Zeit, dass sich etwas ändert! - #74 Sommer 2019 - Alliance Sud
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#74 Sommer 2019 #FRAUEN UND ENTWICKLUNG Zeit, dass sich etwas ändert! Das Magazin von Swissaid Fastenopfer Brot für alle Helvetas Caritas Heks
AUFTAKT An der Mehrheit Foto: Daniel Rihs vorbei politisiert Rund zwei Drittel der Bürgerinnen und Bür- übrig. Er ist auch in strategischer Hinsicht ger der Schweiz wünschen sich, dass unser Land oberflächlich und lückenhaft. So fehlt das klare seine Entwicklungsausgaben erhöht. Sie sind Bekenntnis, dass die Reduktion von Armut der Ansicht, dass die Entwicklungszusammen- und die Stärkung der Zivilgesellschaft weiterhin arbeit im Interesse der Schweiz ist und zur Hauptziele des Schweizer Engagements sein Sicherheit in der Welt beiträgt. Zu diesem Schluss sollen. Die Reduktion von Armut ist nur dann kommt die kürzlich veröffentlichte Studie und dort noch ein Ziel, wo dies auch aus migra- «Sicherheit 2019» der Militärakademie und des tionspolitischen Gründen opportun erscheint. Zentrums für Sicherheitsstudien der ETH. In der Suisse romande sprechen sich sogar mehr Stattdessen soll die Entwicklungszusammen- als 80% der Bürgerinnen und Bürger für einen arbeit vor allem auf die Schaffung von Arbeits- Ausbau der Entwicklungszusammenarbeit aus. plätzen und Partnerschaften mit privatwirt- schaftlichen Akteuren ausgerichtet werden. Es Der Bundesrat lässt sich vom grossen Rückhalt, fehlt der entscheidende Hinweis darauf, dass den die Entwicklungszusammenarbeit in der es dabei um menschenwürdige Arbeit im Rahmen Bevölkerung geniesst, nicht beeindrucken. Im einer ökologisch nachhaltigen Produktions- Entwurf zur Botschaft über die internationale weise gehen muss. Welche Kriterien die privat- Zusammenarbeit 2021–2024 schlägt er vor, dass wirtschaftlichen Partner in Sachen Menschen- die Schweiz in den kommenden Jahren gerade rechte, Umweltschutz und fairer Besteuerung einmal 0,45% ihres Bruttonationaleinkommens erfüllen sollen, bleibt im Botschaftsentwurf für die öffentliche Entwicklungshilfe aufwen- ungeklärt. den soll. 2016 waren es immerhin 0,53%. Seither musste die Entwicklungszusammenarbeit Alliance Sud wird sich in ihrer Vernehmlassungs- massive Einsparungen über sich ergehen lassen; antwort für eine Botschaft einsetzen, welche trotz jährlicher Milliardenüberschüsse in der die Umsetzung der Uno-Agenda 2030 für nach- Bundeskasse. haltige Entwicklung ins Zentrum stellt. Die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit muss Die reiche Schweiz gibt aktuell einen kleineren dem Kampf gegen Armut und der Linderung Anteil ihres Nationaleinkommens für die Ent- von Not dienen. Und sie soll in ihren Partner- wicklungszusammenarbeit aus als der Durch- ländern mehr denn je all jene zivilgesellschaft- schnitt aller EU-Staaten. Abzüglich der Asyl- lichen Kräfte unterstützen, die für soziale ausgaben, die absurderweise auch zur öffentlichen Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit Entwicklungshilfe gerechnet werden können, einstehen. soll dieser Anteil in den nächsten Jahren gar nur 0,4% betragen. Der Botschaftsentwurf zur zukünftigen inter- nationalen Zusammenarbeit der Schweiz lässt Mark Herkenrath aber nicht nur in Sachen Finanzen zu wünschen Geschäftsleiter Alliance Sud 2 #74 Sommer 2019
INHALT IMPRESSUM global – Politik für eine gerechte Welt erscheint viermal jährlich. Die nächste Ausgabe von «global» erscheint Anfang Oktober 2019. Herausgeberin: INS BILD GESETZT Alliance Sud Arbeitsgemeinschaft Swissaid, Fastenopfer, Sudan – Frühjahr 2019 Brot für alle, Helvetas, Caritas, Heks 6 Monbijoustrasse 31, Postfach, 3001 Bern T +41 31 390 93 30 F +41 31 390 93 31 global@alliancesud.ch ENTWICKLUNGSPOLITIK www.alliancesud.ch Nationalratspräsidentin Social Media: facebook.com /alliancesud Marina Carobbio im Gespräch twitter.com /AllianceSud 8 Redaktion: Daniel Hitzig (dh), Kathrin Spichiger (ks) T +41 31 390 93 34 /30 Bildredaktion: Nicole Aeby Wenn «Nachhaltigkeit» Grafik: Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik, Zürich Druck: Valmedia AG, Visp zum Fluch wird Auflage: 2600 12 Tarife Inserate /Beilagen: siehe Webseite Bild Titelseite: Ajoke Saka (25), MBA-Studentin aus Ikoyi, der künstlichen Insel in der Lagune von Nigerias Hauptstadt Lagos, KLIMA UND UMWELT posiert für die Kamera. Warum Klimapolitik Foto: Robin Hammond/Panos weiblicher werden muss 15 STEUERN UND FINANZEN SIE SIND ALLIANCE SUD Steuerdumping trifft Präsidium POLITIK vor allem Frauen Bernard DuPasquier, Geschäftsleiter Brot Entwicklungszusammenarbeit/ Agenda 2030 18 für alle Eva Schmassmann T +41 31 390 93 40 Geschäftsstelle Mark Herkenrath eva.schmassmann@alliancesud.ch (Geschäftsleiter), Steuer- und Finanzpolitik AGENDA 2030 Kathrin Spichiger Dominik Gross Tourismus als globaler (Mitglied der GL), Matthias Wüthrich T +41 31 390 93 35 dominik.gross@alliancesud.ch Tieflohnsektor für Frauen Monbijoustr. 31, Klima und Umwelt Postfach, 3001 Bern Jürg Staudenmann 20 T +41 31 390 93 30 T +41 31 390 93 32 F +41 31 390 93 31 juerg.staudenmann@alliancesud.ch mail@alliancesud.ch Handel und Investitionen DIE SÜD-PERSPEKTIVE Regionalstelle Lausanne Isolda Agazzi (Mitglied der GL) Vertauschter Gender-Gap Isolda Agazzi, T +41 21 612 00 97 Laurent Matile, isolda.agazzi@alliancesud.ch in der Mongolei Mireille Clavien T +41 21 612 00 95 Entwicklungsbanken/IWF Kristina Lanz F +41 21 612 00 99 22 lausanne@alliancesud.ch T +41 31 390 93 42 kristina.lanz@alliancesud.ch Regionalstelle Lugano Unternehmen und Lavinia Sommaruga Menschenrechte INFODOC (Mitglied der GL) Laurent Matile T +41 91 967 33 66 Feminismus bei F +41 91 966 02 46 T +41 21 612 00 98 laurent.matile@alliancesud.ch lugano@alliancesud.ch Indiens UreinwohnerInnen Medien und Kommunikation Daniel Hitzig 26 T +41 31 390 93 34 daniel.hitzig@alliancesud.ch Die Web-Plattform INFODOC Bern Wikigender Simone Decorvet, Petra Schrackmann, Jérémie Urwyler, 27 Joëlle Valterio T +41 31 390 93 37 dokumentation@alliancesud.ch Lausanne Pierre Flatt (Mitglied der GL), Amélie Vallotton Preisig, Nina Alves T +41 21 612 00 86 documentation@alliancesud.ch #74 Sommer 2019 3
