"mein avatar ist besser als ich" - curd michael hockel

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Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien

Curd Michael Hockel

„Mein Avatar ist besser als ich“
Mediale „Mehrfach-Leben“ im Jugendalter als Problem beim Entwickeln einer gesunden,
funktionstüchtigen „Patchworkidentität“

                                                Der Brockhaus beschreibt „Avata-          und Trollen, Schamanen oder wasch-
                                            ra“ als „die Verkörperung eines Got-          echten Schurken schlüpfen. Sie können
                                            tes auf Erden, besonders die Verkörpe-        alleine oder in „Gilden“ gegeneinander
                                            rung des Vishnu. Er nimmt auf der Erde        spielen.
                                            Gestalt an, um die bedrohte Weltord-
                                            nung (dharma) zu schützen oder wie-               Nach meinen persönlichen Erfah-
                                            der herzustellen…. Die Zahl der Avatara       rungen mit der Vielfalt solcher animier-
                                            schwankt; auch Buddha wird unter die          ter Profile haben diese den Rang von
                                            Avatara gerechnet.“                           „Experimentalidentitäten“. Und da ich
                                                                                          als personzentrierter Kinder- und Ju-
                                                Als 1992 Neal Stephenson in seinem        gendlichenpsychotherapeut mit Iden-
                                            Science-Fiction-Roman Snow Crash den          titätsentwicklung und Identitätssuche
                                            Begriff auf das Bild eines Avatar redu-       stets konfrontiert bin, habe ich einige
                                            zierte und diesen Begriff populär mach-       der Erfahrungen hier zusammengestellt.
                                            te, konnte er nicht wissen, dass er damit
                                            den bündigen Leitbegriff für die inzwi-           Eine Leitfrage der kinderpsychothe-
                                            schen herangewachsene Konfiguration           rapeutischen Fachdiskussion war in den
                                            einer künstlichen „Persönlichkeit/Iden-       letzten Jahren die Frage nach der Gene-
                                            tität“, einer Rollenspielfigur im Internet,   se der Gewalt, dem Thema einer ersten
                                            geprägt hatte. Innerhalb der Compu-           Expertenkonferenz der Hans Seidl Stif-
                                            terszene wird ein Avatar nicht so „psy-       tung bereits 19941. Inzwischen wird di-
                                            chologisch“ gesehen. Er kennzeichnet          ese Frage u. a. zentriert auf die (behaup-
                                            nur ein vom User (Nutzer) selbst ge-          teten/bewiesenen?) Gewalt fördernden
                                            schaffenes und animiertes Profil. Ein         Auswirkungen von Medienkonsum.
                                            Avatar ist also eine künstliche, virtuelle    Meine Ausführungen wollen hierzu ei-
                                            Person oder ein grafischer Stellvertre-       nen erfahrungsbegründeten Zwischen-
                                            ter einer echten Person in der virtuellen     ruf darstellen.
                                            Welt, beispielsweise in einem Compu-
                                            terspiel. Im „Second Life“, einem auch
                                            in Deutschland zunehmend populärer            1.	Identitätssuche
Curd Michael Hockel                         werdenden Computerspiel, kann sich
cm@hockel.net                               jeder Spieler neu erfinden, sich seinen           Wenn einst ein Jugendlicher in den
                                            Wunschcharakter verpassen. Ein „Ver-          Spiegel blickte um zu sehen „aus wel-
Diplom Psychologe, Studium der Phi-         lierer“ im echten Leben kann im Spiel         chem Holz bin ich geschnitzt?“, so
losophie, eigene psychologische und         zum großartigen Gewinner werden,              machte er keinen großen Fehler. Noch
psychotherapeutische Praxis, Ge-            ein Unsportlicher darf sportlich sein, ein    zu Goethes Zeiten wurde über die Ei-
sprächspsychotherapeut GwG, Grün-           Schwarzhaariger blondgelockt… Kurz-           genschaften von Werther und anderen
dungspräsident der Europäischen             um, jede/jeder kann die- oder derje-          Figuren, ja sogar über wirkliche Persön-
Förderation der Berufsverbände von          nige sein, der er im realen Leben ger-        lichkeiten so gedacht: Menschen haben
Psychologen, EFPA, Lehrbeauftrag-           ne wäre, aber nicht ist. Im Second Life       Charakter, und das ist etwas von Ge-
ter am Lehrstuhl Klinische Psycholo-        kann man Geschäfte machen, Grund-             wicht, messbar in seiner Qualität wie
gie der LMU-München, Dozent und             stücke kaufen, lügen und betrügen, lie-       andere Substanzen. Selbst die Psycho-
Supervisor für mehrere staatlich an-        ben und leiden. In Fantasiespielen wie        logie hat in den ersten Entwicklungsjah-
erkannte Psychotherapieausbildungs-         „World of Warcraft“, dem weltweit am          ren des Faches noch nach solcher ding-
institute, Herausgeber des Handbuchs        meisten gespielten „Massen-Multiplay-         haften Identität geforscht. Ein Holzweg.
der angewandten Psychologie (Eco-           er-Online-Rollenspiel“, können die Spie-
med)                                        ler in die mystischen Rollen von Tauren

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Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien

    Später begriffen sich junge Men-         handeln meint, mutig und selbstver-          enten, die meine Zugangsmöglichkeit
schen als Teil eines Systems; in das Wur-    trauend zu handeln. Erlebt sich ein jun-     ins Netz nutzen wollten, um sich Anre-
zelwerk ihres Herkommens, auf den            ger Mensch kompetent in bestimmten           gungen für Schularbeiten zu holen oder
trüben Spiegel ihrer „unbewussten“           Fertigkeiten („Ballern“ oder „Dichten“),     die mir demonstrierten, welche bedeut-
Konfliktgeschichte blickend versuchten       so kann es dazu kommen, dass er sei-         samen Inhalte für sie dort zugänglich
sie zu erkennen, was denn in der Tie-        nen neu erworbenen Fertigkeiten mehr         waren (von altmodischen Musikstar-Fan-
fe ihrer Psyche sei. Das „Erkenne Dich       vertraut als seinen erlernten Werten. Als    Clubseiten über „Lieblingscomputer-
selbst!“ wurde zur reflektorisch–analy-      Rückseite der Mut – und Selbstvertrau-       spiele“ zu „Blogs“ und „chatrooms“).
tischen Detektivarbeit. Im System von        ensmedaille wird hier die Frage nach der
Es-Ich-Über-Ich seine eigene Systemkon-      Selbststeuerungskompetenz zentral, der           Inzwischen verwalte ich mei-
figuration, seine eigene „Zusammenset-       Fähigkeit eigenes Handeln in Grenzen         ne Homepage selbst, nutze das uner-
zung“, zu ermitteln, war leidvolles oder     zu halten, an bewussten, gelernten, ge-      schöpfliche (und teils sehr fragwürdige)
lustiges Gedankenspielen. Aber auch          achteten Werten zu orientieren.              Wissensmeer des Internets alltäglich und
dieses Systemparadigma, dieser „Glau-                                                     spiele ab und zu mal eine Runde. Was?
benssatz“2 (obwohl heute noch herr-              Moral als Kern einer Identität zu be-    Verrate ich nicht. Als wer? Verrate ich
schend) wird dem Menschen in seiner          trachten ist altmodisch – und falsch, so-    nicht. Diese Möglichkeit meinen Ava-
Selbsterkenntnis nicht gerecht.              lange Moral als Substanz gedacht wird.       tar (oder deren Vielzahl) Abenteuer er-
                                             Moral als System steuernder Über-Ich         leben zu lassen, ist faszinierend und in-
Identität als Prozess – Frage nach           Einschärfungen zu betrachten ist schä-       tim. Und in der Begegnung mit meinen
Mut und Selbstvertrauen                      digend, da es die innere Beziehung zu        jugendlichen Klienten – oder mit Inter-
                                             Werten wie eine Knechtschaft gestaltet       netbekanntschaften – entfaltet sich ein
    Das Struktur-Paradigma, die Grund-       (insofern ist jedes „Über-Ich“ ein sadis-    Kontakt- und Erfahrungsbereich, den es
auffassung, nach der alles Seiende Pro-      tisches Über-Ich, da es die Unfreiheit ins   eben einst nicht gab. Und diesen kann
zess ist, lässt heute die Frage nach der     Selbstbild des Menschen zementiert4).        und muss ich als Kinder- und Jugend-
Identität zur Frage nach der ureige-         Moralisch zu handeln – meint mit dem         lichentherapeut heute nutzen.
nen „Melodie“ eines Lebens werden.           Mut zu eigenen Werten zu handeln – ist
Die Identität einer Melodie bleibt erhal-    ein Prozess. „Wie soll ich lieben, wenn          Eine andere Erfahrung: In meiner Ju-
ten, wie auch immer sie gespielt wird,       ich nicht hassen darf?“ (Hockel, 1994)       gend waren Deutschlehrer noch be-
ob laut oder leise, mutig oder ängstlich.    war der Titel meines zweiteiligen Rund-      geistert, wenn sie hörten, dass der eine
Hier zeigen sich die Eigenheiten jeweils     funkvortrages zur Genese der Gewalt          oder andere – und ich gehörte zu die-
im Handeln. Identität wird zur Struk-        bei Jugendlichen. Selbstvertrauen eines      sen – eine „Brieffreundschaft“ mit je-
tur handlungssteuernder Werte. Letz-         Jugendlichen muss jenes Zutrauen sein,       mandem pflegte, der „bettlägrig“ oder
tere sind selbst Qualitäten im Prozess :     das der eigenen emotionalen Steuerung        „hinter dem eisernen Vorhang“ lebte.
beispielsweise Mut und Selbstvertrau-        zu vertrauen vermag, weil die obersten       Heute wird in öffentlicher Debatte vor
en. Spätestens seit mit der Erforschung      handlungsleitenden Werte dem entspre-        allem gefragt, ob es vielleicht gefährlich
des Mutes3 deutlich geworden ist, was        chen, was menschlich wertvoll ist.           sei, wenn Kinder und Jugendliche in der
Mut ist, gewinnt in der Frage nach der                                                    Internetnutzung versinken, ein „Second
Identität junger Menschen – die Frage        Als Psychotherapeut                          Life“ leben oder auf virtuellen Kriegs-
nach der Werte-Sozialisation umfassend       Nutzerkompetenz entwickeln:                  schauplätzen mit ihrem „Clan“ zu sie-
– Bedeutung. Mut ist gelebte Wertfül-        Homepage, Spiele, Blogs                      gen versuchen.
le, Selbstvertrauen kennzeichnet solche
Fülle als Selbstwahrnehmung.                     Als Angehöriger jener Generation, die    Konstruktive pubertäre Selbstfindung
                                             die Entstehung des Internets auf diesem      durch virtuelle Welten?
     Die Frage nach dem wachsenden           Planeten mitzuvollziehen hatte, erwarb
Gewaltpotential junger Menschen kann         ich nur sehr langsam eine durchschnitt-          Ich glaube, dass wir gegenwärtig
erschreckend sein, wenn die Motive der       liche „Nutzerkompetenz“ innerhalb die-       die Vielfalt der konstruktiven Entwick-
Gewalt völlig rätselhaft erscheinen. Ge-     ser neuen Wirklichkeit. Ich war bereits      lungen, die sich mit dem Internet und
hen wir jedoch davon aus, dass jeder         der „Senior“ in der Praxis als mir mei-      mit den Computerspielen und virtuellen
Mensch sich selbst vertrauen möchte          ne jüngeren Kollegen beibrachten, dass       Welten auftun, noch nicht einmal ah-
und sich als wertvoll erleben möchte, so     ich einen „elektronischen Briefkasten“       nen können. Klassische und aktuelle Per-
sind Mut und die Fülle der geachteten        und später eine „Homepage“ benötige.         spektiven der Identitätsforschung stell-
Werte Ziele im Entwicklungsprozess. Im       Als Kinder- und Jugendlichenpsychothe-       ten Heiner Keupp und Renate Höfer
Rahmen personzentrierter Psychothera-        rapeut war ich kontinuierlich herausge-      (1998) zusammen; der dort entwickel-
pie werden hier die Begriffe „Selbstaktu-    fordert durch die Veränderungen in den       te Begriff einer „Patchworkidentität“ ist
alisierung“ und der „Attraktor“ seelischer   Lebenswelten der Kinder. Und so waren        sicher fruchtbar in einer Zeit, in welcher
Gesundheit, die organismische Selbstre-      manche meiner ersten Interneterkun-          sich immer mehr Menschen als Glieder
gulation wegweisend; authentisch zu          dungen Dienstleistungen an kleine Kli-       von Patchworkfamilien begreifen. Noch

