www.ssoar.info - SSOAR: Home

Die Seite wird erstellt Karina Schlegel
 
WEITER LESEN
www.ssoar.info - SSOAR: Home
www.ssoar.info

   Flucht und Binnenvertreibung in Asien:
   Ansatzpunkte für und Grenzen der
   Entwicklungszusammenarbeit
   Müller-Koné, Marie; Schmitz-Pranghe, Clara; Schetter, Conrad

   Veröffentlichungsversion / Published Version
   Arbeitspapier / working paper

Empfohlene Zitierung / Suggested Citation:
Müller-Koné, M., Schmitz-Pranghe, C., & Schetter, C. (2017). Flucht und Binnenvertreibung in Asien: Ansatzpunkte für
und Grenzen der Entwicklungszusammenarbeit. (BICC Working Paper, 2/2017). Bonn: Bonn International Center for
Conversion (BICC). https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-61648-8

Nutzungsbedingungen:                                             Terms of use:
Dieser Text wird unter einer CC BY-NC-ND Lizenz                  This document is made available under a CC BY-NC-ND Licence
(Namensnennung-Nicht-kommerziell-Keine Bearbeitung) zur          (Attribution-Non Comercial-NoDerivatives). For more Information
Verfügung gestellt. Nähere Auskünfte zu den CC-Lizenzen finden   see:
Sie hier:                                                        https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0
https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de
\ working paper              2\ 2017

Flucht und Binnenvertreibung in
Asien: Ansatzpunkte für und Grenzen
der Entwicklungszusammenarbeit
Marie Müller-Koné \ BICC
Clara Schmitz-Pranghe \ BICC
Conrad Schetter \ BICC

   \ Working paper 2 \ 2017
flucht und binnenvertreibung in asien \ müller-kone, schmitz-pranghe, schetter

     executive Summary / zusammenfassung

     Asia and the Pacific region are particularly affected by displacement: 3.8 million
     people are under the mandate of the UNHCR and millions of these are internally
     displaced people (IDPs). The causes of displacement in Asia are multiple and go
     well beyond what is covered by the international protection regime for refugees.
     For this reason, the study argues that—especially in protracted displacement
     situations—not only humanitarian action but also developmental approaches
     are required. Methodologically, this study differentiates between six regional
     clusters and categorizes the predominant causes of displacement for each.
     Clusters are based on a weighting of factors that affect displacement, distingu-
     ishing between political, socio-economic and ecological factors. Based on this
     approach, the authors discuss the limits and opportunities of development coope-
     ration in tackling the causes of displacement in Asia. Development
     cooperation needs to acknowledge its limits in preventing displacement and
     must go beyond the containment of its causes by strengthening the displaced
     persons as well as the receiving communities.

     Asien und die Pazifikregion sind in besonderem Maße von Flucht und Vertreibung
     betroffen: 3,8 Millionen Menschen befinden sich dort unter dem Mandat des
     UNHCR, und mehrere Millionen sind Binnenvertriebene. Dabei sind die Ursachen
     erzwungener Migration vielfältig und gehen über das hinaus, was durch das
     internationale Flüchtlingsregime abgedeckt wird. Angesichts dieser Tatsache
     argumentiert die Studie, dass die entwicklungspolitische Unterstützung von
     Flüchtlingen, Binnenvertriebenen und Aufnahmegesellschaften eine wichtige
     Ergänzung für die humanitäre Hilfe darstellt. Die vorliegende Studie systematisiert
     strukturelle sowie unmittelbar fluchtauslösende Ursachen von Flucht und
     Binnenvertreibung in Asien. Methodisch unterscheidet sie sechs Regionalcluster,
     die auf einer Gewichtung verschiedener Fluchtursachen basieren. Innerhalb der
     Cluster werden politische, sozioökonomische und ökologische Ursachen für
     Vertreibung in Asien analysiert. Hierauf aufbauend diskutieren Autorinnen
     und Autor Grenzen der Entwicklungszusammenarbeit und zeigen Ansatzpunkte
     für die EZ zur Bearbeitung von Fluchtursachen in der Region auf. EZ muss die
     Grenzen ihrer Wirksamkeit in Bezug auf die Bearbeitung von Fluchtursachen
     anerkennen und gleichzeitig über deren Bearbeitung hinausgehen, indem die
     entwicklungsorientierte Flüchtlingsarbeit weiter ausgebaut wird.

2\       \ Working paper 2 \ 2017
flucht und binnenvertreibung in asien \ müller-kone, schmitz-pranghe, schetter

Inhaltsverzeichnis

Ergebnisse                                                                         5

Einleitung                                                                         6

Ursachen von Flucht und Binnenvertreibung in Asien                                 9
Politische Fluchtfaktoren                                                          9
Sozioökonomische Faktoren                                                         11
Umweltfaktoren                                                                    13

Regionalcluster                                                                   16
Afghanistan / Pakistan                                                            16
Indischer Subkontinent                                                            20
Südostasiatisches Festland                                                        22
Südostasiatische Inselstaaten                                                     25
Zentralasien                                                                      27
China, Nordkorea, Mongolei                                                        28

Ansatzpunkte für die Entwicklungszusammenarbeit                                   30
Politische Fluchtursachen                                                         30
Sozioökonomische Fluchtursachen und Umweltfaktoren                                31
Unterstützung von Vertriebenen und Aufnahmegemeinden                              32

Fazit                                                                             34

Literaturliste                                                                    35

                                                       \ working paper 2 \ 2017   3\
flucht und binnenvertreibung in asien \ müller-kone, schmitz-pranghe, schetter

4\       \ Working paper 2 \ 2017
flucht und binnenvertreibung in asien \ müller-kone, schmitz-pranghe, schetter

Ergebnisse

Die Ursachen erzwungener Migration                       Sozioökonomische Faktoren wirken sich
in Asien umfassen eine Vielzahl politi-                  meist nur mittelbar auf erzwungene
scher, sozioökonomischer und ökologi-                    Migration aus
scher Faktoren, die oft nicht eindeutig
                                                             So etwa über die Entstehung von Gewaltkonflikten
voneinander getrennt werden können
                                                         oder ‒ in Bezug auf umweltinduzierte Migration ‒
     Unter den politischen Faktoren sind Gewaltkon-      über erhöhte Exponiertheit und Vulnerabilität
flikte der Hauptauslöser für Vertreibung. Unter den      bestimmter Bevölkerungsgruppen in Katastrophen-
sozioökonomischen Faktoren stellen (Zwangs-)Um-          situationen. Entwicklungspolitische Maßnahmen zur
siedlungen im Rahmen von Infrastruktur- und              Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen
Industrieprojekten die zahlenmäßig wichtigste Art        lassen sich daher nicht per se als Beitrag zur Bearbei-
der Vertreibung dar. In Bezug auf ökologische Faktoren   tung von Fluchtursachen einordnen. Direkt flucht-
ist Asien in besonderem Maße sowohl von Extrem-          relevant sind dagegen Projekte, die Probleme des
wetterereignissen als auch von schleichenden klima-      Menschenhandels sowie Zwangsumsiedelungen im
bedingten und menschlich verursachten Katas-             Zuge von Industrie- und Infrastrukturprojekten
trophen betroffen.                                       adressieren. Beide Phänomene sind auf mehreren
                                                         Ebenen eng mit Flucht verbunden und blockieren
Das Ausmaß erzwungener Migration                         Entwicklungspotenziale.
in Asien ist enorm. Es ist jedoch kaum
exakt quantifizierbar, und die Qualität                  Umweltbedingte Fluchtfaktoren stehen
der Daten ist sehr unterschiedlich                       meist in engem Zusammenhang mit
                                                         politischen, wirtschaftlichen und sozia-
    Während Angaben zu Flüchtlingszahlen relativ
                                                         len Kontextfaktoren
zuverlässig sind, beruhen die Zahlen über Binnenver-
triebene nur auf Schätzungen. Weder Regierungen              Für die EZ bieten sich insbesondere im Bereich
noch internationale Organisationen erfassen Angaben      der Anpassung an den Klimawandel und der Katastro-
zu Zwangsumgesiedelten systematisch. Schließlich         phenvorsorge sowie der Übergangshilfe bei Umwelt-
gibt es starke temporäre Schwankungen erzwungener        katastrophen wichtige Ansatzpunkte.
Migration, insbesondere im Zusammenhang mit
Extremwetterereignissen.                                 Eine besondere Bedeutung kommt
                                                         der EZ im Bereich der Unterstützung
Hinsichtlich politischer Fluchtursachen                  von Vertriebenen, Rückkehrern und
ist Entwicklungszusammenarbeit                           Aufnahmegemeinden zu
weder dafür konzipiert noch geeignet,
                                                             Insbesondere in den weltweit zunehmenden,
Gewaltkonflikte als eine der wichtigsten
                                                         über Jahre und Jahrzehnte anhaltenden Vertreibungs-
Ursachen erzwungener Migration zu                        situationen stellt die entwicklungsorientierte Flücht-
verhindern                                               lingsarbeit eine wichtige Ergänzung zum humanitären
    Auch zur Eindämmung politischer Repression           Flüchtlingsschutz dar. Wichtige Ansatzpunkte bieten
und Verfolgung von Minderheiten oder politisch           sich vor allem im Bereich des legal empowerment,
Andersdenkender besitzt EZ kaum das geeignete            des capacity- und institution building und in der
Instrumentarium. In diesem Bereich verspricht dage-      Berücksichtigung zivilgesellschaftlicher und trans-
gen eine enge Verzahnung mit anderen Politikfeldern      lokaler Netzwerke.
wie der Rüstungsexportpolitik ein gewisses Gewicht.
Zudem sind die Themen Friedenskonsolidierung und
Governance relevant.

