Procap - Fokus Procap: 90 Jahre Engagement und kein Ende
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Procap Das Magazin für Menschen mit Behinderungen 4/20 Mit «mitenand» von Procap Bern Fokus Sozialpolitik Procap Reisen Procap: 90 Jahre Reportage Denkfabrik: Ferien tun gut: Engagement Politische Forderungen Der Reisekatalog und kein Ende formulieren 2021 ist da
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Editorial Editorial Inhalt Zu den schönsten Aufgaben beim Schreiben Notizen 4 für das Procap-Magazin gehört der Besuch Procap Rechtsdienst: Gericht bei unseren Mitgliedern. Sei es für eine weist IV in Schranken 16 Reportage, für ein Interview oder für ein Procap Reisen: Der Porträt: Stets kommen wir inspiriert und Ferienkatalog 2021 ist da 19 voller Energie zurück in die Redaktion. Procap Sozialpolitik: So war es auch für diese Jubiläumsausgabe Denkfabrik 21 zu 90 Jahre Procap. Ganz verschiedene Fokus Menschen mit unterschiedlichen Biografien 90 Jahre Engagement haben uns ihr Herz geöffnet. Sie haben mit und kein Ende 6 uns ihre Erinnerungen und Geschichten Porträt: Ginette Christen 15 und Bilder geteilt. Und sie zeigen uns allen, Porträt: Angela Eichenberger 20 dass jede und jeder Einzelne etwas verändern kann in dieser Welt. Porträt: Walter Schmid 26 Ein Blick auf die Anfänge unserer Porträt: Marlène und Organisation bestätigt diese Erkenntnis. Pierre Marguerat 28 Von Beginn an waren es Menschen mit oder Service ohne Handicap, die sich manchmal ein Rätsel 24 Leben lang für mehr soziale Gerechtigkeit Carte blanche 31 eingesetzt haben. Dank diesem Einsatz leben unsere Mitglieder heute in einer Welt, in der es weniger Hürden gibt. Doch es braucht weiterhin viele Menschen, die dafür kämpfen, dass wir auch die noch bestehenden Hürden beseitigen. Ihnen allen gebührt ein grosses Dankeschön. Sonja Wenger Verantwortliche Verbandskommunikation und Medien 3
Notizen Die Ergänzungsleistungen (EL) Unterstützung durch die Mit Änderungen und Rechnungsbeispielen zur EL-Reform, gültig ab 1. Januar 2021 Stiftung «Denk an mich» für Covid-19-bedingte Mehrkosten Für Menschen mit Handicap. Ohne Wenn und Aber. Die Stiftung «Denk an mich» unterstützt Procap Reform der Schweiz mit Geldern aus der Glückskette. Damit Ergänzungsleistungen kann Procap Schweiz einerseits Covid-19-bedingte Mehrkosten für Ferienangebote geltend machen. Broschüre Die Reform der Ergänzungsleistungen Andererseits können auch Menschen mit Behinde- (EL) tritt per 1. Januar 2021 in Kraft. rungen einen Antrag an diesen Fonds stellen, wenn Aus diesem Grund hat Procap Schweiz Ihnen aufgrund der Corona-Pandemie zwischen eine ausführliche Informationsbroschüre dem 15. März 2020 und dem 31. Dezember 2020 zum Thema Ergänzungsleistungen erstellt. Diese Broschüre steht auf Mehrkosten entstanden sind. Deutsch und Französisch gratis online Solche Mehrkosten können entstehen, wenn die auf unserer Website zur Verfügung. Betreuung zu Hause umgestellt werden musste Sie kann in gedruckter Form für einen Unkostenbeitrag von 5 Franken für oder wenn sich die persönliche Situation zu Hause Mitglieder sowie 8 Franken für oder in einem Wohnheim verändert hat. Weiter Nicht-Mitglieder bestellt werden. können Mehrauslagen geltend gemacht werden, Hotline wenn individuelle Ferienpläne wegen der Unter der Nummer 062 206 88 00 Pandemie teurer wurden als ursprünglich geplant. steht - vorerst bis Ende 2020 - von Montag bis Donnerstag jeweils von Als Voraussetzung für einen Antrag gilt, dass 14 Uhr bis 16 Uhr eine Fachperson des Erwachsene eine IV-Rente und Ergänzungsleistun- Procap Rechtsdienstes kostenlos für gen beziehen oder von anderen Sozialleistungen allgemeine Fragen zur EL-Reform zur Verfügung. Diese Dienstleistung ist abhängig sind. Bei Kindern muss eine IV-Diagnose für alle zugänglich. vorliegen. Unterstützt werden Covid-19-bedingte Mehrkosten von Einzelpersonen mit einem steuer- baren Einkommen in der Höhe von maximal 60 000 Franken und von Familien oder Paaren mit einem steuerbaren Einkommen von maximal 100 000 Franken. Personen, die diese Kriterien erfüllen, melden sich bitte bei ihrer regionalen Procap-Geschäftsstelle. Diese erfasst die individuellen Ansprüche und meldet sie an Procap Schweiz. 4
Notizen Erleichterungen für pflegende Angehörige treten in Kraft Spenden Sie Blut – Ab Anfang 2021 gelten die neuen Bestimmungen retten Sie Leben des Bundesgesetzes über die «Verbesserung der Sind Sie bei guter Gesundheit, Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehöri- älter als 18 Jahre und wiegen über genpflege». Es tritt in zwei Schritten in Kraft. 50 Kilo? Dann können Sie Blut- spender*in werden. Als Folge der Covid-19-Pandemie haben die Per 1. Januar 2021 treten folgende Massnahmen Bestände an Blutkonserven wie in Kraft: auch die Zahl der blutspendenden Personen stark abgenommen. Der • Anpassung des Anspruchs auf Hilflosenentschädi- Bedarf an Blutreserven für lebens- gung und Intensivpflegezuschlag rettende Operationen oder für Transplantationen ist aber gleich- • Entschädigung für kurzzeitige Arbeitsabwesen- bleibend hoch. Weiterführende heiten zur Betreuung kranker oder verunfallter Informationen, wie Sie sicher Familienmitglieder oder Lebenspartner*innen Blut spenden und wo Blutspende- aktionen stattfinden, erhalten • Erweiterung des Anspruchs auf Betreuungsgut- Sie unter www.ichspendeblut.ch schriften der AHV oder unter der Gratisnummer 0800 148 148. • Anpassung der EL-Mietzinsmaxima für Wohngemeinschaften In einem zweiten Schritt wird per 1. Juli 2021 der bezahlte maximal vierzehnwöchige Urlaub für Eltern von schwer erkrankten oder verunfallten Kindern in Kraft gesetzt. Procap Schweiz hatte sich sozialpolitisch unter Save the anderem erfolgreich dafür eingesetzt, dass die Hilflosenentschädigung (HE) und der Intensivpflege- Date zuschlag (IPZ) bei schwer erkrankten oder verunfall- ten Kindern nicht mehr wie bis anhin ab der ersten Spitalnacht eingestellt werden. Neu gilt: Die HE und der IPZ werden erst ab einem Nächstes Jahr werden die vollen Kalendermonat im Spital eingestellt. Sofern Procap Bewegungs- und das Spital alle 30 Tage aufs Neue bestätigt, dass Begegnungstage sowie die die regelmässige Anwesenheit der Eltern oder eines Delegiertenversammlung am Elternteils im Spital weiterhin notwendig ist und 19. und 20. Juni 2021 in tatsächlich erfolgte, hat das Kind oder der Jugend- Tenero stattfinden. Wir liche auch nach Ablauf eines vollen Kalendermonats freuen uns auf Ihren Besuch! Anspruch auf die HE und den IPZ. Weitere Informationen finden Sie unter www.procap.ch > Angebote > Beratung und Information > Politik > Betreuende und pflegende Angehörige 5
