, 23 u., 44, 59
u.; ullstein bild – Zangl: S. 12 u.; ullstein bild – SZ Photo: S. 16; ullstein bild – AKG Pressebild: S. 23 o.; ullstein
bild – Schnellbacher: S. 24; ullstein bild – bpk/Salomon: S. 27; ullstein bild – Erich Engel: S. 34; ullstein bild –
Imagebroker.net: S. 37; ullstein bild – Hoffmann: S. 38; ullstein bild – Archiv Gerstenberg: S. 50; ullstein bild –
Wolff & Tritschler: S. 52; ullstein bild – SV-Bilderdienst: S. 54; ullstein bild – UMBO: S. 55 l.; ullstein bild –
Schäche: S. 56;
picture-alliance/akg-images: S. 20; picture-alliance/ picture-alliance: S. 32; picture-alliance/Imagno/Austrian
Archives (S): S. 33

Wir danken allen Lizenzträgern für die freundliche Abdruckgenehmigung.
In Fällen, in denen es nicht gelang, Rechtsinhaber an Abbildungen zu ermitteln,
bleiben Honoraransprüche gewahrt.

3. Auflage 2016
Alle Rechte vorbehalten, auch die des auszugsweisen
Nachdrucks und der fotomechanischen Wiedergabe.
Gestaltung und Satz: Ravenstein und Partner, Verden
Druck: Druck- und Verlagshaus Thiele & Schwarz GmbH, Kassel
Buchbinderische Verarbeitung: Buchbinderei Büge, Celle
© Wartberg Verlag GmbH & Co. KG
34281 Gudensberg-Gleichen • Im Wiesental 1
Telefon: 0 56 03/9 30 50 • www.wartberg-verlag.de
ISBN: 978-3-8313-1721-9
WIRvom 1921 Jahrgang Kindheit und Jugend - Wartberg Verlag
VOR
Liebe 21er!
WORT
Es war eine Zeit voller Ungewissheit und
Zukunftssorgen, in die wir Kinder des
Jahrgangs 1921 hineingeboren wurden.
   Unsere Eltern hatten den Ersten Welt-
                                            ße Not, auf der anderen die schillernden
                                            Erfolge der sogenannten Goldenen Zwan-
                                            ziger, die in der Hauptsache fernab von
                                            unseren Heimatstädten und -dörfern in
krieg zwar überstanden, aber Verzweif-      der Metropole Berlin eine Rolle spielten.
lung, Armut und Hunger waren noch              Politisch nicht erzogen und noch uner-
überall präsent. Wir Kinder hatten keine    fahren wurden wir 1933 von einer faschis-
anderen Lebensumstände kennen gelernt       tischen Diktatur überrumpelt, ohne zu
und wuchsen deshalb mit den Wirrnissen      wissen, was uns tatsächlich bevorstand.
der Zeit wie selbstverständlich auf.        Viel zu beschäftigt war jeder von uns mit
   Ob nun mit preußischem Drill oder NS-    Alltäglichkeiten, Schule und Ausbildung.
Zucht: Unsere Eltern erzogen uns vor           Machen Sie sich auf den nächsten Sei-
allem zu Pflichtbewusstsein und Beschei-    ten mit auf eine Reise in unsere Kindheit
denheit. Viele Zwänge begleiteten unse-     und Jugend, lesen Sie in kleinen Geschich-
re Kindheit und Jugend und wir genossen     ten vom Alltag der 20er- und 30er-Jahre,
deshalb alle kleinen Freuden, wie Kino-     von den Freuden und Sorgen, die uns auf
besuche, Ausflüge und Geburtstagsfeiern     dem Weg zum Erwachsensein begleiteten.
ganz besonders.
   Voller Gegensätze war die Zeit, in der
wir aufwuchsen – auf der einen Seite gro-
                                                                          Liese-Lotte Ressing
WIRvom 1921 Jahrgang Kindheit und Jugend - Wartberg Verlag
1921
Zwischen
Zukunftssorgen und

