Zum Leiden bin ich auserkoren - THEMA: MUSIK & LEID - Musik & Bildung

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Zum Leiden bin ich auserkoren - THEMA: MUSIK & LEID - Musik & Bildung
14 THEMA: MUSIK & LEID

   Zum Leiden bin ich auserkoren
   Musik(-Unterricht) als Passion zwischen Leid und Leidenschaft
   Jürgen Oberschmidt

                                                                                                                                                                   © shutterstock
         Unsere Welt ist, so sieht sie zumindest der   gabtes und symbolisch schaffendes Wesen, das          zu belästigen. Auch von einer sich in weiter Fer-
   Psychoanalytiker Peter Kutter, eine „leiden-        sich seiner selbst bewußt ist, seinen Willen hat      ne ausbreitenden Lungenkrankheit ließen wir
   schaftslose Welt, eine Welt ohne Leidenschaft“      und fähig ist zu handeln. Warum der Mensch            uns nicht sonderlich tangieren. Erst als das Leid
   (Kutter 1994, S. 12). Registriert werden die        leiden muss? Er ist auch ein Homo sentiens, ein       plötzlich ganz nah war und unmittelbar in unse-
   „Symptome einer ‚kranken‘ Gesellschaft“ (ebd.,      fühlbegabtes Wesen, das der Erregung fähig ist,       ren Alltag einbrach, hatten die Tempelhändler an
   S. 14), die alles entwerte „was Leidenschaftlich-   das fühlen kann und imstande ist, zu lieben,          den Börsen und Verehrer des goldenen Kalbs,
   keit heißt“ (ebd.). Wir modernen Menschen sei-      und zu hassen, und dadurch erst lebt“ (ebd., S.       damit sind jene Paarhufer gemeint, die sich ent-
   en von Gefühls- und Ausdruckslosigkeit be-          15). Auch das Leid hat in unserer Welt keinen         weder mit High-Heels oder Stollenschuhen be-
   herrscht. Ursache sei die „soziale Idealisierung    Platz. Der Tod wird aus unserer Gesellschaft aus-     wegen, plötzlich keine Stimme mehr. Das wirt-
   der Leidenschaftslosigkeit, der Rationalität, der   gesperrt, Katastrophen und Attentate sind immer       schaftliche und öffentliche Leben wurde stillge-
   Technik“ (ebd., S. 14): „Der Mensch ist nicht nur   weit weg, in den Nachrichten wird die Situation       stellt, unsere „Promenade der Leidenschaften“
   Homo sapiens und Homo faber, also vernunftbe-       von Flüchtlingen zwischen Fußball, Börsennach-        (Klinger 2001), die alle Spielarten leidenschaftli-
                                                       richten und Wetterbericht abgehandelt. Das Mit-       chen Erlebens längst in die Konsum- und Frei-
                                                       leiden bleibt flüchtig, wird mediatisiert, sterili-   zeitkultur projiziert hatte, befand sich nun auf
        www.musik-und-bildung.de                       siert. Dabei blinken längst die geopolitischen        der unzugänglichen Seite des Absperrbands. Leer
                                                       Signale auf, die Krise hat sich auf Dauer einge-      und still ist es geworden, schnell wurde deutlich,
     ▲

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                                                       richtet, ohne uns jedoch in den Wohlfühloasen         dass der Homo sentiens in seiner inneren Leere

   musik & bildung 4.20
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ZUM LEIDEN BIN ICH AUSERKOREN 15