0Jahre 90 Jahre Procap Fokus Engagement und kein Ende Wer Sozialversicherungsberatung oder Rechtshilfe benötigt, findet bei Procap kompetente Hilfe. Unsere vielen Freiwilligen ermöglichen es Menschen mit Behinderungen, zu reisen, Sport zu betreiben oder ihre Freizeit aktiv zu gestalten. Und mit den Fach- personen aus Bildung und Sensibilisierung sowie der Bauberatung werden stetig Hürden abgebaut. Procap hat vieles erreicht in den 90 Jahren ihres Bestehens. Und doch gibt es noch viel zu tun. Text Sonja Wenger Fotos: Foto 1: Schweizerisches Sozialarchiv / Signatur F 5019-Fb-017, 1969 Foto 2: Schweizerisches Sozialarchiv / Signatur F 5134-Fa-023, um 1990 Foto 3: Schweizerisches Sozialarchiv / Signatur F 5047-Fb-054, 1951 Foto 4: Schweizerisches Sozialarchiv / Signatur F 5110-Fc-071, 1981 Alle Bilder auf den Seiten 10 bis 13 stammen aus dem Archiv von Pierre Marguerat, Procap Lausanne, und umfassen die Zeit zwischen 1963 und 2020. Herzlichen Dank! 7
Fokus 90 Jahre Procap Blickt man im Jahr 2020 auf die Situation von Inklusion und ihre Gleichstellung in der Gesellschaft zu Menschen mit Handicap, ist das Gefühl zwiespältig. fördern. Zum einen haben Behindertenorganisationen wie Im Zuge dieser gesetzlichen Anpassungen konnten Procap in den vergangenen Jahrzehnten sehr viel viele Fortschritte in der Sensibilisierung erreicht erreicht, andererseits gibt es noch immer viel zu tun. werden. Dies nicht zuletzt im Sprachgebrauch, denn Positiv ist, dass sich die gesetzlichen Rahmenbe- mit der Sprache beginnt das Denken. So wurden aus dingungen seit der Gründung des Schweizerischen Invaliden Menschen mit Behinderungen oder mit Invalidenverbands vor 90 Jahren stark verbessert haben. besonderen Bedürfnissen. Aus dem Ziel der Integration So regelt in der Schweiz seit 2004 das Behinderten- wurde die Forderung nach Inklusion. Inzwischen gleichstellungsgesetz (BehiG) die Gleichstellung von ist eine ganze Generation betroffener Personen Menschen mit Behinderungen. Aufgrund der Vorgaben erwachsen geworden, die ihre Rechte nicht nur kennt, durch das BehiG wurden in den vergangenen Jahren sondern sie auch einfordert. Und nicht zuletzt erlauben viele Normen für den barrierefreien Zugang zu öffent- immer bessere technische oder digitale Hilfsmittel sowie lichen Gebäuden und öffentlichen Verkehrsmitteln Fortschritte in der Medizin Menschen mit Handicap oder zu Arbeitsplätzen neu definiert. Diese werden ein zunehmend autonomes Leben und Arbeiten. inzwischen – zumindest bei Neubauten – zunehmend umgesetzt. Vielfältige Herausforderungen Zehn Jahre später trat das bereits 2006 von der Diesen positiven Entwicklungen stehen aber weiterhin UNO verabschiedete Übereinkommen über die Rechte verschiedene Hürden gegenüber. So wird das in der von Menschen mit Behinderungen (BRK) auch in Verfassung festgehaltene Prinzip der Verhältnismässig- der Schweiz in Kraft. Mit dem Beitritt zur BRK keit immer wieder dazu benutzt, die Umsetzung verpflichtete sich die Schweiz, Hindernisse zu beheben, der erwähnten Gesetze, Vorgaben oder Normen mit denen Menschen mit Behinderungen konfrontiert einzuschränken – etwa wenn es um den barrierefreien sind, sie gegen Diskriminierungen zu schützen und ihre Zugang geht. 2 8
90 Jahre Procap Fokus 3 4 Zudem sind Menschen mit Behin- derungen noch immer nur selten präsent in Kaderpositionen von Unternehmen, in der Politik, in der Kultur oder in den Medien. Und wenn doch, steht es meistens im Zusammenhang mit ihrer Behinde- rung. Wie Menschen mit Handicap in der Bevölkerung wahrgenom- men werden und ob ihre Bedürf- nisse auf Akzeptanz stossen, hängt deshalb oft von Zufällen ab: Wird etwa in grossen Boulevardmedien positiv über Betroffene berichtet und appellieren schwere Miss- wie es im schweizerdeutschen Dialekt noch immer brauchsfälle wie im Bereich medizi- gelegentlich der Fall ist. Und besonders schwierig nischer Gutachten an das Gerech- wird es, wenn politische Entscheidungsträger*innen tigkeitsgefühl der Menschen? Oder behaupten, die Schweiz könne sich keinen weiteren wird hauptsächlich über Betrugs- Ausbau ihrer Sozialleistungen leisten. Dies hat sich fälle bei IV-Renten geschrieben? einmal mehr in den Diskussionen um die Weiterent- In beiden Fällen kann die Art wicklung der Invalidenversicherung (IV) und besonders der Berichterstattung den Ausgang bei der Reform der Ergänzungsleistungen (EL) gezeigt: einer Abstimmung im Parlament Lange war unbestritten, dass diese Reform notwendig oder an der Urne mit beeinflussen. ist. Doch kurz vor den Schlussabstimmungen waren Der Weg ist aber auch noch weit, plötzlich wieder gegenteilige Stimmen zu hören. solange beispielsweise das Wort Dass gerade die EL-Reform dennoch deutlich ange- «behindert» als Synonym für «dumm» nommen wurde, stimmt optimistisch, obwohl es auch oder «ungeschickt» verwendet wird, da Kröten zu schlucken gab. Die aktuelle Entwicklung 9
Fokus 90 Jahre Procap der Corona-Pandemie und die wieder eingeführten Gründung einer Selbsthilfeorganisation Schutzmassnahmen stützen diesen Optimismus aller- Zu diesem Zeitpunkt eignet sich deshalb ein Blick zurück dings nicht. Diese Massnahmen bedeuten für viele in die Geschichte besonders. Erst recht, wenn wir bei Menschen und Unternehmen wirtschaftliche Einbussen Procap das 90-Jahr-Jubiläum feiern können. Manchmal und werden in den nächsten Jahren voraussichtlich zu tut es gut, sich vor Augen zu führen, warum es sich lohnt einschneidenden Sparvorgaben führen – und dadurch zu kämpfen, selbst wenn die Hürden hoch oder die Zeiten auch Folgen für Menschen mit Behinderungen zeigen. schlecht sind. Früher war – entgegen der allgemeinen Es muss momentan davon ausgegangen werden, Wahrnehmung vieler – keineswegs alles besser. dass wegen der Pandemie in den kommenden Monaten So gab es noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein oder Jahren die Zahl der Anträge für eine IV-Rente zu- keinerlei staatliche Unterstützung für Menschen mit nehmen wird. Das stellt Behindertenorganisationen wie Behinderungen. Für Menschen, die nach einem Arbeits- Procap künftig vor grosse und neue Herausforderungen. unfall nicht mehr arbeiten können, gibt es erst seit 1918 10
