Faszination des Buddhismus - Kritische Betrachtungen im Spiegel des Christentums

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Wenchao Li*
Faszination des Buddhismus – Kritische Betrachtungen im Spiegel des
                          Christentums
    „Nadja ist Buddhistin, manchmal zeigt sie nabelfrei, überm Gürtel geheimnisvolle
Tatoos. Den Buddhismus hat ihr niemand in die Wiege gelegt, sie stammt aus einer
kommunistischen Familie. Vor zehn Jahren wurde bei ihr im litauischen Kaunas der
Religionsunterricht zugelassen. Der Vater, sagt sie, lebt heute ohne Sinnsystem. Die
Mutter findet Halt in russisch-orthodoxer Tradition. Sie selbst kann mit den Riten
christlicher Gruppen, bei denen sie sich zunächst umgesehen hatte, nichts anfangen.
Vor allem stört sie das Bild eines Vatergottes, der entscheidet, was gut und was böse
ist. Ich wollte einen Gott, der ein Freund ist, sagt Nadja. Als sie vor drei Jahren eine
buddhistische Gruppe kennen lernte, war sie angetan von der beständigen Fröhlich-
keit dieser Gläubigen. In Buddha findet sie einen Freund für ihren inneren Weg, in
der Meditation die gesuchte Freiheit. Auch in Berlin, wo Nadja nun studiert, trifft sie
sich mit einem Buddhisten-Kreis. Auf die fremde Stadt ist neugierig, manchmal be-
sichtigt sie alte Kirchen, aber: Die Verherrlichung des Leidens im Christentum gefällt
mir nicht, sagt Nadja. Wer leidet, hat etwas falsch gemacht.“
    Eine Geschichte, vielleicht eine erfundene, aus dem Berliner Tagesspiegel1 anläss-
lich des vorangegangenen Ökumenischen Kirchentages. Als Einstieg in unser Thema
scheint mir diese Geschichte gut geeignet, denn in ihr sind einige Motive enthalten,
deren kritische und philosophische Reflexion das Thema meines Beitrages ausma-
chen wird: Nadja habe ein „Sinnsystem“ gesucht und glaube es im Buddhismus ge-
funden zu haben, der ihrer Ansicht nach durch beständige Fröhlichkeit gekennzeich-
net sei und Wert auf Meditationen lege; mit dem Christentum, namentlich mit dessen
„Riten“ und dem Vater-Gott könne sie hingegen nichts anfangen; sie wolle fröhlich
leben, das Christentum verherrliche das Leiden.
    Ohne Zweifel: der Buddhismus ist „in“, hierzulande in Europa, in den Kulturen
des Christentums – der Kirchentag 2003 in Berlin mit dem „Stargast“ Dalai Lama
mag ein weiteres signifikantes Beispiel sein –. Und es stellt sich die Frage, was am
Buddhismus so sonderbar ist: Was hat der Buddhismus, was der christliche Glaube
nicht in der Lage ist anzubieten? Und muss er dies anbieten, ohne sich selbst zu ver-
raten?

                                             Medicus und Messias
   Der Überlieferung nach (vgl. Waldenfels 1992:77) wurde der Buddhismus im 6.
Jahrhundert v. Chr., also in der von Karl Jaspers bezeichneten „Achsenzeit“, von
Siddharta Gautama gegründet. Von seinen früheren Verehrern und Anhängern wurde
er als Sakyamuni - der Weise aus dem Sakya-Clan – bezeichnet; nachdem er die so
genannte „höchste und vollkommenste Erleuchtung“ erlangt hatte, wurde er Buddha,
der Erwachte bzw. der Erleuchtete, genannt (Beckh 1959; Waldschmidt 1982).
   Die Überlieferung besagt weiter, dass Siddharta Gautama, der Prinz, mit 29 Jahren
(oder 19) das vornehme Vaterhaus verlassen hatte und „in die Heimatlosigkeit“ zog,
*
  Dr. Wenchao Li ist Privatdozent für Philosophie an der Technischen Universität Berlin und Professor für Philosophie
an der Technischen Universität Dalian (China)

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d. h. Wandermönch wurde (was man allerdings nicht überbewerten sollte, denn Wan-
dermönchtum war im alten Indien ein alltägliches Phänomen). Später soll er sechs
Jahre in einem Wald in der Nähe des Flusses Nairanjana verbracht haben und dort zu
der eher negativen Erkenntnis gelangt sein, dass die alleinige Askese noch kein Mittel
der Erlösung sei. Danach soll er versucht haben, unter dem heiligen Pippalbaum am
Nairanjyna-Fluss meditierend, in die Betrachtung der existentiellen Situationen des
Menschen zu versinken, habe dort dann schließlich die Vier Edlen Wahrheiten1 und
die Lehre über die Zwölf Glieder des Kausalnexus (Li 1999:59-67). entdeckt und sei
so zur Erleuchtung gelangt. Mit 35 Jahren (oder 30) begann er, so die Überlieferung,
zu predigen und Orden zu gründen, angeblich nur widerwillig, zuerst in Benares,
dann in ganz Nordindien. Im Alter von 80 Jahren sei Buddha verstorben, buddhis-
tisch gesprochen: ins endgültige Nirvana eingetreten.