AUF DEN PUNKT Zauberwort «Blended Finance» ment erhöhen und hat die Petition «Ja Investitions-Garantie-Agentur (MIGA) In seinem erläuternden Bericht zur zur Flugticketabgabe!» lanciert. Als 2016 eine Finanzgarantie in Höhe von internationalen Zusammenarbeit Vorbild für die Schweiz wird darin das 783 Millionen US-Dollar für Darlehen, 2021–2024 erklärt der Bundesrat, er britische Modell angeführt, in dem ab- die dem südafrikanischen Energiekon- wolle die Zusammenarbeit mit der hängig von der Flugdistanz eine Abgabe zern Eskom zu Gute kamen. Finan- Privatwirtschaft «diversifizieren und von 20 bis 200 Franken erhoben wird. ziert wurden damit u.a. Übertragungs- stärken sowie neue Finanzinstru- Die Petitionäre verlangen, dass die Ein- leitungen für Strom aus neuen Eskom- mente entwickeln». Dafür soll der stra- nahmen «an die Bevölkerung zurück- Kohlekraftwerken. DH tegische Einsatz der Mittel für die verteilt, für den Ausbau des grenzüber- internationale Zusammenarbeit aus- schreitenden Schienenverkehrs oder geweitet werden, um «zusätzliche für Anpassungen an den Klimaschutz Finanzielle Schieflage private Gelder für eine nachhaltige Ent- eingesetzt werden» können. DH Die in der Uno-Agenda 2030 formu- wicklung (zu) mobilisieren (Blended lierten Ziele für nachhaltige Entwick- Finance)». Was steckt hinter diesem neu- lung (SDG) – namentlich die Bekämp- en Zauberwort der Entwicklungszu- fung der Armut und des Klimawandels – sammenarbeit? Das Overseas Develop- könnten nur erreicht werden, wenn das ment Institute (ODI), ein unabhängi- globale Finanzsystem gründlich überholt ger britischer Think Tank, hat im April werde, schreibt die Uno in einem Be- 2019 eine Analyse dieser Blended Unbelehrbare Weltbank richt von Anfang April. Der Bericht basiert Finance-Instrumente in armen Ländern In einer grossangelegten Studie hat die auf der «ernüchternd» ausgefallenen vorgelegt. Dabei wird hervorgehoben, deutsche NGO urgewald 675 laufende Analyse einer die UN-Agenturen über- Energieprojekte der Weltbank unter- greifenden Task Force zur Entwick- sucht und dabei die mächtigste Ent- lungsfinanzierung. Die globale Ungleich- wicklungsinstitution der Welt für ihre heit nehme zu, es drohten neue höchst zweifelhafte Rolle beim Klima- Schuldenkrisen und der Klimawandel schutz entlarvt: Die laufende Projekt- gefährde die nachhaltige Entwicklung finanzierung der Weltbankgruppe in allen Weltregionen. Beunruhigt zei- für fossile Energieträger ist rund drei gen sich die Vereinten Nationen, dass Mal so hoch wie die für klimascho- es weder nationalen noch multinatio- dass weniger als 4 Prozent der privaten nende erneuerbare Energieträger. Rund nalen Institutionen gelinge, sich den Finanzierungen für Länder mit niedri- 21 Milliarden US-Dollar fliessen in schnell verändernden Rahmenbedin- gem Einkommen (LICs) bereitgestellt die Sektoren Kohle, Öl und Gas – lediglich gungen anzupassen. wurden und dass sich die Investitionen 7 Milliarden in Bereiche wie Solarener- weitgehend auf die produktiven Sekto- gie oder Windkraft. Allein in den letzten ren, die Infrastruktur, das Finanzwe- fünf Jahren hat die Bank 12 Milliarden sen und das Bankwesen konzentriert US-Dollar für Projekte ausgegeben, die haben. In Projekte im sozialen Bereich fossile Industrien unterstützen. wurden nur minimale Summen inves- Zwar nehme das Bewusstsein für nach- tiert Private Gelder fliessen also dort- haltige Investitionen zu, es brauche hin, wo sich ein return on investment er- aber noch weit grössere Anstrengungen. zielen lässt. LM An die Adresse des Finanzsektors wer- den eine Reihe von Empfehlungen zu dessen Neuorientierung gerichtet: Petition für eine Flugticketabgabe In den vergangenen Jahren hatte die Investitionen sollen mit längerfristigem Die neue Umweltministerin Simonetta Weltbank mehrfach grosse Schritte für Horizont getätigt und die Nachhaltig- Sommaruga hat den Bundesrat über- den Klimaschutz angekündigt und keit dabei alsals zentraler Risikofaktor zeugt, sich nicht mehr gegen die Einfüh- dafür viel Lob erhalten. Die vorliegende anerkannt werden. Es brauche eine rung einer Flugticketabgabe zu sper- Studie zeigt jetzt u.a., dass die Bank Überarbeitung des multilateralen Han- ren; bei der FDF tobt in dieser Frage ein zwar seit 2013 den Bau neuer Kohlekraft- delssystems und eine Abkehr von der Glaubenskrieg. Der Verein umverkehR, werke nicht mehr direkt finanziert, Konzentration der Märkte in den Hän- der sich seit 25 Jahren für eine zu- solche Projekte jedoch über andere Wege den einer kleinen Anzahl mächtiger kunftsfähige Mobilität einsetzt, will ermöglicht. So genehmigte die zur Unternehmen, die nicht durch nationale den öffentlichen Druck auf das Parla- Weltbankgruppe gehörende Multilaterale Grenzen limitiert seien. DH 4 #74 Sommer 2019
RUEDI WIDMER HAUSMITTEILUNG Keine Gratiskultur für ihre Treue und das Vertrauen in unsere Arbeit. Mit dieser Ausgabe verabschiedet sich «global» Und natürlich hoffen wir, dass Sie uns weiterhin von seinem bisherigen Bezahlmodell. Neu finden unterstützen werden. in der Heftmitte alle unsere AbonnentInnen in jeder Ausgabe einen Einzahlungsschein. Ob oder Parallel zu diesem Schritt verstärken wir unsere An- wie regelmässig Sie diesen benutzen und uns strengungen, «global» einem breiteren Publi- einen Unkostenbeitrag zukommen lassen wollen, kum überhaupt erst bekannt zu machen. Ab dieser das überlassen wir neu ganz Ihnen. Denn auch Ausgabe werden wir jede neue «global»-Nummer wer knapp bei Kasse ist, ist als Leserin oder Leser mit einem Flyer bewerben, der Ihnen dort begeg- selbstverständlich herzlich willkommen. Wir nen soll, wo wir unser Zielpublikum vermuten: hoffen, mit diesem Schritt vermehrt auch ein jün- In ausgewählten Buchhandlungen, Bibliotheken, geres Publikum zu erreichen, das mit einer kulturellen Treffpunkten, bei Veranstaltungen. medialen Gratiskultur gross geworden ist. Dieser Schreiben Sie uns, wenn wir Ihnen regelmässig stehen wir zwar durchaus kritisch gegenüber, einige «global»-Werbeflyer schicken dürfen: gleichzeitig ist uns nicht entgangen, wie viele global@alliancesud.ch. Menschen heute auch bereit sind, etwas, das sie wichtig finden, freiwillig zu unterstützen. Das Team unserer Informations- und Doku- mentionsstelle InfoDoc ist seit Anfang Mai wieder Allen, die «global» in den letzten Jahren wieder- komplett. Wir begrüssen bei Alliance Sud sehr kehrend mit ihrem jährlichen Abo-Beitrag herzlich Petra Schrackmann und Jérémie Urwyler mitgetragen oder diesen nicht selten grosszügig in Bern sowie Nina Alves in Lausanne. DH aufgerundet haben, danken wir sehr herzlich #74 Sommer 2019 5
INS BILD GESETZT Seit einem halben Jahr demonstriert im Sudan Foto: Instagram @lana_hago eine breite Allianz aus zivilgesellschaft- lichen Kräften gegen die korrupte Militärdik- tatur, für freie Wahlen und den Übergang zu einer zivilen Regierung. Trotz des Abgangs von Langzeitdiktator Omar al-Bashir bleibt der Ausgang der sudanesischen Revolution ungewiss. Eine zentrale Rolle beim Aufstand gegen das is- lamische Militärregime spielen die sudanesischen Frauen. Das Bild der 22jährigen Ingenieur- und Architekturstudentin Alaa Salah (rechte Seite), die sich selbstbewusst an die DemonstrantInnen in der Hauptstadt Khartum wendet, wurde zum Symbol dafür. Salah trägt stolz die traditionelle Kleidung der Baumwollarbeiterinnen und golde- nen Brautschmuck. In diesem Outfit waren die Frauen bereits in den 60er, 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts für ihre Rechte auf die Strasse gegangen. Mit der Landesflagge wird für einen neuen Sudan demonstriert. Foto: Umit Bektas/Reuters Eine Mutter hat ihre Kinder zum Protest vor dem Verteidigungsministerium mitgebracht. Foto: Umit Bektas/Reuters 6 #74 Sommer 2019