90 Jahre Procap Fokus die staatliche Unfallversicherung SUVA. Wer jedoch Invalidenverband (SIV) zusammen. Der SIV defi- eine Geburtsbehinderung hatte oder aufgrund einer niert sich als Selbsthilfeorganisation. Henri Pavid Krankheit arbeitsunfähig wurde, war damals noch wird zum ersten Zentralpräsidenten des SIV gewählt. immer auf die Unterstützung karitativer Organisationen angewiesen. Die Forderung des Landesgeneralstreiks Die IV wird Realität von 1918, eine Alters- und Invalidenversicherung Ziel des SIV ist es, in der Schweiz eine Invalidenversi- einzuführen, fand in der bürgerlich dominierten cherung nach dem Vorbild mehrerer Nachbarländer zu Bundesversammlung noch kein Gehör. Immerhin wurde schaffen. Für die Finanzierung verkauft der SIV in den 1925 von den Stimmberechtigten die Einrichtung einer ersten Jahren Seifen und vertreibt den «Schweizerischen Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV) ange- Invaliden Kalender». Der Erlös geht in den sogenannten nommen, eine Invalidenversicherung jedoch auf einen Prothesenfonds, dank dem Betroffene mit Direktzah- späteren Zeitpunkt verschoben. lungen unterstützt werden. Die ersten Jahre sind turbulent für den jungen Verband. Neue Sektionen formieren sich, treten ein und wieder aus. Eine Verbandszeitung entsteht und wird bereits nach drei Jahren wieder eingestellt. Erst ab 1954 erscheint sie regelmässig. Und bis in die Fünfzigerjahre stagniert die Mitgliederzahl bei rund 1000 Personen. Nach Henri Pavids Tod 1949 sucht der Zentralvor- stand des SIV einen Anwalt «mit Sozialgefühl und menschlichen Ansichten», wie es im Stellenprofil heisst. Manfred Fink übernimmt den Rechtsschutz, der später zum Rechtsdienst wird, und prägt den Verband bis 1984 zuerst als Berater der Geschäftsleitung und später als Zentralsekretär massgeblich. Mit Fink beginnt eine Ära des Aufschwungs und damit verbunden auch eine neue Kultur: weg vom sich Beklagen hin zu selbstbewussten und offensiven Aktionen. In der Folge nimmt das sozialpolitische Engage- ment des Verbands stark zu. Im Kampf um die Einfüh- rung einer Invalidenversicherung spielt der SIV eine immer wichtigere Rolle. 1951 beschliesst der Zentralvorstand, eine Verfassungsinitiative zur Ein- führung der IV zu lancieren. Es gelingt dem SIV, die Sozialdemokratische Partei (SP) und den Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) für die Unterschriftensammlung zu gewinnen. Nach dem Einreichen der Initiative 1955 wird Manfred Fink Mitglied der Expertenkommission, die der Bund mit der Schaffung der Gesetzesvorlagen beauftragt. Am Die Folgen dieses Entscheids bekommt auch Henri Pavid 1. Januar 1960 tritt die IV endlich in Kraft. zu spüren. 1893 in Yverdon geboren, wandert er in jungen Jahren nach Paris aus und macht dort erfolgreich Ausbau und neue Ziele Karriere. Als Folge einer Tuberkulose-Erkrankung muss Bereits in den Jahren zuvor hat der SIV seine Stellung ihm 1922 jedoch ein Bein amputiert werden. Pavid verliert stark ausgebaut. Menschen mit Handicap gründen seinen Arbeitsplatz und kehrt in die Schweiz zurück, wo immer neue Sektionen, und in der Romandie entsteht er sich mit seiner Familie in Olten niederlässt. ein Sekretariat. Da die Sektionen gemäss Statuten Pavid hat nun ein Holzbein, keine Arbeit und eigenständige Vereine sind, verfügt der SIV wie die keine Rente – und er sucht in den folgenden Jahren Schweiz über eine föderalistisch geprägte Struktur. Menschen mit dem gleichen Schicksal. Am 25. Mai Ab 1963 erhalten der SIV und seine Sektionen vom 1930 gründet er mit neun anderen Personen den Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) Beiträge aus Invalidenverband Olten. Nur wenige Monate der IV. In der Folge entstehen neue administrative Auf- später schliesst sich dieser Verein mit ähnlichen gaben. Der Verband setzt sich als neues Ziel, die Ein- Verbindungen aus der Region zum Schweizerischen gliederung von Menschen mit Behinderungen in Beruf 11
Fokus 90 Jahre Procap und Gesellschaft zu fordern und zu fördern. Dafür schafft der SIV unter anderem eine Beratungsstelle für «behindertengerechtes Bauen» und sorgt dafür, dass in den Sektionen Wohn- und Arbeitsplätze geschaffen werden. Auf der sozialpolitischen Ebene setzt sich der Verband für existenzsichernde Renten ein. Mit Erfolg: Dies führt in der Folge zur Einführung der Ergänzungs- leistungen. In den Sechzigerjahren hat der SIV im wahrsten Sinne des Wortes viel bewegt. 1960 gründet er eine Vereinigung der bestehenden Invalidensportgruppen mit dem Ziel, Sportangebote zu schaffen, die von Betroffenen selbst betreut und geleitet werden. Der SIV erreicht zudem, dass Menschen mit Behinderungen ein Halbtaxabonnement zu reduziertem Preis erhalten und vergünstigt an Sport- oder Kulturveranstaltungen teilnehmen können. Er unterbreitet der PTT, wie die Post damals hiess, eine Eingabe, Menschen mit Behinderungen eine gebührenfreie Empfangskon- zession zu gewähren, da für «viele Schwerinvalide das Radio und Fernsehen der einzige Kontakt mit der weiteren Umwelt» darstelle. Der SIV versucht zu erreichen, dass AHV- und IV-Renten für steuerfrei erklärt werden. In diese Zeit fällt auch die Forderung nach einer Befreiung vom Militärpflichtersatz. Und 1967 gründet er sogar eine verbandseigene Kranken- und Unfallversicherung. Ein Vorhaben, das jedoch nach wenigen Jahren an den Kosten scheitert. Neue Strukturen und Namensänderung Mitte der Achtzigerjahre beträgt die Mitgliederzahl über 22 000. Dennoch verzeichnet der SIV einige Jahre später einen massiven Einbruch bei der eidgenössischen Spendensammlung. Der Verband unterzieht deshalb seine Strukturen und sein Dienstleistungsangebot einer ausführlichen Analyse und stellt sich neu auf. Der SIV erweitert seine Dienstleistungen stetig. namen gestrichen werden. Ein Jahrzehnt später erfolgt Die zunehmende Komplexität bei IV-Anträgen führt eine weitere Reorganisation, in der das sogenannte zu einem Ausbau der Sozialversicherungsberatung Regionenmodell eingeführt wird. Die Deutschschweizer und des Rechtsdienstes. Auch der Bereich Reisen Sektionen werden in sieben Regionen mit jeweils und Sport, die kantonale Bauberatung und später die einer eigenen Geschäftsstelle zusammengeführt. Die Abteilung Bildung und Sensibilisierung wachsen. Westschweizer Sektionen bleiben hingegen zentral Ein weiterer tiefgreifender Veränderungsprozess geführt durch das Sekretariat in Biel/Bienne, an dem wird notwendig, als das BSV, die grösste Geldgeberin auch die Sektion Tessin administrativ angegliedert ist. des SIV, ab 2001 nur noch mit Dachorganisationen Leistungsverträge abschliesst. Neu werden die bezahl- Der Mensch im Mittelpunkt ten Beratungs- und Betreuungsleistungen bei den Anlässlich des 75-jährigen Bestehens von Procap im Sektionen bestellt und in Unterleistungsverträgen Jahr 2005 sagte Walter K. Kälin, der damalige Zentral- geregelt. Das führt zu einer weiteren Professionalisie- präsident, im Interview mit dem Magazin: «Meine rung in den Sektionen und in den Zentralsekretariaten Vision ist es, die Integration der Menschen mit Behin- Olten und Biel/Bienne. derungen in der Schweiz so weit zu bringen, dass es Fast zeitgleich gibt sich der SIV 2002 mit dem Verbände wie Procap nicht mehr braucht.» Namenswechsel zu «Procap» einen neuen Auftritt. Die Erfüllung dieser Vision wird noch einige Zeit Endlich kann das Wort «Invalide» aus dem Verbands- in Anspruch nehmen. Und die Corona-Pandemie wird 12
