Writers Exile Writers Exile Writers Exile - PEN-Zentrum Deutschland
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Das Stipendienprogramm des PEN-Zentrums Deutschland PEN-Zentrum Writers in Deutschland e. V. Exile Fiedlerweg 20 64287 Darmstadt Telefon +49 (0) 61 51/2 31 20 Fax +49 (0) 61 51/29 34 14 2021/2022 Writers inwww.pen-deutschland.de writers-in-exile@ pen-deutschland.de Writers in Exile Exile Gefördert von Das Stipendienprogramm des PEN-Zentrums Deutschland Sie können helfen Der deutsche PEN enga- Gestaltung: Stefanie Silber, Hamburg giert sich für die Freiheit des Wortes weltweit. Besonders für verfolgte und inhaftierte Schrift- stellerInnen machen wir uns stark. Darum bitten wir um Spenden. Writers in Spendenkonto Writers Writers Empfänger: in PEN-Zentrum Exile in Exile Exile Deutschland e. V. Stand: Februar 2022 Sparkasse Darmstadt IBAN: DE03 5085 0150 0000 7301 14 BIC: HELADEF1DAS 2|3
Das Stipendienprogramm Writers in Exile 2021 des PEN-Zentrums DasDeutschland Stipendienprogramm des PEN-Zentrums Deutschland Writers in Exile 6 Vorwort von Astrid Vehstedt seit 1999 8 Yirgalem Fisseha Mebrahtu 12 Jiyar Jahan Fard unter anderem in der jüngst erschienenen Anthologie Stipendienprogramm 14 Umar Abdul Nasser Writers in Die vollständigen Texte der AutorInnen finden sich für verfolgte AutorInnen 18 Aleksei Bobrovnikov Writers in 20 Aslı Erdoğan Exile »In der nie endenden bernsteinfarbenen Nacht« 24 Şehbal Şenyurt Arınlı Gefördert von Exile Die Beauftragte der Bundesregierung 26 Yassin al-Haj Saleh Das Stipendienprogramm 30 Enoh Meyomesse 32 Kholoud Charaf für Kultur und Medien des PEN-Zentrums Deutschland 36 Zaza Burchuladze Länder, aus denen StipendiatInnen 38 Anzhelina Polonskaya nach Deutschland kamen 42 Yamen Hussein Afghanistan, Algerien, Aserbaidschan, Äthiopien, 44 Barbaros Altuğ Bahrain, Bangladesch, China, Eritrea, Georgien, Irak, 48 Najet Adouani Iran, Kamerun, Kolumbien, Kuba, Mexiko, Nord 50 Nazli Karabıyıkoğlu mazedonien, Palästina, Russland, Serbien, Sierra Leone, 54 Mansoureh Shojaee Simbabwe, Sri Lanka, Syrien, Togo, Tschetschenien, 56 Volha Hapeyeva Tunesien, Türkei, Ukraine, Vietnam, Weißrussland 60 Zhou Qing 62 Anise Jafarimehr Writers in 65 StipendiatInnen (Stand 2021) 66 Pınar Selek Writers Writers Städte, die das Programm unterstützen 68 Dawood Siawash in Exile Wissenschaftsstadt Darmstadt Exile Kulturreferat der Stadt München, 72 Amir Valle Exile inNürnberg, Menschenrechtsbüro der Stadt 74 Stella Nyanzi 78 Maynat Kurbanova aktuelle StipendiatInnen frühere StipendiatInnen 4|5
Exile Das Stipendienprogramm des PEN-Zentrums Deutschland Writers in Exile So die einleitenden Worte des 1999 geschlossenen Übereinkommens zwischen dem Bundesministe Writers in rium für Kultur und Medien (BKM) und dem Writers in Exile deutschen PEN-Zentrum. Seither hat sich die Exile Das Stipendienprogramm weltpolitische Lage eher noch verschlechtert. des PEN-Zentrums Deutschland Dank der Projektförderung des BKM konnte das WiE-Programm inzwischen weiter ausgebaut werden und bietet gegenwärtig zwölf Stipendia- tinnen und Stipendiaten die Möglichkeit, ihre schriftstellerische Tätigkeit frei von Verfolgung Writers Writers in Writers Writers und Bedrohung auszuüben. Sie sind bei uns in in Exile Exile in Exile Exile herzlich willkommen und eine Bereicherung: durch ihre Kultur und mit ihrer Sicht auf die Welt und auf uns. Mit ihren Geschichten und dem Grenzen überschreitenden Dialog eröffnen sich auch für uns neue Horizonte. Writers in Exile Writers in Exile Writers in Exile Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm © privat Das Stipendienprogramm Astrid Vehstedt im Jahr 2020 des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland vor dem Nationaltheater Bagdad Astrid Vehstedt Writers in Exile-Beauftragte »Die Besorgnis erregende Zunahme der Verfolgung, Vize-Präsidentin PEN-Zentrum Deutschland Folterung und Ermordung von DichterInnen, Writers in Exile Writers in Exile Writers in Exile AutorInnen und IntellektuellenDas Das Stipendienprogramm inStipendienprogramm aller Welt ist für Das Stipendienprogramm die-Zentrums des PEN Bundesrepublik Deutschland Deutschland desAnlass, auchDeutschland PEN-Zentrums des PEN-Zentrums Deutschland außerhalb des klassischen Feldes der Außenpolitik Mittel und Wege zu wählen, um einzelnen Opfern zu helfen. « Writers in Exile Writers in Exile Writers in Exile Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm 6|7 des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland
Nervöse Störung Writers in Die Gefängniszelle deckt sich mit meiner Exile Körpergröße. Das Stipendienprogramm des PEN-Zentrums Deutschland Der Lehmfußboden dient mir als Bett. Writers in Bestialisch, der Gestank, ich ringe nach Luft, Exile als hätte der Heiler giftige Kräuter Writers in verbrannt, Writers in Exile die Hölle brennt in mir, die Tür gleicht Exile © Stefanie Silber Das Stipendienprogramm einem Schlangenmaul. des PEN-Zentrums Deutschland Zu viel Schmerz, ich kann nicht mehr. Riefe jemand: »Komm mit!« Yirgalem Fisseha Mebrahtu Aus dem Englischen von Barbara Krohn nach der Übersetzung Würde ich nicht erst fragen: »Wohin?« Die eritreische Lyrikerin, Journalistin und Schriftstellerin Ich würde nicht zögern, ters in im »MaiWriters Writers musste sechs Jahre lang unter schlimmsten Bedingungen in Swra« Gefängnis ausharren, in das sie auf der Stelle zu folgen. Exile ohne Anklagein Exile Exile willkürlich Egal: ob einem Dämon oder einem oder Gerichtsverfahren gesperrt wurde. Menschen. von Ghirmai Negash aus dem Tigrinischen Seitdem droht ihr eine erneute Verhaftung und sie ist auf der Flucht. Seit Dezember 2018 ist Mebrahtu Stipendiatin Yirgalem Fisseha Mebrahtu des Writers-in-Exile-Programms des deutschen PEN. Writers in Exile Writers in Exile Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland Writers in Exile Writers in Exile Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm 8|9 des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland
Sollte all das meine Lebenszeit kappen, bis ich kraftlos zu Boden sinke, werde ich doch Ich lebe noch morgen früh erwachen, Sind der Mond und sein Licht anmutig und stolz von einer dunklen Wolke verhüllt, nennen wir das nicht Mondfinsternis, sollten der scheinbar nie endende Rauch statt zu sagen: Er stirbt? und der Nebel, sich auf mich legen wie um mich Zeigt sich der Mond im Dunst wie zu lieben, schlaftrunken, werde ich doch morgen früh erwachen, kämpft er, auf dass sein Licht nicht anmutig und stolz, verlischt, wie eine nach Myrrhe duftende Braut. sagt er doch stets: »Ich lebe«, Yirgalem Fisseha Mebrahtu damit die Hoffnung der ihn Liebenden nicht welkt. Und so … Negash aus dem Tigrinischen wird auch dieser finstere Wirbelsturm, Übersetzung von Ghirmai Aus dem Englischen von Barbara Krohn nach der der losbrach, mir meinen Tod zu zeigen, der mich zum Weinen brachte, mir den Atem nahm, mich heimsuchte, sich bald schon legen. 10|11