   Kurzum: Der Buddhismus ist keine offenbarte Religion, auch wenn im legendären
Leben des Buddhas im nachhinein von vedischen Gottheiten die Rede war2. Die Per-
son Siddharta steht zwar im Mittelpunkt, aber diese Person ist mit Jesus Christus
nicht zu vergleichen. Obgleich auch seine, des Buddhas, Geburt sich auf wunderbare
Weise vollzogen haben soll3, von einem allmächtigen Vater-Gott weiß er nichts zu
berichten. Anders als Jesus Christus ist der Buddha weder Gott selbst noch ein Ver-
mittler zwischen Gott und Mensch: in der Verfolgung des Heils weist der Buddhis-
mus den Menschen auf sich selbst und seine eigene Erfahrung zurück, ohne Berufung
auf irgendeine Gottheit, während Jesus das Heil des Menschen nur in Hinblick auf
den das Heil schenkenden Vater-Gott verkündet. Der Buddha gewordene Siddharta
Gautama war daher weder ein allmächtiger Gott, den es nach der buddhistischen
Überzeugung gar nicht gibt, noch ein Heiliger im christlichen Sinne. Er war eben nur
ein asiatischer „muni“, ein Weiser, ein „medicus“ (Siehe Li 2000: I. Teil, V. Kap.:
Die buddhistische Auseinandersetzung mit dem Christentum, besonders S. 181-183)
und „philosophus“ im ursprünglichen und klassischen Sinn.
   Im strengen Sinne und normativ nach europäischen Maßstäben ist der Buddhismus
nur schwerlich als eine Religion zu bezeichnen, auch wenn er neben Christentum und
Islam allgemein als eine der drei am weitesten verbreiteten Weltreligionen anerkannt
worden ist. Die Frage nach Gott, wie sie im Monotheismus und zugespitzt in dessen
Theologie(n) gestellt wird, kommt im Buddhismus nicht einmal vor, denn diese sei
eher eine „Spielfrage“, die mehr Zeit koste als zur Erleuchtung führen würde (Li
1
  Diese vier edlen Wahrheiten – man hätte besser von „Einsichten“, im Gegensatz zu „Ansichten“,
sprechen können – sind im einzelnen: Wahrheit über das Leiden, über die Ursachen des Leidens,
über die Überwindbarkeit des Leidens und schließlich über die Wege, die zur Überwindung führen
sollten. Siehe W. Li: Buddhistisch philosophieren. Eine Einführung, Münster, New York, München
und Berlin 1999, S. 17-27: Leben und Leiden.
2
  (Neumann 1996:190-191), Längere Sammlung; (Beckh 1959:38); Klimkeit, Der Buddha, Leben
und Lehre, Stuttgart, Berlin u. Köln 1990, S. 56. Hans Küng hat einen interessanten, wenn auch
keineswegs unproblematischen Acht-Punkt-Vergleich zwischen Buddha und Jesus aufgestellt.
(Küng und Bechert 1990:64)
3
  Nämlich seitlich aus der Mutter Bauch, was als Symbol der Keuschheit gedeutet werden könnte.

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1999:86). Eine Gegenüberstellung von Menschen und einem ihm an Wissen und
Macht überlegenen Wesen findet im Buddhismus nicht statt. Hier geht es, direkt und
von Anfang an, um den Menschen, um seine Existenz, sein Leiden und seine Erlö-
sung durch sich selbst, d. h. um seine Selbsttranszendenz und „Einsicht“. Der Bud-
dhismus ist mehr eine Philosophie asiatischer Prägung, eine (Lebens)philosophie mit
starken religiösen und atheistischen Zügen: Philosophie als Weg und Hilfe zum Le-
ben4. In dieser Gewichtsverschiebung auf das totale Menschsein liegt wohl die größte
Affinität des Buddhismus zum chinesischen Konfuzianismus; in der strikten und ka-
tegorischen Verneinung der Existenz eines allmächtigen, alles schaffenden Gottes
darf man hingegen den diametralen Unterschied zum Christentum vermuten.
