WIRvom 1921 Jahrgang Kindheit und Jugend - Wartberg Verlag
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Impressum Bildnachweis: Privatarchiv Ressing: S. 5, 6 l., 8 o., 11, 26, 30 o./u., 31 u., 35 u., 36 o./M., 45, 46, 49 u., 57, 60, 62 o.; Pri- vatarchiv Schulte-Dony: S.4, 12 o., 18, 19, 21, 35 o., 36 u., 42 o./u., 47, 59 o., 61, 63 u.; Privatarchiv Faure: S. 8 u., 49 o., 55 r., 63 o.; Privatarchiv Blecher: S. 9, 14 o./u., 28, 29, 31 o.; Privatarchiv Langenbahn: S. 13 l., 25, 62 u.; Privatarchiv Siegmund: S. 13 r.; Privatarchiv Pohl: S. 41; ullstein bild – Horst Prange: S. 6 r.; ullstein bild – AKG Wittenstein: S. 7; ullstein bild: S. 10, 22, 23 u., 44, 59 u.; ullstein bild – Zangl: S. 12 u.; ullstein bild – SZ Photo: S. 16; ullstein bild – AKG Pressebild: S. 23 o.; ullstein bild – Schnellbacher: S. 24; ullstein bild – bpk/Salomon: S. 27; ullstein bild – Erich Engel: S. 34; ullstein bild – Imagebroker.net: S. 37; ullstein bild – Hoffmann: S. 38; ullstein bild – Archiv Gerstenberg: S. 50; ullstein bild – Wolff & Tritschler: S. 52; ullstein bild – SV-Bilderdienst: S. 54; ullstein bild – UMBO: S. 55 l.; ullstein bild – Schäche: S. 56; picture-alliance/akg-images: S. 20; picture-alliance/ picture-alliance: S. 32; picture-alliance/Imagno/Austrian Archives (S): S. 33 Wir danken allen Lizenzträgern für die freundliche Abdruckgenehmigung. In Fällen, in denen es nicht gelang, Rechtsinhaber an Abbildungen zu ermitteln, bleiben Honoraransprüche gewahrt. 3. Auflage 2016 Alle Rechte vorbehalten, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der fotomechanischen Wiedergabe. Gestaltung und Satz: Ravenstein und Partner, Verden Druck: Druck- und Verlagshaus Thiele & Schwarz GmbH, Kassel Buchbinderische Verarbeitung: Buchbinderei Büge, Celle © Wartberg Verlag GmbH & Co. KG 34281 Gudensberg-Gleichen • Im Wiesental 1 Telefon: 0 56 03/9 30 50 • www.wartberg-verlag.de ISBN: 978-3-8313-1721-9
VOR Liebe 21er! WORT Es war eine Zeit voller Ungewissheit und Zukunftssorgen, in die wir Kinder des Jahrgangs 1921 hineingeboren wurden. Unsere Eltern hatten den Ersten Welt- ße Not, auf der anderen die schillernden Erfolge der sogenannten Goldenen Zwan- ziger, die in der Hauptsache fernab von unseren Heimatstädten und -dörfern in krieg zwar überstanden, aber Verzweif- der Metropole Berlin eine Rolle spielten. lung, Armut und Hunger waren noch Politisch nicht erzogen und noch uner- überall präsent. Wir Kinder hatten keine fahren wurden wir 1933 von einer faschis- anderen Lebensumstände kennen gelernt tischen Diktatur überrumpelt, ohne zu und wuchsen deshalb mit den Wirrnissen wissen, was uns tatsächlich bevorstand. der Zeit wie selbstverständlich auf. Viel zu beschäftigt war jeder von uns mit Ob nun mit preußischem Drill oder NS- Alltäglichkeiten, Schule und Ausbildung. Zucht: Unsere Eltern erzogen uns vor Machen Sie sich auf den nächsten Sei- allem zu Pflichtbewusstsein und Beschei- ten mit auf eine Reise in unsere Kindheit denheit. Viele Zwänge begleiteten unse- und Jugend, lesen Sie in kleinen Geschich- re Kindheit und Jugend und wir genossen ten vom Alltag der 20er- und 30er-Jahre, deshalb alle kleinen Freuden, wie Kino- von den Freuden und Sorgen, die uns auf besuche, Ausflüge und Geburtstagsfeiern dem Weg zum Erwachsensein begleiteten. ganz besonders. Voller Gegensätze war die Zeit, in der wir aufwuchsen – auf der einen Seite gro- Liese-Lotte Ressing