 1923
geschäftigem Alltag
 Das 1. bis 3. Lebensjahr

       Unsere Taufe und
       die unserer Geschwister
                                 Privates Glück und
                                 gesellschaftliche Sorgen
       fand meist bei uns zu
       Hause statt.              Mit großer Vorfreude erwarteten Mutter
                                 und Vater uns Kinder des Jahrgangs 1921.
                                    Unser Gitterbettchen mit dem Steck-
                                 kissen stand im Elternschlafzimmer bereit,
                                 fleißig und liebevoll hatten Mütter, Tan-
                                 ten und Großmütter schon Wochen vor
                                 unserer Geburt Decken und Mützen
                                 gestrickt, damit wir nicht frieren mussten.
                                    Wenn Mutter das Signal gab, ging Vater
                                 zur Hebamme, die zu uns nach Hause
                                 kam, um bei der Geburt zu helfen. Mit
                                 kleinen Anzeigen in der Zeitung und Kar-
                                 ten, die man per Post verschickte, ver-
                                 kündeten die jungen Eltern stolz, dass ihr
                                 Nachwuchs gesund und munter auf die
                                 Welt gekommen war.
WIRvom 1921 Jahrgang Kindheit und Jugend - Wartberg Verlag
1. bis 3. LEBENSjahr
Chronik
4. Januar 1921
Der Linienflugverkehr zwischen Berlin und Mün-
chen wird durch die Deutsche Luft-Reederei
(DLR) eröffnet.

8. März 1921
Franzosen und Belgier besetzen Düsseldorf und
Duisburg und sichern sich die beiden Städte als
Pfand für Reparationszahlungen.

20. März 1921
Der Völkerbund beschließt die Teilung Ober-
schlesiens. Obwohl bei einer Volksabstimmung
60 Prozent der Oberschlesier für den Verbleib
im Deutschen Reich votieren, fällt das reiche
Industrierevier an Polen.

29. Juli 1921
Hitler wird zum Parteivorsitzenden der NSDAP
gewählt.
                                                        75 Pfennig kostete eine Zeitung
31. März 1922                                           im Jahr unserer Geburt.
Der Physiker Albert Einstein hält Vorlesungen
über seine Relativitätstheorie am Collège de
France in Paris.

3. April 1922                                        Zur Taufe kam der Pfarrer meist direkt
Josef W. Stalin wird auf Vorschlag Lenins zum     ins Haus, um uns Neugeborenen Gottes
neuen Generalsekretär des Zentralkomitees der     Segen zu spenden für das Leben, das jetzt
Kommunistischen Partei Russlands gewählt.
                                                  vor uns lag. Zwei Paten stellten uns die
30. Dezember 1922                                 Eltern zur Seite. Die versicherten, dass sie
Gründung der Sowjetunion.                         die Rolle des geistigen Vormundes über-
                                                  nehmen wollten, falls unsere Eltern dazu
17. Februar 1923
Howard Carter öffnet die Grabkammer des           nicht in der Lage sein sollten.
Pharaos Tutanchamun im ägyptischen Tal der           In aller Freude über unsere Ankunft
Könige.                                           mischten sich immer wieder Ungewissheit
                                                  und Zukunftsangst, denn die Folgen der
13. August 1923
Gustav Stresemann wird neuer Reichskanzler.
                                                  Niederlage des Ersten Weltkriegs waren
                                                  allzu deutlich spürbar und das Jahr 1921
29. Oktober 1923                                  kein Jahr des Aufschwungs und der
Offizieller Start des deutschen Radios.           Bewältigung grundlegender Konflikte.
11. November 1923                                    Die Alliierten verlangten Reparationen,
NSDAP und KPD werden verboten.                    die einen wirtschaftlichen Ruin immer näher

                                                                                            5
WIRvom 1921 Jahrgang Kindheit und Jugend - Wartberg Verlag
Prominente 21er

Die Zeitungen warben 1921 für Produkte,           Regisseur, Schauspieler und Schriftsteller
die es auch heute noch gibt.                      Peter Ustinov ist ebenfalls ein prominenter
                                                  Vertreter des Jahrgangs 1921.