                                                                  Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/08     17
Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien

bedeutsamer war mir jedoch die eben-              sprechen werde (mit der ich auch ar-          meine Generation die Fragen so beant-
dort gegebene Reflexion von Bialas                beite -als Psycho – siehe meine Home-         worten könnte, wie sie sich das vor-
(1998), der Identität im Zeitalter ihrer          page www.hockel.net ), zu diskutieren.        stellen. In welcher Form soll dieses Ge-
technischen Simulierbarkeit betrachtete.          So unterbreite ich Dir erst mal mei-          spräch denn stattfinden? Ich nehme
„Der Erfahrungsgehalt realer Welten, so           nen Grundgedanken: Im reichen Nor-            an per E-Mail, oder?
meine These, bleibt in seiner Wirkmäch-           den wissen wir heute (wie einst die           Viele Grüße, Marc B.
tigkeit zumindest tendenziell hoffnungs-          Deutschen im Nazireich), dass täg-
los hinter der kompositorischen Raffines-         lich 30000 Kinder sterben, weil die            So ermutigt, stellte ich ihm Fragen,
se simulierter Welten zurück.“ (Bialas,           Menschen ihrer Umgebung entwe-             die er ebenfalls mit großer Offenheit be-
1998, S.54) Obwohl die dort weiter aus-           der kein Interesse oder keine Möglich-     antwortete. Da die Fragen in der Ant-
geführten Überlegungen sehr anregend              keit haben, sie am Leben zu erhalten       wort aufgegriffen werden, hier nur die
provozieren möchte ich sie doch nicht             (das findet eben heute nicht in Ausch-     Antwort von Marc:
zustimmend übernehmen.                            witz statt, aber von Auschwitz wusste
                                                  ja angeblich auch niemand – es findet         Was ist eine Chance?
    Ich möchte zwei Seiten dieser Ent-            in Afrika, Indien, Südamerika... und so-      Eine Chance sehe ich als eine Mög-
wicklung beleuchten, eine die unzweifel-          gar vor unserer Haustüre statt). Und          lichkeit, die man wahrnehmen kann
haft positiv bereichernd ist und eine die         wir haben die Chance, dennoch ein             oder nicht. Das Leben ist voller Chan-
entsprechend den Alarmrufen gefähr-               unbeschwertes, glückliches, gebildetes,       cen, sie warten an jeder Ecke, man
dend ist. Wieweit die „Spielwiese“ der            wohl versorgtes Leben zu entfalten, zu        muss sie nur sehen. Für die einen ist
Identitätsgestaltung, die mit der Mög-            planen, zu realisieren und zu genie-          es eine Chance, für die anderen nicht.
lichkeit, sich als „Avatar“ beliebig zu for-      ßen. Dagegen habe ich nichts. Und             Oft denke ich jedoch, merkt man erst
men und zu erproben, eine konstruktive            ich weiß auch, dass Jugendarbeitslo-          im Nachhinein, was für eine Chance
Bereicherung der pubertären Selbstfin-            sigkeit und andere Macken unser Sys-          man da hatte, denn zum damaligen
dungswege darstellt, wird vermutlich              tem durchaus nicht rund laufen lassen.        Zeitpunkt hat man diese Möglichkeit
noch lange umstritten sein. Was mir je-           Aber ich sehe doch in der Chance al-          noch gar nicht als eine Chance wahr-
doch heute schon deutlich ist: Sollte die-        lein ein Risiko: dasjenige nämlich seine      genommen, ist aber glücklich darüber,
se Diskussion beschränkt bleiben auf die          Ziele zu kurz zu stecken, wie Du so su-       diesen Weg eingeschlagen zu haben.
Frage nach der „Gewaltbereitschaft“, so           perkritisch Dich anklagend sagst „ego-        Welche Chancen und wie wir Chan-
ist sie kurzsichtig und verfehlt das Phä-         manisch“ zu sein. Ich glaube aber, un-        cen wahrnehmen, das bildet mit un-
nomen.                                            sere Chancen können wir nur nutzen,           sere Persönlichkeit. In gewisser Weise
                                                  indem wir egomanisch im richtigen             ist unser Weg vorgezeichnet, da wir als
                                                  Sinne sind: authentisch unseren ganz          bestimmte Persönlichkeit eben auch
2. Vom „Schwarzen Auge“5 zum                      eigenen jeweiligen Weg als Menschen           bestimmte Chancen wahrnehmen.
   bunten Helden                                  suchen und finden – denn Menschen             Eine Chance wird erst zu einer Chance,
                                                  brauchen Achtung und Beachtung...             wenn wir sie wahrnehmen. Davor ist es
    Auf der Suche nach Anregungen zum             Ich stoppe mich mal, denn noch weiß           eher ein Angebot, eine Möglichkeit. Es
Stichwort „wofür lohnt es sich zu leben6          ich nicht, ob Du an solch einem Ge-           kommt darauf an, wer diese Möglich-
„ stieß ich eines Tages auf eine Interne-         spräch-geschreibe interessiert bist.          keit für sich in Betracht zieht. Chancen
tseite (einen „Blog“), die den seltsamen          Wenn ja, dann wäre ich für ein Signal         sind keine zufälligen Konstellationen,
Namen hatte: „Gedanken im Glas“. Das              und für alle Fragen, die diese Mail bei       die uns zum Vorteil sind. Für Chancen
was ich gesucht hatte war dort eine               dir auslöste, herzlich dankbar.               sind nämlich meine Mitmenschen ver-
„Schublade“ und in diese hatte der Au-            Herzlich Curd Michael Hockel                  antwortlich. Sie geben mir die Chan-
tor, dessen Blog es war, einige interes-                                                        cen und bilden mein Leben.
sante Gedanken zum Thema „wofür es                Und er antwortete mir mit etwas Ver-
sich zu leben lohnt“ abgelegt. So lernte       zögerung:                                        Welches Beispiel für „eine Chance ha-
ich Marc kennen. Ich schrieb diesem Un-                                                         ben“ ist Dir aus Deinem Leben be-
bekannten eine Mail:                              Hallo Herr Hockel,                            kannt?
                                                  entschuldigen sie die späte Antwort,          Als Christ, ist das die Chance mich für
     Betr.: Gesprächsangebot                      aber ich war bis heute eben auf Stu-          meinen Glauben entschieden zu haben
     Lieber Marc,                                 dienfahrt. Ihre Mail habe ich mit groß-       und diesen frei ausleben zu können. Es
     ich schrieb gerade aus gegebenem             em Interesse gelesen und finde mich           ist die Chance, eine erstklassige Bil-
     Anlass den anhängenden Einstieg zu           in dem angehängten Text passend               dung zu genießen und mich zu einem
     einem Vortrag, den ich demnächst hal-        beschrieben wieder. „Egomanisch im            die Umwelt achtenden und vorausden-
     ten werde. Und da kam mir der Ge-            richtigen Sinne“, ist eine sehr gute Be-      kenden Menschen zu entwickeln.
     danke das, was ich denke und sagen           zeichnung für das, was man sich als
     möchte, vielleicht vorher mit einem An-      Ziel stecken sollte. Zu einem Gespräch
     gehörigen der Generation, über die ich       wäre ich bereit und hoffe, dass ich für