nicht mit digitalen Ersatzhandlungen beatmet          Steuerung, Organisationsentwicklung, Machbar-              grundsätzliche Problem, Musik überhaupt zur
werden konnte: „Wir leben in einer Welt ohne          keitsvisionen, Wirksamkeit, um „das Managen                Sprache zu bringen und erklärt, warum wir uns
Leidenschaften“ (Kutter).                             von Prozessen und Classroom“ (Liessmann 2017,              im Unterricht mit den Begrenzungen der Begriff-
Erst als die Musik aus der ihr verordneten Stille     S. 59). Auf diese Weise werden aus „Lehrern in             lichkeiten zur Beschreibung einer Partitur zufrie-
heraustrat, die Bachsche Johannes-Passion in          ständigen Feedback-Schleifen gefangene, dem                dengeben oder ein Hörgeschehen mit Benen-
der Leipziger Thomaskirche                                               Imperativ einer leeren Dau-             nungen aus uniformierten Adjektivzirkeln etiket-
erklang (musik & bildung                                                 erreflexion      unterworfene           tieren. Häufig führt dies auch zu der Konse-
2/20) und die Berliner-Phil-       „Die Leidenschaften haben ei-         Lernbegleiter und Sozialar-             quenz, dass Musik nach den Kriterien einer sol-
harmoniker mit fünfzehn            nen so großen Antheil an den          beiter, die bei diesem Prozess          chen Unterrichtbarkeit von dem lehrenden Homo
verbliebenen Musikern in           Werken der schönen Künste,            von professionellen Profes-             faber (Oberschmidt 2019) ausgewählt wird: Wir
der leeren Philharmonie mit        und spielen darin eine so be-         sionalisierungsberatern und             beschäftigen uns mit vermessbarer Ziegelstein-
den mystischen Klängen von         trächtliche Role, daß sie in der      Kommunikationstrainern be-              musik, heften das laminierte Fagott neben das
Pärt, Ligeti, Barber und Mah-      Theorie  derselben  eine  beson-      treut werden müssen“ (ebd.,             Portrait des Großvaters, notieren an der Tafel,
ler ein Zeichen der Solidarität    dere und etwas umständliche           S. 60). In keinem Moment                dass die Moldau auch in Dur fließen kann und
in alle Länder der Welt sen-       Betrachtung verdienen.“               geht es dabei um das Fach,              erklären, dass auch Händel eine Wassermusik
deten, fanden Leid und Lei-                                                       um das Unterrichten einer      geschrieben hat. Begierde, Begehren, Triebe;
                                       Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theo-
denschaft auf eindrückliche            rie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig     Sache, was Liessmann als       Rachmaninoff, Wagner, Mahler und Tschaikowsky
Weise wieder zusammen.                 1774: Bey M. G. Weidmanns Erben und        „Fächerdämmerung“ be-          werden wir schon allein deshalb aussperren
Dass die Kammerfassung der             Reich, S. 692f.                            zeichnet und mit dem hier      müssen, weil sie sich gegen solch strukturanaly-
Mahlersinfonie vom Schön-                                                         doppelbödig zu verstehen-      tische Zugänge und plakative Zuschreibungen
berg-Schüler Erwin Stein für                                                      den Begriff „Disziplinlosig-   stellen, ihre Partituren in kein Schulbuch passen
die Wohnzimmerkonzerte seines Lehrers, für den              keit“ (ebd., S. 61) belegt.                          und uns allein deshalb bereits Leiden schaffen.
Verein für musikalische Privataufführungen er-              Wo bleiben hier Begierde, Begehren, Triebe, das      Lernen ist nicht a priori auf vernunftsmäßiges Er-
stellt wurde, um die Musik in eine Quarantäne               sprichwörtliche Entzünden der Flamme, all das,       kennen bezogen, das sollte gerade für den Mu-
des nichtöffentlichen Raums zu verbannen, sie               was den ausdrucksstarken Künsten zu eigen ist,       sikunterricht gelten.
damit allein den zahlenden Vereinsmitgliedern               was mit dem englischen und französischen Be-
vorzuhalten und vor missliebigen Pressevertre-              griff passion und der deutschen Leidenschaft
tern wegzusperren, scheint hier fast eine Ironie            verbunden ist? Solches hat sich hinter den
des Schicksals zu sein.                                     „Kompetenzimperativen“ unserer „Optimie-
                                                            rungsgesellschaft“ (Straub 2019) unterzuordnen
                                                            oder darf sich in den Musik-, Kunst- und Thea-
SCHULE OHNE LEIDENSCHAFT?                                   terangeboten der AG-Oasen verstecken: Wie kann
                                                            man sich in solch einem Schul-Gehäuse von Mu-
Leidenschaften sind unkontrollierbare Kräfte, die           sik anstecken lassen und als emotionale Praxis
Menschen dazu bringen, anderes zu vergessen,                (er-)leben? Psychotherapeuten sprechen vom
Grenzen zu überschreiten, das wird auch in un-              Pinocchio-Syndrom, wenn es ihren hölzernen
serer Sprache deutlich: Man ist von Sinnen, ver-            und steifen Patient*innen nicht gelingt, Emotio-
liert die Kontrolle, ist außer sich. Solche sprachli-       nalität zu zeigen und ihr Handeln mit Gefühlen
chen Wendungen stellen sich gegen jedes Kom-                und Fantasien zu verbinden.
petenzraster. Allenfalls kann es in der Schule
darum gehen, den Fluss der Leidenschaften zu
kanalisieren oder gar zu dämmen, damit nie-                 DAS PINOCCHIO-SYNDROM DER
mand in einen Sog gerät oder gar hingerissen                MUSIKPÄDAGOGIK
wird. Auch die Äußerungen von oder über Lei-
                                                                                                                                                                           © Pixabay / Adrian Michael

denschaften gelten als unschicklich verpönt und             Alexithymie, „in Erinnerung an den Hampel-
sind dem Gebot einer vernunftgesteuerten                    mann mit einer Seele aus Holz“ (Kutter 1994, S.
Selbstkontrolle unterworfen. Der zukünftige Ho-             13) auch als Pinocchio-Syndrom oder Gefühls-
mo oeconomicus braucht auch keine Passion, um               blindheit bezeichnet, ist eine Persönlichkeits-
seinen Nutzen zu optimieren. Er stellt sich auch            störung, bei der die Menschen keinen Zugang zu
nicht die Frage nach dem Sinn seines Lebens oder            ihrer eigenen Gefühlswelt aufbauen können:
gar nach einem Transzendenzbedürfnis, Gedan-                „Keine Worte für Gefühle“, so lässt sich diese       Psychotherapeuten sprechen vom Pinocchio-Syndrom,
ken, die dem Menschen oft innewohnen. In der                Wortschöpfung mit griechischem Leumund über-         wenn es ihren hölzernen und steifen Patienten nicht ge-
                                                                                                                 lingt, Emotionalität zu zeigen und ihr Handeln mit Ge-
Schule geht es um Professionalisierung, Output-             setzen. Das berührt zunächst einmal das              fühlen und Fantasien zu verbinden.

                                                                                                                                                    musik & bildung 4.20
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16 THEMA: MUSIK & LEID

                                                                                                                                                           nicht blind für Leid und Leidenschaft, sie sind
                                                                                                                                                           tagtäglich mit Musik umgeben und abseits ihrer
                                                                                                                                                           formal verordneten Bildungszufuhren schaffen
                                                                                                                                                           sie es auch, affektive Zustände bei sich und an-
                                                                                                                                                           deren wahrzunehmen, sie mit affektspezifischen
                                                                                                                                                           Mikrosignalen emotional auszudrücken und zur
                                                                                                                                                           adaptiven Verhaltensmodifikation zu nutzen. So
                                                                                                                                                           würde ein Psychoanalytiker es ausdrücken, wenn
                                                                                                                                                           er sich damit beschäftigt, wie Musik uns im Alltag
                                                                                                                                                           begleitet und im Innern bewegt. Für den schuli-
                                                                                                                                                           schen Beibringe-Unterricht ist es eher wichtig,
                                                                                                                                                           dass musikalische Kompetenzen schrittweise
                                                                                                                                                           (oder im Gleichschritt) aufgebaut werden und wir