Das Ungleichgewicht der Köpfe Mit dem Quietschen der Tür stopfe ich meine Er verpasste mir ein paar weitere Schläge, aber Zeigefinger fest in die Ohren. Ich will nicht, dass ich steckte sie weg, schämte mich wegen des das Echo der Stimmen in meinem Kopf hallt. Jene Altersunterschieds. Er war auf Streitsuche. Stimmen, deren Echo meine zittrige Seele und Obwohl er mich nicht verstand, schien er gegen meinen gebrochenen Leib weit mehr erschütterten mich aufgehetzt worden zu sein. [...] als das Quietschen der verrosteten Gittertüren. Doch dieses Mal, schlagen sie zu und gießen das tägliche Echo der grauenvollen Töne wie aus einem Schmelztiegel in meine Ohren, bevor ich meine Ohren abdichten kann. Seit sieben Jahren, immer dann, wenn die Tür geöffnet wird, dreht sich eine verrostete Türangel in meinem Kopf. Writers in Ohne meine Augen öffnen zu müssen, nehme ich Exil 2017–2021 den dicken, schlabbrigen Körper der Kranken- Aus dem Kurdischen von Rawezh Salim und Ute Cantera-Lang Das Stipendienprogram Jiyar Jahan Fard des PEN-Zentrums Deut schwester wahr, die wie ein Ungeheuer eine Spur aus Schleim hinter sich herzieht. Ihr Geruch Writers in Exile strömt in alle Zellen meines Leibes und meines Kopfes. Plötzlich spüre ich ihre Faust in meinem Writers in Writers in Exil Bauch, reagiere nicht und halte meine Augen Exile Das Stipendienprogram © Stefanie Silber weiter geschlossen, denn mich umweht ein des PEN-Zentrums Deut tödlicher Gestank, der alles sagt. Wortlos kehre Der kurdische Schriftsteller und Aktivist ich ihr den Rücken und gehe zu meinem eisernen wurde wegen seiner Forschung zur Bettgestell. Sie folgt stampfend und stellt sich kurdischen Sprache und Kultur mehr- neben mein Bett. Meine Augen und Ohren sind fach verhaftet und verhört. verschlossen. Ich will weder ihre Stimme hören Writers Writers in Writers Writers in in Exile Exile in Exile Exile noch ihre Farbe sehen. Ich bin das Sehen und Hören seit langem leid. 12|13
des PEN-Zentrums Deutschland Writers in Exile Neue Zugehörigkeiten Writers Meine in Nationalität: Mensch Writers in zugehörigExile Exile Das Stipendienprogramm der-Zentrums endlosen Weite, des PEN Deutschland dem Erdball, Himmel, Frieden, Traum. Nur dem gehöre ich an, dem ich verbunden bin. © Umar Abdul Nasser Meine Zugehörigkeit festlegen und Writers Writers in Writers Writers in beschränken? Warum? in Exile Exile in Exile Exile Grenzen und Zäune sind unser Desaster. Umar Abdul Nasser Meine Religion: Mensch Der irakische Dichter Writers in und ExileFilmemacher lebte mehr als in Exile Writers Writers in Exile zwei Jahre lang im Versteck vor dem IS, bevor er es verpflichtet Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm schaffte, das-Zentrums des PEN Land für einen Stipendien-Aufenthalt Deutschland bei des PEN-Zentrums Deutschland der desLiebe, PEN-Zentrums Deutschland ICORN in Breslau im Jahr 2016 zu verlassen. Die Arbeit Freigebigkeit und Freundschaft, von Abdul Nasser wurde vom IS als unvereinbar mit Mitgefühl, Bestärkung, Aus dem Arabischen von Leila Chammaa dem islamischen Recht angesehen. Seine Gedichte Lächeln, Writers reflektieren in Exile die Themen Writers Frieden und Freiheit. Seit Juli in Exile Writers in Exile DasAbdul 2019 ist Stipendienprogramm Nasser Stipendiat des PEN-Programms Das Stipendienprogramm Wort, Tat, Form. Das Stipendienprogramm des PEN-Zentrums Deutschland Writers in Exile. des PEN-Zentrums Deutschland Verpflichtet, mich des PEN-Zentrums mit dem Schönen Deutschland zu umgeben, damit das Abscheuliche meine Sicht nicht Writers in Exile Writers in Exile trübt, Writers in Exile Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm Engstirnigkeit nicht die Welt entstellt. Das Stipendienprogramm des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland 14|15
Nenne es Idealismus, nenne es, wie du willst. Was kümmert dich meine Konfession und Mich schert nicht, wie du mich siehst, Religion? wie du es bezeichnest, Warum soll ich mein Innerstes nach außen ob ich dir gefalle. kehren? Warum verurteilst du mich, wenn ich anderer Ich glaube nicht, Ansicht bin? dass Krieg dem Frieden dient, Lass ab von mir, glaube nur an das, stülpe mir keine Namen und Kategorien über, was Leben schenkt reduziere mich nicht auf deine Raster, Muster, Schubladen, mach aus mir keinen Gottesfeind, Verpflichtet bin ich nur dem, dem ich lass die Religion nicht zur Fessel werden. verbunden bin, Ich bin frei, über meine Freiheit bestimmst was keinen Schaden anrichtet, nicht du. mich glücklich macht: Frei bin ich, existiere durch meine Freiheit. Meine Liebste im schönen Kleid zu Frei bin ich, enge mich also nicht ein. betrachten, Fruchtlos ist ein Morgen im Gefängnis, sie am Abend zu küssen. fruchtlos das Gespräch mit dir, Ich glaube nicht, dass Krieg dem Frieden dient, fruchtlos die Logik von Gefolgschaft und glaube nur an das, was Leben schenkt, Ergebenheit. beherrsche nicht die Sprache irgendwelcher Götter, denn mein Gott blickt in die Herzen. Meine Nationalität: Mensch Ich glaube nicht, dass ich alleine bin, Meine Religion: Mensch ich bin ein Volk, das im Traum sich zeigt, Notiere das und bestätige die Notiz. bin der Traum ganzer Völker. [...] Umar Abdul Nasser 16|17
Monolog des Schläfenbeins Das bedeutet, eine Party mit Gratisgetränken steht an. Meine Damen und Herren, im Weiteren spreche ich im Namen eines kleinen Details Allerdings ohne Musik. des menschlichen Körpers, das nicht Also, hier das Schläfenbein, stellen wir es uns vor. einmal ein richtiges Organ ist und für das bloße Auge unsichtbar. Das ist so ein kleines poröses Stück Kalzium und Phosphor, ähnlich einer Schaumstoffplatte … Das Schläfenbein. Warum ich in dessen Namen spreche, bedarf einer Erklärung. Ich hatte einen Freund, der sich mit einer Flobert patrone, einer Patrone Kaliber 22 BB Cap erschossen Writers in hat, also einem sehr kleinen Kaliber. Solche Waffen Exil Aus dem Russischen von Franziska Zwerg nannte man früher »Salon-Pistolen«: Aristokraten 2017–2021 Das Stipendienprogram Aleksei Bobrovnikov des PEN-Zentrums Deut trainierten damit zu Hause am Schießstand, um keinen Lärm zu machen … Writers in Exile Die Waffe nützt nichts bei der Selbstverteidigung und Writers in eignet sich nur zum Schießen auf Pappzielscheiben Writers in Exil oder zum Durchschlagen des Schläfenbeins bei einem Exile Das Stipendienprogram © Stefanie Silber des PEN-Zentrums Deut Schuss aus nächster Nähe. Der ukrainische Autor und investigative Falls einer Ihrer Freunde sich ein solches Set Journalist entlarvte Verbindungen gekauft hat – eine Schachtel Flobertpatronen zwischen einem Schmugglerring und und dazu einen Revolver – dann können Sie dem ukrainischen Militär. sich freuen. Writers Writers in Writers Writers in in Exile Exile in Exile Exile 18|19