rücken ließen und besetzten unter ande-           5. Jan. Friedrich Dürrenmatt,
rem die Städte Düsseldorf und Duisburg,                   Schweizer Schriftsteller,
um ihren Forderungen den entsprechen-                     Dramatiker und Maler († 1990)
den Nachdruck zu verleihen. Um das Geld
                                                 21. Feb. Zdenek Miler,
zur Wiedergutmachung aufbringen zu kön-
                                                          tschechischer Zeichentrickfilmer,
nen, bediente sich die Reichsregierung
                                                          Erfinder des „Kleinen Maulwurfs“
immer häufiger der Notenpresse und die
Inflation schritt unaufhaltsam fort. Die teils   24. März Wassili Wassiljewitsch Smyslow,
immer noch knappen Lebensmittel wurden                    russischer Schach-Großmeister
durch die Geldentwertung zusehends teu-
                                                 27. April Hans-Joachim Kulenkampff,
rer und obwohl unsere Eltern in Zeiten der                 deutscher Schauspieler und
Inflation oft Millionäre waren, reichte das                Moderator († 1998)
Geld meist vorn und hinten nicht.
  Von all diesen politischen Umständen,           6. Mai Erich Fried,
dem gesellschaftlichen Druck und den ganz                österreichischer Lyriker, Essayist
                                                         und Übersetzer († 1988)
persönlichen Sorgen unserer Familien beka-
men wir Säuglinge des Jahrgangs 1921              9. Mai Sophie Scholl,
nichts mit. Uns interessierte, ob wir satt               deutsche Widerstandskämpferin
waren, trocken lagen und es warm hatten                  im Dritten Reich († 1943)
und dafür sorgten unsere Eltern gut.

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WIRvom 1921 Jahrgang Kindheit und Jugend - Wartberg Verlag
1. bis 3. LEBENSjahr
11. Mai Hildegard Hamm-Brücher,                19. Juli   Rosalyn Sussman Yalow,
        deutsche Politikerin                              US-amerikanische Physikerin
                                                          und Nobelpreisträgerin
12. Mai Joseph Beuys,
        deutscher Künstler († 1986)            25. Juli   Paul Watzlawick,
                                                          österreichischer Psychotherapeut
20. Mai Wolfgang Borchert,                                und Autor († 2007)
        deutscher Schriftsteller († 1947)
                                               13. Okt. Yves Montand,
28. Mai Heinz Günther Konsalik,
                                                        französischer Schauspieler und
        deutscher Schriftsteller († 1999)
                                                        Chansonnier († 1991)
16. April Peter Ustinov,                        1. Nov. Harald Quandt,
          Regisseur, Schauspieler und                   deutscher Industrieller († 1967)
          Schriftsteller († 2004)
                                               19. Nov. Max Kruse,
10. Juni Philip Mountbatten,                            deutscher Kinderbuchautor
         Duke of Edinburgh, Ehemann
         der brit. Königin Elizabeth II.       15. Dez. Evelyn Künneke,
                                                        deutsche Sängerin, Tänzerin
 6. Juli   Nancy Reagan,                                und Schauspielerin († 2001)
           Witwe von Ronald Reagan,
           40. Präsident der USA

   Sophie Scholl, Mitglied der Widerstandsbewegung „Die weiße Rose“, wurde 1921 geboren.

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WIRvom 1921 Jahrgang Kindheit und Jugend - Wartberg Verlag
fen, einen bestimmten Wohnstil gab es
                                             nicht. Wenn in der Familie sonst nichts vor-
                                             handen war, nahm man dankbar, was sich
                                             aus Ererbtem bot und was bei Auktionen
                                             und Wohnungsauflösungen zu bekom-
                                             men war. Das konnte am Ende manchmal
                                             ein ganz schönes Sammelsurium ergeben.
                                             Um das zu begreifen, waren wir allerdings
                                             noch zu klein. Wir waren glücklich, wenn
                                             wir mit unseren Bauklötzen, mit unseren
                                             Eisenbahnen und Brummkreiseln und mit
                                             unserem ersten Püppchen, das meist aus
                                             Gummi oder Flicken bestand, auf dem
                                             Teppich und im Laufstall in der Wohnstu-
                                             be spielen konnten.
                                               Einen eingebauten Spülstein gab es in
                                             der Küche, ein Kohle- oder Gasherd sorg-
                                             te für die nötige Wärme im Winter. Hei-
                                             zungen waren in den Nachkriegsjahren
                                             ganz selten. Regelmäßig kam der Koh-
Unsere erste Puppe war meist aus Gummi und   lenmann, der seine Fracht direkt aus dem
trug ein selbst gehäkeltes Kleid.            Wagen mit lautem Gepolter über ein

                                                                         Wie eine große
                                                                         Nussschale sah unser
Unser Heim ist                                                           Kinderwagen aus.
unsere Welt