1921 Zwischen Zukunftssorgen und 1923 geschäftigem Alltag Das 1. bis 3. Lebensjahr Unsere Taufe und die unserer Geschwister Privates Glück und gesellschaftliche Sorgen fand meist bei uns zu Hause statt. Mit großer Vorfreude erwarteten Mutter und Vater uns Kinder des Jahrgangs 1921. Unser Gitterbettchen mit dem Steck- kissen stand im Elternschlafzimmer bereit, fleißig und liebevoll hatten Mütter, Tan- ten und Großmütter schon Wochen vor unserer Geburt Decken und Mützen gestrickt, damit wir nicht frieren mussten. Wenn Mutter das Signal gab, ging Vater zur Hebamme, die zu uns nach Hause kam, um bei der Geburt zu helfen. Mit kleinen Anzeigen in der Zeitung und Kar- ten, die man per Post verschickte, ver- kündeten die jungen Eltern stolz, dass ihr Nachwuchs gesund und munter auf die Welt gekommen war.
1. bis 3. LEBENSjahr Chronik 4. Januar 1921 Der Linienflugverkehr zwischen Berlin und Mün- chen wird durch die Deutsche Luft-Reederei (DLR) eröffnet. 8. März 1921 Franzosen und Belgier besetzen Düsseldorf und Duisburg und sichern sich die beiden Städte als Pfand für Reparationszahlungen. 20. März 1921 Der Völkerbund beschließt die Teilung Ober- schlesiens. Obwohl bei einer Volksabstimmung 60 Prozent der Oberschlesier für den Verbleib im Deutschen Reich votieren, fällt das reiche Industrierevier an Polen. 29. Juli 1921 Hitler wird zum Parteivorsitzenden der NSDAP gewählt. 75 Pfennig kostete eine Zeitung 31. März 1922 im Jahr unserer Geburt. Der Physiker Albert Einstein hält Vorlesungen über seine Relativitätstheorie am Collège de France in Paris. 3. April 1922 Zur Taufe kam der Pfarrer meist direkt Josef W. Stalin wird auf Vorschlag Lenins zum ins Haus, um uns Neugeborenen Gottes neuen Generalsekretär des Zentralkomitees der Segen zu spenden für das Leben, das jetzt Kommunistischen Partei Russlands gewählt. vor uns lag. Zwei Paten stellten uns die 30. Dezember 1922 Eltern zur Seite. Die versicherten, dass sie Gründung der Sowjetunion. die Rolle des geistigen Vormundes über- nehmen wollten, falls unsere Eltern dazu 17. Februar 1923 Howard Carter öffnet die Grabkammer des nicht in der Lage sein sollten. Pharaos Tutanchamun im ägyptischen Tal der In aller Freude über unsere Ankunft Könige. mischten sich immer wieder Ungewissheit und Zukunftsangst, denn die Folgen der 13. August 1923 Gustav Stresemann wird neuer Reichskanzler. Niederlage des Ersten Weltkriegs waren allzu deutlich spürbar und das Jahr 1921 29. Oktober 1923 kein Jahr des Aufschwungs und der Offizieller Start des deutschen Radios. Bewältigung grundlegender Konflikte. 11. November 1923 Die Alliierten verlangten Reparationen, NSDAP und KPD werden verboten. die einen wirtschaftlichen Ruin immer näher 5