   In der Tat, wie das größte Rätsel am Christentum für den Buddhismus im Glauben
an den einen, personifizierten Schöpfer-Gott liegt (siehe Buddhadasa 1967:80), so
liegt für das Christentum die größte Schwierigkeit darin, dass die Buddhisten über-
haupt nicht an eine Gottheit glauben. Gerade weil es hier, um einmal Schopenhauer
zu zitieren, mehr um „Gefühl“, um Glauben als um „Wissen“ geht5, ist eine Schlich-
tung unmöglich, in der Praxis auch nicht nötig - die Aufsehen erregende Bemerkung
der höchsten geistlichen Instanz in Rom vor Jahren, der Buddhismus sei atheistisch,
war weder neu noch falsch, nur katholisch, mithin parteiisch. Aber auch die viel mil-
deren Versuche im Zuge des theologischen Dialogs, die buddhistische Verneinung
eines Schöpfer-Gottes im Sinne von Agnostizismus und somit im Sinne einer negati-
ven Theologie auszulegen und den christlichen Gott in Wort – Gott sprach, es wurde
– umzuinterpretieren, dürften den Glauben beiderseits zu sehr überstrapazieren.
Zwingt man dem Buddhismus einen Gottesglauben im christlichen Sinne auf, würden
alle Grundsätze des Buddhismus hinfällig; spricht man dem Christentum seinen un-
verwechselbaren Gottesglauben ab, wäre es nicht mehr christlich (siehe Küng
1987:139-144).

                                     Leiden und Erlösung
   Der Ausgangspunkt des Buddhismus ist das Leidensbewusstsein6 (und gerade
nicht die gesuchte „Fröhlichkeit“). Das ist der Grundtenor in den so genannten Vier
edlen Wahrheiten, die trotz ihres analytischen Charakters gerade jungen Menschen,
die ihre Lebenserfahrungen noch machen müssen, nicht leicht zugänglich sind. Wo
Gefahr ist, ist auch Rettung. Aber in der Frage, wovon und wie der Mensch erlöst
werden soll, werden die Differenzen zwischen Christentum und Buddhismus wie-
derum deutlich: Das Christentum versteht unter Erlösung, dogmatisch gesehen, die
Erlösung des Menschen von seinen Sünden gegen Gott, der Buddhismus betrachtet
4
  In der Forschung wird deshalb der Buddhismus häufig als eine atheistische Religion bezeichnet.
Siehe z. B. (Brunner-Traut 1981:40)
5
  Schopenhauer versteht den Begriff „Gefühl“ das „kontradiktorische Gegenteil“ von „Wissen“:
(Schopenhauer 1989:I:97)
6
  „Und was, o Mönche, ist die edle Wahrheit vom Leiden? Geburt ist Leiden, Alter ist Leiden,
Krankheit ist Leiden, Sterben ist Leiden, Kummer, Wehklage, Schmerz, Unmut und Unrast sind
Leiden; was man wünscht, nicht zu erlangen, ist Leiden …“ (Mylius 1991:119).

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die Erlösung als Erlösung des Menschen aus dem Rad der Wiedergeburt, die immer
dem Leiden gleichzusetzen ist, denn Leben einschließlich Geburt und Sterben ist
Leiden; die christliche Erlösung ist nur unter der Berufung auf Gottes Gnade mög-
lich, was die Bemühungen des Menschen um seine Erlösung, das Werk, nicht aus-
schließt, der Buddhismus verweist den Menschen bei der Erlösung auf den Menschen
selbst zurück, was wiederum in einigen Schulen des Mahayana (wörtlich das große
Fahrzeug) die barmherzige Hilfe (nicht Gnade) der Buddhas und Bodhisattvas7 ein-
schließt. Die christliche Erlösung ist heilsgeschichtlich begründet und hat in den von
den Menschen gegen ihren Schöpfer begangenen Sünden ihren Gegenstand. Die bud-
dhistische Erlösung ist hingegen eine Erlösung von Leiden, die durch die menschli-
che Verblendung verursacht worden seien. Der Erlösungsweg im Buddhismus wird
dann entsprechend als Begreifen der Unwirklichkeit, der Unpersönlichkeit des die
Leiden verursachenden Kausalnexus definiert. Schließlich: Sünde wird im Christen-
tum für wahr gehalten, während Leiden im Buddhismus als Folge der Unwissenheit
zu betrachten ist und letzten Endes als illusionär.
   Leben ist Leiden, so der Buddhismus, weil das Leiden immer ein Ich-leide ist. Das
Ich-leide ist möglich, weil ein Ich angenommen worden ist. Habe ich erkannt, dass
das Ich nur eine Einbildung, eine Täuschung, ja ein Sprachfehler ist, wird auch aus
dem Leiden eine Illusion. Im Aufgeben des Festhaltens am Ich liegt die Möglichkeit
einer Überwindung des Ich-Leidens.