In Strampelhosen ent-
deckten wir erst krab-
belnd und dann lau-
fend unser Heim: Tante
Gretes altes Sofa, Groß-
mutters hölzernen Tisch, dazu
ein paar Stühle von Onkel Fritz.
Unsere Eltern konnten 1921 aus
Mangel an zur Verfügung ste-
henden Waren und finanziellen
Mitteln keine neuen Möbel kau-

8
WIRvom 1921 Jahrgang Kindheit und Jugend - Wartberg Verlag
1. bis 3. LEBENSjahr
Schüttbrett in den Keller prasseln ließ. Von   der restlichen Kleidung war es ähnlich
dort mussten die Kohlen dann hinauf in         wie mit den Möbeln, wir Säuglinge und
die Wohnung getragen werden.                   Kleinkinder des Jahrgangs 1921 trugen
  Hatten unsere Familien ein Badezimmer,       meist geerbte Kleidungsstücke, das Woll-
dann fand im Laufe der 20er-Jahre eine         jäckchen von Cousine Berta, die Hosen
Badewanne auf Füßen ihren Platz darin.         von Vetter Hans, die Söckchen unserer
Das Wasser wurde erst mit Kohlen               Geschwister.
beheizt, später wärmte dann ein Vaillant         Außerdem wurde vieles selbst gemacht.
Geyser das Wannenwasser. Wir Säuglin-          Unermüdlich surrte die Nähmaschine
ge und Kleinkinder wurden allerdings           unserer Mutter, die Stick- und Häkelna-
nicht in einer großen Badewanne geba-          deln unserer Großmütter klapperten im
det, eine kleine Zinkwanne erfüllte ihren      Takt dazu. Sie fertigten Mützchen und
Zweck zur Genüge. Oft wurde diese auf          Leibchen an, ribbelten Altes auf und
zwei Stühlen in der Küche platziert, damit     machten Neues daraus. Auch Kleidung
unsere Muttis sich nicht zu sehr bücken        für die Erwachsenen entstand auf diese
mussten. Fröhlich planschend wurden wir        Weise. Es gab alte Soldatenuniformen,
darin von Kopf bis Fuß geschrubbt und
anschließend gepudert und gewindelt.
  Zum Inventar gehörte seit unserer
Ankunft auch der Kinderwagen, der aus-
sah wie eine riesige Nussschale auf
Rädern. Die Familien liehen ihn sich                                   Eine große Schleife thronte
                                                                       in den 20er-Jahren auf dem
gegenseitig aus: Die Mutter gab ihn der                                Haar vieler kleiner Mädchen.
Schwester, die Schwester ihrer Cousine
und die Cousine ihrer Freundin – gegen-
seitige Hilfe war selbstverständlich. In der
Mitte des Wagens konnte man eine Plat-
te herausnehmen. Als wir größer wurden
und schon sitzen konnten, hängten wir
unsere Beinchen in dieses Loch – so war
der Wagen vielseitig und für lange Zeit
verwendbar.

Mangel macht erfinderisch

Unsere Windeln waren aus Stoff. Nachts
wickelten unsere Mütter uns zum Schutz
vor Nässe in drei Stück übereinander. Mit

                                                                                        9
Nach Einführung der Rentenmark war das Inflationsgeld ungültig und diente manchem Kind zum Spiel.

Gardinen und allerhand aus abgelegter             Linie sollte die Kleidung aber warm hal-
Kleidung, aus der noch etwas zu machen            ten, das war das Wichtigste. Nach und
war. Die Stoffe wurden gewendet, alte             nach konnte man auch durch Tausch
Hosen, Röcke, Jacken machten die Haus-            neue Kleidung erstehen. War nun etwas
frauen mit ihren flinken Händen wieder            gar nicht mehr zu gebrauchen, gaben wir
brauchbar. Stundenlang saß Mutti vorn-            es dem Lumpenmann. Mit der Trillerpfeife
über gebeugt, fädelte Garn durchs Nadel-          fuhr er durch die Straßen, um auf sich
öhr und nähte zum Schluss noch die                aufmerksam zu machen und sammelte
Knöpfe an, stopfte mit dem Stopfei löch-          nicht mehr Brauchbares. Wir Kinder freu-
rige Socken und fand manchmal sogar               ten uns darüber, denn wir bekamen als
noch Material und Zeit für eine kleine            Gegenwert für die Lumpen bunte Papier-
Verzierung an Rock oder Jacke. In erster          fächer, mit denen wir gern spielten.