Prominente 21er Die Zeitungen warben 1921 für Produkte, Regisseur, Schauspieler und Schriftsteller die es auch heute noch gibt. Peter Ustinov ist ebenfalls ein prominenter Vertreter des Jahrgangs 1921. rücken ließen und besetzten unter ande- 5. Jan. Friedrich Dürrenmatt, rem die Städte Düsseldorf und Duisburg, Schweizer Schriftsteller, um ihren Forderungen den entsprechen- Dramatiker und Maler († 1990) den Nachdruck zu verleihen. Um das Geld 21. Feb. Zdenek Miler, zur Wiedergutmachung aufbringen zu kön- tschechischer Zeichentrickfilmer, nen, bediente sich die Reichsregierung Erfinder des „Kleinen Maulwurfs“ immer häufiger der Notenpresse und die Inflation schritt unaufhaltsam fort. Die teils 24. März Wassili Wassiljewitsch Smyslow, immer noch knappen Lebensmittel wurden russischer Schach-Großmeister durch die Geldentwertung zusehends teu- 27. April Hans-Joachim Kulenkampff, rer und obwohl unsere Eltern in Zeiten der deutscher Schauspieler und Inflation oft Millionäre waren, reichte das Moderator († 1998) Geld meist vorn und hinten nicht. Von all diesen politischen Umständen, 6. Mai Erich Fried, dem gesellschaftlichen Druck und den ganz österreichischer Lyriker, Essayist und Übersetzer († 1988) persönlichen Sorgen unserer Familien beka- men wir Säuglinge des Jahrgangs 1921 9. Mai Sophie Scholl, nichts mit. Uns interessierte, ob wir satt deutsche Widerstandskämpferin waren, trocken lagen und es warm hatten im Dritten Reich († 1943) und dafür sorgten unsere Eltern gut. 6
1. bis 3. LEBENSjahr 11. Mai Hildegard Hamm-Brücher, 19. Juli Rosalyn Sussman Yalow, deutsche Politikerin US-amerikanische Physikerin und Nobelpreisträgerin 12. Mai Joseph Beuys, deutscher Künstler († 1986) 25. Juli Paul Watzlawick, österreichischer Psychotherapeut 20. Mai Wolfgang Borchert, und Autor († 2007) deutscher Schriftsteller († 1947) 13. Okt. Yves Montand, 28. Mai Heinz Günther Konsalik, französischer Schauspieler und deutscher Schriftsteller († 1999) Chansonnier († 1991) 16. April Peter Ustinov, 1. Nov. Harald Quandt, Regisseur, Schauspieler und deutscher Industrieller († 1967) Schriftsteller († 2004) 19. Nov. Max Kruse, 10. Juni Philip Mountbatten, deutscher Kinderbuchautor Duke of Edinburgh, Ehemann der brit. Königin Elizabeth II. 15. Dez. Evelyn Künneke, deutsche Sängerin, Tänzerin 6. Juli Nancy Reagan, und Schauspielerin († 2001) Witwe von Ronald Reagan, 40. Präsident der USA Sophie Scholl, Mitglied der Widerstandsbewegung „Die weiße Rose“, wurde 1921 geboren. 7
fen, einen bestimmten Wohnstil gab es nicht. Wenn in der Familie sonst nichts vor- handen war, nahm man dankbar, was sich aus Ererbtem bot und was bei Auktionen und Wohnungsauflösungen zu bekom- men war. Das konnte am Ende manchmal ein ganz schönes Sammelsurium ergeben. Um das zu begreifen, waren wir allerdings noch zu klein. Wir waren glücklich, wenn wir mit unseren Bauklötzen, mit unseren Eisenbahnen und Brummkreiseln und mit unserem ersten Püppchen, das meist aus Gummi oder Flicken bestand, auf dem Teppich und im Laufstall in der Wohnstu- be spielen konnten. Einen eingebauten Spülstein gab es in der Küche, ein Kohle- oder Gasherd sorg- te für die nötige Wärme im Winter. Hei- zungen waren in den Nachkriegsjahren ganz selten. Regelmäßig kam der Koh- Unsere erste Puppe war meist aus Gummi und lenmann, der seine Fracht direkt aus dem trug ein selbst gehäkeltes Kleid. Wagen mit lautem Gepolter über ein Wie eine große Nussschale sah unser Unser Heim ist Kinderwagen aus. unsere Welt In Strampelhosen ent- deckten wir erst krab- belnd und dann lau- fend unser Heim: Tante Gretes altes Sofa, Groß- mutters hölzernen Tisch, dazu ein paar Stühle von Onkel Fritz. Unsere Eltern konnten 1921 aus Mangel an zur Verfügung ste- henden Waren und finanziellen Mitteln keine neuen Möbel kau- 8