   Die buddhistische Denkweise und das Denkschema sind etwas ungewöhnlich und
widersprechen geradezu unseren alltäglichen, d. h. gewöhnlichen Erfahrungen. Eini-
germaßen problemlos können wir davon ausgehen, dass jeder von uns das Wahre su-
che, das Gute liebe und das Schöne bewundere. Von dem Wahren nun abgesehen –
darüber läßt sich streiten, und Streit suchen echte Buddhisten nicht –, sind die ande-
ren zwei gar nicht so selbstverständlich, wie wir meinen. Das Gute zu lieben ist si-
cherlich gut. Aber was ist das Gute? Was bedeutet etwas zu lieben? Das Gute kann
nur im Gegensatz zum Nicht-Guten existieren und gedacht werden. Das Gute ist also
etwas Relatives. Gerade weil es relativ ist, ist es bedingt, von seinem Gegenteil ab-
hängig und insofern, buddhistisch gesagt, leer, denn gäbe es das Nicht-Gute nicht
mehr, würde es auch das Gute nicht mehr geben. Eine gute Welt ohne Übel ist genau-
so undenkbar wie eine üble Welt ohne das geringste Gute, denn selbst wenn es eine
solche Welt, gute oder üble, gäbe, würden wir sie nicht als solche empfinden und er-
kennen können. Der Grund ist einfach: weiß ich nicht, was Krankheit bedeutet, weiß
ich auch nichts von der Gesundheit, jedenfalls würde ich die Gesundheit nicht eine
solche empfinden und schätzen; ähnliches gilt es auch für Leiden und Fröhlichkeit.
Was bedeutet nun etwas lieben? „Lieben“ bedeutet, innige Zuneigung zu etwas zu
empfinden, an ihm zu hängen, es zu begehren oder, auf deutsch gesagt, gernzuhaben.
Begehren ist ein starkes Verlangen und hat seine etymologische Wurzel in gern und
Gier. Gier – man spricht auch vom Durst –, wird im buddhistischen Denken als der
Anfang vom Leiden angesehen. „Neid und Eigensucht […] wurzeln in Liebem und
7
 Bodhisattvas sind die sogenannten „erleuchteten Lebewesen“, die aber auf den Einritt ins Nirvava
freiwillig verzichten, um anderen bei ihren Bemühungen um Erlösung helfen zu können.
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Unliebem, entwickeln sich aus Liebem und Unliebem, entstehen aus Liebem und Un-
liebem, erwachsen aus Liebem und Unliebem: Liebes und Unliebes muss sein, damit
Neid und Eigensucht erscheint, Liebes und Unliebes muss nicht sein, damit Neid und
Eigensucht nicht erscheint.“ (Neumann 1996:373–374).
    Soviel zum „Guten“. Noch problematischer ist es mit dem Schönen. Ein Beispiel:
jedes Jahr findet auf der Welt viele Male eine Schönheitswahl statt. Um zu wählen,
muss man doch objektive Maßstäbe haben. Wir bewundern die Schönheiten und dan-
ken Gott für seine Schöpfungskraft. Was würde aber ein buddhistisch Denkender da-
zu sagen? Erstens dass die Begriffe wie Schönheit und Hässlichkeit unsere Einbil-
dungen sind, welche der Realität nicht entsprechen; zweitens dass zu bezweifeln ist,
ob man überhaupt etwas gesehen hat.
    Was bedeutet das? Wo wir „normale vernünftige“ Menschen einen Tisch sehen,
sehen die Buddhisten eine Platte mit vier Stützen; wo wir einen Raum sehen, sehen
die Buddhisten vier Wände; wo wir von einer Stadt sprechen, sehen die Buddhisten
Wohnhäuser, Autos, Menschen, nur keine Stadt. Im Deutsch wird man belächelt,
wenn man vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht; ein buddhistisch Denkender wür-
de sagen: zu Unrecht, denn in der Tat gibt es nur Bäume, wo ist aber der Wald?
    Wie ist es mit dem Ich? Es gibt das Ich nicht, es sind nur Wahrnehmung, Empfin-
dung und Denken; es denkt, nicht etwa weil es ein Ich als Denkendes gibt, sondern es
denkt so, als ob es ein Ich gäbe, das dächte.
    Darin, in dieser konsequenten Zerlegung der Begriffe in relative Teile bis hin zu
den vier Elementen, aus denen alles, Bäume, Menschen wie Tische bestehen, im
Misstrauen gegenüber Begriffen, die dem Menschen Eindruck vermitteln, als ob sie
auch real existierten, liegt wohl auch eine Erklärung dafür, warum aus Kants Kritik
der reinen Vernunft Wissenschaften möglich geworden sind, und aus der buddhisti-
schen Kritik, von denen vieles Kant unterschrieben hätte, entgegen gesetzte Schluss-
folgerungen zu ziehen sind.
    In keiner anderen Religion, soweit ich es beurteilen kann, wird mehr Wert auf ana-
lytisches Wissen gelegt als im Buddhismus. Theorien sind aber hier als Gebrauchs-
anweisungen gedacht und nicht als erlernbares Wissen. Buddhistisches Theorem
möchte erfahren werden, Erfahrungen aber muss jeder Mensch selber machen, an
sich selbst und für sich selbst. Die Verifizierbarkeit buddhistischer Theorien liegt
nicht in ihrer logischen Schlüssigkeit, sondern in ihrer Erfahrbarkeit. Durch Erfah-
rungen lassen sich die Theorien aber nie beweisen, sondern nur von Fall zu Fall be-
stätigen.