ENTWICKLUNGSPOLITIK Die höchste Schweizerin hat zum 25. Jahrestag des Genozids Ruanda und anschliessend Mosambik, eines der ärmsten Länder der Welt, besucht. Mit der Ärztin und Nationalratspräsidentin Marina Carobbio sprachen Lavinia Sommaruga und Daniel Hitzig. «Gleichstellung und soziale Gerechtigkeit gehören zusammen» 8 #74 Sommer 2019
global: Welche persönlichen ten beobachten, wie die Schweiz bei der dieser Geschichte beiträgt. Das führt Fotos: Daniel Rihs/13 Photo/Alliance Sud Eindrücke haben Sie von dieser Friedensförderung durch Dialog und uns ohne Umweg zum Thema der Kon- Afrikareise mitgenommen? den Einbezug der Zivilgesellschaft eine zernverantwortungsinitiative. Auch Marina Carobbio: Es war eine sehr in- wichtige Rolle spielt. Das alles hat wenn das Volksbegehren die Banken tensive und anspruchsvolle Reise. Das meine Überzeugung bestärkt, dass die nicht direkt betrifft, ist das Thema der Gedenken an den Völkermord in Ru- Schweiz, wenn sie diese Arbeit fort- Sorgfaltspflicht von zentraler Bedeu- anda 1994 war ein sehr starker Moment. setzt, weiterhin und zunehmend als tung. In Mosambik haben wir bei offi- Die Menschen zu hören, die den Geno- wichtige Akteurin auf der internationa- ziellen Treffen auch darüber gespro- zid persönlich überlebt haben, das hat len Bühne anerkannt wird. Es wäre ein chen, wie wichtig die Bekämpfung der mich sehr berührt. Es ist notwendig, Fehler, bestimmte Formen der Zusam- Korruption ist. In Ruanda habe ich fest- daran zu erinnern, damit sich etwas menarbeit aufzugeben oder unsere Ar- gestellt, wie heikel die Frage nach den Ähnliches nicht wiederholen kann. Da- beit gar einzustellen. Sie ist für die Ent- Rohstoffen ist, die aus der Demokrati- bei gibt es immer noch viele Orte, an wicklungsländer wichtig, aber eben schen Republik Kongo ins Land gelan- denen es inakzeptable Angriffe auf Men- auch für die Schweiz. gen. Auch das erinnert uns wieder an schen und die Menschenrechte gibt. Die unsere eigene Verantwortung, denn Reise hat mich sehr motiviert, mein En- Mosambik ist eines der Schwerpunkt- aus Ruanda gelangen Rohstoffe auch gagement für die Entwicklungszusam- länder der internationalen Zusam- weiter zu uns. menarbeit fortzusetzen. menarbeit der Schweiz. Nach den Über- schwemmungen forderten mehrere Die Schweiz will gute Geschäfte Dass die Wahl auf Ruanda NGOs die Credit Suisse auf, Mosambik machen, aber auch mit ihrer hu- und Mosambik fiel, Schulden von einer Milliarde Dollar manitären Tradition wahrge- war sicher kein Zufall. zu erlassen. Im Jahr 2016 hatten giftige nommen werden. Wie erleben Sie Natürlich nicht. Es interessierte mich, Kredite das Land in eine schwere diesen Spagat als Politikerin? die Rolle der Frauen in Schweizer Ent- Schuldenkrise gestürzt. Es ist doch Der wirtschaftliche Erfolg ist zwar ein wicklungsprojekten kennenzulernen, paradox, auf der einen Seite steht die grundlegendes Thema, er darf aber speziell wollte ich auch Projekte im Ge- staatliche Entwicklungszusammen- nicht getrennt betrachtet werden von sundheitswesen sehen. Wir wissen im arbeit der Schweiz, auf der anderen unserer Politik der Friedensförderung, Allgemeinen ja wenig über Afrika, und Seite stürzt eine Schweizer Bank des Umweltschutzes und der Men- Politiker und Politikerinnen sollten das Land in eine beispiellose Krise... schenrechte. Es ist genau dieser Wider- mehr darüber erfahren, was die Schweiz Das Problem ist, dass die Bank als priva- spruch, auf den die Konzernverantwor- tut und was sie selbst aus dieser Zusam- tes Unternehmen wenig zur Klärung tungsinitiative hinweist. menarbeit lernen kann. Denn Entwick- lung ist nie eine Einbahnstrasse. Bei meinen Besuchen stand die Rolle des Bundes im Vordergrund. Unser Land gilt als Vorbild in Sachen gute Regie- rungsführung und ist als zuverlässiger Partner anerkannt. Die Schweiz verfügt über drei aussen- politische Instrumente – die Entwick- lungszusammenarbeit, die Friedens- und Menschenrechtsförderung sowie die humanitäre Hilfe. Was haben Sie bei Ihrem Besuch diesbezüglich erfahren? In beiden Ländern haben wir Wasser- und Gesundheitsprojekte besucht, aber auch solche, mit denen Menschen un- terstützt werden, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind. Auch Projekte im Bereich Public Private Partnership (PPP) haben wir gesehen und wir konn- #74 Sommer 2019 9
Die Gegner der Initiative sagen, das Anliegen sei zwar richtig, aber es genüge, wenn sich die Unternehmen freiwillig an Menschenrechte und Umweltstandards halten… Wir haben auch in der Schweiz in vielen Bereichen festgestellt, dass freiwillige Standards nicht ausreichen, wenn es keine Regeln gibt. Nehmen wir nur das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit für Männer und Frauen! So wie die Schweiz als Vermittlerin in Konfliktfällen einen guten Ruf hat, kön- nen wir auch beim verantwortungsbe- wussten Unternehmertum eine Vor- bildrolle einnehmen. Bundesrat Ignazio Cassis will die öffentliche Entwicklungszusammen- arbeit vermehrt an den Eigeninte- ressen der Schweiz ausrichten. Auch Migrationsaspekte sollen stärker gewichtet werden. Wird die Zusammen- arbeit so nicht instrumentalisiert? Die Zusammenarbeit darf nicht mit rein internen Zielen verknüpft werden. Für mich ist klar, dass wir mit einer guten Entwicklungspolitik auf der internatio- nalen Bühne auch Ansehen gewinnen, wovon die Schweiz nur profitieren kann. Verknüpfen wir hingegen die Zu- sammenarbeit mit dem Ziel, dass weni- ger Menschen in die Schweiz migrieren, wicklungszusammenarbeit gespro- Geld bedeuten, sondern muss auch auf so stellen wir die ursprünglichen und chen. Wir erfahren zwar schnell von die Ausbildung der Menschen zielen, primären Ziele der Zusammenarbeit in Katastrophen, die sich weit weg ereignet damit sie in ihrem Land bleiben und ar- Frage. haben, reden etwa zwei Tage lang über beiten können. Die Zusammenarbeit Wir leben in einem stabilen Land, wo einen Wirbelsturm und gehen dann zu muss so ausgerichtet sein, dass die Pro- es den Menschen gut geht. Ausgehend einer anderen humanitären Krise über. jekte selbstständig weitergeführt wer- von dieser privilegierten Situation muss Zusammenhänge kommen dabei ein- den können. Ruanda, das habe ich mit die Entwicklungszusammenarbeit klar deutig zu kurz. Mosambik war so ein eigenen Augen gesehen, hängt extrem einen Diskurs der Solidarität führen. Beispiel: Der Wirbelsturm an sich ist stark von der internationalen Zusam- Auf diesem Wert – der Solidarität – ist die eine Naturkatastrophe, er