Writers in Exile In der Nacht wende ich mich an dich Das Stipendienprogramm des PEN-Zentrums Deutschland Hier bin ich, in der Nacht, meiner eigenen Writers in Nacht, in die ich schlüpfte wie in ein Zelt. Exile Ein bernsteinfarbener Raum ist das hier, Writers in beleuchtet vom Licht einer nackten Glüh Writers in Exile birne, ringsum alles voller Papier. Papier, Exile Das Stipendienprogramm Wörter, Buchstaben, Zeichen, Ikonen, Sym- des PEN-Zentrums Deutschland bole … Ohne Erinnerungen, ohne Menschen. © Carole Parodi Der goldfarbene Schein rahmt die Finster- nis mehr, als dass er sie erhellen würde, ruft die Schatten, häuft sie in die entlegenen Winkel. Sieben erkaltete Tassen umringen ters Aslı Erdoğan Writers in Die türkische Writers in mein Schweigen und randvolle Aschen Exile Exile Exile der in Schriftstellerin war Kolumnistin Tageszeitung Özgür Gündem. Die türkische Polizei ver- becher. Wie ein Fossil aus längst abgeschlos- haftete sie nach dem gescheiterten Putsch 2016 wegen sener Epoche fühle ich mich zwischen dem Störung der nationalen Einheit. Ende 2016 wurde Erdoğan unter Auflagen freigelassen. 2017 durfte sie ausreisen sich ringsum türmenden Papier. Es ist ein Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe undWriters in Exile seit Oktober Writers in Exile 2019 ist sie Teil des Writers-in-Exile- Gefühl, dunkel und bitter wie Kaffeesatz, Programms. Das Seit 2020 will die türkische Stipendienprogramm Justiz die Journa- Das Stipendienprogramm sobald ich das Licht der Wörter darauf fallen des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland listin wieder wegen Propaganda für eine terroristische lasse, ruft es einen Schatten, größer als es Organisation vor Gericht stellen. selbst: meine Einsamkeit … Die Nacht fegt rasch die Gassen leer, kühlt Writers in Exile Writers in Exile Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm die Luft ab, macht die Schatten lang. Die des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland Dunkelheit umhüllt die mächtigen Hügel, 20|21
breitet sich über Plätze und Straßen aus, Meine Augen aber wollen nicht das Licht, sie windet sich gleich einer Schlingpflanze wollen die Realität, das wahre Leben mit all um die Stadt, wächst und wächst. Die seinem Lug und Trug, seinem Elend, seinem vom Tagesgebrauch müden Wörter schlei- Radau und seiner Pracht. Doch ich bin hier, chen zur schweigenden See. Mit einem zwischen gestern und morgen, zwischen Tuten, gefangen vom Nachtwind, läuft Dingen, die endeten, und Dingen, die noch das Schiff aus dem Hafen. Eine jäh erwa- nicht begannen, die vielleicht gar niemals beginnen werden … chende Taube ruft bang ihren Partner. Zwischen meinem das wahre Leben mit Durchs Fenster schaue ich hinaus in die Abbild an der Schei- all seinem Lug und Nacht. Nur in der Ferne vibrierende, be und meinem blinkende, sacht sich regende drei, vier Trug, seinem Elend, wahren Gesicht, Lichter sind von dieser Stadt geblieben, zwischen Zeit und seinem Radau und deren Geschichte sich schier in Urzeiten Nichts, zwischen seiner Pracht. erstreckt. Meine Stadt! Jetzt bietet sie Wörtern und nie- einen Anblick, der oszilliert und trügt mals Gesagtem … Zu dieser zappendusteren wie ihr Widerschein auf dem Wasser. Stunde, in der ich mir furchtbar gern einen anderen Ort oder eine andere Zeit gewünscht Der Schlaf, der sich auf alles Leben gelegt, hätte, bin ich hier. In der Nacht, der immer schloss ein Auge nach dem anderen, das selben, nie endenden, bernsteinfarbenen in die Nacht hinausschauen wollte. Nacht … Von der Wirklichkeit, die jetzt unter den Einer Prophezeiung gleich ragt der drei Wassern liegt, funkelt auf dem harten Jahrhunderte alte Kirchturm auf, versperrt Grund einsam und allein nur dieses von von Anfang an die Wege von morgen, mit Dunkelheit gerahmte Bild, verschwimmt dem Schatten der mächtigen Platane, der mit dem Spiegelbild meines Gesichts. auf ihn fällt. [...] Aslı Erdoğan 22|23
Fünf Theatermonologe Tief Luft holen! Monolog I Für den Tag sammeln, an dem du wiedergeboren wirst! Vieles ist zu sagen, vieles zu tun! Nicht zu früh gebären, der Natur folgen! Viel Wut hat sich aufgestaut, viele noch nicht Warten, beobachten, sammeln! geholte Preise! Wenn der Moment da ist, geboren werden Freunde sind verloren, andere blieben, beim Gebären! manche verschwanden … Entflammen-verschmelzen-sterben-geboren Es ist aufzuarbeiten, es ist abzurechnen! werden-sterben-geboren werden im Tanz des Die Mächtigen tun, was sie wollen, es ist abzurechnen, Kreislaufs von Leben-Tod-Leben! mit dir selbst, mit deinen Freunden - auch sie unter Writers in einander. Die Begriffe sind hohl geworden, Aktionen, Exil Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe Tätigkeiten wissen nicht mehr wohin, deine Ziele wissen 2017–2020 Das Stipendienprogram den Weg nicht mehr! Şehbal Şenyurt Arınlı des PEN-Zentrums Deut Manchmal weiß man nicht, wo man anfangen soll, Writers in greift aufs Geratewohl Wörter heraus. Exile Writers in Die Wörter finden ihren Weg, was zu sagen ist, Writers in Exil wird gesagt. Exile Das Stipendienprogram © Stefanie Silber des PEN-Zentrums Deut Am besten gleich zur Sache kommen! Das politische Engagement der türkischen Aktivistin, Filmemacherin »Ohne große Worte zu machen«, würde man gern und Journalistin, ebenso ihre Verbin- sagen, doch das »Wortemachen« selbst ist ein dungen zu kurdischen Medien, führten großes Wort! zur Inhaftierung. Groß, egal was du sagst! Writers Writers in Writers Writers in in Exile Exile in Exile Exile Vielleicht lieber aufhören! Sofort aufhören! 24|25