90 Jahre Procap Fokus mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht nur für Procap Zeit und Energie für dieses Anliegen eingesetzt haben, viele positive Entwicklungen verlangsamen. Ein Beispiel ist riesig. Die Momente des Glücks, der Inspiration ist der laufende Strategieprozess des Verbands, mit und der konkreten Hilfe, die sie so geschaffen haben, dem die bestehenden Strukturen und Dienstleistungen sind unzählbar. mit Einbezug der Regionen überdacht und für die Es sind diese Menschen, die Procap Schweiz nächsten Jahre definiert werden sollen. Gerade für ausmachen. Viele mehr werden folgen. Diese Ausgabe Selbsthilfeorganisationen, die stark auf das Engagement des Magazins gibt einigen von ihnen ein Gesicht. von Ehrenamtlichen und freiwilligen Helfer*innen ange- wiesen sind, stellen sich im Bereich Freiwilligenarbeit, Dank Finanzierung sowie Mittelbeschaffung und auch durch Die Redaktion dankt folgenden Personen für die die zunehmende Digitalisierung in der Kommunikation Gespräche, für ihre Geschichten und Unterlagen: viele Herausforderungen. Helena Bigler, Martin Boltshauser, Claude Décoppet, Dabei helfen kann die Besinnung auf die Grund- Peter Kalt, Remo Petri, Sabrina Salupo werte unserer Organisation, in denen es immer wieder Quellen heisst, dass der Mensch im Mittelpunkt stehen muss. Die Publikationen anlässlich «40 Jahre Schweizerischer Der Mensch soll in der Lage sein, sich selbst helfen zu Invalidenverband» von 1970 und jene zum 50-Jahr- können. Die Zahl der Menschen mit und ohne Handicap, Jubiläum von 1980 stehen als PDF auf der Website die sich in den vergangenen neunzig Jahren mit viel zur Verfügung. 13
Bei uns sind Sie richtig ! Stiftung Balm Wir bieten betreute Arbeitsplätze für Menschen mit Beeinträchtigung in den unterschiedlichsten Arbeitsgebieten. Voraussetzung ist eine IV-Rente. Nebst modernen Arbeitsplätzen, interessanten und vielseitigen Arbeiten, finden Sie aufgestellte Arbeitskolleginnen und Kollegen in einem lebendigen Umfeld. Sie werden gefördert, haben Mitspracherecht, angemessene Arbeitszeiten und vieles mehr... Unsere Arbeitsbereiche Industriewerkstatt: verpacken, montieren, Teile in CNC-Maschinen einlegen Gärtnerei: pflanzen, aussäen, Gemüse ernten, Trauben lesen, jäten, giessen Gartenbau und Gartenpflege: bauen, rasenmähen, jäten, schneiden «arte e fiori»: Blumen binden, Gestecke und Dekorationen herstellen Restaurant Kreuzli: kochen, vorbereiten, rüsten, servieren, reinigen Café Balm: vorbereiten, bedienen, reinigen Küche: kochen, rüsten, schneiden, mithelfen bei Anlässen Werkatelier: gestalten, einpacken, schneiden, malen, kleben, zeichnen Wäscherei: waschen, bügeln, zusammenlegen Freie Arbeitsplätze Sind Sie interessiert und möchten gerne bei uns schnuppern? Wollen Sie wissen, wo wir freie Arbeits- und Ausbildungsplätze haben? Dann kontaktieren Sie Frau Karin Kälin - Sie gibt Ihnen gerne weitere Auskünfte. Stiftung Balm Buechstrasse 15, 8645 Jona, Tel. 055 225 54 09 karin.kaelin@stiftungbalm.ch stiftungbalm.ch Bleiben Sie gesund und fit mit den Praxis- beispielen von «Home-Fit». t z t Je st er ht! recwww .pro cap -bew egt .ch 14
Porträt «Ich träume davon, dass Procap noch bekannter wird» Text und Foto Ariane Tripet E s ist ein schöner Herbsttag organisierten diverse Veranstaltun- in La Chaux-de-Fonds. Ginette gen wie Herbstfeuer und Weih- Christen begrüsst uns bei nachtsfeiern und brachten mithilfe sich zu Hause. Sie ist Mitbegründe- eines Regisseurs verschiedene rin von Procap La Chaux-de-Fonds Revuen auf die Bühne. Ab 1958 im Jahr 1948 und bis heute aktives bot Procap La Chaux-de-Fonds Mitglied. Ihr Lächeln und ihre auch sportliche Aktivitäten an. freundliche Art ziehen uns sofort Ginette Christen wurde 1969 in den Bann. Die kleine, zierliche zunächst Leiterin von Gymnastik- Frau hat einen lebhaften Blick, von kursen, später leitete sie auch dem eine grosse Kraft auszugehen Schwimm- und Aquagym-Kurse. scheint. In dieser Zeit lernte sie ihren Ehe- Als Erstes zeigt sie uns ihre mann kennen, der sich ebenfalls Wohnung. Sorgfältig aneinanderge- für Menschen mit Behinderungen reiht schmücken zahlreiche Famili- engagierte. enfotos eine Kommode. Auf einem Als die Sektion später ein Regal thronen einige Judo- und Gebäude erwarb, in dem ein Frei- Pétanque-Pokale des Schweizeri- zeitzentrum entstand, engagierte Ginette Christen engagiert schen Invalidenverbands (SIV), wie sich das Paar gemeinsam für die Procap Schweiz früher hiess, von sich seit 1948 für Durchführung von Filmvorführun- Procap Schweiz sowie der Menschen mit Handicap. gen, Spielen und Strickateliers. Lausanner Behindertenorganisation Über 20 Jahre lang boten sie diese «Groupe du Lac et des Loisirs pour Aktivitäten samstagnachmittags an, Invalides». Ein Pokal aus dem Jahr La Chaux-de-Fonds. Eines Tages manchmal mit Unterstützung ihrer 1973 würdigt ihr Engagement für haben wir uns zu einem Tee zusam- Tochter und manchmal zusammen den SIV La Chaux-de-Fonds mit der mengefunden.» Dieses «Tee-Kränz- mit Daisy Froidevaux, Ginettes Aufschrift «Für Ginette Christen, chen» wurde der Auftakt einer sehr bester Freundin. Für uns ist es Gründungsmitglied». persönlichen Geschichte: Die Gruppe sehr bewegend, Ginette Christens Die 86-jährige Ginette Christen beschloss, einen lokalen Verein Erfahrungen bei Procap zuzuhören. war eine der tragenden Figuren des zu gründen, mit dem sie sich einem Wir ahnen, wie eng ihr Leben mit SIV La Chaux-de-Fonds. Vor uns nationalen Verband anschliessen der Organisation verbunden ist. auf dem Küchentisch liegen zahl- konnte. Die Wahl fiel auf den SIV. Beim Betrachten der Fotoalben reiche Fotoalben. Ginette beginnt, von Bluette Filippini und Bernard werden bei Ginette heute wunder- den Anfängen der Sektion La Froidevaux, zwei Persönlichkeiten, bare Erinnerungen wach. Und wir Chaux-de-Fonds im Jahr 1948 zu die später Procap Schweiz geprägt spüren einen Hauch von Wehmut, erzählen. Damals war sie gerade haben, sowie Ginette Christen und wenn sie sagt, dass sie die Einzige 14 Jahre alt und litt an einer Skoliose, ihre Schwester gehören zum ist, die noch da ist. Für die Zukunft weshalb sie für die physiotherapeu- ersten Team: «Alle haben ihren hat sie einen Wunsch: «Ich träume tische Behandlung dreimal pro Jahr Platz gefunden», sagt Ginette. Die davon, dass Procap noch bekannter ins Spital nach Lausanne fahren Hauptmotivation der Gründer*innen wird und dass sich mehr junge musste. «Es gab noch andere betrof- bestand darin, sich zu treffen und Menschen für andere engagieren.» fene Menschen aus Le Locle und sich gegenseitig zu helfen. Sie 15
Procap Rechtsdienst Gericht weist IV in Schranken – Behandlung muss bezahlt werden Tex t Peter Stau b Foto Markus Schneeberger 16