                                                              \ working paper 2 \ 2017                       5\
flucht und binnenvertreibung in asien \ müller-kone, schmitz-pranghe, schetter

     Einleitung

           Asien und die Pazifikregion sind mit 3,8 Millionen       Maßnahmentypen umfassen entwicklungsfördernde
      Menschen unter dem Mandat des UN Flüchtlingswerks             und strukturbildende Übergangshilfe (ESÜH), die
      (United Nations High Commissioner for Refugees,               bilaterale EZ sowie die 2014 ins Leben gerufenen Son-
      2016d) sowie mehreren Millionen Binnenvertriebenen            derinitiativen „Eine Welt ohne Hunger“ und
      in besonderem Maße von Flucht und Binnenvertrei-             „Fluchtursachen bekämpfen, Flüchtlinge reintegrieren“.
      bung betroffen. Der Großteil der Vertriebenen bleibt in            Angesichts der öffentlich formulierten Erwar-
      Asien (s. Karte 1, S. 8). Die meisten Binnenvertriebenen      tungshaltung, die EZ solle helfen, Fluchtbewegungen
      flohen 2015 vor Krieg und Verfolgung in Pakistan,             zu verhindern, versucht diese Studie eine Einordnung
      Afghanistan, Myanmar, Indien und Bangladesch                  der Möglichkeiten und Grenzen der EZ in Bezug auf
      (IDMC, 2016). Ein Großteil der durch Extremwetter-            Fluchtursachenbearbeitung. Autorinnen und Autor
      eignisse im Jahr 2014 Vertriebenen befand sich auf            untersuchen zunächst die verschiedenen spezifi-
      den Philippinen, in China, Indien, Indonesien, Pakistan,      schen Fluchtursachen in Asien, um anschließend
      Myanmar und Bangladesch mit jeweils über 500.000              Ansatzpunkte für die EZ insgesamt zu diskutieren.
      Vertriebenen (IDMC, 2015b, 2015c) (s. Karte 2, S. 15). Die         Um der Vielzahl fluchtauslösender Faktoren in
      Ursachen von Flucht und Vertreibung sind vielfältig           Asien Rechnung zu tragen, verwendet die Studie
      und greifen häufig ineinander: Gewaltsame Konflikte,          einen relativ weit gefassten, über die Genfer Flücht-
      schlechte Regierungsführung und Unterdrückung                 lingskonvention hinausgehenden Begriff von Flucht.
      von politischer Opposition oder Minderheiten fallen           Dieser berücksichtigt neben politischen auch um-
      oft zusammen. Erzwungene Umsiedlungen zugunsten               weltbedingte sowie sozioökonomische Faktoren.
      von Infrastruktur- und Bergbauprojekten sowie um-             Dennoch hält die Studie an der – aus entwicklungspo-
      weltbedingte Katastrophen – insbesondere in Berg-             litischer Perspektive sinnvollen – Unterscheidung
      regionen, Deltas und Küstenregionen – treiben die             zwischen freiwilliger und erzwungener Migration bzw.
      Zahl der Flüchtlinge und Binnenvertriebenen in                Flucht fest: Ziel der Entwicklungszusammenarbeit ist
      vielen Teilen Asiens weiter nach oben. Über 80 Prozent        es, Flucht als humanitäre Tragödie durch die Bearbei-
      der weltweit von Naturkatastrophen Betroffenen                tung ihrer Ursachen und die Überwindung von
      befanden sich 2015 in Asien (IDMC, 2016).                     Fluchtsituationen zu verhindern. Dies gilt nicht für
           Im öffentlichen Diskurs stehen dagegen Flucht-           freiwillige Migration, die – sofern geregelt und fair –
      bewegungen aus Afrika häufig im Vordergrund. Seit             eine bedeutsame Anpassungsstrategie und wichtige
      den 2000er Jahren betreibt die Europäische Union vor          Triebkraft für Entwicklung in Aufnahme- und Her-
      allem eine extern orientierte Asyl- und Migrations-           kunftsgesellschaften sein kann. In beiden Fällen sol-
      politik, um die Auswanderung aus Herkunftsregionen            len die Aufnahmeländer jedoch dabei unterstützt
      zu verhindern und Rückführungen zu erleichtern.               werden, den Chancen und Herausforderungen von
      Immer häufiger appellieren Politikerinnen und Poli-           Flucht und Migration zu begegnen.
      tiker an die EZ, die Lebensbedingungen in Herkunfts-               Im ersten Kapitel systematisiert die Studie Ursa-
      regionen zu verbessern. Aber erst im Zuge der „Flücht-        chen von erzwungener Migration in Asien. Der
      lingskrise“ im Herbst 2015 wurde der Handlungsdruck           Begriff der erzwungenen Migration (synonym mit
      auf die deutsche EZ so groß, dass ein explizites Kon-         Vertreibung) umfasst sowohl internationale Flucht-
      zept zur „Fluchtursachenbekämpfung“ (inzwischen:              bewegungen als auch Binnenvertreibung. Auf der
     „Minderung von Fluchtursachen“) entworfen wurde.               Grundlage einer Gewichtung verschiedener Ursachen
      Die Konzeption der deutschen EZ im Bereich                    schlagen Autorinnen und Autor im zweiten Kapitel
      Fluchtursachenminderung ist linear angelegt: von              sechs Regionalcluster vor, anhand derer die Gemen-
      Fluchtursachen über Flucht (Stabilisierung von Auf-           gelage von Ursachen erzwungener Migration in Asien
      nahmeregionen und lokale Integration) bis zur Rein-           dargestellt wird. Berücksichtigt werden die asiatischen
      tegration der Flüchtlinge in Herkunftsregionen. Die           Partnerländer der bilateralen deutschen

6\         \ Working paper 2 \ 2017
flucht und binnenvertreibung in asien \ müller-kone, schmitz-pranghe, schetter

Entwicklungszusammenarbeit (ausgenommen Naher
und Mittlerer Osten). Es folgt eine Einschätzung, in-
wiefern Entwicklungszusammenarbeit Fluchtursachen
bearbeiten kann, sowie eine Darstellung möglicher
Ansatzpunkte für die Entwicklungszusammenarbeit
zur Prävention und Minderung erzwungener Migra-
tion in Asien.
    Das Working Paper ist auf der Grundlage eines
vom Bundesministerium für Entwicklung und Zu-
sammenarbeit (BMZ) geförderten Projekts entstanden.1
Die Analyse beruht auf der Auswertung von Daten-
sätzen und Literatur zu Fluchtursachen in Asien,
Projektdokumentationen zur deutschen EZ im
Bereich Minderung von Fluchtursachen sowie Inter-
views mit Referentinnen und Referenten des BMZ.
Angaben zu Flüchtlingen und Binnenvertriebenen
sind, sofern nicht anderweitig vermerkt, aus Daten-
sätzen des UNHCR bzw. des IDMC entnommen
(www.internal-displacement.org; www.unhcr.org/).

1 \ Autorinnen und Autor bedanken sich beim Bundesministerium für
    wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung für die Finanzie-
    rung der Studie und bei den Referentinnen und Referenten des BMZ für
    ihre Unterstützung, bei Marianne Wargenau und Hannes Blitza für die
    Erstellung des Kartenmaterials sowie Laura Gerken und dem BICC-
    Kollegium insgesamt für die wertvolle fachliche Kommentierung und
    redaktionelle Bearbeitung dieses Working Papers.

                                                                           \ working paper 2 \ 2017   7\
8\
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    Karte 1
                                                                      Grenzüberschreitende Fluchtbewegungen

                                                                                           KA SAC H STA N

\ Working paper 2 \ 2017
                                                                                                                                                                             MONGOLEI

                                                                          U S B E K I STA N
                             A FG HA N I STA N
                                                                                                                                                                                                                                                                                            Grenzüberschreitende Fluchtbewegungen

                             Aus dem Land: 2,6 Millionen                       TU R K M E N I STA N                         K I RG I S I STA N
                                                                                                                       TA D SC H I K I STA N
                                                                                                                                                                                    CHINA                                                NORDKOREA
                             In das Land: 300 000
                                                                                                                                                                                    Aus dem Land: 200 000
                                                                                                                                                                                    In das Land: 300 000

                                                                                                                                  NEPAL
                                                                                                                                  Aus dem Land: 9 000
                                                                                                                                  In das Land: 25 000       B H UTA N                                                                              LAOS
                                                                                                                                                            Aus dem Land: 25 000                                                                  Aus dem Land: 7 500

                                                                                                                                                                                                                                                         V I ET NA M
                                                                                                                                                                                                                                                         Aus dem Land: 300 000