Writers in Exil, Heimat, Welt, Schreiben Exile In seiner ursprünglichen Bedeutung beinhaltet Das Stipendienprogramm des PEN-Zentrums Deutschland der Begriff »manfa« (Exil/Verbannung) eine in einem bestimmten Territorium – durch Über- Writers in Exile nahme der Herrschaft oder Besetzung – konso lidierte Macht und die Ausweisung unerwünsch- Writers in ter Personen, die nicht dem führenden Clan Writers in Exile angehören, von den festgelegten Maßstäben Exile © Umar Abdul Nasser Das Stipendienprogramm abweichen oder sich gegen die gesetzgebende des PEN-Zentrums Deutschland Gewalt auflehnen. »Exil/Verbannung« ist somit an drei Faktoren gekoppelt: ein Herrschaftsgebiet plus Gegensatz von »Innen« und »Außen«, schwer überwind- Yassin al-Haj Saleh bare Distanzen und eine verbannende Autorität ters in Yassin Writers Writers al-Haj Saleh ist ein syrischer Schriftsteller in und bzw. Macht. Exile Exile in Regimekritiker, der schon in jungenExile Jahren die Aus Die Besiedlung oder Besetzung eines Gebietes wirkungen der diktatorischen Regierung zu spüren geht mit Sesshaftigkeit, Gesellschaftsbildung bekam: Er saß wegen Mitgliedschaft in einer verbotenen kommunistischen Partei 16 Jahre im Gefängnis. und der Entstehung von Machtgefügen samt Aus dem Arabischen von Leila Chammaa Nach seiner Entlassung schrieb er und engagierte sich entsprechenden Normen einher. Folglich scheint Writers wei in ein terhin für Exile Writers demokratisches Syrien. Seit in Exile Dezember das Konzept von »Exil« im nomadischen Zusam- Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm 2019 ist Yassin al-Haj Saleh Stipendiat des Writers-in- menhang abwegig, da diese Gesellschaften sich, des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland Exile-Programms. von Ort zu Ort ziehend, quasi immerzu selbst »exilieren«. Dennoch ist sesshaften bzw. semi sesshaften Stämmen diese Erfahrung geläufig, Writers in Exile Writers in Exile Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland 26|27
wie das Beispiel von Tarafa ibn al - ´Abd1 ver ◼ deutlicht. »Der ganze Stamm« »verstieß mich«, »setzte mich aus wie ein geteertes Kamel«, schrieb Später wurde dieses dieser in seinem berühmten Gedicht. Tarafa erlitt Ereignis mit dem Terminus offensichtlich eine Form der sozialen Ächtung, weil er ein Verhalten an den Tag legte, das seinem »Auswanderung« (hiǧra) gesellschaftlichen Status nicht angemessen war. assoziiert Er »trank Wein«, »ließ sich von der Lust treiben« und »verprasste sein Geld«. Der Begründer des Islam führte in Medina, dem damaligen Yathrib, selbst ein Exildasein, nachdem Der Prophet Mohammed verbannte Hait und er in seinem Heimatort Mekka verfolgt worden Māti , zwei Männer mit ausgeprägt weiblichen war. Allerdings verwenden der Koran und die Merkmalen, aus Medina. Durch die sogenannte islamische Geschichtsschreibung hierfür nicht »Effeminiertheit« (tahannut-), die keine eindeu- � den Begriff »Verbannung/Exilierung« (nafy), tige geschlechtliche Kategorisierung zuließ, sondern die Wendung »Hinausbeförderung aus sah er die gesellschaftliche Ordnung gefährdet. den Häusern« (al-ihrāǧ min ad-diyār)1, was die »Effeminierte Männer« (muhannat-, pl. muhanna- � � Unfreiwilligkeit betont. Später wurde dieses t-ūn) durften nämlich den Wohnbereich der� Ereignis mit dem Terminus »Auswanderung« Frauen betreten, ohne dass sich letztere verschlei- (hiǧra) assoziiert, wobei dieses Wort wie alle ern mussten. Die Vielfalt sexueller Nuancen relevanten Ableitungen des Verbs »auswandern« widersprach dem dualen Mann-Frau-System (haǧara) positiv konnotiert ist, insbesondere und stellte so die bestehende Hierarchie und nach dem Einzug des Propheten in Yathrib. [...] männliche Dominanz in Frage. Yassin al-Haj Saleh 1 Arabischer Dichter des 6. Jahrhunderts. Einer der sieben Dichter, die in der einschlägigen Anthologie der vorislamischen arabischen 2 Friedrich Rückert überträgt die Wendung in Poesie, bekannt als »al-Mu allaqāt«, vertreten seiner Koranübersetzung mit »von der Heimat sind. [Anm. d. Ü.] vertrieben«, Hans Zirker überträgt sie mit „aus ihren Häusern vertrieben 28|29
Trauer-Tamtam für George Floyd Ken-kenken-kenken-kenken-ken Keleng-kelenkeleng-keleng Ken-kenken-kenken-kenken-ken Keleng-kelenkeleng-keleng Keleng-kelengkeleng-keleng Keleng-kelengkeleng-keleng die Erde bebte Aus dem Französischen von Beate Thill die Erde weinte die Stimme des Trauer-Tamtams ist erklungen selbst China das mich in des Dorfes Mitte gestern noch beleidigte und von Hütte zu Hütte vergoss ein paar Tränen ist die Nachricht gedrungen [...] Ken-kenken-kenken-kenken-ken Keleng-kelengkeleng-keleng Keleng-kelengkeleng-keleng Writers in Exil und das Weinen hat begonnen 2015–2018 Das Stipendienprogram Enoh Meyomesse des PEN-Zentrums Deut in Strömen liefen Tränen Writers in über die Brust der Leute Exile Writers in Ken-kenken-kenken-kenken-ken Writers in Exil Keleng-kelengkeleng-keleng Exile Das Stipendienprogram © Stefanie Silber des PEN-Zentrums Deut Keleng-kelengkeleng-keleng Die gesellschaftlichen Analysen und ein Sohn der Schwarzen Initiativen des Lyrikers und Aktivisten starb unter dem Knie führten zu mehrmaligen Verhaftungen, er hörte auf zu atmen bis hin zur vierjährigen Inhaftiertung. unter dem Knie Writers Writers in Writers Writers in in Exile Exile in Exile Exile 30|31
Die Traurigkeit Writers in Exile Sie überkommt dich wie eine Eingebung Das Stipendienprogramm des PEN-Zentrums Deutschland Mach ihr ein Fenster auf Writers in Putz ihre schwarzen Schuhe Exile Sprich lange mit ihr Writers in Die Traurigkeit ist wie der Hunger Exile © Oliver Lückmann Writers in sie weiß, wie sie dich verzehrt Exile Das Stipendienprogramm Lass sie an deinem Tisch Platz nehmen des PEN-Zentrums Deutschland Biete ihr Wasser an Kholoud Charaf oder schenk ihr warmen Salbeitee ein Kholoud Charaf ist eine syrische Dichterin, Kunst und schau ihr in die Augen Aus dem Arabischen von Kerstin Wilsch kritikerin und Aktivistin. Als Schriftstellerin war Nimm dir Zeit für sie iters in CharafWriters Writers immer wieder von Zensur bedroht. Sie in setzte Sie ist einsam Exile in Exile sich insbesondere Exile von für die Lebensbedingungen Frauen und Kindern im von Bürgerkrieg zerrütteten Deshalb besucht sie dich Syrien ein. Seit September 2020 ist Kholoud Charaf Kholoud Charaf Stipendiatin des Writers-in-Exile-Programms. 2020 wurde Charaf der amerikanische IIE Award verliehen. Writers in Exile Writers in Exile Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland Writers in Exile Writers in Exile Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm 32|33 des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland
wir vergessen, Ein Foto dass wir alle Menschen sind Wir fotografieren die Luft, wie sie uns und dass die ganze Erde verschlingt in diesem kurzen Leben damit die Welt sieht uns gehört Wir fotografieren eine Katze, die nach Aus dem Arabischen von Kerstin Wilsch Kholoud Charaf unseren Knochen schnappt damit die Welt begreift Sorgt euch nicht, wir werden ein bisschen Wir fotografieren die Ameise, die ohn- zornig sein mächtig vom Zuckerstück fiel und unter Tränen mit den Füßen auf den damit die Welt Unbehagen empfindet Boden stampfen Wir fotografieren, um den Schmerz zu Unser Gewissen ist erschüttert und so setzen dokumentieren wir uns anders hin damit ihn andere vermeiden Erschüttert sind auch unsere Seelen Doch die Welt wendet sich ab doch schnell wechselt die Welt den Sender Wir fotografieren mit einer echten Wir sterben in Massen Panasonic ein Kind ertrinkt wie Kinder hungern Zufällig sieht das die Welt und die Welt wird davon satt und empfindet ein wenig Unbehagen Wir fotografieren, damit er sieht und Dann rettet sie ein paar von uns ich und du und wir vergessen, dass wir alle Menschen sind Doch nur die Kamera sieht wirklich und dass die ganze Erde Wer hat gesagt, die Welt habe Augen in diesem kurzen Leben und Zeit, um zu sehen uns gehört 34|35
Mutter Mutter (versucht, sich ihr Entsetzen nicht anmerken Interieur. Lisas Wohnung. Tag. zu lassen) Eine zeitgenössische Standardwohnung, die sich durch Was ist denn los, Mädel? nichts Besonderes auszeichnet, (vermutlich) auf dem Lisa Nutsubidse-Plateau1. Lisas Mutter steht am Gasherd (spricht der Mutter ironisch nach) und rührt mit der Kelle im Suppentopf. Lisa sitzt Was ist denn los, Mädel? am Tisch. Vor ihr steht ein leerer Teller. Lisa ist in Gedanken versunken. Die Mutter dreht sich um und Mutter schenkt ihr Suppe ein. Der Anblick der Suppe reißt Lisa (verwirrt) aus ihren Gedanken. Sie verzieht voller Abscheu ihr Ist dir was passiert mein Mädchen? Gesicht. Sie schiebt den Teller abrupt zur Seite, so dass Deine Nerven sind ja in einem Zustand …! die Suppe auf den Tisch schwappt. Writers in Lisa Exil 2014–2017 Das Stipendienprogram (entsetzt) Zaza Burchuladze des PEN-Zentrums Deut Schon wieder Suppe? Writers in Die Mutter steht da, die Kelle in der Hand und schaut Exile Lisa entrüstet an. Writers in Writers in Exil Lisa Exile © Simone Ahrend Das Stipendienprogram des PEN-Zentrums Deut (voller Abscheu) Der Schriftsteller und Übersetzer Ich werde hier noch selbst zur Suppe! greift viele Themen auf, die in seinem Natia Mikeladse-Bachsoliani Land als Tabus gelten. Deshalb Aus dem Georgischen von wurde er in seiner Heimat Georgien 1 Ein Viertel in Tbilissi mit Plattenbauten verfolgt und bedroht. aus den Achtziger Jahren sowie neuen Writers Writers in Writers Writers in Wohnkomplexen. [Anm. d. Ü.] in Exile Exile in Exile Exile 36|37
Das Stipendienprogramm des PEN-Zentrums Deutschland Writers in Tal der Vögel Exile Writers in Wir schließen die Tür ab, Writers in Exile gehn fort ins Tal der Vögel. Exile Das Stipendienprogramm Du warte noch, des PEN-Zentrums Deutschland ich lösch die Lichter, dass niemand uns im Wege stehe. © Oliver Lückmann ers in Writers Writers in Am Baum, wo die Waldtaube singt, xile in Exile Exile Da setz dich hin, ruh aus. Bin ich nicht da – Anzhelina Polonskaya Anzhelina Polonskaya ist eine russische Dichterin, dreh dich nicht um Librettistin Writers und Autorin. Sie beschäftigte sich in Exile mit dem Writers in Exile und schrei nicht auf. umstrittenen Fall des im Jahr 2000 gesunkenen U-Boots Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm Die Stille schützt dich. »Kursk«, des das 118 PEN-Zentrums Menschen das Leben Deutschland deskostete. Seitdem PEN-Zentrums Deutschland und wegen ihrer regierungskritischen Äußerungen ist Aus dem Russischen von Franziska Zwerg Polonskaya Bedrohungen durch die Regierung ausge- Bin ich nicht da – setzt. Seit Mitte September 2020 ist sie Stipendiatin im ist Feuer unbesiegbar. Writers in Exile Writers-in-Exile-Programm des deutschenWriters PEN. in Exile Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm Aber der Segler, dort über dir, des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland beschreibt einen Kreis! Den Kopf in den Nacken, schau hin zu ihm. Writers in Exile Writers in Exile Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm Anzhelina Polonskaya des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland 38|39
Zurück zur Asche Und hier am Zurück zur Asche, Endpunkt wozu sonst zurück. Kurz ohne Wiederkehr nach Norden, aber eigentlich weiß ich, auf ewig. du warst Die Wolken schweben, wie sie schwebten. einmal bei mir Verräterisch wie Verräter. Und fortgeleitet wie immer – im Morgengrau Kalter Mai sind die Namenlosen und die mit Namen. Kalter Mai, kalter Weg des Lebens. Von Mohn durchsteppte Feuer brennen, doch sind alle fremd, Fremdes Blut will sich nicht regen, Gräser, Aus dem Russischen von Franziska Zwerg es frieret nur. vom Mohn zerschnittne Hände, Und nimmt man da ein gängiges Gewehr aus wachem Geist schneide und schaut durch das Visier in die Gesichter: der Blütenstände Perlen. Weshalb bin ich? Weshalb so lange hier, Doktor der Glasampullen, gib Aus dem Russischen von Franziska Zwerg dass Zeit es ist, sich diesem Punkt zu nähern. mehr vom Vergessen, Die Feuer brennen hoch und unter mir. allein ein paar Tropfen – Und hier am Endpunkt ohne Wiederkehr Plätschern des Abendsterns. weiß ich, du warst einmal bei mir, Doch jetzt nicht mehr. Mehr ist nicht nötig. Anzhelina Polonskaya Anzhelina Polonskaya 40|41
Pandemie Irgendjemand hustet Angst macht sich breit, Unsicherheit, 1-Isolation Schweigen. Alles ist jetzt ruhig, doch hinter dem Fenster Der Schreck verfliegt, alles ist wieder vertraut hinter der dicken Scheibe aus Angst als zwei Körper zusammenprallen, außerhalb der Wohnung sich umarmen die brechend voll ist mit Essen und Desinfektionsmitteln [...] erwacht der Wald, räkelt sich, geht spazieren. 2-Ausgangsbeschränkungen Die Regierung erlaubt, Haustiere morgens eine halbe Stunde lang Gassi zu führen. Writers in Ich nutze die Gelegenheit, nehme meine Exil 2014–2017 Das Stipendienprogram Unrast an die Leine Yamen Hussein des PEN-Zentrums Deut lege ihr einen Maulkorb an, damit sie Writers in keinen beißt Exile dann gehen wir gemeinsam hinaus, Writers in genießen die Sonne. Writers in Exil Exile Aus dem Arabischen von Leila Chammaa Das Stipendienprogram © Roland Baege des PEN-Zentrums Deut 3-Schreck Am Bahnhof – Menschen auf Abstand hinter Der Dichter und Journalist verfasste Plastik und Glas zahlreiche regimekritische Artikel, durch die er schon früh ins Visier der jeder ein Land für sich, die Grenzen dicht syrischen Sicherheitsbehörden geriet. vor den Zähnen ein Maulkorb wie ein bissiger Writers Writers in Writers Writers in in Exile Exile in Exile Exile Hund. 42|43