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Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien

Beispiele von Gleichalten, die Chancen       te in mir die Neugier durch eine vir-         sondern nur über Headset und Chat
hatten, die Du nicht hattest?                tuelle Stadt zu laufen. Ich weiß nicht        kennen gelernt habe. Mir war plötzlich
Das waren wohl hauptsächlich Aus-            woher das kam, aber es könnte dar-            klar, dass die Menschen am anderen
landsaufenthalte, für die bei uns nie das    an liegen, dass ich früher schon immer        Ende genauso sind wie ich, auch Eltern
Geld da war. Nach längerer Zeit regte        der Typ von Kind war, der hoffte, man         haben, die über das unaufgeräumte
ich mich nicht mehr darüber auf, dass        könnte auf einem Foto in das Bild hin-        Zimmer schimpfen, und dass da Men-
es andere besser hatten, dafür können        einschauen, hinter die Personen, wenn         schen sind, die dieselben Sorgen haben
sie ja nichts und schließlich kann man       man seitlich darauf schaut. Ich glaube,       wie ich. Ich entdeckte aber auch, wie
auch ohne Geld „reich“ sein. Irgend-         ich habe den Computer immer als eine          viele Menschen einem etwas vorma-
wie muss man nur genügend Geduld             mystische Maschine gesehen, mit der           chen können und wie wenig Mensch-
haben, dann kommen einem die sel-            man alles machen kann. Die Vorstel-           lichkeit manchmal in Chat-Nachrich-
ben Chancen früher oder später auch          lung von diesem Flug durch die Kabel          ten stecken kann.
zugeflogen.                                  und Leitungen, vorbei an der Festplat-
                                             te hinein in den Prozessor, war einfach       Dein „Blog“ ist das was man früher
Chancen die Du gar nicht haben möch-         toll. Allerdings begannen meine ersten        ein Tagebuch nannte – wann hast Du
test?                                        Schritte am Computer nicht mit der            mit Tagebuch begonnen? Ist das et-
Viel zu viel Geld, das mir Privilegien er-   Zockerei, sondern eher mit dem Ver-           was, was Deiner Auffassung nach viele
öffnet, aber auch eine große Verant-         such Geschichten und Texte zu tippen.         Gleichalte nutzen?
wortung aufladen würde, von der Ab-          Ich war so fasziniert von dem blinken-        Vorweg: Es ist nicht richtig, ein Blog
grenzung vom Umfeld mal ganz zu              den Cursor und den erscheinenden und          ausschließlich mit einem persönlichen
schweigen. Die Chance, skrupellos            verschwindenden Buchstaben, über die          Tagebuch gleichzusetzen, wie man es
zu werden oder zu sein, die Chance,          man die totale Kontrolle hatte.               von Jugendlichen früher kennt, aber
Macht über andere Menschen zu er-                                                          vielleicht mit solchen von Schriftstel-
langen, will ich nicht haben, eher die       Welche Rolle spielen Computerspiele           lern oder Dichtern und Denkern; eine
Chance ihnen mit solcher Macht zu            heute in der Selbstentfaltung von Dir         Art Briefwechsel mit der Umwelt. (Von
helfen.                                      und Deinen Mitschülern?                       rein informativen und Nachrichten-
                                             Persönlich sehe ich das so: Erstmal wird      blogs abgesehen; und sicherlich gibt
Was meint Risiko?                            der Spieldrang befriedigt, der noch aus       es auch die von ihnen beschriebenen
„Jedes gelöste Problem ist einfach.“         der Kiste mit Bauklötzen heraus kriecht.      Blogs). Bei einem persönlichen Tage-
(Thomas Alva Edison) Jedes Risiko ist        Das Knüpfen sozialer Kontakte, quasi          buch ist beim Schreiben keine öffent-
im Nachhinein kein Risiko mehr. Risiko       das Finden „von deinen Leuten“, dei-          liche Komponente vorhanden. Das
gegenüber einem selbst ist in Ordnung,       ner „Crew“, deinem „Team“, treibt             habe ich gemerkt, als ich begonnen
Risiko gegenüber anderen Schicksalen         die soziale Komponente ungemein               habe zu bloggen. Persönliche Dinge
sollte gut überlegt sein.Wann ist et-        an. Das Gemeinschaftsgefühl ist ein-          preiszugeben, macht die Sache für den
was ein Risiko? Was manche als Risiko        fach toll und es werden unendlich viele       Leser interessant, da er so sehen kann,
sehen, sehen andere als langweilige,         Möglichkeiten und Aufgaben dafür an-          dass auch andere gleiche Sorgen und
schon tausendmal getroffene Entschei-        geboten. Ich vermute aber: Die Ur-In-         Probleme haben oder sich gleich füh-
dung an. Die meisten Entscheidungen          tention liegt im Drang zur Selbstpro-         len wie er selbst, dass er vielleicht gera-
werden erst zu Risikoentscheidungen,         filierung und in der Neugier – eben           de nicht der Einzige ist, der gelangweilt
wenn man sie als solche wahrnimmt.           typisch menschlich. Ist das dann ver-         vor seinem Rechner sitzt und über den
Gibt es Risiken in Deinem Leben, die         flogen, sieht man das Spiel entweder          Sinn des Lebens nachgrübelt. Manches
Du „bewusst in Kauf nimmst“?                 wie den Sonntagnachmittags-Kick mit           ist aber einfach nur nachvollziehbar
Ja, das sind hauptsächlich die ty-           den Kumpels auf dem Fußballplatz,             wenn man den Text selbst verfasst hat.
pischen jugendlichen Kavaliersdelikte,       oder aber als eine Art Business, in dem       Man ist sein eigener Film, ein Theater-
aber eigentlich bin ich in dieser Hin-       der Siegeswille seinen Platz findet und       stück, das man aber auch interessant
sicht eher ein Charakter, der ungern         der Erfolgs-Durst gestillt werden muss.       gestalten möchte um eine bestimmte
alles auf eine Karte setzt sondern lieber    Man baut sich so sehr schnell und ger-        Atmosphäre zu übertragen. In meinem
alles noch mal im Tresor liegen hat.         ne ein „virtuelles Portfolio“ auf. Nicht      Blog sind natürlich auch tagebuchähn-
                                             umsonst steht bei fast allen Online-          liche Einträge, aber ich sehe dieses Blog
Wann hast Du begonnen Dich für               Profilen in Spiele-Communities und Li-        eher als eine Art Plakat an der Wand
Computer zu interessieren?                   gen in der Selbstbeschreibung eine His-       einer Bahnhofsunterführung, an dem
Das Interesse an Computern wurde             torie der bisherigen Clans, bei denen         die Menschen vorbeistreifen und an
durch meinen Vater sehr früh in mir ge-      man Mitglied war. Ich habe viel Men-          dem sie kleben bleiben. Schlagworte,
weckt. Ich dürfte so acht Jahre alt ge-      schenkenntnis bei meiner damaligen            Aphorismen, Bilder oder Schablonen-
wesen sein. Für mich waren dabei sehr        Mitgliedschaft in einem Counter-Strike        Grafittis, die da prangen und uns
früh virtuelle Welten interessant. Als       Clan gesammelt, auch wenn ich diese           dazu aufrufen, zu denken. Das funk-
ich damals von so etwas hörte, brann-        Menschen fast alle nie in Wirklichkeit,       tioniert auch, wie mir einige Resonanz