                                                                                                                          INDIEN
                                                                                                                          Aus dem Land: 10 000                                                                                                      KAMBODSCHA
                                                       PA K I STA N                                                       In das Land: 200 000                                                                                                      Aus dem Land: 15 000
                                                      Aus dem Land: 340 000
                                                      In das Land: 1,5 Millionen
                                                                                                                                                                                                                                        PHILIPPINEN
                                        Grenzüberschreitende Fluchtbewegungen
                                        Personen in Tausend (gerundet)
                            1 500                                                                                                                                                                                                          M A L AY S I A
                                                                                                   SRI LANKA
                                                                           in die Region                                                                                                                                                   In das Land: 97 000
                                                                                                   Aus dem Land: 120 000
                                                                                                                                                                                                                                                                       P A P U A-
                                                                                                                                                                                                                                                                       NEUGUINEA
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              flucht und binnenvertreibung in asien \ müller-kone, schmitz-pranghe, schetter

                                                           in das                                        BANGLADESCH                                 THAILAND                                                                                                          In das Land: 9 500
                                                                               in die Welt
                              300                          Land                                          Aus dem Land: 11 000                        In das Land: 130 000
                                                                                                                           MY A N M A R
                                                                                                                           Aus dem Land: 480 000                                                                                       O ST I MO R
                               25
                                5 000 Menschen sind beziffert. Kartenlayout: Marianne Wargenau.
                           Die auf der Karte dargestellten Grenzen und Beschriftungen bedeuten keine of izielle Billigung oder Anerkennung seitens des Bonn International Center for Conversion (BICC) oder des Autors /anderer Beteiligter/ Partner. BICC. Mai 2016
flucht und binnenvertreibung in asien \ müller-kone, schmitz-pranghe, schetter

Ursachen von Flucht und Binnenvertreibung in Asien

     Ursachen erzwungener Migration lassen sich in       Politische Fluchtfaktoren
strukturelle, langfristig wirkende (drivers) und
unmittelbare (triggers) unterteilen (Smith, 2004). In        Politische Gewalt ist Hauptauslöser für Flucht,
der Regel treten strukturelle und akute Ursachen         insbesondere für internationale Fluchtbewegungen.2
kombiniert auf, wobei langfristige Ursachen auch         Dabei spielen in der Region Gewaltkonflikte zahlen-
über Jahre hinweg vorherrschen können, ohne dass         mäßig eine weit größere Rolle in der Verursachung
Menschen tatsächlich massenweise migrieren. Empi-        von Fluchtbewegungen als Verfolgung und
risch ist es schwierig, Migrationsbewegungen, die aus    Repression.
strukturellen Faktoren (u. a. sozioökonomische Un-
gleichheit, Perspektivlosigkeit, Umweltdegradation)      Gewaltkonflikte
resultieren, als erzwungen zu identifizieren und              Asien und Ozeanien war 2015 laut Heidelberger
einer bestimmten Ursache zuzuordnen– es sei denn,        Konfliktbarometer die Weltregion mit den meisten
es liegen Umfrageergebnisse zu den fraglichen Fällen     gewaltsamen Konflikten. Mit insgesamt 126 gewalt-
vor. Akute, fluchtauslösende Ereignisse (u. a. Umwelt-   samen Auseinandersetzungen (ausgenommen Afgha-
ereignisse, Bürgerkriege) lassen sich eher in einen      nistan) finden hier über ein Viertel aller weltweiten
unmittelbaren Zusammenhang mit Fluchtbewegun-            Konflikte statt. Bei 69 dieser Konflikte handelt es sich
gen stellen. Strukturelle Ursachen müssen jedoch in      um gewaltsame Konflikte, im Fall der Philippinen,
eine Analyse des komplexen Phänomens von Flucht          Afghanistan und Pakistan um Kriege.3 In ihrer Mehr-
einbezogen werden und sind gerade in der Prognose        zahl reichen die Konflikte zeitlich sehr lange zurück
von Fluchtbewegungen von enormer Bedeutung.              und dauern im Schnitt doppelt so lange wie die Kon-
     Auch wenn sich die verschiedenen Ursachenkate-      flikte in anderen Weltregionen (Parks et al., 2013).
gorien schwer voneinander abgrenzen lassen und oft-      Substaatliche Konflikte stellen die häufigste Konflikt-
mals zusammen auftreten, ist eine analytische Unter-     form dar: Sie herrscht vor allem in den von einer
scheidung verschiedener Ursachen von Flucht und          ethnischen Minderheit bewohnten abgelegenen
Vertreibung wichtig – insbesondere in Hinblick auf die   Grenzregionen vor, die in der Geschichte über ein
Entwicklung angepasster Strategien zur Eindämmung        gewisses Maß an Autonomie verfügten. Asien und
fluchtauslösender Faktoren. Auch die Möglichkeiten       Ozeanien war 2015 zwar auch die Region mit den
und die Bereitschaft von Geflohenen, an ihren Her-       meisten zwischenstaatlichen Konflikten – drei davon
kunftsort zurückzukehren, hängen entscheidend von        gewaltsam –, aber diese verursachen bislang keine
der Art der Vertreibung und der erlebten Traumata ab.    nennenswerten Vertreibungen.
     Diese Studie unterscheidet zwischen politischen,         Zu berücksichtigen ist, dass erzwungene Migra-
sozioökonomischen und ökologischen möglichen             tion nicht ausschließlich ein (Neben-) Effekt
Fluchtursachen (s. Tabelle 1).                           gewaltsamer Konflikte ist, sondern ebenso auch als
     Unter den politischen Faktoren gehen wir insbe-     Kriegsstrategie und zur Durchsetzung weiterer poli-
sondere auf a) Gewaltkonflikte als wichtigen flucht-     tischer Ziele eingesetzt wird (beispielsweise um im
auslösenden Faktor und b) auf Repression durch au-
tokratische Regime und Menschenrechtsverletzungen        2 \ Bezüglich Binnenvertreibung sind jedoch Naturkatastrophen und
ein, die in den klassischen Zuständigkeitsbereich des        durch Entwicklungsprojekte bedingte Umsiedlungen zum Teil von
                                                             größerer Bedeutung, wie insbesondere die Fälle Indien, China und
internationalen Flüchtlingsregimes fallen. Bei den           Südostasien zeigen (s.u.). So übersteigt die Zahl der durch Naturkata-
sozioökonomischen Faktoren richtet sich unser                strophen Vertriebenen (15,95 Mio. im Jahr 2014 in den asiatischen
                                                             BMZ-Partnerländern) die Zahl von Flüchtlingen (4,99 Mio.) in der
Augenmerk insbesondere auf Zwangsumsiedlungen
                                                             Region (IDMC & Norwegian Refugee Council, 2015c).
im Rahmen von Entwicklungsprojekten, weil diese          3 \ Das Heidelberger Konfliktbarometer unterscheidet fünf Konflikt-
zahlenmäßig in einigen Ländern die wichtigste Art            intensitäten (dispute, non-violent crisis, violent crisis, limited war, war) auf
                                                             der Grundlage der eingesetzten Waffen und des beteiligten Personals,
der Vertreibung darstellen.                                  der Zahl der Todesopfer, des Ausmaßes der Zerstörung sowie von
                                                             Fluchtbewegungen.

                                                                 \ working paper 2 \ 2017                                                 9\
flucht und binnenvertreibung in asien \ müller-kone, schmitz-pranghe, schetter

       Tabelle 1
       Fluchtursachen

                                   Drivers                                                   Triggers

       Politische Faktoren         Langwährende Repression der politischen                  Politische Gewalt (bewaffnete Konflikte, systematische
                                   Opposition und Zivilgesellschaft; Marginalisie-          Verfolgung); politische Transitionen (Regimewechsel,
                                   rung sozialer, ethnischer, religiöser Gruppen;           Wahlen in jungen Demokratien)
                                   schwache Regierungsführung; Korruption;
                                   Rechtsunsicherheit

       Ökologische Faktoren        Schleichende, klimawandelbedingte und menschlich         Extremwetterereignisse (wie Stürme und Starkniederschläge,
                                   verursachte Umweltveränderungen (z. B. Boden-            Tsunamis, Erdbeben); menschlich verursachte
                                   degradation, Desertifikation, Anstieg des Meeres-        Katastrophen
                                   spiegels, Wasser- und Bodenverunreinigung)

       Sozioökonomische Faktoren   Ungleichheit; Ressourcenknappheit bzw.                   Umsiedlungen im Zuge von Entwicklungsprojekten und
                                   ungerechte Verteilung von Ressourcenreichtum;            Modernisierungspolitik; Menschenhandel
                                   Ernährungsunsicherheit; mangelnde Infra-
                                   struktur; Bevölkerungsdruck; Arbeitslosigkeit;
                                   Kriminalität