                                                                                                                          © Wikipedia / Raimond Spekking
                                                                                                                                                           uns im Bezeichnen, Benennen, Etikettieren
                                                                                                                                                           üben; schließlich lassen sich nicht nur Vögel nach
                                                                                                                                                           der Papageienmethode abrichten. Dabei kann
                                                                                                                                                           Leidenschaft nur erweckt werden, wenn man
                                                                                                                                                           sich jene Fertigkeiten angeeignet hat, die es doch
                                                                                                                                                           im Unterricht erst zu erwerben gilt. In solch ei-
                                                                                                                                                           nem Musikunterricht scheint das Leid fest einge-
                                                                                                                                                           schrieben: „Ist das, was als Ausweg bleibt, das
    Mit Künstlermähne und leidenschaftlichen Gesang verteidigt das Listzäffchen sein Revier: Flötentöne werden ausge-
    stoßen, die von singvogelartigen Trillern unterbrochen werden und bei höchster Erregung in ein lautes Schmettern                                       Versprechen eines harten und entbehrungsrei-
    übergehen. Den Namen hat die vom Aussterben bedrohte Tierart jedoch nicht aufgrund einer von Hanslick sicher ausge-
    machten Nähe zur Neudeutschen Schule, sondern einzig wegen der schulterlangen Haarpracht bekommen.                                                     chen Marsches durch eine musikpädagogische
                                                                                                                                                           Wüste Gobi, eines Marsches unter brennender
                                                                                                                                                           Sonne, bei dem wir rechts und links unseres
                                                               Wie die Erhaltung von Leidenschaftlichkeit als ei-                                          Weges den Skeletten jener begegnen werden, die
      „Ist es nun nicht ganz in der Ordnung, daß               nen zu bejahenden Wert in der Lebenspraxis ge-                                              von musikalischer Auszehrung dahingerafft wur-
      solchen Kunstvergnüglingen, und was sich                 lingen kann, zeigen die Erinnerungen des Pianis-                                            den?“ (Röbke 2009, S. 15).
      ihnen an schwächlichen Künstlern, die ei-                ten Lang Lang. In formalisierten Lernprozessen
      gentlich keine Künstler sind, anreihen                   der Schule haben wir uns solche Zugänge gänz-
      mag, die süße Rossinische Limonade, die                  lich abgewöhnt, vielleicht kann man sie aber                                                MUSIK UND EMOTION:
      sie ohne weiteren Übelstand hinunter-                    auch im Musikunterricht wieder neu entdecken:                                               MIT-LEIDEN-SCHAFT
      schlürfen, besser zusagt, als der feurige,               „Natürlich hatte ich weniger Freizeit als andere
      starke, kräftige Wein großer dramatischer                Kinder meines Alters, aber ich ging wirklich schon                                          Die Begriffe „Leid“ und „Leidenschaft“ sind in
      Komponisten, der ihnen Kopfschmerzen                     als kleiner Junge im Klavierspiel auf. Manchmal,                                            unserem Sprachgebrauch relativ klar definiert.
      verursacht ob ihrer Schwächlichkeit?“                    bei extrem langsamen Stücken, fühlte ich mich,                                              „Leid“ trifft in ein Bedeutungsfeld von Schmerz,
      E.T.A. Hoffmann: Schriften zur Musik. München 1977:      als spielte ich Gameboy. Verlor ich mich in Mo-                                             Trauer und Trübsal, während die Leidenschaft
      Winkler Verlag, S. 366.                                  zart, hüpfte ich innerlich, als spielte ich Gummi-                                          positiv konnotiert, mit Begehren und Begeiste-
                                                               Twist, und bei Tschaikowsky entdeckte ich eine                                              rung und oft dabei in einen erotischen Zusam-
      „Und dies ist die Definition der Leiden-                 Leidenschaft, die nicht weit entfernt war vom                                               menhang gestellt wird, die sich in unglücklichen
      schaft. Leidenschaft – oder die Gymnastik                Angriff auf das gegnerische Tor“ (Lang Lang                                                 Konstellationen, wie sie im Leben aber gerade in
      des Hässlichen auf dem Seile der Enharmo-                2004).                                                                                      der Geschichte der Oper häufig vorkommen, auch
      nik. – Wagen wir es, meine Freunde, häss-                Wie lange müssen wir im Musikunterricht noch                                                verdunkeln kann: „Die Liebe ist eine Leiden-
      lich zu sein! Wagner hat es gewagt! Wälzen               an dem hanslickschen Diktum festhalten, „daß in                                             schaft, die Leiden schafft“, oder auch: „Die Eifer-
      wir uns unverzagt den Schlamm der widri-                 ästhetischen Untersuchungen vorerst das schöne                                              sucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht,
      gen Harmonien vor uns her! Schonen wir                   Objekt und nicht das empfindende Subjekt zu                                                 was Leiden schafft“ (Plessner 1983, S. 68). Mit
      unsere Hände nicht! Erst damit werden wir                erforschen“ (Hanslick 1989, S. 3) sei? Gelingt es in                                        diesem scharfen Diskurs über die Verdunklungs-
      natürlich …“                                             solch eingeübten Settings, die Schülerinnen und                                             gefahren der Leidenschaft hat Helmuth Plessner
                                                               Schüler emotional zu berühren? „Aus der Seele                                               en passant auch die 400-jährige Operngeschichte
      Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. In: KSA, hg. v.    muß man spielen, und nicht wie ein abgerichte-                                              hinlänglich beschrieben und analysiert, wenn es
      Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 1. München
                                                               ter Vogel“ (Bach 1753, 1. Teil, S. 119), schreibt Carl                                      nicht den Gesamtkunstwerker Richard Wagner
      1999: Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 25.
                                                               Philipp Emanuel Bach im Kapitel Vom Vortrage in                                             gäbe, wo immer noch eine Extraportion Mord
                                                               seiner Klavierschule. Unsere Schüler*innen sind                                             und Rache hinzu kommt: „So laß uns den Rest

   musik & bildung 4.20
Zum Leiden bin ich auserkoren - THEMA: MUSIK & LEID - Musik & Bildung
ZUM LEIDEN BIN ICH AUSERKOREN 17