Procap Rechtsdienst Procap bleibt dran. Das ist kein zusammen mit ihrer Teilzeit-Nanny Sandra Schneeberger Slogan, sondern eine Tatsache. Die auf der Couch; sie spielen mit einer Holzeisenbahn. Hartnäckigkeit des Rechtsdienstes Schneeberger betreut Aileen eineinhalb Tage pro Woche. Am Mittwoch steht in der Regel die Reittherapie an, am im Fall Aileen Schneider hat sich Freitag gehts in die Physiotherapie. gelohnt. Die Invalidenversicherung «Da Aileen nicht sprechen kann und mich auch muss die Kosten für die Operation nicht versteht, sind wir auf Körpersprache angewiesen. des heute elfjährigen Mädchens Ich muss jeweils herausfinden, was sie genau will», erklärt Sandra Schneeberger. «Wir kommen gut aus. übernehmen. Beim dritten Anlauf hat Sie vertraut mir und gibt mir auch die Hand», sagt die das kantonale Versicherungsgericht ausgebildete Fachfrau Hauswirtschaft. rechtsgültig entschieden. Nur kleine Fortschritte sind möglich Während die Eltern am Küchentisch erzählen, wirbeln die beiden jüngeren Brüder von Aileen so lautstark Zuerst war es ein Schock: Vor acht Jahren haben Felicitas durch die offene Stube, dass Vater Werner Schneider sie Goss und Werner Schneider erfahren, dass ihre Tochter zum Spielen in den ersten Stock beordert. Mutter Felici- Aileen an der unheilbaren, tödlichen Krankheit Leuko- tas Goss berichtet, wie Aileen in der Heilpädagogischen dystrophie leidet. Dann keimte Hoffnung auf: Die Spe- Schule angehalten wird, mit Gebärdensprache zu kom- zialist*innen des Kinderspitals Zürich schlugen eine munizieren. Dabei macht die inzwischen Elfjährige Behandlung vor, welche die Erkrankung stoppen sollte. zwar Fortschritte, aber in einem bescheidenen Rahmen: Vor fünf Jahren schliesslich war die Erleichterung der «Zwei, drei neue Gebärden pro Jahr sind viel», sagt Eltern riesig. Sie erfuhren, dass ihre Tochter dank Felicitas Goss. Zurzeit beherrscht Aileen ein halbes der angewandten Stammzellen-Transplantation die Dutzend Standardgebärden, mit denen sie sich ausdrücken seltene Krankheit überstanden hatte. kann. Zusätzlich verwendet sie für die Kommunikation Doch die Freude wurde getrübt: Die Invalidenver- ein iPad mit Symbolen. sicherung (IV) des Kantons Aargau wollte die Kosten Am Beispiel der Sprache zeigt sich, wie sich für die Behandlung nicht übernehmen. Begründung: Es Aileens Krankheit auf ihren Zustand ausgewirkt hatte. gebe für die Wirksamkeit der gewählten Stammzellen- Bis im Alter von drei Jahren entwickelte sich Aileen Transplantation keinen wissenschaftlichen Nachweis. ähnlich wie andere Kinder. «Sie war in der Entwicklung Das rief den Rechtsdienst von Procap Schweiz auf den ein wenig langsam, aber das war nicht weiter auffällig», Plan, da Aileen Schneider Mitglied von Procap ist. sagt Werner Schneider. Damals verfügte Aileen über Die grösste Selbsthilfeorganisation für Menschen mit einen Wortschatz von rund 400 Wörtern. Dann machte Handicap akzeptierte es nicht, dass sich die IV einfach sich ihre Krankheit bemerkbar, mit der sie geboren aus der Verantwortung stiehlt. (Das «Procap-Magazin» wurde: eine seltene Form der Leukodystrophie. hat 2016 darüber berichtet.) «Wir merkten, dass sie Rückschritte machte. So begann sie, die Balance zu verlieren.» Im Kantonsspital Das Bundesgericht musste zweimal urteilen Baden entdeckten die Ärzt*innen dank eines MRI kleine Procap Schweiz wollte ein Präzedenzurteil erwirken: weisse Flecken im Gehirn. Es dauerte aber rund ein Bei seltenen Krankheiten muss auch ein fundiertes halbes Jahr, bis die Klinik die Familie ans Kinderspital Expert*innen-Gutachten reichen, damit die IV eine Zürich (Kispi) überwies. Dort ging es schneller. Die Fle- Behandlung bezahlt. Deshalb verfocht Procap-Rechts- cken im Gehirn waren unterdessen grösser, und im Blut anwältin Andrea Mengis die Interessen der Familie wurden Unregelmässigkeiten festgestellt. Die zuständige Schneider Goss hartnäckig. Dreimal gelangte sie ans Ärztin ahnte schnell, was los war. Eine Genanalyse ergab Versicherungsgericht des Kantons Aargau, und zweimal dann die genaue Diagnose. Bis zu diesem Zeitpunkt war gewann sie vor Bundesgericht, bis die IV Ende Septem- seit dem ersten Spitalbesuch über ein Jahr vergangen. ber ihre Verantwortung anerkannte und die Übernahme Nach der Diagnose begann das grosse Rätseln: Was der Kosten von ungefähr 400 000 Franken bestätigte. tun? Für die seltene Krankheit gab es keine anerkannte Mengis Bilanz: «Andere hätten vielleicht aufgegeben. Behandlung. Wie üblich in solchen Fällen, berieten sich Für Procap aber ist es wichtig, gerade in schwierigen die Spezialist*innen im Kispi mit international anerkann- Fällen einen Grundsatzentscheid zu erwirken.» ten Fachleuten und kamen zum Schluss, dass nur eine Das «Procap-Magazin» besuchte die Familie Schnei- Stammzellen-Transplantation helfen konnte. «Für uns der Goss, kurz nachdem das Urteil rechtskräftig wurde. war klar: Es gibt keine Alternative. Entweder wir riskie- Mitten im lichtdurchfluteten Wohnzimmer sitzt Aileen ren es oder Aileen stirbt», erzählt Werner Schneider. 17
Procap Rechtsdienst Grosse Verunsicherung kennt Aileen, seit sie ein Jahr alt ist. Da hat sie ihr eigenes Dennoch dauerte es mehrere Monate, bis in der welt- Bett. Und das macht ihr Spass. Beim Essen ist sie wähle- weiten Datenbank eine Spenderin gefunden wurde. rischer als ihre Brüder. So mag sie kein Gemüse und isst Weil die Eltern je eine Komponente des Gendefekts, der keinen Salat. Am liebsten hat sie Pasta oder Pizza. «So für die Leukodystrophie verantwortlich ist, in sich wie andere Kinder auch», erzählt ihre Mutter. tragen, kamen sie als Spender*innen nicht infrage. Die «Andrea Mengis ist Eins a plus», sagt Werner Spenderin des Knochenmarks ist der Familie nicht Schneider, auf den Rechtsdienst von Procap ange- bekannt. «Das ist gesetzlich verboten», sagt Werner sprochen. Das betreffe sowohl ihr Arbeitsverständnis, Schneider. Sie konnten der Person zwar indirekt einen ihren Arbeitsstil als auch ihre Managementfähigkeiten. Brief zukommen lassen, in dem sie sich für die Spende «Sie hat immer das Richtige gemacht und die richtigen bedankten. Darin durften sie aber keine persönlichen Ratschläge gegeben», lobt er die stellvertretende Leiterin Daten erwähnen. «Das ist schade», sagt Felicitas Goss. des Rechtsdienstes von Procap Schweiz. Selbst in ihrer «Wir wissen nur, dass es eine deutsche Spenderin war, Freizeit habe sie immer sofort reagiert, wenn dies die wohl auch selbst Kinder hat.» notwendig war. Wobei alles übers Telefon oder über Aileen war viereinhalb Jahre alt, als die vorberei- E-Mail gelaufen ist. Nun aber wollen sich Werner tende Chemotherapie begann, mit welcher ihr defektes Schneider und Felicitas Goss erstmals mit Andrea Immunsystem zerstört wurde. Das Zelt, in dem sie sich Mengis treffen, um auf den erzielten Erfolg anzustossen. in dieser Zeit aufhalten musste, war zwei mal zwei Meter gross. Die Eltern mussten bei ihren Besuchen nicht nur Masken, sondern auch sterile