trifft aber ein menarbeit ab. In den Projekten, die wir Schweiz gewachsen und den sollten wir Land, das ohnehin schon sehr arm und mit der AMCA1 fördern, spielt gerade die heute nicht in Frage stellen. stark vom Klimawandel betroffen ist. Ausbildung von Medizin- und Pflege- personal eine zentrale Rolle, damit Ist die internationale Zusammen- Für viele gebildete Menschen im nicht alles von der Zusammenarbeit ab- arbeit in der Bevölkerung noch globalen Süden ist die «Entwicklungs- hängt. verankert? hilfe» des Nordens eine kaum ka- Sie ist heute zwar weniger bekannt als in schierte Form von Neokolonialismus. Gemäss dem Botschaftsentwurf zur den 1980er und 1990er Jahren, aber es Da ist in den letzten dreissig Jahren internationalen Zusammenarbeit gibt immer noch viele junge Menschen, einiges geschehen… 2021–2024 soll die Schweiz rund 0,45% die sich im Ausland engagieren. In den Ja, das stimmt. Zusammenarbeit darf ihres Nationaleinkommens (BNE) Medien wird heute weniger über Ent- eben nicht nur die Bereitstellung von für die öffentliche Entwicklungshilfe 10 #74 Sommer 2019
Marina Carobbio Guscetti Entscheidungen, welche Widersprüche dass 2019 ein Jahr der Frauen sein würde, Foto: Daniel Rihs/13 Photo/Alliance Sud ist seit November 2018 Präsidentin des gibt es?» gehalten. Welche Widersprüche hätte ich es nicht geglaubt. Dank der Schweizer Nationalrats und damit die sehen Sie in diesem Bereich? Demonstration im vergangenen Sep- amtshöchste Schweizerin. Von 1991 bis 2007 Die Schweiz hat die Agenda 2030 und die tember in Bern wurde das Gesetz über war sie Mitglied des Tessiner Grossrats, Sustainable Development Goals (SDG) die Lohngleichheit im Parlament nicht seit 2007 politisiert sie im Nationalrat, früher unterstützt, stellt gleichzeitig aber die blockiert. als Mitglied der Finanzkommission, heute finanziellen Ressourcen für die Entwick- in der Kommission für soziale Sicherheit und lungszusammenarbeit in Frage. Die Wie hängen der Kampf um die Gleich- Gesundheit. Carobbio ist Vizepräsidentin SDGs sollen im Geist der Teilnahme und stellung der Geschlechter und jener der SP Schweiz, der NGO AMCA, des Teilhabe umgesetzt werden, zum Nut- um soziale Gerechtigkeit zusammen? Vereins Alpeninitiative sowie des Schweizer zen von Minderheiten, gegen Diskrimi- Frauen spielen in beiden Kämpfen eine Mieter- und Mieterinnenverbands. nierung und zur Unterstützung der Ge- zentrale Rolle. Sie sind es, die sich um schlechterpolitik. Bei AMCA etwa haben die Familie kümmern und eine zentrale wir ein Projekt zur Bekämpfung von Ge- Rolle beim Aufbau der Gesellschaft spie- bärmutterkrebs bei Frauen: In der len. Wenn es Ruanda und Mosambik ge- Schweiz und im Tessin wurde eine Impf- lingen sollte, sich von der Abhängigkeit kampagne durchgeführt, parallel dazu der klassischen Entwicklungszusam- haben wir in den Schulen erklärt, was menarbeit zu lösen, dann nur dank der «Verknüpfen wir die Entwicklungs- diese Art von Krebs in armen Ländern für Frauen. zusammenarbeit mit der ein Drama ist. Vielleicht ist es einfacher, Die Frauenbewegung, die Gleichstel- Migrationsfrage, so stellen wir den Diskurs über Solidarität und Zusam- lung und der Kampf gegen Diskriminie- die Armutsbekämpfung als menarbeit mit solchen praktischen Bei- rung sind eng mit der Frage der sozialen ursprüngliches Ziel in Frage.» spielen verständlich zu machen. Gerechtigkeit verbunden. Wenn wir die Diskriminierung von Frauen bekämp- Als Nationalratspräsidentin und fen, soll das immer auch in Richtung damit höchste Schweizerin können sozialer Gerechtigkeit gehen und sich Sie bestimmten Themen zu mehr gegen jenes Modell der patriarchali- Resonanz verhelfen. Was haben Sie schen Gesellschaft richten, das es den sich vorgenommen? Reichsten ermöglicht, über die Ärmsten Ich habe Themen ausgewählt, die durch zu herrschen. meine eigene Erfahrung geprägt sind. Eine davon ist die Vertretung von Frauen Das Interview wurde auf Italienisch aufwenden. Also weniger als die vom in der Politik sowie die Gleichstellung. geführt. Parlament festgelegten 0,5%. Sie selbst Ich habe mich immer für die Rechte der setzen sich – wie es auch die Uno in Frauen eingesetzt und war in der femi- 1 AMCA, die Vereinigung zur medizinischen Hilfe in Mittelamerika, wurde 1985 im Tessin den Zielen für nachhaltige Entwicklung nistischen Bewegung engagiert. Ein an- gegründet. (SDG) vorsieht – für 0,7% ein. Wie deres mir wichtiges Thema ist jenes der beurteilen sie das? Minderheiten, ich bin eine Vertreterin Es war ein gutes Zeichen, dass das Parla- der italienischen Schweiz und stehe ein ment im vergangenen Jahr beschloss, für eine mehrsprachige und multikultu- das Ziel von 0,5% beizubehalten. Ich relle Schweiz. wünschte mir aber nach wie vor, wie an- dere nördliche Länder 0,7% zu errei- Am 14. Juni streiken die Frauen. Warum chen. Alliance Sud spielt mit ihrer Infor- finden Sie es so wichtig, dass die mation aller ParlamentarierInnen in Frauen dann auf die Strasse gehen? dieser Diskussion eine wichtige Rolle. Schon 1991 kam der Streik von der Basis, Ich bin optimistisch und zuversichtlich, von Frauenverbänden und Gewerk- dass wir das Ziel von 0,5% beibehalten schaften. Es wird ja nicht bloss in Bern können. eine Demonstration geben, sondern auch lokale Aktivitäten. Viele werden 2017 haben Sie während einer Konfe- den ganzen Tag streiken, andere nur renz zur Agenda 2030 eine Rede mit eine Stunde lang symbolisch. Wenn mir dem Titel «Agenda 2030 und politische vor fünf Jahren gesagt worden wäre, #74 Sommer 2019 11
ENTWICKLUNGSPOLITIK Der Bundesrat will in der Entwicklungszusammenarbeit der Zukunft vermehrt mit der Privatwirtschaft zusammenarbeiten. Wer genau hinschaut, weiss: Die Risiken dabei sind enorm. Fallstudie einer Schweizer Agrarfirma in Ghana. Kristina Lanz «Sie sagten, sie brächten Entwicklung.» Die Zusammenarbeit mit dem Privatsektor steht in der internationalen Entwicklungspolitik hoch im Kurs. Nicht nur die Weltbank spricht davon, es brauche Trillionen um in den ärmsten Ländern die Uno-Ziele für nachhaltige Entwicklung zu errei- chen (Agenda 2030). Auch Geberländer wie die Schweiz glauben, dafür benötige es zwingend die enorme Hebelwirkung, die der Einsatz privater Gel- der erlaube. Vollmundig ist die Rede von einem Win- Win-Win-Szenario, von dem die Investoren, die Regierungen der Entwicklungsländer und deren Bevölkerungen gleichermassen profitieren. Vor al- lem im Landwirtschaftsbereich sind public-private partnerships (PPP) – zuweilen auch public-private- development partnerships (PPDP) genannt – längst eine Realität. Es lohnt sich also, genauer hinzu- schauen, was mit diesen Modellen bisher erreicht wurde. Diese Partnerschaften nehmen verschiedene Formen an. In manchen Fällen co-finanziert eine Entwicklungsbehörde direkt eine private