                                                         Doch nennt man jene edle L lieber Enthusiasmus,
  „Einen ziemlich großen Teil der vorhande-              Begeisterung […] und braucht infolge dessen das
  nen Kultur verdanken wir, das weiß jeder,              Wort L meistens von denjenigen L, in welchen
  Passionierten aller Couleur und von durch-             ein zum Herrschen sittlich nicht berechtigter Trieb
  aus unterschiedlicher charakterlicher Be-              sich der dominierenden Stellung bemächtigt hat,
  schaffenheit. Manche Medici, Fugger oder               und in diesem Sinne ist die L immer etwas
  königliche Ludwige mögen für demokrati-                Krankhaftes, Innormales, welches von der sittli-
  sche blicke keine angenehmen Zeitgenos-                chen Charakterbildung und der überlegenen Ver-
  sen gewesen sein, wir verdanken aber ih-               nunft bekämpft werden muß“ (Brockhaus 1885,
  rer Passion für das Schöne, das Monumen-               S. 920f.). Auch Eduard Hanslick war wohl ein

                                                                                                                                                                           © Wikipedia / Karl Clemens della Croce
  tale oder Anmutige – oder ihrer – das geht             Brockhaus-Leser, der den „Wortführern der Zu-
  damit einher – Suche nach Unsterblichkeit              kunftsmusik“ Einhalt zu gebieten suchte, weil sie
  die Farben unserer Welt.“                              dem Hörer Musik nur als „gestaltentreibendes
  Eva Demski: Weg voller Steine und Wunder. In: Inter-
                                                         Mittel eingeben“, was er an Wagners Tristan mit
  nationale Bachgesellschaft (Hg.), Passion. Mönchen-    der „zum Prinzip erhobene[n] Formlosigkeit, den
  gladbach 2000: B. Kühlen Verlag, S. 55.                gesungenen und gegeigten Opiumrausch, für
                                                         dessen Kultus ja in Bayreuth ein eigener Tempel
                                                         eröffnet worden ist“ (Hanslick 1989, S. VI u. VII),
unseres Lebens austrinken!“ (Mann 1990, S.               auch zu exemplifizieren wusste.
                                                                                                                Constanze Mozart auf einem Foto aus dem Jahr 1840, ent-
399f.). Mit diesem Novalis entlehnten Zitat be-                                                                 standen in Altötting
schreibt Thomas Mann die „Nachtgeweihten“
(ebd., S. 399) Tristan und Isolde, ihr Gefüge aus        DIE TRAUERNDE WITWE UND IHRE                           Römische Pietà bietet auch diese Darstellung der
Leid und Leidenschaft ließe sich wohl nicht tref-        VORBILDER                                              Schmerzensmutter einen Referenzpunkt in unse-
fender zeichnen. Es bleibt allerdings noch zu er-                                                               rem Bildgedächtnis: Die Mater dolorosa kennt
gänzen, dass gerade auch im 19. Jahrhundert je-          Während den leidenden Heroen des 19. Jahr-             keinen anderen männlichen Körper als den ihres
der künstlerische Schaffensprozess mit Leiden            hunderts die ganze „Schöpfungslast“ (Mann              toten Sohnes“ (Kristeva 1989, S. 226).
oder (mit) Mit-Leiden-Schaft verbunden ist: Lei-         1990, S. 387) zufiel, war es Aufgabe ihrer trauern-    Den klingenden Bezugspunkt in unserem musi-
den und Größe der Meister heißt der Band, in             den Gattinnen, ihre Männer in aller Öffentlichkeit     kalischen Besitz bildet hier sicher das Stabat ma-
dem Thomas Manns Essays über die Künste,                 zu beweinen. Witwen, die ihr Leben der Trauer          ter von Giovanni Battista Pergolesi (1736). Die un-
Künstler und deren Leiden in und an der Welt             widmen, sind in unserem kulturellen Gedächtnis         mittelbar ergreifenden Klänge zu Beginn wurden
versammelt sind. Als solch einen echten Künstler         präsent und drücken sich in genau terminierten         zum musikalischen Code zur Darstellung der
zeichnet Thomas Mann bei all seiner Ambivalenz           Trauerphasen, dem vorgeschriebenen Kleidungs-          Trauer schlechthin. Dabei liegen auch hier
auch Richard Wagner aus, seine „gesunde Art,             stil und einem eigens einzurichtenden Trauer-          schmerzvolles Leiden und freudiges Mitleiden
krank zu sein“ (ebd., S. 403) und zitiert Wagners        zimmer aus.                                            immer dicht beieinander, in jeder Träne steckt
Brief an Franz Liszt, in dem der Genius be-              Totensorge und Trauerarbeit gehört seit jeher in       eine Ambivalenz. „Dabei hat der Marienschmerz
schreibt, wie er darum ringt, dass seinem „Geist         den Zuständigkeitsbereich der Frau, Männern            nichts von einem tragischen Überschwang an
das blutig schwere Werk der Bildung einer un-            sprach man in ähnlichen Situationen eine kreati-       sich: Freude und sogar ein gewisser Triumph fol-
vorhandenen Welt gelingen“ (ebd., S. 412) möge.          vere Ausgestaltung solcher Regularien zu, sonst        gen auf die Tränen, als ob die Überzeugung, daß
Die „Schöpfungslast“ (ebd. S. 387) ist „leidend          wäre das Notenbüchlein für
und groß, wie das Jahrhundert.“ Sie setzt sich           Anna Magdalena Bach
zusammen „aus dunkel drängendem und                      wohl nie komponiert wor-
quälendem Macht- und Genußwillen und Drang               den.
nach sittlicher Läuterung und Erlösung, aus Lei-         In der Neuen Wache unter
denschaft und Ruhesehnsucht“ (ebd., S. 398). Es          den Berliner Linden steht
gilt also, Größe durch Leiden zu gewinnen. Wie           eine Vergrößerung der Pietà
passt solch ein Operngeschehen in die damals             von Käthe Kollwitz. Dieses
propagierte Mittellage des Normalen, wie sie im          zentrale Objekt in der Ge-
                                                                                                                                                                          © Wikipedia / Drrcs15