    Abgesehen davon, schon allein um diese für die Praxis gedachten Theorien und
Anweisungen nachzuvollziehen und zu begreifen, muss man mindestens eins erbrin-
gen: die Geduld. Ein alltägliches Beispiel: Das Schlafen ist für uns ein notwendiger,
selbstverständlicher biologischer Vorgang. Die Psychologen und Traumdeuter ausge-
nommen, würde jeder von uns das Wort so benutzen, dass es keinerlei Frage aufwirft.
Anders sind die Buddhisten. Sie behaupten einerseits, dass das Wahre unaussprech-
bar sei, wenn es das Wahre überhaupt gibt, andererseits haben sie eine starke Nei-
gung, alles sprachlich zu zerlegen, begrifflich zu definieren und zuzuordnen. Sie re-
den nicht generell vom Schlafen, sondern je nach der Tiefe, vom tiefen Schlaf und
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vom leichten Schlummer. Tiefer Schlaf bedeutet, dass das Bewusstsein ausgeschaltet
ist, während das leichte Schlummern meint, dass die fünf Sinnesorgane ihre Tätigkeit
vorübergehend eingestellt haben und sich in Ruhe halten, wie wenn man seine Augen
leicht zumacht. Noch weiter: Schlafen überhaupt gehört zu den fünf Arten von Ver-
blendungen (Gier, Hassgefühl, Schlafsucht, Oberflächlichkeit, Unentschlossenheit)
und wird als eine der fünf Begierden angesehen. Die anderen vier sind: Ruhmsucht,
Fresssucht, Begierde nach Reichtum und sexuelle Begierde. Der Buddhismus ist
nichts für Schnellleser und Fastfood-Generation. Schon die Chinesen, als sie buddhis-
tische Texte übersetzten, haben den Fehler gemacht, Wiederholungen im Original
auszulassen; und dieser Fehler wiederholt sich auch in den europäischen Übersetzun-
gen. Es wurde übersehen, dass es die ständigen Wiederholungen sind, die den Sinn
und den Gebrauchswert eines Textes ausmachen; denn Wiederholungen zwingen zum
Nachdenken und nicht zum Überblättern, und verhindern, dass man schnell zu „Er-
kenntnis“ kommt, ohne etwas „erfahren“ zu haben.
    Der Buddhismus erhebt keinen Wahrheitsanspruch. Vielmehr wird immer wieder
betont, dass die jeweilige Lehre nur in Bezug auf eine bestimmte Hörerschaft ver-
kündet worden sei. Das Verhältnis zwischen den Buddhas und den Zuhörern wäre
dann wie das zwischen einem Arzt und seinen vielen Patienten. Wie es bekanntlich
kein Heilmittel gibt, das jeden Menschen von allen möglichen Krankheiten heilt, gibt
es auch die eine Wahrheit nicht. Im Gegenteil, gäbe es Krankheiten nicht, würde es
nicht einmal Heilmittel geben.
    Es mag sein, dass der Buddhismus damit recht hat. Aber das Problem ist, dass wir
damit nicht viel anfangen können. Denn es wäre dann so, als würden wir mit einem
Menschen diskutieren, der zwar als gelehrsam und weise gilt, aber uns kaum sagen
kann, was eigentlich richtig und wahr sei. Und wir sind nun mal daran gewöhnt, im-
mer Wahrheit hören zu wollen oder zumindest eine gesicherte, nach Möglichkeit oder
auch Wahrscheinlichkeit richtigere Meinung zu haben. „Denn was man schwarz auf
weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen“.

                           Das buddhistische Selbstverständnis
   Was ist nun der Buddhismus? Der Buddhismus ist eine komplizierte Kultur- und
Geisteserscheinung. Er ist bekanntlich eine Religion und er ist auch eine Philosophie,
er ist eine Glaubenslehre und man muss nichts an ihm glauben, er legt viel Wert auf
das analytische Wissen und das Wissen an sich ist nicht sein Zweck, er hat viele Ka-
nonwerke und nichts an ihm ist dogmatisch festgelegt. Der Buddhismus ist „Fahr-
zeughersteller“; was sind aber „Fahrzeuge“?
   Ein Fahrzeug ist zuerst ein Zeug, d. h. etwas Gemachtes, Hergestelltes, Künstli-
ches und Geschaffenes8. In diesem Sinn ist es, wie alles Geschaffene, Veränderungen
und Abnutzung unterworfen; ein Fahrzeug ist des weiteren ein Mittel, ein Gerät, mit
dessen Hilfe etwas erreicht werden soll. Dieses etwas wird im normalen Sprachge-
8
 „Zeug“ im Sinne von „herstellen“, „erzeugen“, „machen“ und „tun“, mhd. „ziugunge“, „erziugen“.
Vgl. Der Duden in 10 Bänden, Band 7: Etymologie, Mannheim 1963.