       Vorfeld von Wahlen politische Mehrheiten zu verän-                       sind diese Konflikte in vielen Fällen ethnisch, ideolo-
       dern oder als Druckmittel gegenüber Nachbarstaaten).                     gisch und/oder religiös aufgeladen, wenn der Ressourcen-
            Gerade die durch Gewaltkonflikte und Repression                     zugang entlang kommunaler Abgrenzungen erfolgt.
       verursachten Flüchtlingskrisen sind die am schwer-                       Häufig sind es Konflikte, die sich am Streitpunkt der
       sten lösbaren, wie die Vielzahl von langanhaltenden                      Vorrechte von autochthonen Gruppen entzünden
       Flüchtlingssituationen in Asien zeigt. Gewaltkonflikte                   (siehe Kasten 1).
       und Fluchtbewegungen beeinflussen sich überdies
       gegenseitig. So können akute oder langanhaltende                         Kasten 1
       Fluchtsituationen zur Gewalteskalation in Zufluchts-                     Konflikte um Ressourcenzugang und politische Teilhabe
       regionen beitragen – etwa durch Konflikte zwischen
       der lokalen Bevölkerung und Geflohenen.                                  In vielen asiatischen Ländern dominieren ethnische Gruppen, die in
            Historischer und bis heute fortwirkender Hinter-                    tief gelegenen Flussebenen siedeln, während Minderheiten häufig in
       grund vieler Konflikte in Asien sind Prozesse der                        den höher gelegenen Bergregionen leben (sogenannte hill tribes).
       Nationalstaatsbildung, die aus der Kolonialherrschaft                    Konflikte zwischen autochthonen Minderheitengruppen – die sich zum
       hervorgingen und zum Teil mit massiven Fluchtbe-                         Teil als „indigenous peoples“ verstehen – und zugezogenen Bevölke-
       wegungen einhergingen. Viele Konflikte in Asien                          rungsteilen stehen häufig in Zusammenhang mit Wettbewerb um
       entzünden sich zudem an Fragen der rechtlichen                           Zugang zu Land und zeichnen sich durch eine besonders lange Dauer
       und sozioökonomischen Teilhabe (v. a. Staatsbürger-                      (im Durchschnitt 15 Jahre) mit gleichzeitig niedrigeren Gewaltintensi-
       schaftsrechten) sowie der Ressourcenausbeutung                           täten aus (Weiner, 1978; Fearon & Laitin, 2011). Beispiele für derartige
       (u. a. Holzeinschlag, Palmölplantagen sowie Bergbau-,                    Konflikte finden sich in den Chittagong Hill Tracts (Bangladesch), in
       Erdöl- und Erdgasprojekten). Hierbei spielen Ressour-                    der Inneren Mongolei, Tibet und Xinjiang (China), Assam (Indien), Sri
       cenzugang und -verteilung, Umweltverschmutzung                           Lanka, Belutschistan (Pakistan), Mindanao (Philippinen), Patani
       sowie Landrechtsfragen eine zentrale Rolle. Auch                         (Thailand) sowie West Papua und Aceh (Indonesien).

10 \         \ Working paper 2 \ 2017
flucht und binnenvertreibung in asien \ müller-kone, schmitz-pranghe, schetter

Repression, Verfolgung und allgemeine Menschen-                             sowie Menschenhandel und Flucht direkt. (Zwangs-)
rechtsverletzungen                                                          Umsiedlungen im Rahmen von Infrastruktur- und
     Zu den politischen Fluchtursachen zählt zudem                          Industrieprojekten sind für hohe Zahlen insbesondere
die systematische Verfolgung einzelner Personen                             von Binnenvertriebenen in Asien verantwortlich.
und Gruppen aufgrund ethnischer, nationaler, religi-
öser, sozialer, politischer, geschlechtlicher Zugehörig-                    Perspektivlosigkeit und sozioökonomische
keiten sowie die Repression durch autoritäre Regime                         Ungleichheit
und Menschenrechtsverletzungen. Politische Verfol-                               Der Einfluss sozioökonomischer Faktoren wie
gung ist durch die UN Flüchtlingskonvention abgedeckt.                      extreme Armut, Chancen- und Perspektivlosigkeit,
Generell erfahren Verfolgte, obgleich im internatio-                        Bevölkerungsdruck6 und Einkommensunterschiede
nalen Flüchtlingsregime als Flüchtlinge anerkannt,                          auf Migration ist ambivalent: Auf der einen Seite
in Asien jedoch keinen angemessenen Schutz, da nur                          motivieren regionale Einkommensunterschiede
13 Staaten Asiens der UN Flüchtlingskonvention und/                         Menschen zu Migration in wirtschaftlich erfolgrei-
oder dem Protokoll von 1967 beigetreten sind.4 Auch                         chere Regionen. Auf der anderen Seite ist Migration
wenn Repression und Verfolgung – im Vergleich zu                            für die meisten Menschen erst möglich, wenn dafür
Gewaltkonflikten – in Asien zahlenmäßig weit gerin-                         finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen. Migra-
gere Fluchtbewegungen auslösen, geht Verfolgung                             tion nimmt bei steigendem Pro-Kopf-Einkommen
und Repression durch staatliche und nicht-staatliche                        zunächst einmal zu, um bei einem relativ hohen
Akteure jedoch häufig mit Gewaltkonflikten einher.                          Pro-Kopf-Einkommen wieder abzunehmen (Castles,
     Obgleich in einigen Ländern eine demokratische                         2008). Zudem scheinen in Bezug auf Rückkehrbewe-
Transformation zu beobachten ist (Taiwan und Süd-                           gungen allgemeine Chancen- und Perspektivlosigkeit
korea), dominieren autoritäre Modernisierungsansätze                        in der Ursprungsregion Vertriebene häufig an ihrer
(z. B. China, Malaysia, Laos, Singapur und Vietnam)                         Rückkehr zu hindern, was aktuell im Fall von Afgha-
und „harte Autokratien“ (z. B. Nordkorea, Turkmenistan,                     nistan (Mielke & Grawert, 2016) und Myanmar zu
Usbekistan).5 Vor allem zeichnet sich die Tendenz ab,                       beobachten ist.
dass Wahlen, Versammlungsrecht und/oder Meinungs-                                Weltweit weisen Länder mit niedrigem und mitt-
äußerung weniger frei als noch vor zehn Jahren sind                         leren Einkommen die höchsten Zahlen von Flucht
(HIIK, 2016). Auch die Verfolgung religiöser und eth-                       und Binnenmigration auf (World Bank, 2016), und
nischer Minderheiten verschärft sich im Zuge von re-                        viele asiatische Staaten mit hohen Flüchtlingszahlen
ligiösem Nationalismus und Extremismus in einigen                           (u. a. Afghanistan, Myanmar, Pakistan) rangieren
Ländern der Region (Freedom House, 2016).                                   auch auf den untersten Rängen des Human Develop-
                                                                            ment Index. Dennoch wirken sich sozioökonomische
Sozioökonomische Faktoren                                                   Faktoren meist nur mittelbar auf erzwungene Migra-
                                                                            tion aus: über die Entstehung von Gewaltkonflikten
    Sozioökonomische Faktoren wie Ungleichheit,                             und ‒ in Bezug auf umweltinduzierte Migration7 ‒
Ressourcenknappheit und Arbeitslosigkeit wirken                             über erhöhte Exponiertheit und Vulnerabilität.
auf Fluchtbewegungen meist nur mittelbar oder in
Kombination mit anderen Faktoren. Dagegen ist der
Zusammenhang zwischen (Zwangs-)Umsiedlungen
                                                                            6 \ In den meisten asiatischen Ländern finden sich Altersstrukturen mit
                                                                                einem sehr hohen Anteil junger Menschen. Insbesondere Afghanistan
4 \ Afghanistan, Philippinen, Timor-Leste, Kambodscha, Südkorea,                und Timor-Leste verfügen mit einem mittleren Alter von 17 bzw. 16,9
    Papua-Neuguinea, Macao, Japan, China, Kasachstan, Kirgistan,                Jahren über sehr junge Bevölkerungen (United Nations Development
    Tadschikistan und Turkmenistan.                                             Programme, 2015, S. 234–237).
5 \ Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung (BTI): Der BTI bewertet   7 \ Weltweit weisen Länder mittleren Einkommens die größte Zahl an um-
    die Qualität von Demokratie, Marktwirtschaft und politischem                weltbedingter erzwungener Migration auf. Dies gilt insbesondere auch
    Management in 129 Entwicklungs- und Transformationsländern.                 für Ost- und Südasien (IDMC & Norwegian Refugee Council, 2015a, S. 25).

                                                                                   \ working paper 2 \ 2017                                       11 \
flucht und binnenvertreibung in asien \ müller-kone, schmitz-pranghe, schetter