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Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien

     aus meinem Bekanntenkreis zeigt. Ei-        Jugendlichen haben kann. Die Genera-        2.3	Avatar – vertragsfähiges zweites
     nige finden die Texte ansprechend, ei-      tion meiner eigenen Kinder, das waren           Ich
     ner meinte sogar, er sei geradezu ver-      die „Schwarzes Auge“- Spieler, und sie
     wirrt und depressiv, wenn er einzelne       hatten mich natürlich einbezogen, denn          In der Pseudoidentität eines Avatar
     Einträge gelesen hat. Es regt also wirk-    ab und zu durfte ich mal „Spielführer“      liegen über die mit „Rollenübernahme“
     lich zum Nachdenken an. Da ich nun          sein und auf diese Weise das Gruppener-     schon bekannten Spielmöglichkeiten
     schon seit einiger Zeit blogge und so       leben, die lang anhaltende Faszination      hinausreichende      Handlungsmöglich-
     viele Kontakte zu anderen Bloggern ge-      und Vielfalt solchen Rollenspielens ken-    keiten, da die jeweilige Pseudoidentität
     knüpft habe, kann ich ziemlich sicher       nen lernen. Ich prüfte die durch Marcs      von anderen Avataren („Mitspielern“)
     sagen, dass dieses literarische, poe-       Antworten entstandene positive Visi-        ernst genommen wird als authentische,
     tische oder einfach das Mitteilungsbe-      on mehrfach durch weitere Gespräche         innerhalb des Bezugssystems (z.B. se-
     düfnis gegenüber der Umwelt und der         mit Jugendlichen der heutigen Genera-       cond life) verantwortliche und sogar
     Fremde (eben die im obigen Absatz ge-       tion. Es wurde mir bestätigt, dass die-     „vertragsfähige“ Person. Ein Avatar ist
     nannten Gründe), im Durchschnitt erst       se Nutzung von Computerspiel und In-        somit eine künstlich geschaffene Person
     in einem Alter zwischen 16 und 18 er-       ternet als eine bereichernde Facette der    mit jenen Eigenschaften, die sein Schöp-
     wacht. Dann beginnt man erst wirklich       sozialen (Spiel)welt gesehen wird. Vom      fer ihm mitgibt und/oder die dieser im
     nachzudenken. Davor ist man noch zu         „Schwarzen Auge“ zum bunten Helden          Spielverlauf erwirbt
     sehr mit sich selbst und kleineren Pro-     – ansprüchliche jugendliche Selbstge-
     blemen, dem Entdecken der Welt auf          staltungen nutzen sowohl die „Sims“         2.4 Personzentrierte Unterstützung
     einer niedereren Ebene beschäftigt.         als Übungswelten als auch das Internet
     Differenziertes aufgeklärtes Denken         als Kommunikationsplattform. Und so             In personzentrierten Begegnungen
     spielt hier sicher auch eine Rolle. Die     möchte ich diese Seite der Erfahrung in     können Jugendliche, die die fruchtbare
     ,,jungen Rebellen“ ab 20 und aufwärts       folgende Thesen zusammenfassen:             Vielfalt ihrer Patchworkidentität mit ei-
     bloggen eher in meiner Art, die meisten                                                 ner möglichen Vielfalt von „Persönlich-
     die so alt wie ich oder jünger sind, nut-   2.1 Pädagogische Wirkung                    keiten“ (Avataren) experimentell nutzen,
     zen das Medium Blog vorrangiger zur             abhängig vom Umfeld                     eine Orientierung auf jene authentische
     Kommunikation. Aber irgendwann de-                                                      Identität erarbeiten, für die sie sich selbst
     maskiert sich dann die Welt und man             Wie jede in das Leben von Kindern       frei entscheiden.
     wird zu einer Art jungem Werther. Ja,       und Jugendlichen hinein wirkende Wirk-
     das sollte die richtige Bezeichnung         lichkeit sind Computerspiele und der vir-
     dafür sein. Man wird emotional und          tuelle Lebensraum Internet in ihrer päd-    Zocken und
     muss diese Emotionalität verarbeiten.       agogischen Wirksamkeit mehr davon           Persönlichkeitsveränderung
     Bei manchen tritt diese Phase, habe         abhängig, wie das Kind, der Jugendli-
     ich den Eindruck, auch auf, bei ande-       che im Elternhaus „gehalten, gelassen,          Marc schrieb mir, als ich ihn an-
     ren nicht. Bloggen ist persönliche The-     begleitet“7 wird als von den Eigenarten     fragte, ob er mit einer Veröffentlichung
     rapie, bei der man seine Eindrücke und      der Spiele und des Mediums.                 seiner Texte einverstanden sei, nicht nur
     Gedanken verarbeitet, neue Ideen oder                                                   seine Zustimmung, sondern auch noch
     persönliche Weltbilder entwickelt. Es ist   2.2	Identität fördernde Rollenspiele        folgende Ergänzung:
     ein Prozess, bei dem jeder Eintrag eine
     Veränderung oder eine neue Ansicht              Die Möglichkeiten, sich in der Rolle-        Als Anregung/These würde ich ih-
     bringt. Man will damit die Welt mitge-      nidentität eines „Spielers“ (in Compu-      nen noch gerne ein paar Sätze zu der
     stalten oder auch sein eigenes Denken       terspielen) kennen zu lernen und diese      Frage schreiben, ob aus Computerspie-
     mitteilen. So ich hoffe, ich konnte ih-     so entstandene Spielfigur handeln zu las-   len entstehende virtuellen Realitäten Ju-
     nen zufrieden stellende Antworten ge-       sen entspricht dem, was Kinder immer        gendlichen schade oder nicht. Ich bin
     ben.                                        schon taten: dem Identität entfaltenden     der Ansicht, dass Computerspiele, auch
     Auf bald und viele Grüße,                   Rollenspiel. Grausamkeiten hinter der       solche mit expliziter Gewaltdarstellung
     Marc                                        „Panzerglasscheibe“ des Bildschirmes        (Counterstrike, Unreal Tournament,
                                                 sind den Spielenden in jedem Moment         Quake etc.), also die „Ballerspiele“ nicht
Bereichernde Facetten digitaler                  als „als ob“-Handlungen bewusst. Die        automatisch einem Jugendlichen Scha-
Kommunikation                                    moralische Qualität solchen Rollenhan-      den zufügen, wenn er einen gefestigten
                                                 delns wird der moralischen Qualität des     Charakter, einen guten Draht zu Bezugs-
   Die umfassenden Antworten wa-                 sonstigen Handelns entsprechen. Sind        personen und ein intaktes soziales Um-
ren nicht nur zufriedenstellend, son-            die Spielwelten gewaltverherrlichend so     feld, sowie genügend ausgleichende Ak-
dern gaben mir ein sehr vertieftes Ver-          kann der Jugendliche sich solchem Han-      tivitäten (Musikinstrument, Sport etc.)
ständnis von der Funktion, die sowohl            deln nicht entziehen und benötigt star-     zur Verfügung hat. Das wird gerne über-
das Computerspielen als auch das öf-             ke moralische Unterstützung in der wirk-    sehen und auch von den deutschen Me-
fentliche Medium Internet im Leben von           lichen Welt.                                dien in Reportagen nicht beachtet. So

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Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien

konnte ich das zumindest bei mir beob-      Betr.: update mal wieder                      Klausuren wenn man alles zum ers-
achten. Wenn etwas aggressiver macht,       Hallo Herr Hockel,                            ten mal gehört hat. Naja „Alles gut“
dann ist es das Spielen an sich, dieser     Wie gehts ihnen so? Tut mir Leid, dass        ist leider trotzdem noch nicht.. wahr-
erhöhte Adrenalinspiegel, die Nervosi-      ich so lang nichts hab hören lassen…          scheinlich wird’s das auch nie werden.
tät und die Ungeduld – wenn man so          Ich mag meine Studienrichtung eigent-         Aber manches wird sich bessern denke
will der „Entzug“. Ebenfalls konnte ich     lich ganz gern mittlerweile und find          ich. Ich hab oft noch Rückfälle, heute
beobachten, dass Lernen mit anschlie-       alles sehr interessant, was wir da ler-       z.B. haben wir die Noten einer Klau-
ßendem intensivem Zocken oft dazu ge-       nen, v. a. Programmieren und Model-           sur rausbekommen, für die ich nach
führt hatte, dass von dem Gelernten am      lieren. Ich mach viel mit andern Kom-         dem System gelernt hab, das ich mir
nächsten Morgen nicht mehr viel übrig       militonen und hab mich für ein extra          ausgedacht hab, also immer das Buch
war.                                        Programmierprojekt in den Semester-           mitgelesen und Folien nachträglich an-
                                            ferien gemeldet um ein bisschen Pra-          geschaut. Es ist leider nur ne 2,3 ge-
   Mit fortgeschrittenem Alter wird dann    xis zu kriegen. Letztendlich möchte ich       worden, während ein anderer Kerl, der
der „Zocker-Nerd“, der sich von der Um-     da soweit kommen, dass ich irgend-            nie in die Vorlesung geht und sich das
welt abkapselt, und von dessen Art es in    wo einen kleinen Job als Programmie-          Zeug am Abend zwei Stunden vorher
Schulzeit eine ganze Menge gab, als we-     rer annehmen kann, um mir vielleicht          angeschaut hat ne 1,7 hat. Ich ver-
niger selbstverständlich angesehen. Die     ne Wohnung zu finanzieren. In der Uni         steh es einfach nicht, und so was zieht
meisten haben dann, wenn man das so         hängen oft viele Angebote aus für das,        mich immer sehr runter. Nicht das ich
drastisch formulieren will, „den Sprung     was wir so lernen bei uns. Manchmal           ihm seine 1,7 missgönnen würde aber
geschafft“. In der Schule und frühen Ju-    sind auch Angebote für nen WG Platz           ich hab dafür soviel gemacht und so
gend gab es eben die Personen, die am       dabei. Bei einem hab ich’s schon ver-         ein Ergebnis entwertet einfach meine
Wochenende nicht weggegangen sind,          sucht, war aber leider vergeben... Naja       Arbeit. Mittlerweile bin ich auch der
sondern halt gezockt haben. Das Inter-      je nachdem wies kommt. Generell hab           Meinung, dass ich gar nicht so intel-
essante ist aber, dass es sich bei diesen   ich mir das so zurechtgelegt, dass ich        ligent bin wie ich immer dachte. So
Personen im mir bekannten Umfeld oft        nur zur Uni geh weil’s mich interessiert      wies in dem Test, den ich bei ihrer Part-
um sehr intelligente, begabte Menschen      und ich später mal mit netten Leuten          neragentur gemacht hab, auch raus-
gehandelt hat, während die ganzen Klas-     interessante Fragestellungen bearbei-         kam. Ab und zu ein bisschen über dem
senclowns und Schnellsten in Sport dem      ten möchte, wobei ich glaube dass der         Durchschnitt, aber mehr auch nicht.
„Zocken“ sehr rasch mit fortschreiten-      zweite Punkt sehr viel Gewicht hat. Vor       Bei mir im Studiengang sind Leute,
dem Alter eine sehr geringe oder über-      allem beim Programmieren wird mir             die marschieren einfach so durch al-
haupt keine Priorität mehr eingeräumt       das immer mehr bewusst. Ich hab frü-          les durch. Ich weiß echt nicht wie die
haben. Vielleicht besteht da irgendeine     her schon versucht mir alle möglichen         das machen. Ich hab mich auch mal
Verbindung.                                 Sprachen beizubringen aber bin ir-            ein bisschen mit Lernpsychologie be-
                                            gendwann immer gescheitert. Es war            schäftigt etc. aber dieses Niveau wird,
3.   Besiegter Zwang wird Zwang             einfach niemand da, dem ich meine             ich glaub, ich nie erreichen. Eine Freun-
     zum Sieg?                              Ergebnisse hätte zeigen können und            din von mir meinte mal ich zweifle sehr
                                            der sich mit mir daran gefreut oder ge-       viel. Meinen sie, das hat was damit zu
    Die Schlussbemerkung von Marc be-       messen hätte. Bei den Programmier-            tun? Ich möcht nicht wieder das alte
stätigte mich darin, neben seine Sicht      praktika ist das jetzt anders. Ich hab        Spiel provozieren, dass sie mir sagen,
die eines anderen Jugendlichen zu stel-     nen Partner mit dem ich alles zusam-          wie gut ich doch bin, aber mich zieht
len. Diese andere Seite der Erfahrungen     men machen muss und hab nen recht             das im Moment sehr runter. Ich hof-
mit Computerspielen und Internetnut-        guten Betreuer bei dem ich auch mein          fe ich find da irgendwann mal ne be-
zung wurde mir in einer Fallgeschichte      Zusatzprojekt angemeldet hab. In letz-        friedigende Lösung. Sei’s nun dass ich
deutlich. Ein Kind, das ich wegen einer     ter Zeit beobachte ich an mir, dass ich       mich mit meinen mittelmäßigen bis
Zwangserkrankung (erfolgreich) behan-       mir zwar weniger Druck mache bei              schlechten Noten abfinde oder dass ich
delt hatte, kam einige Jahre später selb-   allem, und ich mich auch etwas frei-          eine gute Lernstrategie finde, die „mit
ständig als Jugendlicher wieder zu mir:     er fühle aber dafür bei allem zu spät         mir im Einklang ist“... vielleicht auch
Er hatte Angst in der Schule – beim Abi-    oder gar nicht komme wo ich nicht             beides. Aber ich denke wenn es soweit
tur – zu versagen. Wieder hatten wir das    zu mindestens 80% hin will... Das ist         ist wird sich vieles ändern. Vielleicht
Glück, erfolgreich miteinander zu arbei-    vor allem bei Vorlesungen in der früh         bleibts doch noch spannend mit mir.
ten und der hochbegabte Knabe mach-         schlimm, weil ich das ewige rumsitzen         On my way to freedom ;)
te ein gutes Abitur und studiert heute.     und zuhören nicht immer aushalten,            Robert
Seither stehen wir in losem Internetkon-    vor allem wenn ich nicht ausgeschla-
takt und es entwickelte sich folgendes:     fen bin. Da verpenn ich dann meistens
                                            und ärgere mich danach weil mich das
                                            Thema an sich schon interessiert hät-
                                            te. Außerdem isses immer schlecht für

                                                              Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/08       21
Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien

     Betr.: AW                                    leicht sogar eher als Konditionierung       lich stellt sich natürlich die Frage, ob
     Lieber Robert,                               bezeichnen: Der Spieler führt bestimm-      das nicht auch mit einem realen Spiel
     herzlichen Dank für dieses update. Das       te Aktionen aus und wird dafür durch        möglich und vielleicht auch besser ge-
     klingt wunderbar. „On my way to free-        positive Ereignisse wie z.B. Gold, (Er-     wesen wäre...
     dom“ – genau. Ja, ich denke, dass sie        fahrungs-)punkte oder auch einfach          Ich merke auch heute noch immer wie-
     mit systematischem Selbstzweifel (und        nur mit dem Weiterführen der Spielsto-      der, wie groß der Unterschied zwischen
     ängstlicher Hemmung und spiegelnder          ry durch Zwischensequenzen belohnt.         realer und virtueller Welt bei mir ist. Sie
     Selbstabwertung und....) ihr eigent-         Das Schlimme daran ist, dass man re-        haben’s ja damals schon bemerkt: In
     liches Potential noch sabotieren. An-        gelrecht verarmt vor seinem Computer.       meinen E-Mails bin ich immer sehr of-
     dererseits: Wie wunderbar sich irgend-       Nicht nur die körperliche Beweglichkeit     fen zu ihnen und konnte mich auch ei-
     wann im gehobenen Mittelmaß wahr             nimmt ab, sondern auch irgendwo die         nigermaßen artikulieren im Gegensatz
     nehmen zu können und nicht immer             geistige Beweglichkeit.                     zu unsere Sitzungen, wo alles immer
     überragend sein „zu müssen“? Wie             Sie haben mir mal erzählt, Computer-        Bröckchenweise aus mir herauskam.
     dem auch sei – so optimistisch und ent-      spiele würden vom Einfluss auf die Hirn-    Der Unterschied ist manchmal sogar so
     wicklungsoffen wie diese Mail hab ich        chemie her wie eine Droge wirken, ins-      groß, dass Menschen, die mich im In-
     Sie noch nie schreiben gehabt. Da wird       besondere wegen des ständig erhöhten        ternet kennen gelernt haben, mich bei
     das Lieben eines richtigen Tages in der      Adrenalinspiegels. Letztens hab ich mit     der ersten Begegnung im realen Leben
     richtigen Gestalt dann auch noch auf-        paar Freunden, die vom Computerspie-        ablehnen. Weit schlimmer ist allerdings
     tauchen – und bis dahin hätte ich eine       len einfach nicht loskommen (wollen),       der Realitätsverlust. Ich kann nicht ge-
     Anfrage: Ich bin dabei zwei Themen zu        eine kleine LAN Party veranstaltet, und     nau sagen ob’s an den Depressionen
     bearbeiten. Ich habe sie auf dem Anla-       da seit langer Zeit zum ersten Mal wie-     oder an dem Dauercomputerspielen
     geblatt genannt. Wenn Sie Lust haben         der richtig gespielt. Vor allem wäh-        liegt, aber ich nehme die Realität nicht
     könnten wir „concreativ“ Ideen hier          rend der Echtzeitstrategiespiele hat-       mehr so wahr wie früher, als ich noch
     zusammentragen? Was fällt ihnen zu           te ich wieder dieses Gefühl von starker     ein Kind war. Damals war alles irgend-
     den Themen ein? Wenn Sie keine Lust          Nervosität und Anspannung, eben die         wie auf seine eigene Weise schön und
     habe über so etwas nachzugrübeln,            Anzeichen für einen hohen Adrenalin-        aufregend. Bis ich 11 oder 12 war, war
     sagen Sie es einfach.                        spiegel. Das hat auch oft eine erhöhte      das Leben noch bunt und voller inter-
     Jedenfalls wünsche ich Ihnen weiter          Reizbarkeit zur Folge, wenn man den         essanter Dinge, auch wenn ich damals
     diesen Aufschwung der Verselbständi-         Effekt nicht kennt und von vornherein       schon leicht neurotisch war. Irgend-
     gung, Versachlichung und allen Erfolg        darauf vorbereitet ist.                     wann kamen dann die ganzen psy-
     den Sie sich wünschen.                       Allerdings liegt hier vielleicht auch ei-   chischen Störungen und ich hab mehr
     Herzlich Curd Michael Hockel                 ner der ganz wenigen positiven Din-         und mehr die Lebenslust verloren.
                                                  ge, die ich der vielen Zeit, die ich mit    Aber ich hatte ja zum Glück die Com-
    Und als Anhang sandte ich ihm zwei            „Spielen“ verbracht hab, abgewin-           puterspiele. Der einzige Lichtblick in
von mir formulierte Vortragsthemen, an            nen konnte. Ich hab damals nächte-          meinem Leben voller Schmerzen und
deren Ausarbeitung ich saß. Eines zur             lang ein heute immer noch relativ po-       Enttäuschungen. Es kam recht schnell
Problematik der Computerspiele und                puläres Echtzeitstrategiespiel mit dem      der Punkt, wo’s eigentlich nichts gab,
eines zur Identitätsentwicklung. Er griff         Namen „Starcraft“ gezockt. Das ZDF          was mir noch Spaß gemacht hätte, au-
vor allem den ersten Themenvorschlag              hat damals einen Fernsehbeitrag aus-        ßer Computerspielen. Meine Mutter
auf, in welchem ich die Frage gestellt            gestrahlt, in dem die populärsten           war immer furchtbar wütend´, weil ich
hatte, ob denn „Computerspiele“ wirk-             (Online)Spiele nach ihrer pädago-           nur noch vor „dem Kasten“ saß und
lich Spiele seien. Er antwortete mir:             gischen Werthaftigkeit beurteilt wur-       nichts mehr für die Schule gemacht
                                                  den – auf Platz 1 gelandet ist letztend-    hab. Aber trotzdem hatte ich noch ir-
     „Computerspiele sind keine Spiele son-       lich Starcraft, wegen seiner Schulung       gendwo ein Gefühl für die Realität, da-
     dern Trainingsabläufe“. Ich finde sie        des Durchhaltevermögens und der psy-        für, dass ich am Leben war und alles
     haben mit dem Standpunkt eigent-             chischen Ausdauer. Begründung war,          um mich rum sich wirklich ereignete.
     lich den Sachverhalt fast genauso ge-        dass man bei jedem Spiel, ähnlich wie       Irgendwann so zwischen 16 und 17
     troffen, wie ich ihn mittlerweile auch       bei Schach, immer wieder von vorn an-       – ich hatte zwischendrin das Spiel ge-
     empfinde und an mir selber beobach-          fangen musste und dadurch auch das          wechselt von „Starcraft“ zu „Warcraft
     tet habe: Wenn jemand sagen wir z.B.         verlieren gelernt hat (früher oder spä-     III“ – hatte ich gemerkt, dass die Pha-
     „World of Warcraft“ spielt, dann tut         ter). Ich für meinen Teil hab das Spiel     sen in denen mir alles unwirklich vor-
     er im Prinzip nichts anderes als immer       (zwangsweise, ich war ja süchtig) recht     kam immer länger wurden. Ich hab
     wieder dieselben Tasten auf der Tas-         intensiv geübt und konnte nach vie-         einen meiner damaligen Teamkame-
     tatur zu drücken um in „belohnende“          len Niederlagen auch irgendwann mal         raden gefragt, ob er das auch so emp-
     Spielsituationen zu gelangen. Deshalb        entsprechende Erfolge vorweisen und         fände. Er meinte zwar er würde densel-
     würde ich das ganze eigentlich nicht         hab mich auch mal optimistischer an         ben Effekt beobachen, aber bei ihm
     nur als Trainingsablauf, sondern viel-       größere Gegner getraut. Aber letztend-      wäre das nur temporär und würde