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brauch das Ziel genannt.
    Der Ort- und Zielgedanke ist hier sehr wichtig. Rom ist auch ein Ort, bekanntlich
führen fast alle Wege nach Rom. Das heißt es gibt unterschiedliche Möglichkeiten,
zum Ziel zu gelangen, wobei die Unterschiedlichkeit der Wege auch sehr wichtig ist.
Denn welchen Weg man zum Ziel nimmt und nehmen sollte, hängt nicht allein von
der Beschaffenheit des Weges ab, der Typ des Fahrzeuges spielt ebenso eine große
Rolle wie die Fähigkeit des Fahrers.
    Es kann durchaus ein Genuss sein, beim (Mit)fahren die wunderschöne verlocken-
de Landschaft links und rechts zu bewundern oder über das, was man sieht, zu grü-
beln. Wer aber schnell und nicht zuletzt sicher ans Ziel gelangen will, der tut es gut,
auf Genuss und Grübelei zu verzichten. Ablenkungen sind sie allemal.
    Das Selbstverständnis des Buddhismus als Fahrzeug findet seine bildlichste Dar-
stellung im Lotussutra – einer Mahayana-Schrift, die im Jahre 286 zum ersten Mal
ins Chinesische übersetzt wurde. Von den insgesamt sieben Metaphern dort seien hier
zwei genannt:
    Das brennende Haus: Es war einmal ein alter und reicher Mann, der viele Kinder
hatte und ein großes Haus besaß. Eines Tages war das Haus in Brand geraten und
drohte zusammenzustürzen. Der alte Hausherr hätte gute Möglichkeit gehabt, sich
durch die einzige Tür, die das Haus besaß, zu retten. Da er aber an seine Kinder dach-
te, eilte er zu ihnen und warnte sie vor der drohenden Gefahr. Die spielenden und
verspielten Kinder nahmen die Worte des Vaters aber nicht ernst, und es blieb dem
alten Mann nichts übrig, als ihnen vorzugaukeln, dass draußen vor dem Haus viele
interessante Wagen seien, mit denen sie besser spielen könnten. Nun eilten die Kin-
der eins nach dem anderen aus dem Haus und hatten sich dadurch retten können.
    Die gezauberte Stadt: Unter der Leitung eines erfahrenen Reiseführers machte
sich eine Gruppe von Schatzsuchenden auf den Weg in die Ferne. Da der Weg dort-
hin lang und mühsam war, waren einige von ihnen schon nach ein paar Tagen müde
und resigniert. Der Reiseleiter ließ daraufhin eine Stadt durch Magie entstehen, damit
seine Schützlinge eine Pause einlegen konnten. Nachdem sie sich aber erholt hatten,
erklärte er ihnen, dass das Ziel noch in der Ferne sei. Bei der Raststätte handle es sich
bloß um eine Zwischenstation und eine Zauberei (Glasenapp 1994:186-87).
    Kommen wir nun auf die Aussage zurück: der Buddhismus verstehe sich als Fahr-
zeug. Was bedeutet nun diese Aussage, was verbirgt sich dahinter und was für Folgen
hat sie für unser Verständnis des Buddhismus?
Der Buddhismus als Fahrzeug bedeutet, dass er etwas Gemachtes, Geschaffenes und
Menschlich-Künstliches ist. Ewig ist er nicht. Der Buddhismus als Fahrzeug bedeutet
ferner, dass er nur ein wirksames Mittel (Sanskrit: upaya) ist, mit dessen Hilfe wir
unser Ziel eventuell schneller erreichen können. Nachdem wir das Ziel erreicht ha-
ben, sind unsere Fahrzeuge nutzlos, sie könnten sogar eine Last werden, wenn man
geizig ist und das nicht wegwirft, was nicht mehr zu gebrauchen ist. Das Zuhause,
das man am Ziel findet, würde voll von unnützen Dingen werden und ungemütlich
für seinen Bewohner sein. In Majjhimanikaya, der Mittleren Sammlung des Pali-
Kanons, Nr. 22, vergleicht der Buddha seine Lehre mit einem Floß und fragt, wie
sich ein Üergesetzter nun dem Floß gegenüber „richtig“ verhalten soll: „Das wäre, o
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Mönche, des Übergesetzten, Hinübergelangten (Gedanke) so: ,Sehr hilfreich ist für-
wahr mir dieser Floß; mit Hilfe dieses Floßes bin ich, mit Händen und Füßen mich
anstrengend, wohlbehalten ans andere Ufer übergesetzt. Wenn ich nun dieses Floß an
Land (ziehe) und festmache oder (es) ins Wasser versenke und (dann) hingehe, wohin
ich möchte?` So handelnd, o Mönche, würde dieser Mann gegenüber dem Floß rich-
tig handeln. Ebenso, o Mönche, ist die von mir mit einem Floß verglichene Lehre mit
dem Ziel des Entrinnens, nicht mit dem Ziel des Festhaltens dargestellt worden“ (My-
lius 1991:132; Mylius 1995:158).