1. bis 3. LEBENSjahr Schüttbrett in den Keller prasseln ließ. Von der restlichen Kleidung war es ähnlich dort mussten die Kohlen dann hinauf in wie mit den Möbeln, wir Säuglinge und die Wohnung getragen werden. Kleinkinder des Jahrgangs 1921 trugen Hatten unsere Familien ein Badezimmer, meist geerbte Kleidungsstücke, das Woll- dann fand im Laufe der 20er-Jahre eine jäckchen von Cousine Berta, die Hosen Badewanne auf Füßen ihren Platz darin. von Vetter Hans, die Söckchen unserer Das Wasser wurde erst mit Kohlen Geschwister. beheizt, später wärmte dann ein Vaillant Außerdem wurde vieles selbst gemacht. Geyser das Wannenwasser. Wir Säuglin- Unermüdlich surrte die Nähmaschine ge und Kleinkinder wurden allerdings unserer Mutter, die Stick- und Häkelna- nicht in einer großen Badewanne geba- deln unserer Großmütter klapperten im det, eine kleine Zinkwanne erfüllte ihren Takt dazu. Sie fertigten Mützchen und Zweck zur Genüge. Oft wurde diese auf Leibchen an, ribbelten Altes auf und zwei Stühlen in der Küche platziert, damit machten Neues daraus. Auch Kleidung unsere Muttis sich nicht zu sehr bücken für die Erwachsenen entstand auf diese mussten. Fröhlich planschend wurden wir Weise. Es gab alte Soldatenuniformen, darin von Kopf bis Fuß geschrubbt und anschließend gepudert und gewindelt. Zum Inventar gehörte seit unserer Ankunft auch der Kinderwagen, der aus- sah wie eine riesige Nussschale auf Rädern. Die Familien liehen ihn sich Eine große Schleife thronte in den 20er-Jahren auf dem gegenseitig aus: Die Mutter gab ihn der Haar vieler kleiner Mädchen. Schwester, die Schwester ihrer Cousine und die Cousine ihrer Freundin – gegen- seitige Hilfe war selbstverständlich. In der Mitte des Wagens konnte man eine Plat- te herausnehmen. Als wir größer wurden und schon sitzen konnten, hängten wir unsere Beinchen in dieses Loch – so war der Wagen vielseitig und für lange Zeit verwendbar. Mangel macht erfinderisch Unsere Windeln waren aus Stoff. Nachts wickelten unsere Mütter uns zum Schutz vor Nässe in drei Stück übereinander. Mit 9
Nach Einführung der Rentenmark war das Inflationsgeld ungültig und diente manchem Kind zum Spiel. Gardinen und allerhand aus abgelegter Linie sollte die Kleidung aber warm hal- Kleidung, aus der noch etwas zu machen ten, das war das Wichtigste. Nach und war. Die Stoffe wurden gewendet, alte nach konnte man auch durch Tausch Hosen, Röcke, Jacken machten die Haus- neue Kleidung erstehen. War nun etwas frauen mit ihren flinken Händen wieder gar nicht mehr zu gebrauchen, gaben wir brauchbar. Stundenlang saß Mutti vorn- es dem Lumpenmann. Mit der Trillerpfeife über gebeugt, fädelte Garn durchs Nadel- fuhr er durch die Straßen, um auf sich öhr und nähte zum Schluss noch die aufmerksam zu machen und sammelte Knöpfe an, stopfte mit dem Stopfei löch- nicht mehr Brauchbares. Wir Kinder freu- rige Socken und fand manchmal sogar ten uns darüber, denn wir bekamen als noch Material und Zeit für eine kleine Gegenwert für die Lumpen bunte Papier- Verzierung an Rock oder Jacke. In erster fächer, mit denen wir gern spielten. 10