Kleidung tragen. «Wir haben mit Legos gespielt, viel mehr konnten wir da Grundsatzfragen nicht machen», erzählt die Mutter. Die berufstätigen Anders als bei erwachsenen Procap-Mitgliedern Eltern teilten sich ihre Arbeit so ein, dass eine Person übernimmt der Verband bei Kindern mit Handicap von 10 bis 14 Uhr und die andere von 14 bis 22 Uhr vor auch Dauermandate. Und bei besonders umstrittenen Ort war. Das dauerte insgesamt 6 Wochen. «Aileen Fragen ist es eine zentrale Aufgabe des Rechtsdiensts erlitt zum Glück nie einen Infekt», berichtet ihr Vater. von Procap Schweiz, vor Gericht Grundsatzentscheide Obwohl die Beanspruchung in diesen Wochen für zu erwirken. die Eltern stark war, erachtet Werner Schneider den Im Fall von Aileen Schneider stellten sich entscheidende Stress vor der Chemotherapie und Operation als noch Fragen: Wer bezahlt bei seltenen Krankheiten Behand- grösser: «Bevor wir wussten, welche Krankheit Aileen lungen, für die es keine wissenschaftlichen Studien hat, waren wir sehr verunsichert. Und als wir die gibt? Oder darf die Behandlung einer seltenen Diagnose kannten und erfuhren, dass bisher niemand Krankheit verweigert werden, wenn dafür nur wenig diese Krankheit überlebt hat, war die Belastung enorm.» Forschungsergebnisse vorliegen? Um diese Fragen zu klären, blieb nur der Gang vor «Die Limiten bleiben» Gericht. Denn die Invalidenversicherung weigerte sich, Die Eltern mussten die schwere Entscheidung treffen, ob die von Expert*innen empfohlene Stammzellen-Trans- es sich «lohnt», die Transplantation dennoch zu machen. plantation zu bezahlen. Weil Aileen Mitglied von Weil die Krankheit immer weiter fortschritt, wussten sie Procap ist, übernahm der Rechtsdienst von Procap nicht, ob sie rechtzeitig zu stoppen war, damit Aileen kostenlos ihre Rechtsvertretung. künftig noch Lebensqualität haben Neben der Klärung solcher Grundsatzfragen und würde. «Im Nachhinein sind wir juristischen Beratungen in Einzelfällen im Bereich der sehr froh. Aileen hat sich gut Sozialversicherungen setzt sich Procap Schweiz auch erholt. Sie kann essen, spielen, hat auf politischer Ebene für die Rechte von Menschen mit Spass», sagt Felicitas Goss. Wie Behinderungen ein. Die Rechtsberatung geht von einer es mit Aileen gesundheitlich wei- einfachen mündlichen Beratung über das Verfassen tergeht, kann niemand sagen. Ihr von Einsprachen, bis zu Eingaben ans Bundesgericht - wenn nötig. Der Bereich Sozialpolitik arbeitet hin- Zustand ist zwar stabil. Aber: «Die gegen hinter den Kulissen unter anderem in der Limiten bleiben. Über die Lebens- Wandelhalle des Bundeshauses, um Politiker*innen erwartung kann man keine Aus- beim Erlass von Gesetzen und Verordnungen für die sagen machen», sagt die Mutter. Anliegen der Menschen mit Handicap zu sensibilisieren Zur Lebensqualität von und sie von guten Lösungen zu überzeugen. Aileen gehören die Ferien, welche die Familie normalerweise im Wohnwagen verbringt. Diesen 18
Procap Reisen Der neue Ferien- katalog ist da Text Sonja Wenger Bild Procap Reisen Ferien in der Ferne gingen im Sommer 2020 wortwörtlich baden. Die Corona-Pandemie durchkreuzte viele Reise- pläne. Kein Palmenstrand, kein Städtetrip, keine Über- seereise. Ferien waren zeitweise nur noch in der Schweiz oder im grenznahen Ausland möglich. Viele Menschen entdeckten, dass es auch in der Schweiz viel zu erleben gibt. Die Kund*innen von Procap Reisen haben die zahlreichen Alternativangebote, die seit Frühling 2020 in der Schweiz geschaffen wurden, sehr geschätzt und genossen. Dennoch bleibt uns allen das Fernweh bestens vertraut. Wir vermissen das Unbekannte, das Meer, die fremden Sprachen und das exotische Essen, die Gesichter und Geschichten der Menschen, denen wir unterwegs begegnen. «Das Bedürfnis zu reisen wird immer beste- hen», sagt Helena Bigler, Leiterin von Procap Reisen. Und: «Wir alle hoffen, dass das Reisen in die Ferne bald wieder möglich ist.» Ferien 2021 Kompetente Beratung Mit dem neuen Ferienkatalog 2021 bietet Procap Reisen Barrierefreie Reisen auch künftig eine vielseitige Reisepalette mit attrakti- in der Schweiz und im Ausland ven und barrierefreien Individual- und Gruppenreisen. Die beliebten Bade- und Aktivferien sollen weiterhin procap-Katalog-2021_dt_e3.indd 1 28.10.20 15:11 möglich bleiben – wenn auch vorerst im europäischen Ausland. Das Reiseland Schweiz erhält mehr Gewicht, sich individuell beraten zu lassen. Die Mitarbeitenden besonders im Bereich der betreuten Gruppenreisen, wissen, in welche Länder man reisen kann und was es etwa mit einer Tour de Suisse als Busreise. Zudem etwa bei einer Betreuung vor Ort oder für eine persön- wurden verschiedene spezielle Jugendherbergen und liche Ferienassistenz zu beachten gilt. Reka-Feriendörfer ins Programm genommen. Sie können individuell wie auch als Gruppe gebucht werden. Bei Ein Reisebüro für alle allen Angeboten werden die notwendigen Schutzkonzepte Zusätzlich zu barrierefreien Ferien können bei Procap und die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen Reisen alle Angebote der renommierten Schweizer Reise- berücksichtigt. Und für individuell Reisende besteht veranstalter gebucht werden. «In unserem Reisebüro weiterhin ein breites Angebot weltweit. finden auch Menschen ohne Handicap tolle Ferien- Neu organisiert Procap Reisen betreute Gruppen- ideen», sagt Helena Bigler. «Ein Vorteil für alle Beteilig- reisen jeweils im In- wie im Ausland, die spezifisch auf ten, denn wer bei uns bucht, profitiert von unseren Menschen mit einer Sehbehinderung (in Rom oder im Erfahrungen und unterstützt gleichzeitig solidarisch die Entlebuch), mit Körperbehinderungen (auf Malta oder Reisen für Menschen mit Handicap.» in Davos) oder mit einer psychischen Beeinträchtigung Den Katalog finden Sie auf unserer Website www. (in Adelboden oder in der Toskana) zugeschnitten sind. procap-reisen.ch. Für eine telefonische Katalogbestellung Und Junge sowie Junggebliebene im Alter zwischen oder bei weiterführenden Fragen beraten wir Sie gerne. 18 und 35 Jahren finden auf Mallorca wie in Montreux Sie erreichen unsere Mitarbeitenden per E-Mail unter viel Partylaune. In jedem Fall empfiehlt Procap Reisen, reisen@procap.ch oder telefonisch unter 062 206 88 30. 19