       Konflikte weisen vor allem Länder mit niedrigem                             kraftwerke/Staudämme, zunehmend aber auch indus-
       und mittlerem Einkommen in Asien auf, wobei                                 trielle Großprojekte (u. a. Sonderwirtschaftszonen),
       75 Prozent aller Länder mit niedrigem Einkommen                             Städtemodernisierungen und die Schaffung touristi-
       und 60 Prozent aller Länder mit mittlerem Einkom-                           scher Infrastruktur gehen in vielen Fällen mit Zwangs-
       men von substaatlichen Gewaltkonflikten betroffen                           umsiedlungen einher. Oft stellen sie sogar einen inte-
       sind (Parks et al., 2013, S. 23). In der Literatur ist der                  gralen Bestandteil ökonomischer und politischer
       Zusammenhang zwischen generellen Einkommens-                                Modernisierungspolitiken und ein Mittel zur Errei-
       unterschieden und Gewaltkonflikten jedoch umstrit-                          chung von gesellschaftlicher und politischer Trans-
       ten. Auf der einen Seite wird argumentiert, dass mit                        formation dar.
       einem fünfprozentigen Abfall des Wirtschaftswachs-                               Umsiedlungen sind nicht per se mit Vertreibung
       tums die Wahrscheinlichkeit von Gewaltkonflikten                            gleichzusetzen, wie auch Vertreibungen nicht aus-
       generell um zehn Prozent steigt (Naudé, 2009). Dagegen                      schließlich im Rahmen von Umsiedlungsprogrammen
       fanden andere Studien, dass weniger individuell                             stattfinden. Staatliche Zwangsumsiedlungen, die auf
       gemessene Einkommensunterschiede, als vielmehr                              Basis eines „öffentlichen Interesses“ durchgeführt
       ökonomische Ungleichheiten zwischen Gruppen                                 werden, gegen die sich Besitzer gewohnheitsrechtlicher
       und Regionen systematisch mit Gewaltkonflikten                              Landtitel kaum wehren können und bei denen keine
       verbunden zu sein scheinen (Cederman et al., 2013).                         oder eine unzureichende Kompensation geleistet
       Dies bestätigt sich auch am Beispiel Asiens, wo das                         wird, kommen im Ergebnis jedoch oft einer Vertrei-
       Wirtschaftswachstum in von substaatlichen Konflik-                          bungssituation gleich.
       ten betroffenen Regionen eines Landes geringer aus-                              So ist es auch in den rechtlich nicht bindenden
       fällt als im nationalen Durchschnitt (u. a. Südthailand,                    Guiding Principles on Internal Displacement des
       Aceh) und oft auch wesentlich niedriger ist als in den                      UN-Repräsentanten für Binnenvertriebene formuliert.
       direkten Nachbarregionen (z. B. Songkhla Provinz in                         Die Implementierung der Guiding Principles im
       Thailand, Northern Sumatra in Indonesien), was die                          Rahmen großer Entwicklungsprojekte ist bislang
       Wahrnehmung ökonomischer Unterschiede noch                                  unzureichend und inkonsistent. Sie haben jedoch in
       verstärkt. Diese ungleiche Verteilung zwischen                              einigen Fällen zur Ausarbeitung von IDP (internally
       Regionen macht plausibel, warum trotz eines jahr-                           displaced persons) Gesetzgebungen beigetragen
       zehntelangen hohen Wirtschaftswachstums in der                              (McDowell, 2014). Zusätzlich finden bei Großprojekten
       Region Konflikte anhalten und die wirtschaftliche                           der Entwicklungszusammenarbeit, die der Finanzie-
       Entwicklung keinen positiven Einfluss auf Konflikt-                         rung durch Entwicklungsbanken bedürfen, interna-
       dynamiken nimmt. Mit Ausnahme von Indonesien                                tionale Schutzstandards Anwendung.9 Der Einfluss
       (1998–2003) korrelieren substaatliche Konflikte auch                        der EZ schwindet jedoch angesichts des Trends, dass
       nicht mit Phasen wirtschaftlicher Rezession (Parks                          viele Staaten ihre Projekte selbst finanzieren. Zudem
       et al., 2013).                                                              werden weltweit wesentlich mehr Menschen auf-
                                                                                   grund kleinerer Projekte als von Großprojekten um-
       Zwangsumsiedlungen im Rahmen von Entwicklungs-                              gesiedelt (Mcdowell, 2014). Zu beobachten ist außerdem,
       projekten und Menschenhandel                                                dass Umsiedlungen nicht mehr nur durch den Staat,
           Der Großteil der weltweit jährlich ca. 15 Millionen                     sondern zunehmend auch durch private Firmen vor-
       Zwangsumsiedlungen im Zuge von staatlich definier-                          genommen werden.
       ten Entwicklungsprozessen findet sich in Asien, v. a.
       in den sich schnell industrialisierenden Ländern
                                                                                   9 \ Beispiele sind die Convention on Indigenous and Tribal Populations
       Indien und China.8 Infrastrukturprojekte wie Wasser-                            (ILO, 1957), die Voluntary OECD DAC Guidelines on Involuntary
                                                                                       Resettlement (1992), World Bank Indigeneous People Policy (1982) etc.
                                                                                       1993 schuf die Weltbank mit dem Inspection Panel ein unabhängiges
       8 \ Allein in China sollen zwischen 1950 und 2008 70 Millionen Menschen         Beschwerdeverfahren für Menschen und Gemeinden, die sich in negativer
           durch Entwicklungs-projekte vertrieben worden sein (Maldonado, 2012).       Weise von durch die Weltbank geförderten Projekten betroffen sehen.

12 \          \ Working paper 2 \ 2017
flucht und binnenvertreibung in asien \ müller-kone, schmitz-pranghe, schetter

     Häufige Folgen der Umsiedlung aufgrund von           sich von den 19,3 Millionen Binnenvertriebenen
Entwicklungsprojekten – seien sie erzwungen oder          weltweit, die durch Naturkatastrophen vertrieben
freiwillig – sind zunehmende Verarmung sowie die          wurden, ca. 16,7 Millionen Menschen (86 Prozent) in
soziale und politische Marginalisierung von benach-       Asien. 11 der am meisten von umweltbedingten Ver-
teiligten Bevölkerungsgruppen. Viele Menschen ver-        treibungen betroffenen Länder (u. a. China, Indien,
lieren aufgrund von Entwicklungsprojekten wie Berg-       Philippinen) liegen in Asien. Die Gründe hierfür liegen
bau und Landinvestitionen (in Asien insbesondere          zum einen in der hohen natürlichen Gefährdung der
Palmölplantagen) ihre Lebensgrundlage. Finanzielle        Region durch Erdbeben, Taifune und Extremwetter-
Kompensationen drohen, den sozialen Zusammenhalt          ereignisse. Zum anderen tragen Umweltzerstörung
sowie individuelle Entfaltungsmöglichkeiten negativ       und starkes Bevölkerungswachstum zur stärkeren
zu beeinflussen (Allen, 2013).                            Exponiertheit der Region bei. Schließlich verursachten
     Eine weitere Form erzwungener Migration ist der      auch menschengemachte Umweltkatastrophen in
in Asien weit verbreitete Menschenhandel. So finden       Asien Vertreibungen (u. a. Chemieunglück von 1984 in
sich in Ost- und Südostasien 23,2 Prozent aller von       Bophal, Nukleartests im heutigen Kasachstan zu
der IOM weltweit identifizierten Opfer von Menschen-      Zeiten der Sowjetunion).
handel (International Organization for Migration,               Die Küsten, Berg- und Deltaregionen sind von
2016). Die Zahlen der innerhalb eines Landes „gehan-      Umweltereignissen und -veränderungen besonders
delten“ Menschen liegen dabei weit höher als die          betroffen. Ein Großteil der asiatischen Bevölkerung
Zahlen der Opfer, die eine internationale Grenze          lebt in niedrig gelegenen Küstenregionen, wo insbe-
überschreiten. Menschenhandel betrifft Flüchtlinge        sondere Großstädte durch Überflutungen und Zyklone
und Binnenvertriebene in besonderem Maße, da sie          gefährdet sind. Hier sind es besonders die ärmeren
oft über keinerlei rechtlichen Status verfügen, der sie   und marginalisierten Bevölkerungsgruppen, die
vor Ausbeutung schützen würde.                            diesen ausgesetzt sind und eine höhere Vulnerabilität
                                                          aufweisen, erleiden sie doch relativ größere Verluste
Umweltfaktoren                                            und verfügen nur über eine geringe Kapazität, sich
                                                          auf diese einzustellen und sich von ihnen zu erholen
     Menschen, die gezwungen sind, ihren Wohnort          (Boano et al., 2008; IDMC & Norwegian Refugee Coun-
zu verlassen, weil ihr Leben oder ihre Lebensgrundlage    cil, 2015b, 2015b). Laut dem zwischenstaatlichen Aus-
durch umwelt- und klimabedingte Ereignisse und            schuss für Klimaänderungen der Vereinten Nationen
Prozesse bedroht sind, fallen nicht unter den Schutz      (Inter-governmental Panel on Climate Change, 2014)
der Genfer Flüchtlingskonvention. In der Definition       ist langfristig davon auszugehen, dass Überflutungen
von Binnenvertriebenen in den Guiding Principles on       aufgrund des Anstieges des Meeresspiegels, extremen
Internal Displacement sind Menschen, die vor natür-       Niederschlags und Zyklonen in großen Teilen Asiens
lichen oder von Menschen verursachten Katastrophen        zunehmen werden.
fliehen, allerdings inbegriffen. Im Gegensatz zu Kata-         Ansteigende Durchschnittstemperaturen, extreme
strophenopfern lassen sich Migrationsbewegungen           Temperaturen in Sommer und Winter, Versalzung
in Reaktion auf schleichende, durch Klimawandel           von Süßwasser durch den ansteigenden Meeresspiegel,
mitverursachte Umweltveränderungen nicht eindeu-          stark schwankende Niederschläge und zunehmende
tig zuordnen und als Flucht bezeichnen. Der Begriff       Trockenheit in vielen Regionen könnten zudem in
des „Klimaflüchtlings“ ist daher problematisch.           Zukunft zu Wasserknappheit und Ernährungsunsi-
     Die Schätzungen in Bezug auf die Auswirkungen        cherheit in weiten Teilen Asien führen (Boano et al.,
von Umweltfaktoren auf Migrationsbewegungen gehen         2008). Weitere, unter Umständen migrationsrelevante
sehr weit auseinander, da sich Umweltfaktoren als         Folgen des Klimawandels sind die Ausbreitung von
Ursache von Migration gegenüber anderen Faktoren          Infektionskrankheiten, Dengue Fieber und Malaria.
sehr schwer abgrenzen lassen. Laut IDMC befinden

                                                               \ working paper 2 \ 2017                      13 \
flucht und binnenvertreibung in asien \ müller-kone, schmitz-pranghe, schetter

           Umweltbedingte erzwungene Migration scheint
       bislang vor allem innerhalb des betroffenen Landes
       und – insbesondere als Folge von plötzlich auftreten-
       den Naturkatastrophen – temporär stattzufinden, d. h.
       eine Rückkehr der Vertriebenen ist wahrscheinlich,
       wobei auch Fälle wiederholter zyklischer Vertreibungs-
       situationen oder langfristig ungelöster Vertreibungen
       aufgrund plötzlicher Naturkatastrophen dokumen-
       tiert sind (Internal Displacement Monitoring Centre
       und Norwegian Refugee Council, 2015b). Es wird prog-
       nostiziert, dass langfristig eine zunehmende Zahl von
       Menschen migrieren wird, da sich Klimawandel,
       Umweltdegradation und der Anstieg des Meeresspie-
       gels direkt auf die Lebensgrundlage der Menschen
       auswirken. Strukturelle Faktoren geben dabei den
       Ausschlag über temporäre oder permanente
       Migration.