1. bis 3. LEBENSjahr Die Inflation Eine hohe Staatsverschuldung durch den zung der Streikenden ruinierten die deut- Krieg und seine Folgen und die Forderungen sche Wirtschaft 1923 fast völlig, Inflation des Versailler Vertrages, in dem die Sieger- und Ernährungslage nahmen katastropha- mächte Deutschland zu sehr hohen Repara- le Ausmaße an und die Regierung sah sich tionen verpflichtet hatten, waren die Ursa- im September zur Aufgabe des Widerstands chen der Inflation in den 20er-Jahren. gezwungen. Die Inflation entwickelte sich Deutschland war nicht in der Lage, die finan- nun mit rasender Geschwindigkeit. ziellen Mittel für die Reparationsleistungen Im November 1923 wurde ein 100-Bil- aufzubringen. Immer neue Kredite wurden lionen-Mark-Schein gedruckt und trotzdem aufgenommen und man versuchte, die Ver- stand nicht genügend Geld zur Verfügung, schuldung durch vermehrten Druck von so dass Städte, Gemeinden und Firmen Papiergeld zu stoppen. Doch dadurch sank sogar eigene Notgeldscheine herausgaben. der Kurs der deutschen Währung immer Besonders von der Inflation betroffen waren weiter ab und auch die Reparationen konn- diejenigen, die ein festes Einkommen bezo- ten nicht in voller Höhe gezahlt werden. gen, da die Löhne und Gehälter durch den 1923 besetzten belgische und französi- Kaufkraftschwund wertlos wurden. Besit- sche Truppen das Ruhrgebiet, um ein Druck- zer von Sachwerten wie Land, Immobilien mittel für die Zahlung der Reparationen zu und Gold hatten es da besser, denn diese haben, woraufhin die deutsche Regierung Werte waren beständig. Die Währungsre- die Bevölkerung des besetzten Gebietes zum form vom 15. November 1923 und die Ein- passiven Widerstand aufrief. Die Produk- führung der Rentenmark beendeten die tionsausfälle und die finanzielle Unterstüt- Inflation schlagartig. Millionen und Milliarden: So sahen die Geldscheine aus, mit denen unsere Eltern bezahlten. 11
Die große Wäsche Damit Laken, Leibchen und Windeln wie- der rein wurden, mussten sie in die gro- ße Wäsche, die einmal in der Woche zu den Aufgaben der Hausfrauen gehörte. Oft wurde schon am Vorabend des Waschtags die Feuerstelle vorbereitet. Dünne Holzspäne kamen auf zerknülltes Zeitungspapier, darüber dickere Scheite und schließlich Kohle. Körbeweise schlepp- ten unsere Mütter die schmutzige Wäsche heran. Am Vorabend bereits weichte man sie in Sodawasser ein. Am nächsten Mor- gen wrang man die Wäsche aus und sie kam mit Persil-Waschmittel zum Kochen in das heiße Wasser des Waschkochofens, bevor sie noch heiß dampfend in einen Holzzuber gefüllt wurde. Auf einem höl- zernen Waschbrett schrubbten die Frauen die Wäschestücke, bis sie endgültig sauber Persil war den Hausfrauen bei der Knickerbocker, Jackett und Kniestrümpfe: großen Wäsche ein hilfreicher Begleiter. Der Herr der 20er-Jahre kleidete sich sportlich. waren. Zum Bleichen wurde die Wäsche dann auf dem Rasen hinterm Haus ausge- breitet, wurde begossen und gewendet, damit Weißes auch weiß blieb. Im An- schluss daran spülte man die Wäsche nochmals in heißem Wasser. Die fertigen Stücke hingen zum Trocknen draußen auf der Leine oder auf dem Speicher, den fast jedes Haus hatte. In der Kaltmangel wur- de die Wäsche gestreckt. Die Heißmangel, die die Arbeit wesentlich erleichterte, kam erst später auf. Ja, unsere Mütter mussten wirklich körperliche Schwerstarbeit leisten. 12