22      Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/08
Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien

                                                                     Videospiele gene-     3.2 Langeweile und Einsamkeit
                                                                     rell zu verteufeln.
                                                                     Es verhält sich           Auch in der virtuellen Welt sind die
                                                                     da ein bisschen       großen Gefahren für Kinder und Ju-
                                                                     wie mit dem Al-       gendliche Langeweile und Einsamkeit.
                                                                     kohol denke ich.      Langeweile wird als Kernmotiv der Com-
                                                                     Computerspie-         puternutzung und Einsamkeit als Zen-
                                                                     le sind eine Dro-     tralergebnis der „Spielstruktur“ gese-
                                                                     ge, wenn auch         hen10. Dagegen allerdings stehen die
                                                                     eine sehr subtile.    oben unter eins berichteten positiven
                                                                     Es kommt jedoch       Erfahrungen, die nicht vergessen wer-
                                                                     immer auf den         den dürfen.
                                                                     Umgang mit die-
                                                                     ser Droge an und      3.3	Empathie und Moral sinken
                                                                     auf die Persön-
                                                                     lichkeit des ein-         Computerspieler wollen Sieger sein
                                                                     zelnen. Wer an-       – ihre Mitmenschlichkeit klammern sie
                                                                     fällig ist für so     beim Spielen aus11 – und das kann bei
                                                                     was, der wird         einer übermäßigen Zeit vor dem Com-
                                                                     früher oder spä-      puter zur Selbstentfremdung in mensch-
                                                                     ter auch drauf        lichen Qualitäten (Empathie, Moralität)
                                                                     reinfallen.      In   führen.12
                                                                     dem Zusammen-
                                                                     hang sind Com-        3.4	Realitätsverlust
sich wieder verflüchtigen; bei mir leider                            puterspiele viel-
nicht mehr. Mittlerweile hab ich den           leicht sogar die „gesündere“ Droge im           Die Entwicklung von virtuellen Iden-
Eindruck, die jahrelange Überflutung           Vergleich zu Alkohol oder härteren Al-      titäten (Avatar) ist dann gefährlich,
mit Adrenalin und orgasmischen Hoch-           ternativen.                                 wenn solche „Selbstspiegelungen“ sich
gefühlen ausgelöst durch die Compu-                                                        ganz aus der Aufgabenbewältigung in
terspiele, haben mich gefühlsmäßig             Aus dieser Fallgeschichte und vie-          Computerspielen nähren, denn – siehe
abstumpfen lassen, ähnlich Leuten           len weiteren beunruhigenden Begeg-             Fußnoten – der „Dispens von Empathie“
die jahrelang Heroin konsumiert ha-         nungen destillierte ich für mich die fol-      ist gefährdend für die Entwicklung einer
ben und denen deshalb jedes alltäg-         genden Thesen:                                 reifen Persönlichkeit.
liche Glückserlebnis absolut nichts ge-
ben kann, weil einfach die Reizschwelle     3.1 Suchtfördernde                             4.     Verbieten? Das Wünschenswerte
nicht überschritten wird.                       Handlungstrainings                                fördern!
Vielleicht ist das auch der Grund, war-
um mir nichts so recht Freude machen           „Computerspiele“, in welchen der               Neben der Zustimmung von Marc
will, nachdem ich mir das Computer-         „Spieler“ in einer vorgegebenen Rolle          erhielt ich auch die von Robert. Und
spielen selbst verleidet habe. Ich bin      vorgegebene Handlungen reproduziert            auch er ergänzte seine Mitteilungen
mir nicht sicher ob sich das jemals wie-    und in solchem Tun vor allem psycho-           noch durch einen Text:
der reversieren lassen wird, mittlerweile   motorisch gefordert ist („Ballern“), sind
kann ich mich schon auf kleine Sachen       keine Spiele8. Es sind Wahrnehmungs-                Also ich könnte ihnen vielleicht noch
freuen, wie schlafen, wenn man sehr         und Handlungstrainings9, die in der Ge-             mehr Fallbeispiele liefern, die ihre The-
müde ist oder auch wenn mal die Son-        fahr sind, süchtig zu machen und eine               sen untermauern. Sie kennen ja be-
ne scheint und ich rausgehen kann.          „zwanghafte“ Tendenz zu entwickeln,                 stimmt „Counterstrike“, das Killerspiel
Was mir zur Zeit am meisten Freu-           die trainierten Tätigkeiten möglicher-              von Robert Steinhäuser aus Erfurt. Ich
de macht ist eigentlich das Program-        weise auch „in echt“ einzusetzen. Sie               hab das auch mal lange Zeit gespie-
mieren an einem der Winfo Lehrstüh-         können somit als Spiel getarnt gerade               lt und folgenden Sachverhalt beobach-
le in der Uni. Ich mag die Leute da sehr    das hervorrufen, was in der Kinder- und             tet: Es gibt da ein (unter den Gamern
gern, weil sie z. T. auch ähnliche Wer-     Jugendlichenpsychotherapeutischen                   ziemlich verpöntes) Scharfschützenge-
degänge wie ich haben, aber auch weil       Praxis als Spielunfähigkeit diagnostiziert          wehr, das beim ersten Treffer sofort tö-
es irgendwie schön ist, zusammen et-        werden muss: den Verlust der inneren                tet und deswegen auch dementspre-
was Neues zu lernen oder Aufzubau-          Souveränität, der Freiwilligkeit des Tuns.          chend unbeliebt ist (man ist sofort tot,
en.                                                                                             Spielspaß = 0). Die Schwierigkeit an
Abschließend zu dem Thema möchte                                                                der Waffe ist, dass man kein norma-
ich aber davor warnen Computer- und                                                             les Fadenkreuz hat, sondern immer in