10
1. bis 3. LEBENSjahr
Die Inflation
Eine hohe Staatsverschuldung durch den            zung der Streikenden ruinierten die deut-
Krieg und seine Folgen und die Forderungen        sche Wirtschaft 1923 fast völlig, Inflation
des Versailler Vertrages, in dem die Sieger-      und Ernährungslage nahmen katastropha-
mächte Deutschland zu sehr hohen Repara-          le Ausmaße an und die Regierung sah sich
tionen verpflichtet hatten, waren die Ursa-       im September zur Aufgabe des Widerstands
chen der Inflation in den 20er-Jahren.            gezwungen. Die Inflation entwickelte sich
Deutschland war nicht in der Lage, die finan-     nun mit rasender Geschwindigkeit.
ziellen Mittel für die Reparationsleistungen         Im November 1923 wurde ein 100-Bil-
aufzubringen. Immer neue Kredite wurden           lionen-Mark-Schein gedruckt und trotzdem
aufgenommen und man versuchte, die Ver-           stand nicht genügend Geld zur Verfügung,
schuldung durch vermehrten Druck von              so dass Städte, Gemeinden und Firmen
Papiergeld zu stoppen. Doch dadurch sank          sogar eigene Notgeldscheine herausgaben.
der Kurs der deutschen Währung immer              Besonders von der Inflation betroffen waren
weiter ab und auch die Reparationen konn-         diejenigen, die ein festes Einkommen bezo-
ten nicht in voller Höhe gezahlt werden.          gen, da die Löhne und Gehälter durch den
   1923 besetzten belgische und französi-         Kaufkraftschwund wertlos wurden. Besit-
sche Truppen das Ruhrgebiet, um ein Druck-        zer von Sachwerten wie Land, Immobilien
mittel für die Zahlung der Reparationen zu        und Gold hatten es da besser, denn diese
haben, woraufhin die deutsche Regierung           Werte waren beständig. Die Währungsre-
die Bevölkerung des besetzten Gebietes zum        form vom 15. November 1923 und die Ein-
passiven Widerstand aufrief. Die Produk-          führung der Rentenmark beendeten die
tionsausfälle und die finanzielle Unterstüt-      Inflation schlagartig.

Millionen und Milliarden: So sahen die Geldscheine aus, mit denen unsere Eltern bezahlten.

                                                                                             11
Die große Wäsche

Damit Laken, Leibchen und Windeln wie-
der rein wurden, mussten sie in die gro-
ße Wäsche, die einmal in der Woche zu
den Aufgaben der Hausfrauen gehörte.
Oft wurde schon am Vorabend des
Waschtags die Feuerstelle vorbereitet.
Dünne Holzspäne kamen auf zerknülltes
Zeitungspapier, darüber dickere Scheite
und schließlich Kohle. Körbeweise schlepp-
ten unsere Mütter die schmutzige Wäsche
heran. Am Vorabend bereits weichte man
sie in Sodawasser ein. Am nächsten Mor-
gen wrang man die Wäsche aus und sie
kam mit Persil-Waschmittel zum Kochen
in das heiße Wasser des Waschkochofens,
bevor sie noch heiß dampfend in einen
Holzzuber gefüllt wurde. Auf einem höl-
zernen Waschbrett schrubbten die Frauen
die Wäschestücke, bis sie endgültig sauber

Persil war den Hausfrauen bei der            Knickerbocker, Jackett und Kniestrümpfe:
großen Wäsche ein hilfreicher Begleiter.     Der Herr der 20er-Jahre kleidete sich sportlich.

                                             waren. Zum Bleichen wurde die Wäsche
                                             dann auf dem Rasen hinterm Haus ausge-
                                             breitet, wurde begossen und gewendet,
                                             damit Weißes auch weiß blieb. Im An-
                                             schluss daran spülte man die Wäsche
                                             nochmals in heißem Wasser. Die fertigen
                                             Stücke hingen zum Trocknen draußen auf
                                             der Leine oder auf dem Speicher, den fast
                                             jedes Haus hatte. In der Kaltmangel wur-
                                             de die Wäsche gestreckt. Die Heißmangel,
                                             die die Arbeit wesentlich erleichterte, kam
                                             erst später auf. Ja, unsere Mütter mussten
                                             wirklich körperliche Schwerstarbeit leisten.