Writers in Ausländer (Romanauszug) Exile Nicht wenn er erlebt, ist der Mensch glücklich, Das Stipendienprogramm des PEN-Zentrums Deutschland sondern wenn er sich erinnert. Writers in Gehen wir fort von hier Exile Es war die Zeit, in der wohl alle den Plan hatten, das Land zu verlassen. Es ging uns nicht gut. Uns Writers in Writers in Exile war klar geworden, dass die schönen Tage, die wir Exile nicht richtig zu schätzen gewusst hatten, nun für © Umar Abdul Nasser Das Stipendienprogramm des PEN-Zentrums Deutschland immer vorbei waren. Der Sommer hatte gerade begonnen, doch es war schon extrem heiß. Zwar war es vielleicht genauso heiß wie in den vergangenen Jahren, doch die Stadt war für uns Barbaros Altuğ nicht mehr dieselbe; eine lange währende Gemein- ers in Writers Barbaros Writers Altuğ ist ein türkischer Schriftsteller, in Journa- schaft schien langsam zu zerfallen. Unsere Stamm- xile Exile list und Exile inLiteraturagent. Als Kolumnist und Autor über lokale hatten geschlossen, unsere Lieblingsdichter LGBT- und Minderheitenrechte in der Türkei erhielt er saßen im Gefängnis und es gab immer weniger Morddrohungen. Aufgrund des sensiblen Inhalts seiner Bücher, die wir noch hätten lesen wollen. Aus dem Türkischen von Johannes Neuner Texte wurden diese teilweise nicht auf Türkisch veröf- fentlicht. Nach dem gescheiterten Putsch 2016 und den »Jedenfalls war noch keine von uns dort«, sagte Writers in Exile zunehmenden Writers Repressionen floh er aus der Türkei.in Exile Suna, indem sie den Rauch ihrer Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm Seit Dezember 2020 ist Altuğ Stipendiat des Writers-in- extrem dünnen Zigarette zur Seite fortblies. Wir des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland Exile-Programms. saßen an einem schattigen Tisch am Ende einer rechts und links von Cafés gesäumten Straße in Cihangir und tranken Eistee. Wie fast alle redeten Writers in Exile Writers in Exile auch wir darüber, die Stadt zu verlassen. Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland 44|45
Sunas Freundin war mitsamt ihrer drei Kinder Vielleicht hatte der Wodka, mit dem wir den Eistee nach Lissabon ausgewandert und kam offenbar angereichert hatten, seinen Teil dazu beigetragen, aus dem Schwärmen nicht mehr heraus. Auswan- aber so war es jetzt eben. Wir würden nach Lissa- dern wollten wir zwar nicht, aber wenigstens bon fliegen: Suna, Tuba und ich, Dunya. Vielleicht war es ebenso dem Wodka zu verdanken, dass wir Auswandern wollten keinerlei Angst mehr vor den Düsenjägern hatten, wir zwar nicht, aber die noch im letzten Monat über dieselben Straßen wenigstens wieder frei geflogen waren, durch die wir nun gingen, ohne uns im Schatten der Bäume verstecken zu können, atmen können. die es lang nicht mehr gab. Seit einer Ewigkeit waren wir erstmals wieder von Hoffnung erfüllt. wieder frei atmen können. »Fünf Tage lang gefällt Wie sehr jede von uns, zumindest vorübergehend, es einem überall, aber vor allem dort, wo man auf diese Hoffnung angewiesen war, das sollten noch nie war«, sagte Suna. Da hatte sie recht; wir in Lissabon erfahren. nahezu alles ist schön, wenn man es gerade neu Barbaros Altuğ [...] entdeckt. »Mir ist es egal, ich hab ja sowieso nichts zu tun«, sagte Tuba. Sie gehörte seit einem Jahr zu der Heerschar arbeitsloser Journalisten. »Wenn du gut genug wärst, hätten sie dich eingesperrt. Aber deine Artikel waren einfach zu harmlos, also wurdest du nur entlassen«, so zogen wir sie auf. Als wir von unserem Tisch aufstanden, war schon alles unter Dach und Fach. Wir hatten Tickets für den Flug nach Lissabon um 11.50 Uhr des nächsten Tages gebucht und einen Mietwagen reserviert. 46|47
Verrat Wenn das Leben durchaus und den trügerischen Glanz in deinen Augen jene Maske tragen will und doch verbringe ich mit dir den Abend darf ich es nicht tadeln oder mich beklagen Du trinkst aus meinem Glas Ich trage einfach eine hässlichere und legst dich auf meine Lippen und laufe gleichgültig neben ihm her Vielleicht entreißt dich mir Die Sterne in mir fliegen ein unverschämter Augenblick hin zu einer Kerze vielleicht auch mich dir deren Glut unter meiner Asche ruht Du geliebter Verräter Blickt das Leben finster drein tue ich‘s ihm gleich Writers in Gibt es vor zu lächeln so lächle ich auch Exil Eilt es davon schlurfe ich ihm hinterher 2013–2016 Das Stipendienprogram Najet Adouani des PEN-Zentrums Deut und stolpere über seine lange Schleppe Writers in Wo werden wir uns heute Nacht vergnügen Exile liebes Leben Writers in In einer pharaonischen Schänke Writers in Exil Exile Aus dem Arabischen von Kerstin Wilsch oder einem Tempel aus der Dschahiliyya © Simone Ahrend Das Stipendienprogram des PEN-Zentrums Deut Doch dass du mich einer Geliebten gleich in deine Arme schließen wirst und mit mir Wegen ihrer Arbeit für Meinungsfreiheit und Frauenrechte war Adouani in tanzen Tunesien immensen Bedrohungen aus- glaub ich nicht gesetzt. Sie musste ins Exil fliehen. Ich hasse dich Writers Writers in Writers Writers in in Exile Exile in Exile Exile 48|49
Writers in die Tekke Vater und Exile Er fürchtete sich wohl. Plötzlich schwoll Das Stipendienprogramm die Welle an. Vom Felsrand aus griff sie auf des PEN-Zentrums Deutschland seinen Schuh über. Eine Weile wogte es in Writers in ihm zwischen lau und schneidend kalt. Die Exile Brandung erfasste sein Haar an den Wur- Writers zeln undinschlang es ihm ums Handgelenk. Writers in Exile Er fiel hin. Kleiner Kies in der Handfläche, Exile er musste ihn abschütteln. Er stützte sich Das Stipendienprogramm des PEN-Zentrums auf dieDeutschland Hand, erhob sich. Tiefe Furchen in der Haut haben. Die Wolken aufreißen. © privat Geht die Sonne noch nicht unter? Wird der Himmel nicht bald rot? Die Wellen sollen hochschlagen, sollen ihn verschlucken. Nazli Karabıyıkoğlu Die türkische Writers Autorin und Aktivistin unterstützte Writers in Writers Writers Er trat aus der Tekke, dem Rückzugsort in aufgrund Exile Exile in Exile in der politischen und geschlechterspezifischen Exile des Derwischordens. Auf den Lippen noch Unterdrückung in der Türkei die Gründung der türki- der Geschmack des Rocks, an dem er das schen #Metoo-Bewegung und setzte sich für politische Gesicht gerieben hatte. Im linken Ohr Minderheiten ein. Sie lebte als queere Frau unter der hallte ihm der gekeuchte Singsang nach, ständigen Angst, verhaftet oder getötet zu werden. schlimmer als der Schrei aus seinem eige- Aus dem Türkischen von Eva Lacour Writers inist Karabıyıkoğlu Exile Writers seit Februar 2021 Stipendiatin desin Exile Writers in Exile Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm nen Mund. Er hielt sich den Kopf, den er Das Stipendienprogramm Writers-in-Exile-Programms. des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland nicht des PEN einmal -Zentrums hatte heben können, um sein Deutschland schönes Gesicht zu betrachten. Wie viele Jahre schon, er ärgerte sich. Sein Knöchel – au – stieß gegen die schiefen, runden Steine Writers in Exile Writers in Exile desWriters Wegs. Erinknickte Exile um. Holte etwas Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland 50|51