Artikel „Leidenschaft“ aus der Brockhaus Real-           denkstätte für die Opfer von
Encyclopädie für die gebildeten Stände von 1885          Krieg und Gewaltherrschaft
abzulesen ist: „So hängt der sittliche Wert der          zeigt die Trauernde in tra-
einzelnen L[eidenschaft] von demjenigen des die          ditioneller Bildersprache, in
L begründeten Triebes oder Begehrens ab; es gibt         Anlehnung an die Gottes-
eine edle L für das Sittliche, Schöne, Wahre. […]        mutter. Wie Michelangelos Eine Nachbildung der Pietà von Käthe Kollwitz an der Neuen Wache in Berlin

                                                                                                                                                  musik & bildung 4.20
Zum Leiden bin ich auserkoren - THEMA: MUSIK & LEID - Musik & Bildung
18 THEMA: MUSIK & LEID

                                                            der Tod nicht existiert, eine unvernünftige, aber    um mehr leisten zu können. […] Ja, es wird wie-
      Genussreiches Fest für gefühl-                        unerschütterliche weibliche Gewißheit wäre, auf      der das SPIEL geben“ (Han 2018, S. 9).
                                                            die sich das Prinzip der Auferstehung stützen
      volle Herzen
                                                            mußte“ (ebd.).
      Constanze Mozart als trauernde Witwe, in                                                                   FRANZ LISZT: DER NEUE RATTEN-
      weiblicher Codierung der Heiligen Maria                                                                    FÄNGER
      als Mater Dolorosa angelehnt:                         VOM WERTHER- ZUM PAPAGENO-
                                                            EFFEKT                                               Take That, die Backstreet Boys, nun die süd-
      Die Musik ging sehr gut, obgleich es kriti-                                                                koreanische Gruppe BTS, sie alle bringen vor al-
      sche und meist concertierende Stücke wa-              Ein blauer Frack, gelbe Weste, gelbe Kniehosen,      lem Mädchenherzen zum Schmelzen: „Auch die
      ren: denn es exequirte das Prager Orche-              dazu ein runder Filzhut. So kleidete sich die gut-   Musik der Neuern scheint es vorzüglich nur auf
      ster und sie sind von Mozart! Man kann                bürgerliche Werther-Jugend, um dem Protago-          die Sinnlichkeit anzulegen. […] Der offene Mund
      sich vorstellen, wenn man Prags Kunstge-              nisten aus dem Werther nachzueifern. Ob solch        ist ganz Begierde, ein wollüstiges Zittern ergreift
      fühl und Liebe für Mozart´‘sche Musik                 eine als Werther-Fieber bezeichnete Fan-             den ganzen Körper, der Athem ist schnell und
      kennt, wie voll der Saal gewesen ist. Mo-             gemeinschaft auch einen Werther-Effekt, also         schwach, kurz alle Symptome der Berauschung
      zarts Witwe und Sohn zerfloßen in Tränen              das Auftreten einer nachahmenden Suizidwelle,        stellen sich ein: zum deutlichen Beweise, daß die
      der Erinnerung an ihren Verlust und des               zur Folge hatte, bleibt bis heute wissenschaftlich   Sinne schwelgen, der Geist aber oder das Princip
      Dankes gegen eine edle Nation. So wurde               umstritten. Was bedeutet die mediale Bericht-        der Freyheit im Menschen der Gewalt des sinnli-
      dieser Abend auf eine schöne Art der Hul-             erstattung für psychisch labile Menschen? Dem        chen Eindrucks zum Raube wird“ (Schiller 1962,
      digung des Verdienstes und Genies ge-                 Werther-Effekt lässt sich durch den Papageno-        S. 200). So betrachtet Friedrich Schiller in seinem
      weiht; es war ein genußreiches Fest für               Effekt (Stangl 2020) begegnen, benannt nach          Aufsatz Über das Pathetische die Musik seiner
      gefühlvolle Herzen – und ein kleiner Zoll             dem berühmten Vogelfänger, der seine Suizid-         Zeit. Wie viele haben bei der Trennung von Take
      für das Entzücken, das uns oft Mozarts                gedanken mit Hilfe eines konstruktiven Krisen-       That Tränen vergossen, wünschten sich krei-
      himmlische Töne entlockten!“                          managements überwinden konnte, damit ein             schend in die erste Reihe eines Boyzone-Kon-
                                                            Singspiel nicht zur Tragödie wird.                   zerts? Längst gibt es auch hier eine entsprechen-