1. bis 3. LEBENSjahr Die Mode der 20er-Jahre Unsere Mütter trugen in den 20er-Jahren 20er-Jahren beliebt und die Dame trug keine sehr figurbetonte Kleidung, sondern dazu gern einen eng anliegenden Hut eher schmal und gerade geschnittene, oder ein Stirnband. Viel mehr Frauen als knielange Hemdkleidchen, bei denen die zuvor waren in der Weimarer Republik Taille kaum betont wurde. Rücken und erwerbstätig. Das wirkte sich auch auf Schultern waren oft frei, als Blickfang die Mode aus und so war die Hose aus dienten Schärpen und Schleifen. Gründen der Praktikabilität ebenfalls ein Die Abendmode sah ähnlich aus, ledig- beliebtes Kleidungsstück. Gegen Ende lich die Qualität der Stoffe unterschied der 20er-Jahre wurde die Mode wieder sich von der Alltagskleidung. Oft verzier- femininer und figurbetonter. te man die Abendkleider mit Glasperlen, Die Herrenmode der 20er-Jahre war die Damen trugen eine Boa oder einen sportlich, unsere Väter trugen Clubjacken Fächer dazu, auch die Zigarettenspitze in der Hand war ein modisches Accessoire. Bubiköpfe und Dauerwellen waren in den Die Kleider der Damen in den 20er-Jahren waren nicht tailliert, sondern gerade geschnitten. 13
Viel Lametta, Fondantkringel und echte Kerzen Geheimnisvolles zierten unseren Tannenbaum. Weihnachten Von allen Festen rund ums Jahr war ten das Weihnachtszimmer erst betreten, Weihnachten für uns das wichtigste. wenn Vater und Mutter uns dazu auffor- Wenn in der Adventszeit die Sonne unter- derten. Schließlich bekamen sie Hilfe vom ging und am Himmel das rot-glühende Christkindchen, das sich uns nicht zu Abendrot auftauchte, tuschelten wir erkennen geben wollte. Manchmal dach- begeistert untereinander: „Das Christ- ten wir allerdings, wir hätten durchs kindchen backt schon im Himmel die Schlüsselloch seinen geheimnisvollen gol- Plätzchen!“ Aber auch bei uns auf der denen Schein erhascht. Erde wurde gebacken. Unsere Mütter und Am Weihnachtsabend gab es für jeden Großmütter machten alles selbst: ver- einen kleinen Teller mit sonst seltenen schiedene Sorten Plätzchen, dicke Stollen, Köstlichkeiten: Fondantkringel lagen dar- würzige Printen und glasierte Lebkuchen. auf und Ringe aus Schokolade, die wir Es duftete verführerisch durch unsere auch als Schmuck in den Baum hängten. Wohnungen und wir konnten den Heili- Vor allen Dingen schmückten in unserer gen Abend kaum erwarten. Kinder- und Jugendzeit aber glitzerndes Aufgeregt schlichen wir um die Wohn- Lametta und feines Engelshaar die grü- zimmertür herum, hinter der wir den herr- nen Tannenzweige unserer Weihnachts- lichen Christbaum vermuteten. Wir durf- bäume. Aufregend war auch der Besuch 24