14 \        \ Working paper 2 \ 2017
Karte 2
                                                    BANGLADESH
                                                                      Binnenvertriebene

                                                                                                                                                                                                                                                                                   Binnenvertriebene

                                                                                             KA SAC H STA N
                                                                                                                                                                            MONGOLEI

                                                                                           U S B E K I STA N
                                                                                                                       K I RG I S I STA N
                                                                                     4.0

                                                                                       00
                                                                                                                                                                                               CHINA                                       NORDKOREA
                                        TU R K M E N I STA N
                                                                                           805                    TA D SC H I K I STA N
                                                                                              .4                                                                                      6

                                                                                                                                                                                .37

                                                                                               09

                                                                           50
                                                                                                                                        NEPAL

                                                                       13.3
                                                                                                                                                                           3.611
                                    A FG HA N I STA N                                                                                                50.
                                                                                                                                             00         0                                                                                             LAOS

                                                                                                                                       .2
                                                                                                                                                        00
                                                                                                1.90

                                                                                                                                     83
                                                                                                    0.0                                                      B H UTA N

                                                                                                        00

                                                                                77
                                                                                                                                                             431
                                                                                                                                                                .

                                                                           770.5
                                                                                                                                              00
                                                  PA K I STA N                                                                                                                                                                                            V I ET NA M

                                                                                                                                                                 00
                                                                                                                                                                   0

                                                                                                                                         543.0
                                                                                                                                                                                       4.50

                                                                                                                                                                                               0
                                                                                                                                                                    645
                                                                                                        20                         85                                  .

                                                                                                   .6
                                                                                                                                                       2
                                                                                                                                                                          26
                                                                                                                                                                            1

                                                                                                                                    3.9
                                                                                                                                                                                                           89
                                                                                                                                                                                                                                                      KAMBODSCHA

                                                                                                                                       00
                                                                                                                                                  81.03

                                                                                              3.427
                                                                                                                                                                                                        68.6
                                                                                INDIEN                                                                               24
                                                                                                                                                                            35.0

                                                                                                                                                                               00
                                                                                                                                                                                                                           9
                                                                                                                                                                                          26

                                                                                                                                                                                       9

                                                                                                                                                                 30.4
                                                                                                                                                                                                                     .15

                                                                                                                                                                                                                                              7   PHILIPPINEN

                                                                                                                                                                                   154.
                                                                                                                                                                                                                                              7.7

                                                                                                                                        90
                                                                                                                                                                                                                5.787

                                                                                                                              00

                                                                                                                          8
                                                                                                                                                                                                                                                 00

                                                                                                                                         .00
                                   Binnenvertriebene 2014

                                                                                                                                            0
                                                                                                                                                                                                   11

                                                                                                                      151.
                                                                                                                                                                                              .7
                                                                                           SRI LANKA
                                                                                                                                                                                           255                                              M A L AY S I A
                                                          katastrophenbedingt
                                                                                                             BANGLADESCH
                                                                                                                                                                                                                                                                   PAPUA-

\ working paper 2 \ 2017
                                                          konfliktbedingt (akkumuliert)                                        MY A N M A R                                                                                                                         NEUGUINEA
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 flucht und binnenvertreibung in asien \ müller-kone, schmitz-pranghe, schetter

                                                                                                                                                       THAILAND                                                                                                             7
                                                                                                                                                                                               9                                                                       86
                                                                                                                                                                                        5
                                                                                                                                                                                                                                                                            .50

                                PA K I STA N              Land mit > 4 000 Binnenvertriebenen
                                                                                                                                                                                                                                                                               0

                                                                                                                                                                                                                                                                  21.1

                                                                                                                                                                                                                  8
                                                                                                                                                                                                                  4.0

                                                                                                                                                                                   943.0
                                                                                                                                                                                                                     00

                                      M O N G O L E I Land mit < 4 000 Binnenvertriebenen, keinen                                                  INDONESIEN                                                                   O S T I M9 O R
                                                      Binnenvertriebenen oder ohne Daten                                                                                                                                              12
                                                                                                                                                                                                                                             00

                                                                                                                                                                                                                                   3.3

                           Quellen: Natural Earth 2016; IDMC 2015. Kartenlayout: Marianne Wargenau, Hannes Blitza.
                           Die auf der Karte dargestellten Grenzen und Beschriftungen bedeuten keine of izielle Billigung oder Anerkennung seitens des Bonn International Center for Conversion (BICC) oder des Autors /anderer Beteiligter/ Partner. BICC. Mai 2016

15 \
flucht und binnenvertreibung in asien \ müller-kone, schmitz-pranghe, schetter

       Regionalcluster

            Im Folgenden werden Regionalcluster vorgestellt,      Refugee Council, 2016). Aus Afghanistan flohen bis
       anhand derer Entwicklungszusammenarbeit im                 Ende 2015 knapp 2,7 Millionen Menschen (UNHCR,
       Bereich Minderung von Fluchtursachen in Asien              2016). Die meisten Flüchtlinge befinden sich im Iran
       operationalisiert werden kann. Die Clusterbildung          (950.000) und in Pakistan (1,5 Mio.). Neben diesen
       folgt sowohl geographisch-gesellschaftlichen Gegeben-      offiziellen Flüchtlingen leben ca. 1,5 Millionen nicht-
       heiten als auch der Häufung bestimmter Fluchtursa-         registrierte Afghanen in Pakistan und 1,4 bis 2 Millionen
       chen. In jedem Cluster finden sich mehrere Ursachen-       im Iran. Die in den Nachbarländern strenger werden-
       typen, die im Rahmen dieses Kapitels gewichtet             den Migrationsbestimmungen und die damit verbun-
       werden. Der Fluchtkontext kann sich dabei in den           dene Diskriminierung von Afghanen schränken die
       verschiedenen Ländern eines Clusters sehr unter-           regionalen Fluchtoptionen zunehmend ein (Mielke &
       schiedlich gestalten. Da keine gesonderten Datensätze      Grawert, 2016). Pakistan wiederum zählt derzeit
       vorliegen, die belegen wie viele Flüchtlinge vor politi-   knapp 300.000 Flüchtlinge, deren überwiegende Zahl
       scher Verfolgung fliehen und wie viele aufgrund von        sich in Afghanistan aufhält (UNHCR, 2016d). Zudem
       Infrastruktur- und Industrieprojekten vertrieben           gelten in Pakistan ca. 1,5 Millionen Menschen auf-
       wurden, greifen wir für diese Ursachen auf Stellvertre-    grund von Gewaltkonflikten als Binnenvertriebene,
       terindikatoren (Proxies) zurück, unter der Annahme,        von denen sich der überwiegende Teil in der nord-
       dass diese mit Flucht korrelieren: Repression wird         westlichen Provinz Khyber Pakhtunkhwa (KP) und in
       anhand des Indikators „Politische Freiheit“ (Freedom       den Federally Administered Tribal Areas (FATA) sowie
       House Index) und sozioökonomische Vertreibungs-            ca. 275,000 in Belutschistan (IDMC & Norwegian
       ursachen anhand der Anzahl von Staudämmen und              Refugee Council, 2016) befinden. In der Region sind
       illegitimen Landinvestitionen (The Global Land Matrix)     Gewaltkonflikte die wichtigste Ursache für die extrem
       dargestellt (siehe Tabelle 2).                             hohen Zahlen an Vertriebenen.10 Daneben spielen
            Im Cluster Afghanistan/Pakistan spielen vor allem     Perspektivlosigkeit der sehr jungen Bevölkerung und
       Gewaltkonflikte und Umweltfaktoren eine große Rolle        der unzureichende Zugang zu Land eine große Rolle
       als Fluchtfaktor; im Cluster Zentralasien ist es vor       für die Migrationsentscheidung. Insbesondere in
       allem die Repression autoritärer Regime. In China          Pakistan bewirken zudem Umweltfaktoren Binnen-
       und Nordkorea wirken zusätzlich Umweltfaktoren             vertreibungen in großem Stil. In Afghanistan und
       sowie (Zwangs-)Umsiedlungen. Auf dem südostasiati-         Pakistan sind Gewaltkonflikte stark durch den „War
       schen Festland finden sich alle vier Ursachenkatego-       on Terror“ geprägt, in dessen Zusammenhang es in
       rien. Auf dem Indischen Subkontinent sowie auf den         beiden Ländern zu massiven Vertreibungen gekom-
       südostasiatischen Inselstaaten sind jeweils Gewalt-        men ist. In Afghanistan nahm die Gewaltintensität
       konflikte, Umweltfaktoren sowie (Zwangs-) Umsied-          seit dem Auslaufen des ISAF Mandates 2014 drastisch
       lungen relevante aktuelle und potenzielle Fluchtursa-      zu.11 Neben den Auseinander- setzungen zwischen
       chen. Im Folgenden werden die konkreten Ursachen           afghanischen Sicherheitskräften und den Taliban,
       in den einzelnen Clustern näher beleuchtet.                gibt es eine Vielzahl an Gewaltakteuren (u. a. seit