      Prager Neue Zeitung, 9.2.1794, zit. nach Otto Erich   Goethes leidender junger Werther gibt sich           de Parodie, haben doch die Boygroup Boys sämt-
      Deutsch: Mozart. Die Dokumente seines Lebens. Kas-    schwärmerisch einer hoffnungslosen Liebe hin,        liche Klischees in sich vereint und mit ihrer Song-
      sel 1961: Bärenreiter, S. 411.
                                                            die ihn an sich und der Welt verzweifeln lässt       Satire das Netz erobert: „Einer von uns singt, die
                                                            und ihn letztlich in den Selbstmord treibt. Unge-    anderen sehen nur gut aus und bilden den
                                                            heuer berührend, so meinten die Werther-Fans,        Backgroundchor“, - „Supertrauriger Regen an ei-
      Nicolai auf Werthers Grabe                            unverantwortlich schimpften seine Kritiker,          ner Fensterscheibe symbolisiert seine Tränen.“
      Freuden des jungen Werthers                           schließlich verführe der Autor seine jungen Leser    Hier fallen keine „Gefror'ne Tropfen“ von den
                                                            und untergrabe das Wertesystem. Solch ein Wert-      Wangen eines heimatlos-vereinsamten Wande-
       Ein junger Mensch, ich weiß nicht wie,               her-Fieber, also das Leidenschaftsleiden eines       rers ab, eine massentaugliche Schubertiade, in
       Starb einst an der Hypochondrie                      Lesers, war gegen Goethes Intention, fordert die-    der die Herzen reihenweise gebrochen werden
       Und ward denn auch begraben.                         ser doch von der Tragödie einen Ausgleich der        und bei der es eher um erste Frühlingsgefühle
       Da kam ein schöner Geist herbei,                     Leidenschaften und auch Schiller sah die Aufgabe     denn um eine Winterreise geht, klingt heute
       Der hatte seinen Stuhlgang frei,                     der Volksdichter darin, das Leidenschaftsbedürf-     eben anders: „Die Ausnahmesituation des Pop-
       Wie‘s denn so Leute haben.                           nis nicht nur zu bedienen, sondern deren Reini-      Konzertes und der Schutz der Fan-Communitas
       Der setzt notdürftig sich auf‘s Grab                 gung zu bewirken. So ist Goethes Gedicht als iro-    erlauben den Mädchen die Artikulation eines lei-
       Und legte da sein Häuflein ab,                       nische und eben „nachtragende“ Antwort auf           denschaftlichen Begehrens für die Stars und so-
       Beschaute freundlich seinen Dreck,                   Nicolais Werther-Persiflage zu verstehen.            mit eine kollektive Verhandlung der gesellschaft-
       Ging wohleratmet wieder weg                          Bis heute sind Fan-Kutten wie die der Wertheria-     lichen Anforderung, sich während der Jugend-
       Und sprach zu sich bedächtiglich:                    ner Ausdruck verschiedenster Leidenschaften,         phase in die heterosexuelle Beziehungspraxis
       Der gute Mensch, wie hat er sich verdor-             ganz gleich, ob hier der Haarschnitt von Justin      einzuüben“ (Fritzsche 2011, S. 159). Boygroups
       ben!                                                 Bieber zum nachahmenswerten Kult erklärt wird        bieten ihren Anhängerinnen wohl mehr als
       Hätt er geschissen so wie ich,                       oder sich das Dortmunder Bürgertum in schwarz-       „bloß Ausleerungen des Thränensacks“ (Schiller
       Er wäre nicht gestorben!                             gelber Biene-Maja-Farbe kleidet. Sind wir viel-      1962, S. 199), hier erleben sie in der Fangemeinde
                                                            leicht doch keine Gesellschaft ohne Leidenschaf-     das „Fan-Sein als rational gerahmte erotische
       In: Johann Wolfgang v. Goethe: Werke. Hamburger      ten? „Die Geschichte des Westens ist eine Passi-     Leidenschaft“ (Fritzsche 2011, S. 196).
       Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 1. München: Beck-Verlag,
                                                            onsgeschichte. Leistung heißt die neue Passions-     Handelt es sich hier um affektive Störungen und
       S. 496–497.
                                                            formel. […] Die Leistungsgesellschaft bleibt eine    damit um ein Krankheitsbild, wie es das Wortbil-
                                                            Passionsgesellschaft. Selbst Spieler dopen sich,     dungselement -mania bei solchen über dem als