 Derselbe Gedanke taucht in den buddhistischen Texten immer wieder auf. “Die ihr
das Gleichnis vom Floße, ihr Mönche, verstehet, / Ihr habt auch das Rechte zu lassen,
geschweige das Unrecht.” (Neumann 1996:159 Mittlere Sammlung). Im Dia-
mantsutra, einem der prägnantesten Text des Mahayana-Buddhismus, heißt es: „O
Mönche, ihr sollt wissen, dass meine Lehren gleich Fahrzeugen sind. Selbst auf diese
Lehren sind (nach der Erlösung) zu verzichten, geschweige denn Lehren, die nicht
zur Erlösung führen“ (Jingang jing (= Diamantsutra), in, Fang Litian (Hrsg.): Foxue
jinghua (= Quellentexte des Buddhismus), 3 Bde., Peking 1996, Bd. 1, S. 160. Siehe:
Conze 1988).
   Gemäß des Zieldenkens wird eine Reihe von Fragen, die, nach dem buddhisti-
schen Verständnis, nicht direkt mit dem Ziel zu tun haben und nur Ablenkungen des
Geistes darstellen, vom Buddhismus nicht behandelt. Erstens weil diese Fragen typi-
sche Streit-, buddhistisch gesagt, Spielfragen (Sanskrit: prapanca) sind, zu denen
keine eindeutige und überzeugende Antwort möglich ist, und zum anderen, weil diese
Fragen nicht direkt ans Ziel führen; überraschenderweise ist festzustellen, dass es
sich dabei, nach europäisch-christlichem Verständnis, zwar um Streitfragen, aber
keineswegs um Spielfragen handelt. Es sind Fragen metaphysischer Natur!
   Das Zieldenken bestimmt schließlich, dass (fast) alles am Buddhismus, was ei-
nander zu widersprechen scheint (Glaube und Vernunft z. B.), doch miteinander
kompatibel ist, da es sich jeweils immer nur um Wege zur Wahrheit (zum Ziel) han-
delt und nicht um die Wahrheit selbst. Ein Medikament ist ein Heilmittel, nur weil es
eine bestimmte Krankheit heilt. Da es aber unterschiedliche Krankheiten gibt, gibt es
unterschiedliche Heilmittel. Krankheiten verlangen nach Heilmitteln, unabhängig von
Krankheiten sind Heilmittel nicht vorstellbar. Heilmittel sind dies nur in Bezug auf
die zu heilenden Krankheiten.
   Wenn wir, statt das Ziel im Auge zu behalten, am Fahrzeug festhalten, werden wir
ständig unterwegs sein. Was das nun für unser Verständnis des Buddhismus bedeutet,
läßt sich wiederum durch einige Beispiele veranschaulichen:
   Im chinesischen Klassiker Zhuangzi wird behauptet, dass die Tauglichkeit eines
Fischernetzes im Fischfang bestehe. Hat man damit aber die Fische gefangen, sollte
man die Fische in die Hand nehmen und nicht stattdessen weiterhin mit beiden Hän-
den am Netz festhalten. „Hasennetze sind da um der Hasen willen; hat man die Ha-
sen, so vergisst man die Netze. Worte sind da um der Gedanken willen; hat man den
Gedanken, so vergisst man die Worte. Wo finde ich einen Menschen, der die Worte
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vergisst, auf dass ich mit ihm reden kann?“9
   Die zweite Metapher ist originell buddhistisch und läßt sich in fast allen buddhisti-
schen Texten finden. Erzählt wird die Geschichte von einem Mann, der den hell
leuchtenden Vollmond am Himmel nicht sieht. Ein anderer, der Wissende, zeigt ihm
den Mond mit einem Finger, damit er, der Unwissende, ungefähr weiß, in welche
Richtung er seinen Blick richten soll. Der Mann sieht trotzdem den Mond nicht, denn
er hat seinen Blick nun auf den Finger des Wissenden fixiert10.
   Tiefsinniger ist das dritte Beispiel: Es war einmal jemand, der an einer bestimmten
Krankheit litt. Diese Krankheit können wir Seins-Krankheit nennen, denn er glaubte,
alles sei. Er ging zu einem Arzt und bekam von ihm ein bestimmtes Heilmittel ver-
schrieben. Nun war er geheilt, aber nur von der Seins-Krankheit, denn er bildete sich
jetzt ein, dass alles nicht sei. Nachdem er auch von dieser Krankheit des Nicht-Seins
geheilt worden war, hatte er sich wiederum eine andere Krankheit zugezogen: Er
wurde süchtig und abhängig, wonach und wovon? Nach und von den Heilmitteln
selbst!