Speichel zwischen den Lippen hervor und tupfte die er auf die Rückseite des wer-weiß-wievielten ihn auf die leicht gerötete Stelle. Während sein Dschuz’2 geschrieben hatte, und lehnte den Kopf Blick auf den Vogel fiel, der sich auf dem Dach an die Schulter seiner echten Mutter. eines der alten Holzhäuser niedergelassen hatte, Sie zappelte ein bisschen. Das war unangenehm. spürte er würgenden Ekel beim Gedanken an Er schielte über das Ende des Löffels, der über das die Suppe, die von Vaters Bart troff. Er trat auf Pilawgericht glitt. Die Körner in Vaters Schnurr- die Stufe, um an der Tür zu klopfen. Man machte bart sprachen: »Sie haben das Gottvertrauen und ihm auf. »Schwer, schwer, schwere Zeiten«, die Nacht vergessen. Ich habe Druckschriften in die Finger bekommen. Lies sie nicht. Habe einen Sie sagten, er rezitiere viel, Blick hinein geworfen. Sie haben wohl vergessen, rezitiere gut, spreche deutlich, was für einen mächtigen Schatten der Sultan wirft! mit guter Melodie. Die leben wie in der Wüste, wo die Sonne hoch steht.« Er war gerettet. In seinem sechzehnten Lebensjahr hatte er ange- fangen, in die Tekke zu gehen, um der Schlechtig- stotterte der Vater, an dessen Tisch er sich setzte. keit des Vaters zu entgehen. Sie sagten, er rezitiere Sie beteten. Sie dankten Gott. Die Tarhanasuppe viel, rezitiere gut, spreche deutlich, mit guter tropfte vom Löffel. Die Mütter schauten und Melodie. Er war gerettet. waren so geistesgegenwärtig, Brot zu reichen. [...] Nazli Karabıyıkoğlu Sie zogen das Salz unter dem Mund fort, der für das geheiligte Dasein von Sultan Abdülhamid1 dankte. Obwohl sein Verstand, der aus seinem Mund strömen könnte, schrie, es sei schwer, schwer, schwer zu schlucken, bezwang er seinen Magen. Ungeduldig wartete er auf das Kohle becken, um die Geschichte fortsetzen zu können, 1 Abdülhamid II, von 1876 bis 1909 Sultan des Osmanischen Reichs 2 Dreißigster Teil des Koran. 52|53
Die geplatzte Indienreise ins Grübeln. Ich frage mich, wohin sie Farnaz und Tal’at wohl gebracht haben. Ich trommele mit Die Zelle, in der ich sitze, war früher offenbar in beiden Fäusten links und rechts gegen die Zellen- zwei Räume unterteilt. Als die kanadisch-irani- wände und hoffe, dass ich aus einer Nachbarzelle sche Journalistin Sarah Kasemi hier vor Jahren Antwort bekomme. Vergebens. umkam und Berichterstatter für Menschenrech- Ich rufe die Wärterin. Die Person, die nach der te Evin inspiziert haben, wurde vermutlich aus gründlichen Prüfung all meiner Körperöffnungen zwei Zellen eine gemacht, damit die Einzelzelle meine Zelle verlassen, die Zellentür hinter sich weniger dunkel und eng wäre. Zwei niedrige geschlossen, durch die Luke in der Tür geschaut Türen, dicht nebeneinander, zwei winzige Luken und mir dabei leise, fast flüsternd, eingeschärft in der Decke, durch die Tageslicht dringt, ohne hatte, dass ich sie nicht rufen, sondern bei Bedarf dass man den Himmel sieht. Der Mörtelstreifen nur klingeln dürfe. [...] an der Decke verrät, dass eine Trennwand eingerissen wurde, und bestätigt meine Vermu- Writers in tung. Zwei stillgelegte Toiletten, aus dem Rand Exil 2011–2013 Das Stipendienprogram der einen Schüssel ist ein Stück herausgebro- Mansoureh Shojaee des PEN-Zentrums Deut chen. Hatte ich gehört oder gelesen, dass man in Writers in 1 den Sechzigerjahren Häftlinge im Verlauf von Exile Verhören oder bei Folterungen kopfüber in Writers in Toilettenbecken getaucht hat? Einer hat sich Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich Writers in Exil gewiss dagegen gewehrt. Also hat man seinen Exile Das Stipendienprogram des PEN-Zentrums Deut Schädel gegen den Beckenrand geschlagen. Dabei Die Autorin und Übersetzerin gehört © privat entstand diese Scharte. Das bringt mich wieder zu den führenden Köpfen der iranischen Frauenrechtsbewegung. Wegen ihres Engagements wurde sie mehrfach 1 Gemeint sind die 1360er nach moderner verhaftet. iranischer Zeitrechnung. Das Jahrzehnt Writers Writers in Writers Writers in entspricht zwar den 1980ern westlicher Zeit, in Exile Exile in Exile Exile wird hier aber in Anspielung auf die Bedeutung der Sechziger in Iran und der Sechziger im Westen genannt. 54|55
Writers in Exile ich wache nach den weckern anderer leute auf Writers in Writers in Exile ich schreibe die texte anderer leute um Exile Das Stipendienprogramm ich denke an die toten anderer leute ich treffe die freunde anderer leute des PEN-Zentrums Deutschland ich spreche die sprachen anderer leute ich mache fotos mit den kindern anderer leute ich streichle die katzen anderer leute ich lebe in niemandes zimmer © Helmut Lunghammer ich lese niemandes bücher ters in Writers Writers in ich esse mit niemandes gabel Exile in Exile Exile und schneide mit niemandes messer ich schlafe unter niemandes decke so lerne ich gast zu sein in den weiten anderer menschen in niemandes weit Volha Hapeyeva Writers in Exile Writers in Exile DasDie Lyrikerin, promovierte Linguistin Stipendienprogramm und Übersetzerin Das Stipendienprogramm damit ich wenn ich nicht mehr willkommen bin des Volha Hapeyeva PEN-Zentrums wurde 1982 in Minsk Deutschland (Belarus) des PEN geboren. -Zentrums Deutschland endlich meinen eigenen tod sterben kann Seit den brutalen Auseinandersetzungen im Osten der Ukraine fanden auch immer mehr politische Themen Volha Hapeyeva Eingang in ihre Texte. Deshalb geriet sie schnell ins Writers Visier in Exile des Geheimdienstes KGB und lebt nunWriters unter in derExile Matthias Göritz, Martina Jakobson Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm ständigen Angst festgenommen zu werden. Hapeyeva ist des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland seit Mai 2021 Stipendiatin des Writers-in-Exile-Pro- gramms. Aus dem Belarussischen von Writers in Exile Writers in Exile und Uljana Wolf Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland 56|57