   musik & bildung 4.20
Zum Leiden bin ich auserkoren - THEMA: MUSIK & LEID - Musik & Bildung
ZUM LEIDEN BIN ICH AUSERKOREN 19

Normalniveau liegenden Antrieben und Aktivitä-        erreichbaren Rest, die unauslotbare Fülle der           bruch von Leidenschaft förmlich hervor, – doch
ten nahelegt? Schließlich sprechen wir von einer      Musik, die sich den Worten und dem leiden-              unerklärbar bleibt, wie aus alldem eine solch
Spicemania, einer Abbamania, der Beatlemania.         schaftlich nach Worten Suchenden entzieht:              klingende Welt geschaffen werden konnte. Auch
Vielleicht sollten wir hier noch einmal beim fein-    „Was muß man wissen, um Bach zu verstehen?              zu solchen Fragen gesellt sich das „X“, als eine
sinnigen Gesellschaftskritiker Heinrich Heine         Nichts. Ein ganzes Leben war ich als Wissen-            „letztlich unaussprechbare Welt der Musik mit
anklopfen, auf den diese Wortschöpfung zurück-        schaftler immer wieder bemüht, vom Wissen,              der Begnadung zu ihr“ (ebd., S. 16).
geht. Als Lisztomanie charakterisiert er die eu-      vom Verstande her an Bach heranzukommen                 Gegen Bachs Gegenwärtigkeit stellt sich der „fer-
phorischen Huldigungen der nicht nur ungari-          und andere Menschen daran teilhaben zu lassen           ne Bach“ (Hildesheimer 1985), wie ihn Wolfgang
schen Gräfinnen, die den jungen Pianisten zwar        […] Je älter ich wurde, desto größer wurde die-         Hildesheimer beschreibt: Es gibt „kein Zeugnis
nicht mit Stofftieren bewarfen, sich aber ebenso      ser Rest und desto klarer wurde mir, daß in ihm,        seiner seelischen oder körperlichen Befindlich-
leidenschaftlich um seine Schnupftücher schlu-        diesem nicht Erreichbaren, die Hauptsache gele-         keit, keine wörtliche Äußerung von ihm über
gen, wenn sie ihren wiederauferstandenen              gen ist, das Wichtigste und Wesentliche. Diesen         sich und nichts, das seine innere Beziehung zu
„Rattenfänger zu Hameln“ (Heine 1972, S. 565)         Rest nenne ich: das X“ (Eggebrecht 2000, S. 15).        einem Mitmenschen verrät“ (ebd., S. 17f.). Selbst
erleben durften. Heine fragte mit der ihm gebo-       Das X umstellt nicht nur die „regulierte Kirchen-       sein berühmter Brief an seinen Jugendfreund
tenen Ironie auch nach den Ursachen für solch         musik zu Gottes Ehre, sondern auch als Symbol           Erdmann trägt den Geist „offizieller Korrespon-
eine pathologische Wirkung: „Die Lösung der           des Kreuzes das große Geheimnis des Glaubens            denz“ (ebd., S. 18.). Dieser ferne Bach malt die
Frage gehört vielleicht eher in die Pathologie als    selbst. In Bachs Partituren symbolisiert das grie-      Todespforte in schillernden Farben aus: „Die
in die Ästhetik. Ein Arzt, dessen Spezialität weib-   chische „X“ (Chi), erster Buchstabe des Namens          ganze Welt ist nur ein Hospital“ (BMV 25, Nr. 2).
liche Krankheiten sind und den ich über den           Χριστός (Christus), das Kreuz, etwa in der              Erklärbar ist dies als barocke Todessehnsucht, als
Zauber befragte, den unser Liszt auf sein Publi-      Kreuzstabkantate (BWV 56) in barocker Verschlüs-        Verlangen nach Erlösung, in den Vorstellungen,
kum ausübt, lächelte äußerst sonderbar und            selung: Als Akzidens vor der Note „cis“, im Auto-       in denen die rechte Himmelsmusik zur Sprache
sprach dabei allerlei von Magnetismus, Galvanis-      graph erscheint im Text ein X-Stab. Das Kreuz als       kommt, als könne der Kapellmeister seinen ei-
mus, Elektrizität, von der Kontagion in einem         Mittelpunkt des Glaubens bildet hier die Mitte          gentlichen Aufgaben erst im Jenseits nachkom-
schwülen, mit unzähligen Wachskerzen und ei-          des Tonraums von g-Moll und das „cis“ stellt sich       men. All dies lässt sich mit Hans Heinrich Egge-
nigen hundert parfümierten und schwitzenden           diesem tonalen Zentrum in der Dissonanz des             brecht noch einmal nachvollziehen mit Gedan-
Menschen angefüllten Saale, von Histronalepi-         Tritonus. Zugänge zu Bach bieten sich in seiner         ken an Bachs große Passionsmusiken: „Die Passi-
lepsis, von dem Phänomen des Kitzelns, von            Biografie, den Geleisen äußerer Umstände, in            on Christi, eine Kreuzigung, ist die Mitte des
musikalischen Kanthariden und anderen skabro-         denen das Leid allein in den unzähligen Kinder-         Evangeliums und die Mitte des christgläubigen
sen Dingen, welche, glaub ich, Bezug haben auf        särgen fest eingeschrieben war. Aus dem Duktus          Menschen. Die Historia selbst ist grauenvoll. Ein
die Mysterien der Bona Dea“ (Heine 1972, S.           seiner schwingenden Handschrift quillt der Aus-         Mensch wird verraten und gefangen, verspottet,
568f.).
Hier heißt es Augen auf bei der Arztwahl: „Lei-
denschaft ist etwas Krankhaftes, welches von der
überlegenen Vernunft bekämpft werden muß“,
verordnet der Brockhaus seinen Kassenpatienten.
„Wir brauchen das Anormale, wir geben dem Le-
ben einen ungeheuren choc durch diese großen
Krankheiten“ (Nietzsche 1999, S. 341.), empfiehlt
Friedrich Nietzsche, der mit 35 Jahren seine Pro-
fessur in Basel niederlegte, um sich ganz seinen
eigenen Krankheiten (Migräne und Magenleiden)
zu widmen.

ZUM ABSCHLUSS: BACH
                                                                                                                                                                    Theodor Hosemann, 1842

„X“ nennt Hans Heinrich Eggebrecht seinen letz-
ten abgeschlossenen Text, bevor er am 30. Sep-
tember 1999 im Alter von 80 Jahren verstarb. Das
„X“ bezeichnet für ihn als Wissenschaftler das
Unbekannte, das sich anders als in einer mathe-
matischen Gleichung nicht auflösen lässt. Das
„X“ bezeichnet jenen geheimnisvollen und un-            Der Justin Bieber des 19. Jahrhunderts: Franz Liszt