Chronik Am ersten Schultag waren die Zuckertüte und der neue Ranzen das 20./21. Mai 1927 Wichtigste für uns. Charles Lindbergh überfliegt im Alleinflug als Erster nonstop den Atlantik von New York nach Paris. 1. Juni 1927 Es gab zwar gemischte Der Hindenburgdamm wird eröffnet. Er verbin- Klassen, aber trotzdem det die Insel Sylt mit dem Festland. saßen wir Schüler 10. Februar 1928 separiert – auf der Die erste Funksprechverbindung von Deutsch- einen Seite die Mäd- land in die USA funktioniert. chen, auf der andern die Jungen. Wussten wir 21. August 1928 In Den Haag wird der Young-Plan unterzeich- die richtige Antwort auf net: Deutschland soll bis 1988 34,5 Milliarden die Fragen unseres Leh- Goldmark an Reparationen zahlen. rers, standen wir selbst- verständlich auf und 30. August 1928 traten aus der Schul- 7. bis 10. LEBENSjahr In Berlin wird die „Dreigroschenoper“ von Ber- tolt Brecht und Kurt Weill uraufgeführt. bank, um sie zu beantworten. Jeder hatte seine eigene Schiefertafel, 25. Oktober 1929 auf der wir mit dem Griffel unsere ersten Die Weltwirtschaftskrise beginnt mit dem Schreibübungen zuerst in Sütterlin mach- Zusammenbruch der New Yorker Börse, auch ten. Später schrieben wir dann in lateini- genannt Schwarzer Freitag. scher Schrift ins Heft. Wir lernten rechnen 12. November 1929 und lesen und auch Heimatkunde war Thomas Mann erhält den Literatur-Nobelpreis wichtig. Dazu hing eine große Karte unse- für seinen Roman „Die Buddenbrooks“. rer Heimatregion am Kartenständer vorn 29. März 1930 neben dem Katheder. Heinrich Brüning wird zum Reichskanzler Im Musikunterricht sangen wir Volks- ernannt. lieder, wir Mädchen lernten stricken und häkelten Topflappen aus Baumwolle und 1. April 1930 buntem Perlgarn im Handarbeitsunter- Der Film „Der blaue Engel“ mit Marlene Dietrich und Emil Jannings wird in Berlin uraufgeführt. richt. In der Turnstunde trainierten wir Felg- auf- und Felgabschwung. Wir turnten am 12. Juni 1930 Reck und auf dem Barren und bewiesen Max Schmeling wird Boxweltmeister im Schwer- unser Können in den Leichtathletik-Diszi- gewicht gegen Jack Sharkey. plinen Laufen, Springen und Werfen ein- 30. Juli 1930 mal im Jahr beim Sportfest. Im Kunst- Uruguay wird mit einem 4:2-Sieg über Argen- unterricht lernten wir zeichnen und tinien Fußballweltmeister. malten viel mit bunter Pastellkreide. 29
Sonne, Sand und Strandkörbe: In den Sommerferien genossen wir in vollen Zügen die freie Zeit mit Familie und Freunden. sack und Stock zum Wandern in die Ber- ge oder an die See. Aufregend war es am Meer, luftig bekleidet durften wir im Sand buddeln, sprangen mit unseren Vätern in die hohen Wellen und genossen die befreiende Zeit, in der wir Griffel und In der freien Natur erholten wir uns abseits des Schulalltags. 36
Mit unseren Freunden verbrachten wir trotz schwieriger Jahre noch eine unbeschwerte Zeit. Die Zeiten werden bedrohlich Alles in allem verbrachten wir Mädchen tet hatte. Uns gingen die Augen auf und und Jungen des Jahrgangs 1921 noch eine plötzlich war alles anders. Es fehlten fröhliche Jugendzeit – trotz aller individuel- unsere jüdischen Mitschüler. Einige emi- len Probleme, die es zu bewältigen galt. grierten, viele wurden versteckt, andere Erst mit den Rassengesetzen kündigte wurden deportiert. Aber es gab auch sich, auch für uns erkennbar, eine bedroh- genauso viele Denunzianten, die ihre Nase liche Zeit an. Das Erlebnis, das auf einmal überall hatten und zu Verrätern wurden. die Ernsthaftigkeit unserer Lebensum- Und obwohl wir alle geschockt waren – stände sehr deutlich machte, war der gro- gesprochen wurde darüber nicht viel. ße