Laryssa arbeitet in einem laden, der krankenwagen wird nicht kommen Nastja studiert medizin und die 100.000 kilometer blutgefäße sind auf einmal unnötig mama wusstest du dass der oberschenkel knochen aber das ist hier das schussfeld im menschlichen körper der größte ist und der krankenwagen wird nicht kommen und wir 100.000 kilometer lange und die 100.000 kilometer blutgefäße blutgefäße haben sind auf einmal unnötig weil das was durch sie floss das ist mein schlaues mädchen lass uns essen ausgeflossen ist schrapnellwunde am thorax mama hier bin ich in den nachrichten innere blutungen meine größte errungenschaft war wohl schnittwunde am oberschenkel durch mörserbeschuss schädelfraktur zu sterben ich lese den traumabericht und weiter mit bitterem lächeln: und denke: Aus dem Belarussischen von Matthias Göritz, am internationalen tag der katastrophen wie das wohl ist vorbeugung den längsten knochen mit eigenen augen zu Martina Jakobson und Uljana Wolf sehen nicht als anatomische figur im klassen- ein unbedeutender tag in der geschichte zimmer sondern im eigenen bein unbedeutender menschen und noch 20 minuten lang darauf zu hoffen dass der krankenwagen kommt Volha Hapeyeva um dich zu retten und mama und alle-alle 58|59
Berliner Haschisch stinkt nach Urin habe, oder – was wahrscheinlicher ist – daran, dass ich noch immer nicht weiß, worüber ich Ist der Mensch wirklich das Produkt seiner Umge- in ein paar Stunden reden soll, und deswegen bung? Selbst unser Geruchssinn kann uns täuschen. zunehmend nervös werde – jedenfalls fühlt Die Schlote sind so weit weg, und dennoch glaube sich das orangefarbene Hemd, das mir an ich in diesem Moment ganz deutlich die Ausdüns- Rücken und Bauch spannt, nasskalt an, und tungen von Schimmel und Urin zu riechen, die mir meine Brillengläser sind beschlagen von dem von den mit billigem Waschpulver geschrubbten Schweiß, der mir aus dem Gesicht sickert. hölzernen Bettgestellen aus dem Gefängnis so ver- traut sind – es ist absurd! [...] Und diese absurde Station hier ist die Starthalte stelle sowohl für die U2 als auch für die U12, die Writers in Exil auf halber Strecke voneinander abzweigen. Heute 2009–2012 Das Stipendienprogram nehme ich die U2 und fahre zum deutschen Par Zhou Qing des PEN-Zentrums Deut lament, um dort eine Rede zu halten – cool, oder? Writers in Krass, oder? Drauf geschissen! So geht es nun Exile mal auf der Welt zu: Alle paar Jahre hält man für Writers in Aus dem Chinesischen von Marc Hermann Writers in Exil alles Mögliche eine Gedenkveranstaltung ab und Exile Das Stipendienprogram des PEN-Zentrums Deut tut damit symbolisch seiner Pflicht Genüge. © privat Der chinesische Journalist, Sachbuch Und vielleicht schaffe ich es heute, auch noch autor und politischer Berichterstatter diesen bescheidenen Rest an Sinn zu zerstören. musste wegen Beteiligung an der Ob es nun an dem dunkelgrünen Anzug liegt, Demokratiebewegung ins Gefängnis. den ich mir in stillem Einvernehmen mit den Writers Writers in Writers Writers in in Exile Exile in Exile Exile Grünen, die mich eingeladen haben, angezogen 60|61
Hände im Schatten Writers in Die Tür öffnete sich, die Wärterin stand mit Exile dem Tablett auf der Türschwelle und rief: Das Stipendienprogramm »Asra, komm, nimm dieses Tablett.« des PEN-Zentrums Deutschland »Warum hast sie zerkleinert?« Writers in »Rede nicht! Nimm es und gib jeder ein Exile Stückchen.« Writers in Asra stellte das Tablett voller Möhren in die Writers in Exile Mitte des Raums. Die anderen Frauen, die alle Exile Das Stipendienprogramm mit etwas beschäftigt waren, drehten sich um, des PEN-Zentrums Deutschland © privat warfen einen Blick und lachten insgeheim. »Immer ist es deine Schuld, Problemtante!« Anise Jafarimehr »Wenn du damals nicht so ungeduldig gewe- Die iranische Schriftstellerin, Sprachlehrerin und Kultur- sen wärest und eine Stunde gewartet hättest, aktivistin wurde aufgrund ihrer schriftsteller ischen Tätigkeit wäre jetzt …« ters in che undWriters Writers und politischen Arbeit zur Erhaltung der kurindischen Spra- Die beiden Wärterinnen und und etwa zehn Exile in Exile Kultur von iranischen Exile Sicherheitskräften verfolgt. von den Frauen zerrten eine weitere Frau Aus dem Persischen von Hartmut Niemann Die kritische Aktivistin wurde bereits mehrfach verhaftet und sah sich physischer sowie psychischer Gewalt ausgesetzt. herein. Ich erwachte von ihrem Geschrei. Jafarimehr ist seit September 2021 Stipendiatin des Writers- Ich beugte mich aus meinem Bett, damit ich in-Exile-Programms. sie besser sehen konnte. Die Frau, die mit Writers in Exile Writers in Exile Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm dem Rücken zu mir stand, hielt den Gürtel des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland ihrer Hose fest in der Hand, während zehn bis zwölf weitere Frauen versuchten ihr die Hose herunterzuziehen. Das war es, was Writers in Exile Writers in Exile Das Stipendienprogramm Das Stipendienprogramm 62|63 des PEN-Zentrums Deutschland des PEN-Zentrums Deutschland
ich an diesem Winternachmittag sah. Es war konnte nichts tun. Die anderen Frauen taten vergeblich, nach einem Moment zogen sie dasselbe nachdem sie an der Reihe waren. ihr die Hose herunter, nur der Hosengürtel Die Wärterin mit dem rechten Bein der Frau blieb in der Hand der Frau. schrie diese an: »Wo ist es, du schamlose Jede der Wärterinnen hatte eines der Beine Schlampe?« gefasst und spreizten sie auseinander. Sie gab der Frau keinen Moment Gelegenheit Zwei der Frauen hatten auch ihre Ärmel zu antworten. Die Wärterin, die das linke hochgezogen. Raziyeh war die erste, die ihre Bein der Frau hielt, befahl den Frauen: Hände zwischen die Beine steckte. Ich war »Ist doch klar, dass sie nichts sagen will, an meinem Platz wie gelähmt und ich weiss macht mal hin und sucht noch mal.« nicht, warum ich keinen Gedanken fassen Raziyeh und Zeynab gingen weiter nach vorn, konnte. Raziyeh schüttelte unzufrieden ihren dabei schob Raziyeh ihre Hand vor, Zeynab Kopf und sagte nichts. In dem Moment ergriff ihre Haare und zog sie zurück: ergriff Zeynab Raziyehs Schulter, zog sie »Raziyeh, Du es kapierst nicht, bring hier die Reihenfolge nicht durcheinander!« Ich war an meinem »Was ist denn, Schwester, ist doch hier nicht Platz wie gelähmt und die Schlange vor der Bäckerei, dass ich nicht ich weiss nicht, warum an Dir vorbei kann. Das hat doch nichts mit ich keinen Gedanken dem Alter zu tun, ich habe mehr Erfahrung als Du, also muss ich als erste dran sein.« fassen konnte. »Nun halt mal die Klappe! Wenn Du so zurück, ging nach vorn und mit dem Zorn, erfahren wärest, hättest Du es letztes Mal der in ihr schlummerte, presste sie ihren gefunden!« Unterarm bis zum Ellenbogen zwischen die Anise Jafarimehr Beine. Die Frau atmete schwer, und sie 64|65
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