Porträt «Als Freiwillige zu arbeiten, ist die reinste Freude» Text Corinne Schüpbach Foto Procap Schweiz E in Lächeln, ein dynamisches Eine Atmosphäre, die auch der siche- und entspanntes Naturell – ren Betreuung durch die Freiwilligen vom ersten Moment an fühlt im Rahmen von Procap Reisen und man sich in Angela Eichenbergers Sport zu verdanken ist. Die Erfah- Anwesenheit wohl. Dabei findet das rungen der Älteren kommen den Gespräch mit der 25-jährigen Frei- Neuen zugute, und die Fähigkeiten willigen wegen des Coronavirus per aller Freiwilligen ergänzen sich per- Videokonferenz statt. Doch dieser fekt. «Ich habe mich sofort sicher virtuelle Austausch lässt nichts vom gefühlt. Nidau war mein erstes Charisma und der guten Laune Ferienlager, und ich wusste von vermissen, welche die Teilnehmen- Anfang an, dass ich die Verantwort- den an den Ferienlagern von Procap lichen oder andere Freiwillige immer Reisen und Sport an der jungen um Hilfe fragen konnte. Aber selbst Freiburgerin so schätzen. wenn man als Freiwillige den ganzen Das freiwillige Engagement der Tag arbeitet, ist es die reinste Freude. kürzlich diplomierten Fachpädago- Ich habe zweifellos genauso viel «Das Team war unglaublich. gin ist noch ganz frisch, hat sie doch Spass wie die Teilnehmer*innen.» Und alle Teilnehmenden erst in diesem Jahr damit begonnen. Die Stimmung am Abend vor Und es war eher überraschend. Denn waren richtig motiviert.» dem Ende des Ferienlagers ist geprägt noch vor wenigen Jahren wusste von den intensiven Beziehungen, die Angela Eichenberger wenig über zwischen den Freiwilligen und psychische Handicaps. Sie fühlte In der Folge sieht sie eine Anzeige den Teilnehmenden entstanden sind. sich in Anwesenheit von Betroffenen von Procap Reisen und Sport, in der Die Rückmeldungen sind äusserst eher unwohl. Die Angst, nicht mit Begleitpersonen für die betreuten positiv. Noch Monate nach dem diesen Menschen interagieren zu Ferienangebote gesucht werden. Sie Ferienlager erhält Angela Dankes- können, beunruhigte sie. zögert keinen Augenblick. «Bei der karten von den Teilnehmenden. Dennoch entschloss sie sich, ihre Freiwilligenarbeit kann ich Menschen «Das erste Ferienlager hat mich Komfortzone zu verlassen und nicht treffen, meine Kenntnisse weiterent- motiviert, noch eines zu betreuen. auf ihre Vorbehalte zu hören. Sie ab- wickeln und wunderbare Augenblicke Und das zweite hat mich motiviert, solvierte ein Praktikum in La Rosière, mit den Teilnehmer*innen erleben», noch mehr daraus zu machen.» einem Wohnheim für Menschen mit erklärt sie. Der erste Schritt in diese Richtung psychischem Handicap in Freiburg. Und das Beste daran ist, dass ist bereits getan: Die Verantwortli- Die Begegnung mit den Betroffenen der erste verfügbare Aufenthalt in chen von Procap Reisen und Sport fegte alle ihre Vorurteile weg. Ihre Nidau die Aktivgruppen betrifft. haben ihr vorgeschlagen, die Ängste verflogen und machten einem Angela ist immer in Bewegung, ver- Verantwortung für ein Ferienla- emotionalen Austausch, intensiven ausgabt sich gerne und ist so in ihrem ger zu übernehmen. Ein Angebot, Beziehungen und neuen Perspekti- Element. «Das Freiwilligenteam das Angela nun bestmöglich mit ven Platz. Für Angela Eichenberger war einfach unglaublich, und die ihrer neuen Arbeit zu vereinbaren war klar: Sie will sich mit und für Teilnehmenden waren alle richtig versucht. diese Personen einsetzen. motiviert!» 20
Sozialpolitik Procap Ziel der Denkfabrik: Politische Forderungen formulieren Text Sonja Wenger Fotos Markus Schneeberger 21
Procap Sozialpolitik Es ist das zweite Treffen der «Denkfabrik», welches Behinderungsformen zum freien Ideenaustausch Mitte September in Olten stattfindet. Die Teilnehmen- getroffen. Entsprechend gross war die Bandbreite der den kennen sich bereits, und es geht schnell zur Sache, Themen, die zusammengetragen wurden. denn es gibt viel zu besprechen. Die Themen, Ideen und Anliegen, die beim ersten Treffen zusammengetragen Viel Verbesserungspotenzial wurden, sollen heute im Detail besprochen und daraus Die Teilnehmenden tauschten sich in den ersten Prioritäten entwickelt werden. beiden Treffen über sehr unterschiedliche behinderungs- Die Denkfabrik wurde im Frühling vom Bereich politische Anliegen aus. Neben vielen konkreten Procap Sozialpolitik aufgrund der Initiative eines Procap- Lösungsvorschlägen, etwa im Bereich der Arbeitsin- Mitarbeiters ins Leben gerufen, um ein politisches tegration von Menschen mit Behinderungen, disku- Austauschgefäss für Menschen mit Behinderungen zu tierten sie auch über grundsätzlichen Reformbedarf schaffen. Ziel ist es, dass Betroffene selbst die für des heutigen Systems. sie wichtigen behinderungspolitischen Anliegen und Zum Beispiel sprachen die Teilnehmenden darüber, Forderungen identifizieren und formulieren und sich wie in unserer rein auf Leistung ausgerichteten daraus dann konkrete Handlungen für die Arbeit in der Gesellschaft Menschen mit Behinderungen nicht Sozialpolitik ableiten. immer mithalten können. Zudem stellen sie fest, In einem ersten Schritt haben sich dafür im dass es vielen Personen an Verständnis dafür fehlt, August rund zwanzig Personen mit unterschiedlichen dass eine Behinderung jede und jeden treffen kann. 22
Sozialpolitik Procap Und obwohl Menschen mit Behinderungen rund ein In der nächsten Phase der Denkfabrik werden die nun Fünftel der Bevölkerung ausmachen, sind sie bis heute formulierten Hauptthemen unter anderem mit Expert*in- kaum vertreten oder präsent, beispielsweise in politischen nen von Procap Schweiz besprochen. Hierbei geht Entscheidungsgremien oder in Kaderfunktionen. Zudem es unter anderem um die Frage, welche konkreten kostet der tägliche Kampf noch immer viel Ressourcen Anliegen bereits im Rahmen der Denkfabrik umgesetzt und Energie. Sei es gegen Hürden oder die Willkür der werden können und welche Anliegen in einem länger- zuständigen Behörden, gegen den noch immer vieler- fristigen Prozess verfolgt werden. Zusammen mit dem orts fehlenden barrierefreien Zugang zu Gebäuden, Team Sozialpolitik wird dann das Vorgehen diskutiert, Verkehrsmitteln oder Informationen, gegen die fehlende um die verschiedenen Anliegen auf politischer Ebene Flexibilität im Arbeitsmarkt oder dafür, stets aufs Neue einzubringen. Die Wege dafür können vielfältig sein: seine Rechte einfordern zu müssen. etwa die Sensibilisierung von Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit, ein Brief an eine Behörde oder eine lang- Mit welchen Mitteln kämpfen? fristige Strategie von Procap Schweiz. Hier Änderungen zu erzielen, braucht viel Geduld und Kurz vor dem dritten Treffen wurde das Projekt aller- Arbeit, dessen sind sich die Anwesenden bewusst. Ziel dings ausgebremst. Die Denkfabrik kann erst fortgesetzt ist es, Existenzängste zu reduzieren und Ressourcen werden, wenn es die kürzlich verschärften Massnahmen freizusetzen, um so die Teilhabe von Menschen mit zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie zulassen. Das Behinderungen zu verbessern. Procap-Magazin wird weiter darüber berichten. 23
Rätsel Hirnstoff Bimaru Finden Sie die vorgegebene Anzahl Schiffe. Dabei gilt: • Die Zahl am Ende jeder Zeile oder Spalte sagt Ihnen, wie viele Felder durch Schiffe besetzt sind. • Schiffe dürfen sich nicht berühren, weder horizontal oder vertikal noch diagonal. Das heisst, jedes Schiff ist vollständig von Wasser umgeben, soweit es nicht an Land liegt. Schwierig Mittel Kreuzwort-Rätsel Alle Lösungen finden Sie auf Seite 30. 24