Knall, die sogenannte Reichskristall- Es gab Hetzplakate an den Litfaßsäulen nacht am 7. November 1938. Als wir am und an den Straßenbahnhaltestellen und Morgen zur Schule fuhren, sahen wir am auch die antisemitische Wochenzeitung Weg zerschlagene Schaufenster und „Der Stürmer“ hetzte gegen Juden und Schaufensterpuppen, die ausgezogen auf Kommunisten. SA-Leute standen vor der Straße lagen. Zuerst dachten wir, das Geschäften, die von Juden geführt wur- seien Tote. Hinterher erfuhren wir, dass den und schrieben die Namen der Leute die SA mit Goebbels als Initiator gewü- auf, die dort kauften. 60
Die Schulzeit in einem vertrauten Klassenverband ging langsam vorüber. Unser Weg zum Erwachsensein Einige unseres Jahrgangs 1921 machten schon im Berufsleben. Wir lebten noch 1939 das Abitur, andere hatten längst im Elternhaus und hatten unsere kleinen eine Lehre begonnen, manche standen Geheimnisse, die aber von den Eltern Aus jungen Männern wurden Soldaten: Manche wurden Bomberpiloten, ... 62
lächelnd wahrgenommen wurden, erinnerten sie sich doch an ihre eigene Jugendzeit. Was in der Tanzstunde zag- haft begonnen hatte, setzte sich nun fort: Eine erste Verabredung zweier Verliebter zum Kinobesuch, ein erster zaghafter Kuss (allerdings sehr viel später). Wir näherten uns dem Erwachsensein, auch wenn wir erst mit 21 Jahren volljährig wurden. Wir hatten Vorstellungen, Hoff- nungen, Träume und Pläne wie die Jugend aller Generationen: Wir wollten ... manche gingen zur Marine. selbstständig sein, Familien gründen und beruflich tätig sein. Unsere Freunde, inzwischen 18-jährig, wurden zum Arbeitsdienst verpflichtet. Anschließend kam die Wehrpflicht. Viele Freundschaf- ten gingen auseinander. Wir spürten, dass etwas Bedrohliches auf uns zukam und bald hatten wir schreckliche Gewiss- heit: Am 1. September 1939 begann er, der alles verändernde und zerstörende Zweite Weltkrieg, der all unsere Pläne und Lebensentwürfe in Frage stellte. 15. bis 18. LEBENSjahr Junge Männer mussten sich beim Eintritt in die Wehrmacht im Umgang mit der Waffe üben. 63
Aufgeregt und erwartungsvoll,so blickten wir damals in die Zukunft! Erinnern Sie sich mit uns an die ersten 18 Lebensjahre – an Ihre Kindheit und Jugend! WIR Jahrgang 1921 – wir waren die Gene- ration, die mit selbst geschneiderter Kleidung und bescheidenem Mittagstisch groß wurde. vom Wir spielten Murmeln und bauten Stelzen Jahrgang aus Blechbüchsen. Ausgerüstet mit Leder- ranzen, Tafel und Griffel lernten wir in der 1921 Volksschule Sütterlinschrift. Wir liebten den Zeppelin, die gute „Tante Ju“ und später Mickey Mouse. Wir marschierten im BdM und in der HJ. Auf dem Weg ins Erwachsen- werden überraschte uns der Zweite Welt- krieg, ohne dass wir eine Ahnung hatten, was damit alles auf uns zukam. Liese-Lotte Ressing, selbst Jahrgang 1921, und ihre Koautorin Christina Jahnke nehmen Sie mit auf eine Reise in Ihre Vergangenheit. Eingebettet in die weltpolitischen und gesell- schaftlichen Geschehnisse der damaligen Zeit, begleiten beide Sie durch die Welt einer Kind- N heit und Jugend in den 20er- und 30er-Jahren. W ISBN 978-3-8313-1721-9 www.wartberg-verlag.de www.kindheitundjugend.de 9 783831 317219
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