12
1. bis 3. LEBENSjahr
Die Mode der 20er-Jahre

Unsere Mütter trugen in den 20er-Jahren              20er-Jahren beliebt und die Dame trug
keine sehr figurbetonte Kleidung, sondern            dazu gern einen eng anliegenden Hut
eher schmal und gerade geschnittene,                 oder ein Stirnband. Viel mehr Frauen als
knielange Hemdkleidchen, bei denen die               zuvor waren in der Weimarer Republik
Taille kaum betont wurde. Rücken und                 erwerbstätig. Das wirkte sich auch auf
Schultern waren oft frei, als Blickfang              die Mode aus und so war die Hose aus
dienten Schärpen und Schleifen.                      Gründen der Praktikabilität ebenfalls ein
   Die Abendmode sah ähnlich aus, ledig-             beliebtes Kleidungsstück. Gegen Ende
lich die Qualität der Stoffe unterschied             der 20er-Jahre wurde die Mode wieder
sich von der Alltagskleidung. Oft verzier-           femininer und figurbetonter.
te man die Abendkleider mit Glasperlen,                Die Herrenmode der 20er-Jahre war
die Damen trugen eine Boa oder einen                 sportlich, unsere Väter trugen Clubjacken
Fächer dazu, auch die Zigarettenspitze in
der Hand war ein modisches Accessoire.
Bubiköpfe und Dauerwellen waren in den

Die Kleider der Damen in den 20er-Jahren
waren nicht tailliert, sondern gerade geschnitten.

                                                                                           13
Viel Lametta, Fondantkringel und echte Kerzen
Geheimnisvolles                              zierten unseren Tannenbaum.

Weihnachten
Von allen Festen rund ums Jahr war           ten das Weihnachtszimmer erst betreten,
Weihnachten für uns das wichtigste.          wenn Vater und Mutter uns dazu auffor-
Wenn in der Adventszeit die Sonne unter-     derten. Schließlich bekamen sie Hilfe vom
ging und am Himmel das rot-glühende          Christkindchen, das sich uns nicht zu
Abendrot auftauchte, tuschelten wir          erkennen geben wollte. Manchmal dach-
begeistert untereinander: „Das Christ-       ten wir allerdings, wir hätten durchs
kindchen backt schon im Himmel die           Schlüsselloch seinen geheimnisvollen gol-
Plätzchen!“ Aber auch bei uns auf der        denen Schein erhascht.
Erde wurde gebacken. Unsere Mütter und         Am Weihnachtsabend gab es für jeden
Großmütter machten alles selbst: ver-        einen kleinen Teller mit sonst seltenen
schiedene Sorten Plätzchen, dicke Stollen,   Köstlichkeiten: Fondantkringel lagen dar-
würzige Printen und glasierte Lebkuchen.     auf und Ringe aus Schokolade, die wir
Es duftete verführerisch durch unsere        auch als Schmuck in den Baum hängten.
Wohnungen und wir konnten den Heili-         Vor allen Dingen schmückten in unserer
gen Abend kaum erwarten.                     Kinder- und Jugendzeit aber glitzerndes
   Aufgeregt schlichen wir um die Wohn-      Lametta und feines Engelshaar die grü-
zimmertür herum, hinter der wir den herr-    nen Tannenzweige unserer Weihnachts-
lichen Christbaum vermuteten. Wir durf-      bäume. Aufregend war auch der Besuch

24
Chronik                                              Am ersten Schultag waren
                                                     die Zuckertüte und der
                                                     neue Ranzen das
20./21. Mai 1927                                     Wichtigste für uns.
Charles Lindbergh überfliegt im Alleinflug als
Erster nonstop den Atlantik von New York nach
Paris.