land- wirtschaftliche Investition, in anderen Fällen flies- sen die Gelder in kapitalkräftige Fonds, welche die Mittel weiterleiten an privatwirtschaftliche Unter- nehmen. Was diese Agro-Unternehmen alle ge- toren für ihre Idee zu gewinnen und in der Voltare- meinsam haben: Sie versprechen das nachhaltig gion in Ghana den grössten Reisproduzenten West- Blaue vom Himmel, dass ihre Investitionen in den afrikas aufzubauen. Unter den Partnern und betreffenden Gebieten ein Segen seien, dass natio- Kapitalgebern war die Syngenta Foundation for nale und globale Ernährungssicherheit, Frauen- Sustainable Agriculture, die Alliance for a Green förderung und Arbeitsbeschaffung Hand in Hand Revolution in Africa (AGRA), die Agricultural Develop- gehen würden. ment Company (AgDevCo), der Acumen Fund sowie der Africa Agriculture and Trade Investment Fund Der Fall GADCO (Aatif) 1.GADCO genoss international und auch in 2011 gründeten ein nigerianischer und ein briti- Ghana viel positive Berichterstattung – nicht zu- scher Investmentbanker die Global Agro-Develop- letzt aufgrund ihres Anspruchs auf Engagement ment Company (GADCO). Von Landwirtschaft hatte für Nachhaltigkeit, community development und weder der eine noch der andere eine Ahnung, doch die ökonomische Stärkung der Frauen (women’s beide suchten nach der globalen Finanzkrise von economic empowerment). 2008 ein neues Tätigkeitsfeld. Es gelang ihnen, Trotz anfänglicher Erfolge, grosser finanzieller eine ganze Reihe entwicklungsorientierter Inves- Unterstützung und erster Reisernten vermeldete 12 #74 Sommer 2019
waltet. Deren weitgehende Machtbefugnisse wur- den zu einem grossen Teil von den englischen Kolo- nialherren geschaffen und sind in der Verfassung verankert. Achtmonatige Recherchen vor Ort in den Jahren 2014 und 2016 im Rahmen einer Disser- tation zu den Genderaspekten von landwirtschaft- lichen Privatsektorinvestitionen zeigten,2 dass für GADCO die Chiefs von Anfang an die zentralen Be- zugspersonen waren, dies obwohl in der Voltare- gion Land auch im Besitz von Familien ist und die Chiefs nur eine Art Aufsichts- und Streitschlich- tungsfunktion besitzen. Zusammen mit den Chiefs, die meist eine höhere Ausbildung genossen haben, erarbeiteten die Firmenvertreter einen community-private partnership Vertrag. Dieser legte fest, dass die Gemeinschaft den Investoren 2000 ha Land zur Verfügung stellt und dafür im Gegenzug mit 2,5% am Gewinn der Firma beteiligt wird – Gelder, die dann ausschliesslich für Entwicklungs- projekte in den lokalen Dörfern eingesetzt werden sollten. Reis, den die Ernte-Maschinen im An der Basis angekommen war von den Gewin- GADCO-Projekt übrig lassen, wird von nen zum Zeitpunkt der Forschung allerdings Frauen für den Eigengebrauch kaum etwas. Eine junge Frau meinte dazu: «Ich eingesammelt. Foto: Divine Harrison habe keine Ahnung, wofür sie das Geld nutzen – bis heute haben wir nicht einmal gutes Trinkwas- ser in den Dörfern.» Im vom Farmlandverlust am meisten betroffenen Dorf Bakpa Adzani, in dem vor allem Menschen mit Binnenmigrationshin- tergrund wohnen, wurde die Bevölkerung weder In einem Selbsthilfeprojekt informiert noch konsultiert. Eine ältere Witwe zur Ernährungssicherung in bestätigt: «Wir wurden nicht informiert. Wir wa- Katangi (Kenia) wird die ren gerade auf der Farm, als die Firmenvertreter Spreu von der Ernte getrennt. kamen und sagten, sie würden nun unser Land Foto: Sven Torfinn/Panos pflügen. Wir flehten sie an, wenigstens bis nach der Ernte zu warten.» Während der Feldforschung war es offensicht- die Firma drei Jahre nach Aufnahme ihrer Ge- lich, dass die Chiefs eigenmächtig über Kompensa- schäftstätigkeit den Bankrott und wurde 2015 von tionen entschieden. So verwundert es nicht, dass der Schweizer Firma RMG Concept mit Sitz in De- vor allem Clan- und Familienmitglieder der Chiefs lémont/JU übernommen, die GADCO schon zuvor entschädigt wurden und dass diese auch die Haupt- mit Pestiziden und Düngemitteln versorgt hatte. profiteure des lokalen Vertragslandwirtschaftspro- RMG Concept, die sich auf ihrer Website ebenfalls jekts namens Fievie Connect waren. als Vorreiterin der nachhaltigen Landwirtschaft Versprochen war, dass die Hälfte aller im soge- und als verlässliche Partnerin von Kleinbäuerin- nannten outgrower scheme Beschäftigten Frauen nen und Kleinbauern anpreist, betreibt seitdem sein sollten. 2014 und 2016 waren die meisten die grosse Reisplantage und das daran angeglie- outgrower wohlbetuchte, ältere Frauen und Män- derte Vertragslandwirtschaftsprojekt – nach wie ner, von denen etliche nicht selber auf die Felder vor unter dem Namen GADCO. gingen, sondern ärmere Frauen zu geringen Löh- nen anstellten. Und für das outgrower scheme ein- Die Mehrheit geht leer aus getragene Männer schickten oft ihre Frauen auf In Ghana werden ungefähr 80% der gesamten die Felder, was deren generelle Arbeitslast subs- Landfläche von lokalen Dorfvorstehern (chiefs) ver- tantiell vergrösserte. #74 Sommer 2019 13
Negative Auswirkungen hatten zudem mehrere zu verlassen. Eine Frau aus Kpevikpo: «Ich sehe Ernteausfälle sowie die Intransparenz der auftrag- nichts Positives an der Firma. Sie haben nur unser gebenden GADCO, die immer höhere Preise für Land zerstört. Wir haben sie gefragt, ob sie eine Düngemittel und Pestizide in Rechnung stellte; kleine Brücke über den Kanal bauen können, aber entsprechend schrumpfte der erwirtschaftete Pro- sie haben sich geweigert.» fit der VertragslandwirtInnen. Richtete GADCO Schäden an, so wusch die Auch bei der Beschaffung von Arbeitsplätzen Firma ihre Hände in Unschuld; Verhandlungen wies GADCO eine schlechte Bilanz auf. 2014 besass wurden generell über die Chiefs abgewickelt; Wi- von den rund 150 Angestellten nur eine Minderheit derstand und Proteste der Lokalbevölkerung wur- einen Arbeitsvertrag, die Löhne waren so tief, dass den von den Chiefs von Fall zu Fall auch unter Ein- viele befragte Personen von der Rückkehr in die satz von Gewalt niedergeschlagen. Dabei war sich karge Subsistenzlandwirtschaft träumten. Frauen GADCO der verschiedenen Probleme durchaus waren zudem fast ausschliesslich als Tagelöhnerin- bewusst. Der ehemalige Manager Adidakpo Abim- nen für das Ausbringen von Dünger angestellt und bola räumte sogar ein, dass den Chiefs regelmässig verdienten dabei umgerechnet 3 US-Dollar pro Tag. ein Pickup-Truck ausgeliehen werde, wenn es Pro- Unter diesen Umständen von women’s empower- bleme mit der lokalen Bevölkerung gebe. Die ment zu sprechen, ist ein Hohn. Chiefs bewaffneten dann einige Jugendliche mit Stöcken und schlugen die Aufständischen in die Die Ärmsten sind die Verliererinnen Flucht. Bei der Umwandlung von privat und gemeinsam Auf die Frage, ob sich GADCO bewusst sei, dass genutztem Land in eine Reis-Monokultur haben hier im Namen