       Afghanistan / Pakistan
                                                                  10 \ In einer Untersuchung zu den Gründen für Binnenvertreibung in
                                                                     Herat von Januar 2014 gaben 55 Prozent der befragten IDPS als Haupt-
                                                                     ursache der Vertreibung Konflikt und Unsicherheit an, insbesondere
            Innerhalb Asiens ist die Region Afghanistan/             die bewaffneten Konflikte zwischen Regierung und Taliban. 32 Prozent
                                                                     gaben Naturkatastrophen und Konflikte, 12.5 Prozent allein Naturkata-
       Pakistan sowohl was Umfang als auch Dauer der Ver-            strophen (insbesondere Dürrekatastrophen) und ein Prozent men-
       treibung angeht, am stärksten betroffen (s. Karte 3,          schengemachte Katastrophen in Zusammenhang mit Pflanzenver-
                                                                     nichtungsmitteln im Zuge der Bekämpfung des Schlafmohnanbaus,
       S. 19). Die Zahl der in Afghanistan aufgrund von Kon-
                                                                     an (Samuel Hall Consulting, 2014, S. 16).
       flikten Binnenvertriebenen betrug Ende 2015 knapp          11 \ Die Anzahl der zivilen Opfer 2014 stieg um 25 Prozent im Vergleich
       1.174.00 Menschen (IDMC, 2016a; IDMC & Norwegian               zum Vorjahr (United Nations Assistance Mission in Afghanistan und
                                                                     UNHCR, 2015).

16 \        \ Working paper 2 \ 2017
flucht und binnenvertreibung in asien \ müller-kone, schmitz-pranghe, schetter

Tabelle 2
Clustering nach Fluchtursachen

Cluster / Fluchtursachen                       Gewaltkonfliktei              Repressionii        Umweltfaktoreniii            (Zwangs-)Umsiedlungeniv

Afghanistan / Pakistan                                           X                        X                          X
Afghanistan                                                      X                        X                          X
Pakistan                                                         X                                                   X
Indischer Subkontinent                                           X                                                   X                                        X
Bangladesh                                                       X                                                   X                                  o.A.
Indien                                                           X                                                   X                                        X
Nepal                                                            X                                                   X                                   o.A
Bhutan                                                         o.A                                                                                       o.A
Sri Lanka                                                        X                                                   X                                   o.A
Malediven                                                      o.A                                                                                       o.A
Südostasiatisches Festland                                       X                        X                          X                                        X
Myanmar                                                          X                        X                          X
Thailand                                                         X                        X                          X
Laos                                                                                      X                         Xv                                        X
Kambodscha                                                     o.A                        X                          X                                        X
Vietnam                                                        o.A                        X                          X
Südostasiatische Inselstaaten                                    X                                                   X                                        X
Philippinen                                                      X                                                   X
Malaysia                                                       o.A                                                   X
Indonesien                                                                                                           X                                        X
Papua-Neuginea                                                                                                       X                                        X
Timor Leste                                                    o.A

Zentralasien                                                                              X
Tadschikistan                                                  o.A                        X
Usbekistan                                                     o.A                        X                        o.A                                   o.A
Turkmenistan                                                                              X                        o.A                                   o.A
Kasachstan                                                     o.A                        X                        o.A
Kirgisistan                                                    o.A                                                 o.A                                   o.A
China, Nord Korea, Mongolei                                                               X                          X                                        X
China                                                          o.A                        X                          X                                        X
Nordkorea                                                      o.A                        X                          X                                   o.A
Mongolei                                                       o.A

i
: Mehr als 10.000 durch Konflikte Binnenvertriebene (Stand Dezember 2015) (IDMC & Norwegian Refugee Council, 2016).
ii
    : Von Freedom House als “nicht frei” eingestuft (Freedom House, 2016, 2016)
iii
     : Über 100.000 durch Umweltkatastrophen Binnenvertriebene (im Zeitraum 2008-2014; IDMC & Norwegian Refugee Council 2015b).
iv
     : Über 100 Staudämme (Global Water System Project) oder ein hohes oder sehr hohes Ausmaß von land grabbing (The Global Land Matrix, 2017; BICC, 2015).
v
    : 98.000.

                                                                                         \ working paper 2 \ 2017                                        17 \
flucht und binnenvertreibung in asien \ müller-kone, schmitz-pranghe, schetter

       jüngstem auch IS/Da‘esh), die gegen die Regierung                              aber bei der Ausreise als „illegale Einwanderer“ ein-
       und gegeneinander kämpfen.12 Auch interkommunale                              gestuft und abgeschoben. Pakistanische Binnenver-
       sowie kriminelle Gewalt (u. a. Entführungen) nimmt                            triebene haben Probleme sich als IDPs registrieren zu
       stetig zu. Vor allem in ländlichen Gebieten verschärfte                       lassen, weil die Behörden einen gültigen, elektronisch
       die Sicherheitslage sich in den letzten Jahren u. a.                          erfassten Personalausweis verlangen. Frauen, die
       durch Kriminalität, Einschüch- terungen und illegale                          Haushalten vorstehen, sind häufig nicht registriert,
       Besteuerung. In Pakistan konzentrieren sich die Aus-                          weil sie in ländlichen konservativen Regionen keine
       einandersetzungen zwischen pakistanischem Militär                             Personalausweise beantragten und das Meldegesetz
       und nichtstaatlichen Gewalt- akteuren (v. a. Tehrik-e-                        davon ausgeht, dass Familien männliche Oberhäupter
       Taliban-e-Pakistan) auf die FATA und Khyber                                   haben. Häufig werden IDPs folglich als Wähler und
       Pakhtunkhwa (v. a. Swat). Zudem sind diverse sub-                             Kandidaten vom politischen Prozess ausgeschlossen
       staatliche Konflikte zu nennen, unter denen der in                            (Mir, 2016).
       Belutschistan gegenwärtig dominiert. Hier entwi-                                  Afghanistan und Pakistan gelten als sehr vulner-
       ckelte sich im letzten Jahrzehnt ein Bürgerkrieg, in                          abel gegenüber extremen Umweltereignissen.13
       dem belutschische Separatisten gegen staatliche                               In Pakistan wurden zwischen 2008 und 2014 fast
       Sicherheitskräfte und paramilitärische Einheiten für                          15 Millionen Menschen aufgrund von Umweltkatas-
       Autonomie und für die Kontrolle über Öl- und Kohle-                           trophen zu Binnenvertriebenen, in Afghanistan ca.
       ressourcen der Provinz kämpfen.                                               166.000 Menschen. 2014 bedingten Überflutungen
           In beiden Ländern sind Meinungs-, Versamm-                                und deren Folgen (u. a. Lawinen, Erdrutsche) die
       lungs-, Presse- und Religionsfreiheit stark durch                             erzwungene Migration von ca. 1,9 Millionen Menschen
       Repressionen eingeschränkt. Vor allem Pakistan                                in Pakistan und von 13.300 Menschen in Nordost-
       weist eine sehr schlechte Bilanz bezüglich des Schutzes                       afghanistan. 2015 zwangen Umweltereignisse eine
       von religiösen Minderheiten und Religionsfreiheit                             weitere Million Menschen in Pakistan zur Migration
       auf. In beiden Ländern kommt es immer wieder zu                               (IDMC, 2016a; IDMC & Norwegian Refugee Council,
       Akten religiös motivierter Gewalt (v. a. gegen Schiiten,                      2016). Der Hindukusch und Karakorum sind zudem
       Ahmadi und Christen) wie auch Menschenrechtsver-                              stark gefährdete Erdbebenregionen. Schwere Erdbeben
       letzungen (u. a. Ehrenmorde, Zwangs- und Kinderehen,                          suchten Pakistan 2005 und 2015 heim.
       Zwangsarbeit, Mädchen- und Frauenhandel, Gewalt                                   Vertreibungen in Zusammenhang mit Entwick-
       gegen Frauen). Verfolgung findet sowohl durch die                             lungsprojekten spielen vor allem in Pakistan ange-
       Sicherheitsapparate wie auch durch private Gewalt-                            sichts großer Staudammprojekte wie des Terbela und
       akteure (u. a. islamistische bewaffnete Gruppen,                              Mangla Damms eine Rolle, die die Zwangsumsied-
       Milizen) statt.                                                               lung von 110.000 bzw. 96.000 Menschen zur Folge
           In Pakistan sind außerdem viele Flüchtlinge aus                           hatten, sowie zahlreicher mittelgroßer Dämme, in
       Bangladesch und Rohingya aus Myanmar von Staaten-                             Folge derer weitere Tausend Menschen umgesiedelt
       losigkeit betroffen. Langzeitflüchtlinge in Pakistan                          wurden (Sheikh, 2009; Terminski, 2015).
       erhalten zum Teil Personalausweise, werden dann

       12 \ Im Sommer 2015 gab es in geschätzten 25 der 34 afghanischen Provinzen
          Anzeichen für die Präsenz des sog. Islamischen Staates (AFP, 2015).
          Ende 2016 hatte die Terrormiliz IS sich dauerhaft in drei Distrikten der
          Grenzprovinz Nangarhar behauptet. Ein BICC-Forschungsprojekt zum
          IS in Afghanistan 2016 hat ergeben, dass sich Symbolik und Sympathi-       13 \ Auf dem Notre Dame Global Adaption Index, der die Vulnerabilität
          santen des sog. IS vereinzelt landesweit finden, insbesondere jedoch          und Bewältigungskapazität eines Landes gegenüber den Auswirkungen
           im Nordosten (Kunduz, Takhar) und Osten (Kunar, Nuristan). Siehe:            des Klimawandels misst, rangiert Afghanistan auf Platz 166 und
           https://www.bicc.de/research-themes/project/project/on-the-pheno-            Pakistan auf Platz 115 (von 182) Notre Dame Global Adaptation
          menon-of-so-called-islamic-state-is-in-afghanistan-132/                       Initiative, 2015.