1. Juni 1927                                         Es gab zwar gemischte
Der Hindenburgdamm wird eröffnet. Er verbin-      Klassen, aber trotzdem
det die Insel Sylt mit dem Festland.              saßen wir Schüler
10. Februar 1928                                  separiert – auf der
Die erste Funksprechverbindung von Deutsch-       einen Seite die Mäd-
land in die USA funktioniert.                     chen, auf der andern
                                                  die Jungen. Wussten wir
21. August 1928
In Den Haag wird der Young-Plan unterzeich-
                                                  die richtige Antwort auf
net: Deutschland soll bis 1988 34,5 Milliarden    die Fragen unseres Leh-
Goldmark an Reparationen zahlen.                  rers, standen wir selbst-
                                                  verständlich auf und
30. August 1928                                   traten aus der Schul-

                                                                                                   7. bis 10. LEBENSjahr
In Berlin wird die „Dreigroschenoper“ von Ber-
tolt Brecht und Kurt Weill uraufgeführt.
                                                  bank, um sie zu beantworten.
                                                     Jeder hatte seine eigene Schiefertafel,
25. Oktober 1929                                  auf der wir mit dem Griffel unsere ersten
Die Weltwirtschaftskrise beginnt mit dem          Schreibübungen zuerst in Sütterlin mach-
Zusammenbruch der New Yorker Börse, auch
                                                  ten. Später schrieben wir dann in lateini-
genannt Schwarzer Freitag.
                                                  scher Schrift ins Heft. Wir lernten rechnen
12. November 1929                                 und lesen und auch Heimatkunde war
Thomas Mann erhält den Literatur-Nobelpreis       wichtig. Dazu hing eine große Karte unse-
für seinen Roman „Die Buddenbrooks“.              rer Heimatregion am Kartenständer vorn
29. März 1930                                     neben dem Katheder.
Heinrich Brüning wird zum Reichskanzler              Im Musikunterricht sangen wir Volks-
ernannt.                                          lieder, wir Mädchen lernten stricken und
                                                  häkelten Topflappen aus Baumwolle und
1. April 1930                                     buntem Perlgarn im Handarbeitsunter-
Der Film „Der blaue Engel“ mit Marlene Dietrich
und Emil Jannings wird in Berlin uraufgeführt.    richt. In der Turnstunde trainierten wir Felg-
                                                  auf- und Felgabschwung. Wir turnten am
12. Juni 1930                                     Reck und auf dem Barren und bewiesen
Max Schmeling wird Boxweltmeister im Schwer-      unser Können in den Leichtathletik-Diszi-
gewicht gegen Jack Sharkey.
                                                  plinen Laufen, Springen und Werfen ein-
30. Juli 1930                                     mal im Jahr beim Sportfest. Im Kunst-
Uruguay wird mit einem 4:2-Sieg über Argen-       unterricht lernten wir zeichnen und
tinien Fußballweltmeister.                        malten viel mit bunter Pastellkreide.

                                                                                             29
Sonne, Sand und Strandkörbe: In den
     Sommerferien genossen wir in vollen Zügen
     die freie Zeit mit Familie und Freunden.

     sack und Stock zum Wandern in die Ber-
     ge oder an die See. Aufregend war es am
     Meer, luftig bekleidet durften wir im Sand
     buddeln, sprangen mit unseren Vätern in
     die hohen Wellen und genossen die
     befreiende Zeit, in der wir Griffel und

     In der freien Natur erholten wir
     uns abseits des Schulalltags.

36
Mit unseren Freunden verbrachten wir trotz
                                                 schwieriger Jahre noch eine unbeschwerte Zeit.
Die Zeiten
werden bedrohlich
Alles in allem verbrachten wir Mädchen           tet hatte. Uns gingen die Augen auf und
und Jungen des Jahrgangs 1921 noch eine          plötzlich war alles anders. Es fehlten
fröhliche Jugendzeit – trotz aller individuel-   unsere jüdischen Mitschüler. Einige emi-
len Probleme, die es zu bewältigen galt.         grierten, viele wurden versteckt, andere
   Erst mit den Rassengesetzen kündigte          wurden deportiert. Aber es gab auch
sich, auch für uns erkennbar, eine bedroh-       genauso viele Denunzianten, die ihre Nase
liche Zeit an. Das Erlebnis, das auf einmal      überall hatten und zu Verrätern wurden.
die Ernsthaftigkeit unserer Lebensum-            Und obwohl wir alle geschockt waren –
stände sehr deutlich machte, war der gro-        gesprochen wurde darüber nicht viel.
ße Knall, die sogenannte Reichskristall-           Es gab Hetzplakate an den Litfaßsäulen
nacht am 7. November 1938. Als wir am            und an den Straßenbahnhaltestellen und
Morgen zur Schule fuhren, sahen wir am           auch die antisemitische Wochenzeitung
Weg zerschlagene Schaufenster und                „Der Stürmer“ hetzte gegen Juden und
Schaufensterpuppen, die ausgezogen auf           Kommunisten. SA-Leute standen vor
der Straße lagen. Zuerst dachten wir, das        Geschäften, die von Juden geführt wur-
seien Tote. Hinterher erfuhren wir, dass         den und schrieben die Namen der Leute
die SA mit Goebbels als Initiator gewü-          auf, die dort kauften.