von nachhaltiger Entwicklung ge- die Ärmsten den höchsten Preis bezahlt, allen vo- sprochene Gelder für Profitinteressen einiger We- ran MigrantInnen und alleinstehende Frauen. Vor niger zweckentfremdet würden, meinte der neue allem der Verlust grosser Flächen gemeinschaft- Manager Satyendra Kumar Singh nur: «Wie die lo- lich genutzten Landes (den sog. commons), das von kale Bevölkerung mit dem Geld umgeht, geht uns Regierungs- und Firmenvertretern gerne als «un- nichts an. Wir haben unsere Geschäftsstrukturen genutzes» Land bezeichnet wird, traf die Ärmsten und sie haben ihre. Wir mischen uns nicht ein.» am stärksten. Eine Vielzahl von Fischteichen und Der beschriebene und wissenschaftlich doku- kleinen Bächen, die nicht nur stark zur Ernäh- mentierte Fall ist brisant – nicht nur, weil sich rungssicherheit der lokalen Bevölkerung beitru- GADCO gross Nachhaltigkeit auf die Fahne gen, sondern für mehrere Dörfer auch die einzigen schreibt, sondern weil die Firma dafür auch von Wasserquellen waren, wurden von GADCO zer- verschiedenen Entwicklungsakteuren finanziell stört; ebenso sämtliche Pflanzen. Die vielen über unterstützt wurde. Für Alliance Sud ist es unab- das Land verteilten Bäume wurden zuvor als Feu- dingbar, dass, wenn die Schweiz in Zukunft in erholz für den Eigenbedarf genutzt und bildeten der Entwicklungszusammenarbeit vermehrt auf die Lebensgrundlage vieler ärmerer Frauen, die den Privatsektor setzen möchte, dieses Engage- das Holz zu Kohle verarbeiteten und verkauften. ment auf klaren Kriterien sowie einer detaillier- Eine von ihnen erzählte: «Früher haben wir die ten Kontextanalyse aufbaut und durch ein rigo- Bäume beschnitten, um Kohle zu produzieren, roses, unabhängiges Monitoring regelmässig aber nun haben sie (GADCO) alle Bäume gefällt und überprüft wird. wir haben Mühe überhaupt etwas zu essen zu kau- 1 Verschiedene Geldgeber von GADCO werden ihrerseits fen.» von staatlichen Entwicklungsakteuren unterstützt: AgDevCo Das Dorf Kpevikpo wurde komplett von der wird hauptsächlich vom englischen Department for Inter- national Development (DfID) finanziert; AGRA erhält Gelder Reisplantage umzingelt. Die Zugangsstrasse zum von DfID, dem deutschen Bundesministerium für wirtschaft- Dorf wurde von GADCO vergrössert, damit ihre liche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), USAID und Traktoren darauf fahren konnten, und direkt vor verschiedenen anderen Entwicklungsakteuren; Aatif ist eine Initiative des BMZ und der KfW Bankengruppe. dem Eingang zum Dorf wurde ein Bewässerungs- 2 PhD Dissertation in Sozialanthropologie mit dem Titel: kanal gebaut. In der Regenzeit sowie jedes Mal, «Institutional Change, Gender and Power Relations. Case study wenn die Firma ihre Felder bewässerte, blieben die of a «best practice» large-scale land acquisition in Ghana.» Menschen faktisch in ihrem Dorf eingesperrt. Kin- Universität Bern, 2018. der konnten nicht zur Schule gehen, in der Regen- zeit mussten Frauen, die zum Markt gehen woll- ten, durch brusthohes Wasser waten, um das Dorf 14 #74 Sommer 2019
KLIMA UND UMWELT Die Klimakrise und der Kampf um Frauenrechte haben mehr miteinander gemeinsam als auf den ersten Blick ersichtlich. Denn Klimaveränderungen verstärken Diskriminierungen – vor allem im globalen Süden. Jürg Staudenmann Auf Frauen hören bei der Bekämpfung der Klimakrise Frauen auf dem Weg zur Arbeit in Jamshedpur im indischen Bundesstaat Jharkhand, der stark vom Stahl- und Mischkonzern Tata geprägt ist. Foto: Penny Tweedie/Panos Frauen nehmen die bedrohliche Klima- Das sind einige der Themen, mit denen Handlungsmuster wirken sich direkt thematik ernster als Männer. Frauen sich das globale Frauen-Netzwerk Wo- auf die Klimakrise und den Umgang da- wollen eher Ressourcen schonen und men Engage for a Common Future mit aus. Die Klimaveränderung ist nicht sind eher bereit, ihr Verhalten zu än- (WECF) befasst und die es u.a. auf gros- geschlechtsneutral, weder im globalen dern. Männer dagegen neigen eher zu sen, informativen «Educational Pos- Norden noch im Süden. riskanten technischen Lösungsansät- ters» ins öffentliche Bewusstsein bringt. Nicht nur in Entwicklungsländern zen der Klimakrise.1 Studien zufolge Alliance Sud befragte Katharina Ha- haben Frauen weniger politische Ent- haben Frauen eine bessere CO2-Bilanz bersbrunner und Anne Barre vom scheidungsmacht, weniger Zugang zu als Männer, sie fahren weniger und spar- WECF, die dort für die Umsetzung ge- Ressourcen, von Finanzmitteln über samere Autos, essen häufiger vegeta- schlechtergerechter Klima- und Ener- Eigentum bis hin zu Bildung und Infor- risch und achten beim Einkauf ver- gieprojekte bzw. eine gendergerechte mation. Gleichzeitig erreichen neue mehrt auf ökologische Produkte. Ausgestaltung der Klimapolitik zustän- Entwicklungen wie etwa erneuerbare Gleichzeitig sind Frauen und Mäd- dig sind. Energien die Frauen meist schlechter chen überproportional von den Auswir- oder später als Männer. Bei der Planung, kungen der Klimaveränderung betrof- Alliance Sud: Warum braucht es Implementierung und Evaluation von fen; vor allem in Entwicklungsländern. einen feministischen Zugang zur klimafreundlichen Techniken oder Pro- Und trotzdem werden lokale, von Klimakrise? jekten werden sie kaum eingebunden, Frauen geprägte Lösungsansätze oft ig- WECF: Es geht nicht darum, Stereotype obwohl Frauen die Bedürfnisse ihrer Fa- noriert. zu bedienen, aber patriarchal geprägte milien besser kennen und damit die di- #74 Sommer 2019 15
Auf der Insel Ghoramara in der Bucht von Bengalen arbeiten Frauen an einem Lehmdamm, der ihr Hab und Gut vor dem steigenden Meeresspiegel schützen soll. Foto: Robin Hammond/Panos rekteren Nutzerinnen von Energie sind. oder den Haushalt mit Energie und Oft wird Frauen auch schlicht der Zu- Es fliessen derzeit nur gerade 0,01% der Wasser zu versorgen. Sie sind es, die in- gang zu Lösungen verwehrt: In Geor- gesamten Klimafinanzierung in explizit folge der Klimaveränderung zuerst ihr gien hat WECF mit lokalen PartnerIn- geschlechtersensible Klimalösungen. Einkommen verlieren, vorzeitig die nen Solarkollektoren für Warmwasser Schule verlassen müssen oder zwangs- entwickelt, die vor Ort produziert wer- Welches sind aus Frauensicht die He- verheiratet werden. den. Das reduziert die Abholzung, spart rausforderungen oder auch Chancen Obwohl Frauen in vielen Ländern für vor allem Frauen Zeit und Geld. Doch im Zusammenhang mit der Klima- die (Subsistenz-)Landwirtschaft und da- leider stockt die Umsetzung, denn die krise und nachhaltiger Entwicklung? mit für die Ernährung der Familien zu- Frauen bekommen anders als Männer Weil Frauen der Zugang zu Information ständig sind, haben sie oft weder Grund- mit weniger Einkommen kaum Darle- oder Unwetterwarnungen vorenthalten besitz- noch