Rätsel Sudoku Füllen Sie die leeren Felder mit den Zahlen von 1 bis 9. Dabei darf jede Zahl in jeder Zeile, jeder Spalte und in jedem der neun 3x3-Blöcke nur ein Mal vorkommen. Schwierig Mittel 131 132 142 143 144 133 141 130 138 145 137 129 140 147 134 139 148 135 136 146 128 127 89 149 126 91 93 87 124 125 150 151 123 59 92 88 90 152 85 95 122 63 94 153 86 83 61 121 65 154 84 57 155 55 96 120 156 119 58 60 62 64 82 56 66 67 97 54 68 118 98 157 70 52 72 158 117 53 48 69 81 50 100 80 74 99 116 159 49 76 71 115 114 51 73 160 78 102 113 169 104 101 161 79 75 77 112 103 162 105 111 168 164 107 106 163 110 108 167 109 32 33 43 44 165 31 42 47 34 166 40 41 46 45 30 39 8 3 37 7 29 38 35 9 2 4 6 36 1 10 5 28 13 12 Punkt zu 27 11 Punkt-Rätsel 26 15 14 Verbinde die Punkte von der ersten bis zur 16 letzten Zahl, um das 25 versteckte Bild 23 erscheinen zu lassen. 21 20 24 19 17 22 18 25
Porträt «Goht nöd gits nöd» Text und Fotos Michael Walther W alter Schmid kommt einer Garage. «Ich habe keine Ahnung 1949 oberhalb von Moh- davon», teilt Schmid mit. Dennoch ren zur Welt. Von dem übernimmt er das Warenlager. Er Appenzeller Dorf aus blickt man bringt Autos zum Vorführen oder hinunter ins Rheintal, wo Schmid zu den Kund*innen. Lernt mit der sein Leben lang bleibt. In den Zeit so viel, dass er den Lernenden schönsten Dörfern mit ihren sagt, wos langgeht. Bis 2006. Dann Weinbergen – Rebstein, Marbach, geht es nicht mehr. Die Kraft hat zu Berneck. Die Eltern führen einen sehr nachgelassen. Am Schluss geht Bauernhof. Der Vater merkt, dass er mit dem Stock zur Arbeit. Für man im Rheintal mehr verdient. längere Strecken benötigt er einen Also zieht er mit der Familie nach «I glaube nüme alles, Rollstuhl. Marbach, arbeitet in einer Fabrik. Daheim polstert er aber noch. sit i selber lüge cha.» Schmid wird Polsterer. Er hätte Für alles hat er ein «Maschineli». lieber geschreinert. Aber erst mal ging Er flickt und repariert. Mopeds, es darum, etwas zu verdienen. 1975 Velos. Heute sind es Telefone oder erhält er die Diagnose progressive die Fernseher von Mitbewohner*in- Muskelatrophie Typ Duchenne. «In noch Vilan hiess. Er verkauft Werk- nen in der Altersresidenz. Walter zwei Jahren sitzen Sie im Rollstuhl», zeug und macht den Job gerne. Schmid kann alles – und wenn sagt der Arzt im Kantonsspital. «Du «Hauptsache, ich hatte Arbeit», sagt doch mal nicht, lernt er es dazu. chasch mer», sagt Schmid. er. «Ich konnte mich immer anpassen, «Goht nöd gits nöd, war immer Die Diagnose fällt mitten ins denn der Muskelschwund schritt meine Devise.» Leben. Seit zwei Jahren ist er langsam voran.» Abends ist er verheiratet. Die Tochter ist schon aufgrund des langen Stehens bei «Sit i selber lüge cha» vier. Ehefrau Margrith bringt zwei der Arbeit jedoch erschöpft und Das Daheim der Familie ist in all dieser Kinder mit in die Familie. Eine «kaputt». Er bildet sich fort und Zeit das «Entenbad» in Marbach. Ein Patchworkfamilie, bevor es dafür schliesst 1978 eine Kaufmännische kleines Haus mit grossem Grund- einen Begriff gab. Doch konventionell Ausbildung ab. Doch ein Bürojob ist stück, weit draussen in der Rhein- waren Walter und Margrith Schmid nichts für ihn. «Chasch der vorstelle! ebene. «Und eme Huffe Tierli – Gäns, ohnehin nie. Am Morgen der Zettelberg links auf Ente, Pfaue, Henne, Trute, Chüngel. dem Pult, am Abend rechts.» Und Hünd», zählt er in einem Atem- Sich anpassen Zu dieser Zeit erledigt der Ge- zug auf. Und wieder folgt ein kerniger Mit der Polsterei ist erst mal fertig. meindeschreiber von Marbach alle Schmid-Satz: «I ha s ganz Lebe nur Ein Jahr lang arbeitet er in Heerbrugg IV-Anträge für Walter Schmid und d Natur. Nöd Religion. I glaube nüme im Warenhaus Manor, das damals vermittelt ihm eine Anstellung in alles, sit i selber lüge cha.» 26
Porträt Beide stark, beide heute im Rollstuhl. Aber sicher nicht gelähmt: Margrith und Walter Schmid. Zum Beispiel die Geschichte mit der «Wenn er nicht da ist, fehlt er» Vielleicht das Einzige, was in seinem falschen Diagnose. 1988 wird Tochter 2019 ist er vierzig Jahre Procap- Leben keine Rolle spielte. Nur eines Karin schwanger. Schmid will wis- Mitglied. Zwanzig Jahre zuvor hat ihm Mühe bereitet: dass er mit sen, ob seine Krankheit vererbbar überredete man ihn, aktiver mit- der Zeit so doof gehen musste, mit ist. Die Tochter nennt ihrem Arzt zuwirken. Seither besucht er die einem hohlen Kreuz, damit er nicht die Krankheit, weiss aber ein Detail Monatstreffen regelmässig. «Wenn nach vorne kippte. Weil er sich bei nicht. Da müsse man den Vater er einmal nicht kommt, fehlt er», Auftritten deswegen so schämte, ist fragen. «Wie, den Vater fragen?», sagt die Regionalleiterin Bernadette er nach 27 Jahren sogar aus dem stutzt der Arzt. «Der Älteste mit Zimmermann. Auch seine Musik- Männerchor ausgetreten. dieser Krankheit wurde nur 27 Jah- CDs sind berühmt. Die Songs Und noch etwas Zweites. Seine – re alt», sagt er später zu Schmid. Um stammen von Spotify. Oder You- ebenso starke – Frau Margrith, mit herauszufinden, an welchem Typ tube. «Das kann man gut downloa- der er durchs ganze Leben gegangen Muskelschwund er genau leidet, den», weiss er natürlich. ist, möchte er beim Gespräch nicht hätte man ausführlichere Unter- Er hätte der behinderte Gross- dabeihaben. Sie ist dement. Vergisst. suchungen machen müssen. Aber vater sein können, der in der Ecke. Nach dem Gespräch, im Esssaal, Schmid wollte nur erfahren, ob die «Ganz sicher nöd», sagt er wieder sehe ich sie dann doch noch. Eine Krankheit vererbbar ist. «Ich muess mal. Und da ist auch seine Devise schöne Frau. Sie trägt Schmuck, doch nöd wüsse, wie das heisst.» wieder – diesmal vollständig: «Goht ihre Nägel sind gepflegt. Es entsteht 2013 verkaufen sie das Haus nöd gits nöd. Nur gohts mengmol e ein schönes Bild der beiden, vor der und ziehen in eine Wohnung in bitzli schlechter. Und mengmol e Veranda, vor den Rosenbeeten. Mit Diepoldsau. 2015 stürzt seine Frau. bitzli besser.» Ausblick übers ganze Rheintal, süd- Es folgt eine Hüftoperation. Das Seine Muskelatrophie ist eigent- wärts. Diesmal nach Vorarlberg. Leben wird komplizierter. Seit zwei lich eine fortschreitende Lähmung. Jahren wohnen sie nun in der Alters- Aber Schmid ist genau eines residenz Salvia in Rebstein. Und nicht: gelähmt. Oder behindert. Über hier repariert er nun für die Mitbe- Behinderung oder über Behinder- wohner*innen. «I ha scho wieder e tenpolitik reden? Zu allem hat Bohrmaschine. E Stichsägi. Es Schlief- Schmid etwas zu sagen. Aber genau maschineli.» Und eine Nähmaschine. diese Diskussion sei überflüssig. 27
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