18 \          \ Working paper 2 \ 2017
flucht und binnenvertreibung in asien \ müller-kone, schmitz-pranghe, schetter

Karte 3
Afghanistan und Pakistan: Fluchtursachen

                                                   Afghanistan und Pakistan - Fluchtursachen

                         A FG HA N I STA N

                         sehr hoch          hoch

                   (Freedom House)
                          frei oder teilweise frei
                                                                                                                                                           PA K I STA N
                          nicht frei

                          am wenigsten frei

                            Erdbeben- und
                            Überflutungsgebiete

             Quellen: Natural Earth 2016; NOAA 2016 ; Freedom House Index 2015; Dartmouth Flood Observatory (DFO) 2016; HIIK 2016 Map Layout: Marianne Wargenau, Hannes Blitza
             Die auf der Karte dargestellten Grenzen und Beschriftungen bedeuten keine of izielle Billigung oder Anerkennung seitens des Bonn International Center for Conversion (BICC) oder des Autors /anderer Beteiligter/ Partner. BICC. Mai 2016

Karte 4
Indischer Subkontinent: Fluchtursachen

                                                   Indischer Subkontinent - Fluchtursachen

                                                                                                                                          NEPAL
                                                                                                                                                                    B H UTA N

                                                     INDIEN
                                                                                                                                                               BANGLADESCH

                       sehr hoch          hoch

                 (Freedom House)
                        frei oder teilweise frei

                        nicht frei

                        am wenigsten frei

                                                                                                                                    SRI LANKA
                          Erdbeben- und
                          Überflutungsgebiete
             Quellen: Natural Earth 2016; NOAA 2016; Freedom House Index 2015; Dartmouth Flood Observatory 2016; HIIK 2016 Map Layout: Marianne Wargenau, Hannes Blitza
             Die auf der Karte dargestellten Grenzen und Beschriftungen bedeuten keine of izielle Billigung oder Anerkennung seitens des Bonn International Center for Conversion (BICC) oder des Autors /anderer Beteiligter/ Partner. BICC. Mai 2016

                                                                                                                                                         \ working paper 2 \ 2017                                                                        19 \
flucht und binnenvertreibung in asien \ müller-kone, schmitz-pranghe, schetter

       Indischer Subkontinent                                                 Insbesondere die Lage der Rohingya in Cox’s Bazar
                                                                              und in Indiens nordöstlichen Staaten (Mizoram und
             Vor allem Sri Lanka gilt als ein wichtiges Her-                  Manipur) ist desaströs. Auch kommt es immer wieder
       kunftsland für Flüchtlinge in Südasien. Dagegen sind zu flüchtlingsfeindlichen Stimmungen – gerade in
       Indien und Bangladesch wichtige Aufnahmeländer                         den Megacities (Banerjee 2014; Murshid 2014).
       für reguläre und irreguläre Flüchtlinge aus Myanmar                         Unter den Umweltfaktoren sind Überschwem-
       (Rohingya), Pakistan und Sri Lanka. Keines der Länder mungen und Erdbeben die wichtigsten Auslöser für
       der Region ist der Genfer Flüchtlingskonvention                        Flucht. Zu Überschwemmungen kommt es zu Monsun-
       beigetreten. Binnenvertreibung auf dem Indischen                       zeiten in östlichen und nordöstlichen Provinzen
       Subkontinent lässt sich auf Zwangsumsiedlungen im Indiens, in Bangladesch sowie in Teilen Nepals,
       Zuge von Entwicklungsprojekten und extreme Natur- Bhutans und der Malediwen. Besonders betroffen
       ereignissen, aber auch auf die zum Teil Jahrzehnte                     sind die Flussebenen von Ganges, Brahmaputra und
       andauernden Gewaltkonflikte zurückführen (S. Karte 4, Yamuna; an der indischen Ostküste treten zyklisch
       S. 19). Die meisten aufgrund von Umweltkatastrophen tropische Stürme auf. Das Erbebenrisiko ist insbeson-
       Vertriebenen gab es im Jahr 2015 mit 3,7 Millionen in dere in der Himalaya Region sehr hoch, wie die
       Indien, mit 2,6 Millionen in Nepal und mit 531.000 in jüngsten Erbeben in Nepal (April und Mai 2015) zeigten,
       Bangladesch (IDMC & Norwegian Refugee Council,                         die die Zahl der aufgrund von Umweltkatastrophen
       2016). Die größte Zahl an Binnenvertriebenen auf-                      Vertriebener auf 2,6 Millionen hochschnellen ließen
       grund von Gewaltkonflikten in der Region wiesen                        (IDMC, 2016a; IDMC & Norwegian Refugee Council,
       2015 Indien und Bangladesch mit jeweils mind.                          2016). Zukünftig wird der Anstieg des Meeresspiegels
       612.000 bzw. 426.000 Menschen auf (IDMC & Norwegian v. a. in der Küstenzone Bangladeschs zu spüren sein.16
       Refugee Council, 2016).14 Die meisten IDPs gehören                     Von Bodendegradation in über 80 Prozent der Landes-
       ethnischen oder religiösen Minderheiten an.                            fläche sind vor allem Bhutan und Bangladesch
             Vor allem Fluchtbewegungen im Rahmen des                         betroffen.17
       Sezessionskrieges Bangladeschs von Pakistan (1971)                          Im Rahmen von Entwicklungsprojekten kam es
       wirken sich bis heute aus: Flüchtlinge, die 1971 aus                   auf dem Indischen Subkontinent zu einer Fülle an
       Ostpakistan/Bangladesch nach Indien flohen, wurden Zwangsumsiedlungen, die oftmals Auslöser von Kon-
       lange als „Flüchtlinge“ und neuerdings als „illegale                   flikten waren. In Bangladesch bedingte die Vertrei-
       Bangladeschis“ registriert. Über die Hälfte der 500.000 bung von 100.000 buddhistischen Chakma18 durch
       Biharis, die 1947 aus Indien nach Ostpakistan/Bangla- den Bau des Kaptai Staudamm in Chittagong Hill
       desch geflohen waren, leben immer noch in Camps.                       Tracts in den 1960er Jahren einen bis heute andau-
       Erst 2008 erhielten sie die Staatsangehörigkeit, wenn- ernden Konflikt zwischen buddhistischen Chakma
       gleich ihnen oftmals noch Ausweisdokumente vor-                        und muslimischen Bengali Siedlern, der über 10.000
       enthalten werden. Von Staatenlosigkeit sind zudem                      Menschenleben kostete (World Commission on Dams,
       die Chakmas im indischen Arunachal Pradesh oder                        2000). 280.000 Menschen sind aufgrund dieses Kon-
       die Llotshampa Bhutanese in Indien betroffen.15                        flikts bis heute binnenvertrieben (IDMC & Norwegian
                                                                              Refugee Council, 2015a). In Indien waren zwischen
                                                                              1947 und 2010 geschätzte 65 Millionen Menschen von
       14 \ Der starke Anstieg der IDP-Zahlen in Bangladesch im Jahr 2014 ist
                                                                              entwicklungsbedingten Zwangsumsiedlungen be-
          darauf zurückzuführen, dass zum ersten Mal mehr als 151,000 Men-    troffen. Historisch wichtigster Faktor dieser Vertrei-
          schen der Urdu-sprechenden Minderheit, die im Sezessionskrieg von
                                                                              bungen sind insgesamt 3.300 Staudämme (Fernandes,
          Pakistan 1971 geflohen waren, miteinbezogen wurden.
       15 \ Auch die Bewohner der Chhitmahals (indische Enklaven in Bangla-       16 \ 2009 schätzte der damaligen Premierminister Bangladeschs Sheikh
          desch) waren von Staatenlosigkeit betroffen. Mit der gegenseitigen          Hasina bis 2050 eine Verringerung der Siedlungsfläche um 18 Prozent,
          Abtretung der indischen und bengalischen Enklaven 2015/2016 wurde           auf der 11 Prozent der Landesbevölkerung leben (Mallick & Etzold, 2015)
          den Bewohnern freigestellt, die bengalische oder indische Staatsange-   17 \ Siehe http://sicherheitspolitik.bpb.de/umweltsicherheit.
           hörigkeit anzunehmen.                                                  18 \ So flohen 40.000 Chakma nach Indien und 20.000 nach Myanmar.

20 \          \ Working paper 2 \ 2017
Sie können auch lesen