60
Die Schulzeit in einem vertrauten
                                                Klassenverband ging langsam vorüber.
Unser Weg zum
Erwachsensein
Einige unseres Jahrgangs 1921 machten           schon im Berufsleben. Wir lebten noch
1939 das Abitur, andere hatten längst           im Elternhaus und hatten unsere kleinen
eine Lehre begonnen, manche standen             Geheimnisse, die aber von den Eltern

Aus jungen Männern wurden Soldaten: Manche wurden Bomberpiloten, ...

62
lächelnd wahrgenommen wurden,
erinnerten sie sich doch an ihre eigene
Jugendzeit. Was in der Tanzstunde zag-
haft begonnen hatte, setzte sich nun fort:
Eine erste Verabredung zweier Verliebter
zum Kinobesuch, ein erster zaghafter
Kuss (allerdings sehr viel später). Wir
näherten uns dem Erwachsensein, auch
wenn wir erst mit 21 Jahren volljährig
wurden. Wir hatten Vorstellungen, Hoff-
nungen, Träume und Pläne wie die
Jugend aller Generationen: Wir wollten

                                             ... manche gingen zur Marine.

                                             selbstständig sein, Familien gründen und
                                             beruflich tätig sein. Unsere Freunde,
                                             inzwischen 18-jährig, wurden zum
                                             Arbeitsdienst verpflichtet. Anschließend
                                             kam die Wehrpflicht. Viele Freundschaf-
                                             ten gingen auseinander. Wir spürten,
                                             dass etwas Bedrohliches auf uns zukam
                                             und bald hatten wir schreckliche Gewiss-
                                             heit: Am 1. September 1939 begann er,
                                             der alles verändernde und zerstörende
                                             Zweite Weltkrieg, der all unsere Pläne
                                             und Lebensentwürfe in Frage stellte.
                                                                                               15. bis 18. LEBENSjahr

                                             Junge Männer mussten sich beim Eintritt in die
                                             Wehrmacht im Umgang mit der Waffe üben.

                                                                                          63
Aufgeregt und erwartungsvoll,so
                           blickten wir damals in die Zukunft!
                           Erinnern Sie sich mit uns an die ersten 18
                           Lebensjahre – an Ihre Kindheit und Jugend!

    WIR
                           Jahrgang 1921 – wir waren die Gene-
                           ration, die mit selbst geschneiderter Kleidung
                           und bescheidenem Mittagstisch groß wurde.
             vom           Wir spielten Murmeln und bauten Stelzen
    Jahrgang               aus Blechbüchsen. Ausgerüstet mit Leder-
                           ranzen, Tafel und Griffel lernten wir in der

      1921                 Volksschule Sütterlinschrift. Wir liebten den
                           Zeppelin, die gute „Tante Ju“ und später
                           Mickey Mouse. Wir marschierten im BdM
                           und in der HJ. Auf dem Weg ins Erwachsen-
                           werden überraschte uns der Zweite Welt-
                           krieg, ohne dass wir eine Ahnung hatten,
                           was damit alles auf uns zukam.

                           Liese-Lotte Ressing, selbst Jahrgang 1921,
                           und ihre Koautorin Christina Jahnke nehmen
                           Sie mit auf eine Reise in Ihre Vergangenheit.
                           Eingebettet in die weltpolitischen und gesell-
                           schaftlichen Geschehnisse der damaligen Zeit,
                           begleiten beide Sie durch die Welt einer Kind-

N
                           heit und Jugend in den 20er- und 30er-Jahren.

W
                                ISBN 978-3-8313-1721-9

www.wartberg-verlag.de
www.kindheitundjugend.de

                            9   783831 317219
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