                                                                  Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/08         23
Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien

     einen speziellen Zoom-Modus schalten           down geht und immer schön die mobs         den Kindern/Jugendlichen und deren
     muss, um halbwegs zielen zu können,            fearen“). Andererseits hat er in dem       Spielen so vertraut sein, dass sie solche
     was dann als Ausgleich zur Mächtig-            Spiel auch eine Gilde gefunden und da      begründeten persönlichen Urteile, sol-
     keit der Waffe das Blickfeld einschränkt.      tatsächlich ne virtuelle Hochzeit(!) ge-   che orientierende Wertentscheidungen
     Es gibt spezielle Karten auf denen man         feiert (ich hab Screenshots davon...).     fällen können.
     das Schießen mit dem Gewehr üben               Generell ist das, denke ich, aber ein
     kann. Der Handlungsablauf den ich              Argument bei allen Multiplayer Spie-           Vorhandene Spiele gesetzlich zu ver-
     dabei gelernt hatte, war „Gegner ge-           len, wo es nicht um den Kampf „Einer       bieten scheint angesichts dessen, was
     sehen – Zoom – Schuss“. Das hab ich            gegen Alle“ geht. Wenn sie in Coun-        bereits produziert wurde, fast unver-
     dann auch recht exzessiv betrieben.            terstrike auf Pro-Gamer Niveau Erfolg      meidbar. Es sollte daher Einfluss auf die
     Als ich dann einmal aus unserm Haus            haben wollen, also an Turnieren und        Hersteller genommen werden, um statt
     auf die Straße gegangen bin, haben             Ligen teilnehmen, wo es z.T. auch um       einer gnadenlosen Gewaltspirale als
     die Straße weiter runter ein paar Kin-         Geld geht, dann müssen sie sich ab-        Umsatzdynamik eine Dynamik des Qua-
     der gespielt und ich hab eins von de-          sprechen und wirklich vorher das Team      litätswettbewerbes zu erreichen.
     nen in Gedanken tatsächlich anvi-              auf eine Strategie einstimmen die dann
     siert...13 In Gedanken anvisiert klingt        durchgezogen wird. Das ist aber meis-          Verboten werden müsste die Herstel-
     ein bisschen abstrakt, ich glaube man          tens eher die Ausnahme, zumindest          lung von menschenverachtenden Szena-
     kann das so beschreiben, dass einfach          bei Counterstrike auf öffentlich Ser-      rien. Die Österreicher wählen den Weg
     das Gehirn die Situation seinen vorher-        vern – da redet wirklich niemand mit       der „positiven Prädikatisierung“. Dies
     higen Erfahrungen zugeordnet hat               ihnen (außer wenn er grad tot ist und      wäre auch für Deutschland ein gang-
     und die entsprechenden motorischen             dementsprechend die Händefrei hat).        barer Weg. Was spräche denn eigentlich
     Reflexe auslösen wollte. Mit solchen Er-       Also ich hoff ich hab da nix überlesen,    dagegen, wenn die Politik Preise für sol-
     fahrungsberichten werden die meisten           aber was sie vielleicht noch reinbringen   che Spiele, virtuelle und digitale Welten
     Spieler (ich eigentlich auch) aber eher        könnten wenn’s zum Thema passt: So         vergeben würde, in denen Kinder sich
     vorsichtig sein, denke ich. Die Spreng-        komplexe virtuelle Welten mit vielen       mit wünschenswerten Inhalten beschäf-
     kraft von einem „Geständnis“ dieser            Möglichkeiten sind 1A, wenn sie vor        tigen, wie gewaltfreier Kommunikati-
     Art ist schon recht groß, vor allem wenn       irgendwas weglaufen wollen, egal ob        on, friedliche, kreative und menschliche
     man das vor dem gegebenen Hinter-              sie jetzt ein Jugendlicher sind oder ein   Problemlösungen u. a. m? Hier wäre ein
     grund sieht („Alle Amokläufer spielen          berufstätiger Mann. Es ist z. T. sogar     weites Feld, in dem Psychotherapeuten
     gerne Doom und Counterstrike“). Wo             besser als Alkohol und Drogen weil sie     und Spieleindustrie zusammenwirken
     ihnen Gamer einen Strick draus dre-            – ich denke mal um einiges vielschich-     könnten.
     hen könnten, ist das Argument mit der          tiger stimuliert werden. Na ja aber das
     Einsamkeit und dem Fehlen von Empa-            hatte ich ihnen ja eh schon geschrie-
     thie. Ich hab einen Freund, der recht          ben.                                       Fußnoten
     aktiv World of Warcraft spielt (und zu-
                                                                                               1   In: Politische Studien, Heft 337, 45. Jahr-
     nehmend verwahrlost). Dem hab ich                                                             gang, September/Oktober 1994, ISBN 3-
     auch mal das vorgeworfen, was ich ih-       Wie soll also die Politik                         928561-36-7 wurde diese Diskussion do-
     nen schon geschrieben hatte: Er ver-        reagieren?                                        kumentiert. Mein Beitrag war damals „Der
     armt geistig und körperlich auf allen                                                         Zukunft beraubt – Wie soll ich lieben, wenn
     Ebenen. Allerdings hält er dann dage-           Ich denke Untersuchungen der Me-              ich nicht hassen darf?“ (S.50-64). Die Fach-
                                                                                                   diskussion setzte sich dort fort und wurde
     gen, dass je weiter man im Spiel fort-      dienwirksamkeitsforschung müssen wei-
                                                                                                   erneut im Themenheft 1/2004 belegt: „Ag-
     schreitet, desto besser muss man sich       ter entfaltet werden. Dieser Beitrag ver-         gression und Straffälligkeit – Kinder und Ju-
     organisieren. Fortgeschrittene Ins-         steht sich als Diskussionsbeitrag im Feld         gendliche brauchen Struktur“, 55. Jahr-
     tanzen brauchen schon mal mindes-           der Therapieszene. Das Spielen zu ver-            gang, August 2004, ISBN 0032-3462. Dort
     tens 40 Spieler, damit man überhaupt        bieten ist dann akzeptabel, wenn es dem           reflektierte ich „Krank oder Böse? Wer-
                                                                                                   tungskategorien bestimmen Reaktionsmus-
     eine reelle Chance hat, durchzukom-         Kind/Jugendlichen als ein erzieherisches
                                                                                                   ter, diese bestimmen Maßnahmen“. (S.52-
     men. Da ist dann schon sehr viel Em-        Verbot von Menschen, die für seine Er-            72)
     pathie, Verhandlungsgeschick und Au-        ziehung verantwortlich sind, vermittelt       2   Mit seiner erkenntnistheoretischen, wissen-
     torität nötig um überhaupt die Leute        wird. Eltern können und sollten ihren             schaftsgeschichtlichen, philosophischen Ar-
     unter der Fuchtel zu halten. Allerdings     Kindern jene Spiele verbieten, in wel-            beit „Substanz, System, Struktur“ hat Hein-
                                                                                                   rich Rombach bereits 1981 Grund gelegt
     ist das dann auch kein wirkliches Ge-       chen sie selbst sich unmenschlich und
                                                                                                   für die später von ihm reich entwickelte
     spräch, sondern alle sind fokussiert auf    normverletzend wahrnehmen würden.                 Sicht auf einen „Menschlichen Menschen“
     das „Lösen der Aufgabe“ und wenn sie        Personzentrierte Begegnungen finden               (Rombach, 1987). Naiv begreifendes Subs-
     miteinander reden, dann halt nur so         innerhalb dieser Spielwelten nicht statt          tanz-Denken, abstrahierend funktionalisti-
     Insider-Trash-Talk wo es meistens auch      – umso mehr sind sie in der familialen            sches Systemdenken werden wissenschafts-
                                                                                                   geschichtlich beschrieben. Das schließlich
     nur um Taktik geht („tank pullt aggro       Umwelt der Kinder und Jugendlichen zu
                                                                                                   entwickelte Struktur Paradigma gemeinsam
     auf den boss, priests rezzen wenn einer     fordern. Dazu müssten Eltern aber mit