Entscheidungsrechte, was hen; oder es werden viel höhere Zins- wird, sterben sie bis zu 14-mal häufiger den Boden angeht, den sie bearbeiten. sätze verlangt als bei Männern. als Männer an den Folgen von Klimaka- Das gilt auch für die Wasserversorgung. tastrophen.2 In vielen Ländern dürfen Liegt der Fokus bei Anpassungsmass- Frauen wird oft eine besondere Rolle Frauen nicht alleine auf die Strassen ge- nahmen auf rein technischen Lösungen, in der Bewältigung der Klimakrise hen, sie sind in der Regel weniger mobil so werden die Bedürfnisse der Direktbe- zugeschrieben… und werden weniger in überlebensret- troffenen, also von Frauen und Mäd- Frauen sind aufgrund ihrer Rolle als Fa- tende Trainings einbezogen als Männer. chen, viel zu oft ausgeblendet. milienmanagerinnen und Care-Arbei- Den Tsunami in Südostasien 2004 über- Noch bezeichnender sind fehlkon- terinnen oft viel direkter darauf ange- lebten nach Schätzungen von Oxfam fast struierte Zyklon-Notunterkünfte in wiesen, praktische Alltagslösungen auf vier Mal mehr Männer, weil sie im Ge- Bangladesch: Weil gender-spezifische Klimaveränderungen zu entwickeln. gensatz zu Frauen schwimmen konn- Bedürfnisse nicht in die Planung ein- Weil sie Gemeinschaften mobilisieren ten. flossen, sind Frauen während Unwet- können, werden sie oft als change agents Vor allem aber zwingen die schlei- tern vermehrt sexuellen Belästigungen gesehen. Tatsächlich setzen sich Frauen chenden Klimaveränderungen in armen von Männern ausgesetzt, etwa wenn in allen Teilen der Welt für innovative, Ländern den Frauen und Mädchen im- Sanitäranlagen ohne Beleuchtung und effektive und bezahlbare Strategien vor mer längere und beschwerlichere Arbeit weit von den Aufenthaltsräumen ent- Ort ein. Doch solche lokalen low-tech- auf, um die Felder zu bewirtschaften fernt liegen. Ansätze erhalten in der Regel viel weni- 16 #74 Sommer 2019
ger politische Unterstützung und Fi- übrigen Uno-Organisationen umge- eine genderblinde Klimapolitik das Fin- nanzierung als hochtechnische und setzt werden; gendersensible Umset- den von Lösungen zur Eindämmung der kommen somit kaum im notwendigen zung inklusive der dafür notwendigen Klimakrise. Insofern stimmen wir der grossen Stil zur Anwendung. Mittel sowie gendersensibles Monito- These der «Feminisierung der Klima- ring und Berichterstattung über getrof- krise» absolut zu. Die Klimaverände- Auf der letztjährigen Weltklimakonfe- fene Klimamassnahmen. rung wirkt wie ein Risikomultiplikator renz in Kattowitz wurde ein Gen- Weil die Vertragsstaaten geschlechts- und verstärkt bestehende Diskriminie- der-Aktionsplan (GAP) verabschiedet. spezifische Daten erheben und ihre Kli- rungen, die Frauen aufgrund ihres ge- War das ein Wendepunkt für eine mapolitik einer Genderanalyse unter- ringen sozialen, wirtschaftlichen und geschlechtergerechtere Klimapolitik? ziehen müssen, werden Regierungen politischen Status erfahren. Es ist da- Die konsequente Verwirklichung der dazu gebracht, Genderpolitik und Kli- rum wichtig zu betonen, dass Frauen Gleichstellung von Mann und Frau, das mapolitik zusammen zu denken. Der vor allem aufgrund traditioneller Rol- sogenannte gender mainstreaming GAP bildet also die Basis für eine ge- lenverteilung in den meisten Gesell- wurde im über 25-jährigen Prozess der schlechtergerechte(re) Klimapolitik. schaften anfälliger sind für die Auswir- Klimarahmenkonvention (UNFCCC) Aber es braucht noch deutliche Fort- kungen des Klimawandels. Darum ist erst spät anerkannt. Und dies obwohl schritte in der Umsetzung sowie ambi- die verbindliche Umsetzung des GAP gendergerechte Massnahmen einen tioniertere Entscheidungen an den kom- mit seinen verschiedenen Ebenen so wichtigen Beitrag zur Wirksamkeit der menden Klimakonferenzen. wichtig. Je mehr Frauen auf allen Ebe- Klimapolitik leisten. In der Präambel nen in die Entscheidungen miteinge- des Pariser Klimaübereinkommens Es gibt aber auch Wissenschafterin- bunden werden, desto erfolgreicher die wird nun völkerrechtlich verbindlich nen, die Kritik an der «Feminisierung Klimapolitik. gefordert, Menschenrechte, Geschlech- der Klimakrise» üben. Sie zielt u.a. 1 World Bank, World Development Report 2012 tergerechtigkeit und die stärkere Teil- darauf, dass die Arbeitsteilung nach 2 UNFPA, Women on the frontline habe von Frauen in allen Aktivitäten zur Geschlechtern zementiert würde, Bekämpfung der Klimaveränderung zu während Frauen von den zentralen Women Engage for a Common Future berücksichtigen. Verhandlungen über die internatio- WECF ist ein internationales Netzwerk Der GAP konkretisiert diese Forde- nale Klimapolitik nach wie vor von mehr als 150 Frauen- und Umwelt- rungen in fünf Kernbereichen: Kapazi- weitgehend ausgeschlossen bleiben. organisationen in 50 Ländern. WECF tätsaufbau, Wissensaustausch und Wie beurteilen sie diese Thesen? setzt sich für die lokale Umsetzung nach- Kommunikation zum Beispiel durch Werden bestehende Strukturen inner- haltiger Klimalösungen und die Förde- Gender-Trainings in den Uno- Institu- halb einer Gemeinschaft oder eines rung geschlechtergerechter politischer tionen; Geschlechterparität in Füh- Haushalts ausgeblendet, so pflanzen Rahmenbedingungen weltweit ein. rungspositionen bei den Klimakonfe- sich vorherrschende Machtstrukturen Als Gründungsmitglied der Women and renzen und in den Ländern; Kohärenz, und soziale Ungleichheiten in Projekte Gender Constituency des UNFCCC dass Beschlüsse zu Geschlecht und Kli- und Politiken fort oder werden gar noch (Uno-Klimarahmenkonvention) und offi- mawandel auch in den Massnahmen der verstärkt. So betrachtet verlangsamt zielle Partnerin des Uno-Umweltpro- gramms UNEP implementiert WECF in den Bereichen Klima und Gender Politiken, die eng miteinander verzahnt sind und die Kapazitäten von Frauen durch Klimaprojekte vor Ort stärkt. JS Katharina Habersbrunner, früher u.a. Risikomanagerin bei MunichRe, arbeitet bei WECF im Bereich erneuerbare Ener- gie und Klimaschutz. Anne Barre baute WECF in Frankreich auf und leitet heute in der Zentrale in München Tamazina Carlos (47) vor den Überresten ihres vom Zyklon Kenneth den Bereich Gender und zerstörten Hauses in Macomia, Mosambik. Foto: Tommy Trenchard/Panos Klimapolitik. #74 Sommer 2019 17