                                                                                                                                             musik & bildung 4.20
20 THEMA: MUSIK & LEID

                                                                    v. Wolfgang Horn. Kassel: Bärenreiter Verlag.                     . Mann, Thomas (1990): Leiden und Größe Richard Wagners.
   geschlagen und gekreuzigt. Es geschieht nach
                                                                    . Brockhaus (131885): Art. Leidenschaft. In: Brockhaus Con-       In: ders., Gesammelte Werke, Bd. 13. Frankfurt a. Main: Fi-
   Gottes Willen, und er wird auferstehen. Das än-
                                                                    versations-Lexikon, 13. Aufl. (1882-1887), Bd. 10, S. 920-921.    scher Taschenbuch Verlag, S. 363–426.
   dert aber nichts an der Grausamkeit, dem Elend                   . Eggebrecht, Hans Heinrich (2000): X. In: Internationale         . Nietzsche, Friedrich (1999): Nachgelassene Fragmente
   und Schmerz des Weges zur Kreuzigung und ihres                   Bachgesellschaft (Hg.), Passion. Mönchengladbach:                 1887–1889. In: ders., Kritische Gesamtausgabe, Bd. 13, hg. v.
   Erleidens. Mein Gott, warum hast du mich ver-                    B. Kühlen Verlag, S. 15–18.                                       Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München: Deutscher Ta-
                                                                    . Fritzsche, Bettina (22011): Pop-Fans. Studie einer Mädchen-     schenbuch Verlag.
   lassen. Die Musik aber, mit der Bach die Passion
                                                                    kultur. Wiesbaden: VS Verlag.                                     . Oberschmidt, Jürgen (2019): „Keinerlei Mystik; Mathematik
   berichtet, ist nicht grausam, auch dort nicht, wo                . Gerber, Christian (1732): Historie der Kirchen-Ceremonien in    genügt mir.“ Über Armut und Fülle des Redens über Musik.
   sie die Grausamkeit schildert mit ihren Mitteln                  Sachsen. Dresden u. Leipzig: Raphael Christian Saueressig.        In: Johannes Odendahl (Hg.), Musik und literarisches Ler-
   und wo sie sich mit all ihrer Art des Tönens ein-                . Han, Byung-Chul (2018): Gute Unterhaltung. Eine Dekon-          nen. Innsbruck: innsbruck university press, S. 89–104.
   läßt auf das Elend und den Schmerz“ (ebd., S.                    struktion der abendländischen Passionsgeschichte. Berlin:         . Plessner, Helmuth (1983): Über den Begriff der Leidenschaft
   17). In der Welt der Musik öffnet sich hinter al-                Matthes & Seitz.                                                  [1950]. In: ders., Conditio humana. Gesammelte Schriften,
                                                                    . Hanslick, Eduard (211989): Vom Musikalisch=Schönen. Ein         Bd. 8. Frankfurt a. Main: Suhrkamp, S. 66–76.
                                                                    Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst [1854/1891].       . Röbke, Peter (2009): Lösung aller Probleme? Die „Ent-
      „Ihr Charakter ist Passion. Die Musik leidet                  Wiesbaden: Breitkopf & Härtel.                                    deckung“ des informellen Lernens in der Instrumental-
      nicht im Menschen, hat nicht teil an sei-                     . Heine, Heinrich (21972): Musikalische Saison von 1844. In:      pädagogik. In: Vom wilden Lernen. Musizieren Lernen –
      nem Handeln und seiner Regung selber: sie                     ders., Werke und Briefe in zehn Bänden, Bd. 6. Berlin u.          auch außerhalb von Schule und Unterricht, hg. von Natalia
                                                                    Weimar: Aufbau-Verlag, S. 563–584.                                Ardila-Mantilla u. Peter Röbke. Mainz: Schott Verlag, S.
      leidet über ihm […]. Die Musik legt den
                                                                    . Hildesheimer, Wolfgang (1985): Der ferne Bach. Frankfurt a.     11–29.
      Menschen […] das Leid leibhaft auf die                                                                                          . Schalz, Nicolas (1986): Die Matthäus-Passion oder zu Bachs
                                                                    Main: Insel Verlag.
      Schulter.“                                                    . Klinger, Nadja (2001): Coney Island: Promenade der Leiden-      widerständiger Aktualität. In: Karl-Heinz Metzger u. Rainer
      Theodor W. Adorno: Die Oper Wozzeck. In: ders. Ge-            schaften. Der Tagesspiegel vom 27.08.2001 [https://www.ta-        Riehn (Hg.), Johann Sebastian Bach, die Passionen [= Musik
      sammelte Schriften Bd. 18, S. 479.                            gesspiegel.de/zeitung/coney-island-promenade-der-lei-             Konzepte 50/51]. München: edition text & kritik, S. 86–102.
                                                                    denschaften/251360.html].                                         . Schiller, Friedrich (1962): Über das Pathetische [1793]. In:
                                                                    . Kristeva, Julia (1989): Geschichten von der Liebe. Frankfurt    ders., Philosophische Schriften, Erster Teil. Weimar: Verlag
   lem, was begrifflich erreichbar ist, eine neue                   a. Main: Suhrkamp Verlag.                                         Hermann Böhlaus Nachfolger.
                                                                    . Kutter, Peter (1994): Liebe, Haß, Neid, Eifersucht. Eine Psy-   . Stangl, Werner (2020): Art. Papageno-Effekt. In: Lexikon für
   Welt, die in der Geschichte der Rezeption immer
                                                                    choanalyse der Leidenschaften. Göttingen: Vandenhoeck &           Psychologie und Pädagogik.
   wieder neu und in immer anderen Farben und                       Ruprecht.                                                         https://lexikon.stangl.eu/14288/papageno-effekt/
   Schattierungen verstanden wurde. Wie lässt sich                  . Lang Lang (2005): Ich habe einen Traum [Lang Lang im Ge-        (10.05.2020)
   die Musik im Modus des ästhetischen auf unsere                   spräch mit Andrea Thilo]. In: Die Zeit 3/2005                     . Straub, Jürgen (2019): Das optimierte Selbst. Kompetenz-

   Wirklichkeit ein? Die zeitgenössischen Hörer fühl-               [https://www.zeit.de/2005/03/Traum_2fLang-Lang].                  imperative und Steigerungstechnologien in der Optimie-
                                                                    . Liessmann, Konrad Paul (32017): Bildung als Provokation.        rungsgesellschaft. Gießen: Psychosozial-Verlag.
   ten sich von den Klängen überflutet: „Denn es
                                                                    Wien: Paul Zsolnay Verlag.
   klinget offt so gar weltlich und lustig, daß sich
   solche Music besser auf einem Tantz-Boden oder
   in eine Opera schickte, als zum Gottesdienste. Am
   allerwenigsten will sich die Music nach vieler
   frommer Hertzen Meynung zur Passion, wenn
   solche gesungen werden, schicken“ (Gerber 1732,
   S. 283). Klingen uns heute die Leiden auch zu
   theatralisch und opernhaftig? „Höchst vergnügt
   schlummern da die Augen ein“, heißt es im
   Schlusschor der Matthäus-Passion. Wie empfin-
   den wir heute das „Süße Leid“ (Han 2018, S. 32),
   den „religiösen Kitschgenuss“ (ebd., S. 161)?
   Heute leben wir in einer Welt der totalisierten
                                                                                                                                                                                                       © Imago Images/Müller-Stauffenberg

   Unterhaltung, ist es nun eine Welt ohne Leiden-
   schaft (Kutter) oder sind es deren neue unter ei-
   nem veränderten Paradigma? „Ein Plädoyer für
   Bach, wie er wirklich ist, scheint mir immer auch
   ein Plädoyer zu sein gegen die Welt, wie sie ist,
   und – dies sei ergänzt, – daß sie nicht so bleibt,
   wie sie ist“ (Schalz 1986, S. 102).

   Literatur
   . Bach, Carl Philipp Emanuel (1994): Versuch über die wahre         „Die Musik legt den Menschen das Leid leibhaft auf die Schulter“ (Adorno) – hier Mary Mills anlässlich der Urauf-
   Art das Clavier zu spielen [1753/1762]. Faksimile-Reprint, hg.      führung von Jeanne d‘Arc an der Deutschen Oper in Berlin

   musik & bildung 4.20
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