24      Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/08
Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien

    mit der prozessorientierten Sicht auf die             Prozessen ausführlich dokumentiert (Ho-        Hockel, C. M. (1994). Der Zukunft beraubt –
    Personen, wie sie mein Rogers-Verständ-               ckel, 1996, 2003, Weinberger 2001)                Wie soll ich lieben, wenn ich nicht hassen
    nis mir ermöglicht, ist Hintergrund der fol-     9    Als solche Trainings zum Herabsetzen der          darf? In Hanns Seidel Stiftung (Hrsg.), Poli-
    genden Ausführungen.                                  Hemmschwelle für Tötungshandeln wur-              tische Studien (Bd. 45, Sept/Okt, S. 50-63).
3   Die Emotionsforschung der Psychologie hat             den sie zum Teil entwickelt.                      Grünwald: Atwerb Verlag.
    hier einiges beigetragen, jedoch nenne ich       10   In einer Darstellung durch Jürgen Fritz und    Hockel, C. M. (1994). Wie soll ich lieben, wenn
    „Mutforschung“ vor allem jene Forschung,              Wolfgang Fehr (www.bpb.de/themen/                 ich nicht hassen darf? Sendung des Bay-
    die versuchte zu begreifen, welche Qualität           YCK0P5,3,0,Virtuelle_Gewalt%3A_Modell_            rischen Rundfunks in 2 Teilen: 1. Gewalt -
    es ausmachte und ausmacht, dass in Dikta-             oder_Spiegel.html#top) wird unter dem             Ergebnis der Versachlichung, 2. Gewalt –
    turen Einzelmenschen solidarisch unter Ein-           Stichwort „Dispens von Empathie“ aus-             Antwort auf die Hoffnungslosigkeit. In N.
    satz ihrer Existenz gegen die Vorschriften            geführt: „In der virtuellen Welt des Com-         Matern (Hrsg.), Forum der Wissenschaft.
    der jeweiligen Diktatur handeln. Am Bei-              puterspiels ist Empathie unangemessen.            München: Manuskript BR.
    spiel jener Menschen, die im dritten Reich            Das vom Computer generierte „Gegenü-           Hockel, C. M. (1996). Das Spielerleben als Ent-
    Verfolgte (vor allem Juden) retteten, ist sol-        ber“ lässt sich nicht empathisch erschlie-        wicklungsraum. In C. Boeck-Singelmann
    che Forschung ausgearbeitet und bei Fo-               ßen, sondern nur einschätzen hinsichtlich         et. (Hrsg.), Personzentrierte Psychothera-
    gelmann (1995) dokumentiert. „Wir wa-                 seiner programmierten Reaktionsmuster.            pie mit Kindern und Jugendlichen (Bd. 1, S.
    ren keine Helden“ ,sondern Menschen, die              Nicht Empathie wird verlangt, sondern             155-177). Göttingen Bern Toronto Seattle:
    eine tragende Wertfülle erlernt hatten und            strategisch-taktisches Verhalten im Rah-          Hogrefe.
    mit dieser inneren Stabilität zu handeln              men eines festgelegten Regelsystems, das       Hockel, C. M. (2002). Kindheit in der virtuellen
    vermochten.                                           für die jeweilige virtuelle Welt Gültigkeit       Welt – Müssen Technikkenntnisse früh ver-
4   Peter Bieri (2001) hat mit seinem „Hand-              hat. Die Figuren im Computerspiel sind nur        mittelt werden? In Hanns-Seidel-Stiftung
    werk der Freiheit“ eine allgemein leserliche          Handlungsträger in funktional bestimmten          und VDE (Hrsg.), Der Mensch und die Zu-
    Alternative entwickelt, eine gegenwarts-              Abläufen und keinesfalls Objekte, denen           kunftstechnologien (S. 109-122). München:
    nahe Phänomenologie und „handwerk-                    man emotional getönte Empathie entge-             Hanns-Seidel-Stiftung.
    liche“ Nutzbarkeitsanwendung für Freiheit             genbringen müsste – obwohl es bei Jünge-       Hockel, C. M. (2003). Angstbewältigung und
    und Selbstverantwortung.                              ren dazu kommen kann, dass sie bestimm-           ein Fall von Zwangserkrankung im Jugend-
5   Ein seit 1984 entwickeltes Papier und Stift-          te Comic-Figuren im Computerspiel süß             alter. In C. Boeck-Singelmann et. (Hrsg.),
    Rollenspiel, das sich in einer ausgedachten           und niedlich finden und auf Beeinträchti-         Personzentrierte Psychotherapie mit Kin-
    Welt, vorwiegend im Land „Aventurien“                 gungen dieser Figuren empathisch reagie-          dern und Jugendlichen (Bd. 3, S. 202-236).
    bewegt. Die Spielanleitungen („Abenteu-               ren. Ein virtuelles Gegenüber kann nur Ob-        Göttingen Bern Toronto Seattle: Hogrefe.
    er“) sind als Textbücher gestaltet und müs-           jekt im Rahmen funktionaler Denk- und          Hockel, C. M. (2004). Krank oder Böse? Wer-
    sen von einem Spielführer zur Vorberei-               Handlungsprozesse sein, nie Subjekt.“             tungskategorien bestimmen Reaktions-
    tung durchgearbeitet werden. In kleinen          11   Jürgen Fritz und Wolfgang Fehr (s.O.)             muster, diese bestimmen Maßnahmen. In
    Gruppen kann ein Abenteuer dann Sze-                  schreiben auch: „Erfahrene Computerspie-          Hanns Seidl Stiftung (Hrsg.), Politische Stu-
    ne um Szene durchgespielt werden und                  ler zeigen sich … irritiert und verwundert,       dien Themenheft 1/2004 (Bd. 55/1, S. 52-
    die Gruppe selbst kann das Spielgeschehen             wenn man ihre Spiele und damit ihre vir-          72). München: Atwerb Verlag.
    mit dem Spielführer jederzeit ändernd aus-            tuellen Aufenthaltsorte nach Kriterien der     Keupp, H., Höfer, R. (Hrsg). (1998). Identitätsar-
    handeln. So entstehen hier gruppendyna-               Menschlichkeit und Moralität kritisiert.          beit heute – Klassische und aktuelle Perspek-
    mische Interaktionen, die ein „Teamerle-              Sie wollen gewinnen und keine Belege für          tiven der Identitätsforschung. Frankfurt am
    ben“ auch als zusammenarbeitendes Team,               ihre moralische Integrität schaffen. Dar-         Main: Suhrkamp.
    das die Spielregeln zu ändern vermag, um-             auf weist auch Leu hin, indem er betont,       Rombach, H. (1981). Substanz, System, Struk-
    fassen. Es kann wochenlang weitergespielt             dass Kindern und Jugendlichen die Vorstel-        tur, Zwei Bände (Bde. 1-2). Freiburg Mün-
    werden, die Spielenden entwickeln Talente             lung, „bestimmte Darstellungsformen als           chen: Karl Alber.
    und Erfahrungen und suchen sich gemein-               Ausdruck von Leiden bzw. von ‚gut‘ oder        Rombach, H. (1987). Strukturanthropologie.
    sam neue Abenteuer.                                   ‚böse‘ in einem moralischen Sinne wahrzu-         Der menschliche Mensch. Freiburg Mün-
6   F. Wurst, H. Rothbucher, R. Donnenberg,               nehmen, fremd ist.“                               chen: Karl Alber.
    Hrsg. (1991) Wofür lohnt es sich zu leben?       12   Jürgen Fritz und Wolfgang Fehr (s.O) : Im-     Schneewind, K. A. (2003). Freiheit in Grenzen
    Werte und Wertfindung in der Erziehung.               mer längere Aufenthalte in der virtuellen         – eine interaktive CD-ROM. München: Lud-
    Salzburg: Otto Müller                                 Welt können schädigen, weil sich dadurch          wig Maximilians Universität.
7   Dieser Dreiklang fasst für mich die Kennt-            die Zeit vermindert, in der sich diese Empa-   Weinberger, S. (2001). Kindern spielend helfen
    nisse der Entwicklungspsychologie in ihrer            thie ausbilden könnte.                            – Eine personzentrierte Lern- und Praxisan-
    Anwendung auf Erziehung zusammen. Eine           13   Hervorhebung durch den Autor.                     leitung. Weinheim und Basel: Beltz Verlag.
    ausgezeichnete Veranschaulichung des da-                                                             Wurst, F., Rothbucher, H, Donnenberg, R.
    mit gemeinten Erziehungsstils gibt die in-       LITERATUR                                              (Hrsg.). (1991). Wofür lohnt es sich zu le-
    teraktive CD-Rom „Freiheit in Grenzen“                                                                  ben? Salzburg: Otto Müller.
    von K.A.Schneewind, 2005 (zu beziehen            Bialas, W. (1998). Kommunitarismus und neue
    über www.freiheit-in-grenzen.org). Die von           Kommunikationsweise. Versuch einer Kon-
    der GwG geforderte Medienbildung statt               textualisierung neuerer philosophischer
    Medienkompetenz und entsprechende El-                Diskussionen um das Identitätsproblem. In
    ternschulung kann nur unterstützt wer-               Heiner Keupp, Renate Höfer (Hrsg.), Iden-
    den. Eine weitere konstruktive Vorgabe ist           titätsarbeit heute- Klassische und aktuelle
    in dem bestehenden Programm www.fami-                Perspektiven der Identitätsforschung (S. 40-
    lienteam.org zu sehen.                               65). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
8   Zu spielen ist eine Tätigkeit, die grund-        Bieri, P. (2001). Das Handwerk der Freiheit.
    sätzlich freiwillig ist, offene Regeln umfasst       München: Hanser.
    usw. Die persönlichkeitsförderliche, ja heil-    Fogelmann, E. (1995). ‚Wir waren keine Helden‘
    same Wirkung vom Spiel wurde insbeson-               – Lebensretter im Angesicht des Holocaust.
    dere im Kontext von spieltherapeutischen             Frankfurt/Main New York: Campus Verlag.

                                                                              Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/08               25
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