STEUERN UND FINANZEN Steuerpolitik ist etwas für wenige abgehobene – in der Regel männliche – Eingeweihte. Dabei zeigt sich gerade aus dem Blickwinkel der Geschlechtergerechtigkeit: In der Steuerpolitik werden die elementarsten Dinge des Lebens verhandelt. Dominik Gross Steuerflucht tötet Mütter Steuerpolitik ist – gelinde gesagt – etwas ziemlich Ersteres wird von der internationalen Gemein- Abstraktes. Vor lauter «regulären Steuersätzen», schaft wegen seiner stabilen politischen Verhält- «Bemessungsgrundlagen», «automatischem Infor- nisse gerne als afrikanischer Vorzeigestaat gelobt, mationsaustausch», «Profitverschiebungen», letzteres gilt trotz eines Bürgerkriegs im Osten des «Registern der wirtschaftlich Berechtigten», «län- Landes als aufstrebender Wirtschaftsstandort. derbezogenen Berichten» oder – Pricewaterhouse- Trotzdem liegen in diesen Ländern die Mütter- und Coopers, erlöse uns von derart Bösem – der «zins- Säuglingssterblichkeitsraten um ein Vielfaches hö- bereinigten Gewinnsteuer», geht leicht vergessen, her als in europäischen Ländern. Gemäss der WHO dass sich Steuerpolitik im Grunde genommen um könnten die allermeisten dieser Todesfälle mit der ganz unmittelbare Bedürfnisse des Menschseins entsprechenden medizinischen Ausrüstung ver- dreht. Zum Beispiel darum, dass jedes Kind – ob Bub hindert werden. oder Mädchen – überall auf der Welt einen möglichst offenen Zugang zu jenen elementaren Dienstleis- Sichere Geburt ist ein Privileg tungen bekommen sollte, die ein würdiges Leben Im UNO-Zwischenbericht von 2018 zum Ziel 3 der ermöglichen: eine gute Gesundheitsversorgung, Agenda 2030 («Ein gesundes Leben für alle Men- eine anständige Schulbildung, sichere öffentliche schen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlerge- Transportwege und Infrastruktur, Teilhabe an Kul- hen fördern») ist zwar festgehalten, dass die Mütter- tur, Politik und Gesellschaft. sterblichkeitsrate seit 1990 weltweit um 37 Prozent Und manchmal geht es in der Steuerpolitik um und jene bei Säuglingen um 39 Prozent gefallen ist. Leben und Tod. Etwa dann, wenn irgendwo auf der Trotzdem ist eine einigermassen sichere Geburt für Welt eine Mutter während einer Geburt stirbt, weil Mutter und Kind immer noch ein Privileg für einen das öffentliche Spital, im dem diese Frau ihr Kind kleinen Teil der Weltbevölkerung. Unter diesem zur Welt bringen wollte, schlecht ausgerüstet ist. Eindruck einigten sich die UNO-Mitgliedsländer Gemäss der Weltgesundheitsstatistik 2018, welche 2015 mit dem Ziel 3 der Agenda 2030 darauf, die Müt- die Weltgesundheitsorganisation (WHO) jedes Jahr tersterblichkeitsrate bis 2030 auf weltweit weniger zu den gesundheitsrelevanten Zielen für eine nach- als 70 Todesfälle pro 100 000 Geburten und die haltige Entwicklung (SDG) im Rahmen der UNO- Sterblichkeitsrate bei Säuglingen auf 12 pro 1000 Ge- Agenda 2030 herausgibt, starben alleine im Jahr burten zu reduzieren. 2015 303 000 Frauen wegen gesundheitlichen Auch wenn das gemessen an den oben genann- Schwierigkeiten, die im Zusammenhang mit einer ten Zahlen bescheidene und letztlich willkürlich Geburt oder einer Schwangerschaft standen. 99% gesetzte Ziele sind – ohne steuerpolitische Refor- dieser Frauen starben in Ländern, die die WHO zu men in vielen Entwicklungsländern, in den Tief- den Entwicklungs- oder Schwellenländern zählt. steuergebieten und auf globaler Ebene wird auch Fast zwei Drittel davon, nämlich 62% starben in das nicht zu schaffen sein: Denn für die allermeisten Subsahara-Afrika. In der Schweiz sterben bei Menschen weltweit hängt der Zugang zu medizini- 100 000 Geburten fünf Frauen, in Ghana sind es 319 scher Versorgung ausschliesslich von der Qualität und in Nigeria 814. Nicht viel besser sieht es bei der der öffentlichen Gesundheitsversorgung an ihrem Kindersterblichkeit aus: In der Schweiz sterben nur Lebensmittelpunkt ab – und diese Qualität wiede- vier von 1000 Kindern bei der Geburt, in Ghana sind rum von Steuereinnahmen, die es einem Gemein- es 35 und in Nigeria 70. Ghana und Nigeria gehören wesen erlaubt, eine für Mutter und Kind ausrei- beide nicht zu den allerärmsten Ländern der Welt. chende Gesundheitsversorgung zu gewährleisten. 18 #74 Sommer 2019
viel Steuersubstrat ab. Da viele von ihnen – nicht nur notorische Steueroasen wie die Schweiz – aber selbst über Steuerschlupflöcher verschiedener Art verfügen, fliessen ihnen auch wieder Fluchtgelder zu. Entwicklungsländern fehlen hingegen in der Regel die entsprechenden Mittel, um in den Wett- bewerb zwischen den Staaten um Steuervermei- dungsgelder überhaupt einzugreifen. Aber nicht nur im Gesundheitswesen werden die anerkannten Grundrechte vor allem von Mädchen und Frauen aus steuerpolitischen Gründen be- schnitten. Überall dort, wo es öffentliches Engage- ment und finanzielle Ressourcen braucht, um strukturelle Geschlechterdiskriminierungen etwa in der Bildung oder auf dem Arbeitsmarkt zu über- winden und neue Formen des geschlechtergerech- ten Zusammenlebens zu entwickeln, bleiben die Rechte von Frauen und Mädchen als erste auf der Strecke. Der Kampf für Geschlechtergerechtigkeit ist also immer auch ein Kampf für Steuergerechtig- keit und einen gut finanzierten Service Public – und umgekehrt. Umso mehr, wenn dieser Kampf von der Schweiz aus mit einem globalen Blick für die ökonomischen Strukturen hinter der Diskriminie- Eine Krankenschwester in Ausbildung im Mzuza rung von Frauen und Mädchen geführt wird. Denn General Hospital in Malawi. Foto: Sven Torfinn/Panos nach wie vor und trotz allen steuerpolitischen Re- formen der letzten Jahre, ist die Schweiz der grösste Offshore-Finanzplatz und einer der prominentes- In den meisten Entwicklungsländern ist die Mobi- ten Handels- und Kapitaldrehscheiben für multi- lisierung steuerlicher Ressourcen für die öffentli- nationale Konzerne aus aller Welt. Hierzulande chen Dienste eine äusserst prekäre Angelegenheit: werden also Gewinne versteuert, die anderswo er- In den ärmsten Ländern belaufen sich die Steuer- wirtschaftet wurden und dort als Steuereinnahmen einnahmen im Durchschnitt auf nur gerade 15% des fehlen – mit potentiell verheerenden Folgen schon Bruttoinlandprodukts (BIP). Das ist viel weniger als am Beginn jedes Menschenlebens. in den reichen Ländern der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung), wo die Steuereinnahmen rund 34% des BIP ausmachen, und nach Einschätzung des Interna- tionalen Währungsfonds (IWF) sind 15% zu wenig, um ein funktionierendes Staatswesen zu gewähr- leisten. Einer der Hauptgründe für diese grosse Dif- ferenz bei der Mobilisierung von Steuergeldern in Entwicklungs- und OECD-Ländern ist der Abfluss von grossen Privatvermögen und Unternehmens- gewinnen in Tiefsteuergebiete, von denen aus Kon- zerne und Vermögensverwalter global operieren. Mit verheerenden Folgen: Der Washingtoner Think- Tank Global Financial Integrity (GFI) schätzt, dass im Jahr 2014 allein aus Entwicklungs- und Schwel- lenländern eine Billion US-Dollar in Form von so- genannten unlauteren Finanzflüssen abfloss. Die Ohne Unterstützung durch UN-Gelder gäbe es dieses Zeche dafür zahlen vor allem die Entwicklungslän- Gesundheitszentrum in der Stadt Mbanza-Ngungu in der der. Zwar fliesst auch in den reichen OECD-Ländern DR Kongo nicht. Foto: Sven Torfinn/Panos #74 Sommer 2019 19
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