   Wahrheit, allerdings unter der Annahme, dass es Wahrheit oder Wahrheiten gibt,
lässt sich weder in den Schriften noch in deren Kommentaren finden, denn diese be-
stehen alle aus Buchstaben. Wie der Finger nur auf den Mond zeigt und selbst nicht
der Mond ist, sind Schriften bloße Träger oder, noch genauer, Hinweise auf den Sinn,
sind aber nicht der Sinn selbst. Wahrheit, noch einmal, wenn es sie gibt, liegt außer-
halb der Schriften und zwischen den Zeilen. Was außerhalb der Schriften ist, wissen
wir nicht11. Zwischen den Zeilen ist es jedenfalls leer. Sollte man nun sagen: Wahr-
9
 Das Buch gilt als ein daoistisches Werk. (Wilhelm 1982:283)
10
   Dazhudu lun (= Mahaprajnaparamitasastra), (Wilhelm 1982:59) „Das ist wie ein Mensch, der
einem Irrenden mit dem Finger auf den Mond zeigt. Der Irrende sieht aber auf den Zeigefinger und
nicht auf den Mond. Da sagt dieser Mensch: ,Ich zeige mit dem Finger auf den Mond, damit du den
Mond siehst. Warum richtest du deinen Blick auf meinen Finger und nicht auf den Mond. So ist es
auch mit der Sprache. Sprache zeigt auf den Sinn, ist aber nicht der Sinn selbst.“ (Zang 1983:276):
„Wer die Quelle nicht kennt, dem zeigt man das fließende Wasser, damit er die Quelle findet; wer
den Mond nicht sieht, dem zeigt man mit einem Finger auf den Mond, damit er den Mond vor Au-
gen hat. Geht man alle Ströme aufwärts, findet man nur eine Quelle; vergisst man die Finger, sieht
man nur einen Mond.“
11
   Von Laotse wurde überliefer: ¨Wer redet, der weiß nicht; der Wissende redet nicht.¨ Laotse, Dao
de jing, Kap. 56; vgl. Laotse, hrsg. von Lin Yutang, Frankfurt a. M. u. Hamburg 1955, S. 171-172.
Bai Juyi, ein chinesischer Dichter kontert in seinem Gedicht Laotse-Lektüre:
„Der Redende wisse nicht und der Wissende rede nicht,
So lehrt uns der alte Meister.
Wäre er ein Wissender,
Geschrieben hätte er die Schrift aus fünftausend Zeichen nicht.“ (Bai Juyi: Werke, hrsg. v. Gu
Xueji, Peking 1979, Bd. 2, S. 716).
Der große Gelehrte in der Song-Zeit, Hong Mai, in seinem Rongzhai Suibi, Shanghai 1978, S. 203:
„Laotse und Zhuangzi verachten die Lehre über Riten und Sitten, sie wollen Sprache und Reden
vergessen und auf das bewusste Handeln verzichten. Poetisch und hochstilisiert sind die fünftau-
send Wörter (von Laotse) und die Schriften von Zhuangzi. Die Chan-Buddhisten betrachten Spre-
chen und Schriften als Belastung. Darf und kann man nun alle Sutras des Mahajana-Buddhismus
über Bord werfen?“
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heit ist leer und in der Leerheit liegt die Wahrheit? Wie denn sonst sollten wir die
Behauptung verstehen, der Buddha habe während seiner 49jährigen Lehrtätigkeit gar
kein einziges Wort gesagt? „Kurz bevor der Erhabene ins Nirvana eintrat, bat ihn
Manjuri, (ein Bodhisattva, der sich durch seine unbegrenzte Weisheit auszeichnet.),
das Rad der Lehre nochmals zu drehen. Der Erhabene zeigte sich höchst unerfreut
und sprach: Mein lieber Manjuri, 49 Jahre lange habe ich kein einziges Wort geredet.
Nun bittest ausgerechnet du mich, das Rad noch einmal zu drehen, als ob ich je das
Rad gedreht hätte.“12 Der gestellte Anspruch ist hoch, aber wir sind nicht die einzige,
die alles immer „schwarz auf weiß“ haben wollen. Der große Leibniz bemerkt in sei-
ner Theodizee: „Die von den Quietisten sehr weit getriebene Vernichtung unserer in-
dividuellen Eigentümlichkeit dürfte bei einigen verkleidete Gottlosigkeit sein: wie
man von dem Quietismus des Fo [Buddha] berichtet, dem Stifter einer großen Sekte
Chinas, der seine Religion 40 Jahre lang predigte, und als er sich dem Tode nahe
fühlte, seinen Schülern erklärte, er habe ihnen die Wahrheit unter dem Schleier des
Gleichnisses verborgen, und alles sei auf das Nichts als das erste Prinzip aller Dinge,
zurückzuführen. Das war, wie mir scheint, noch schlimmer als die Meinung der
Averroisten.“ (Leibniz 1968:41).
    Mit dem Zielgedanken wurde ein wesentlicher Aspekt des Buddhismus bereits an-
gesprochen: Seine Soteriologie, das Heil und die Heilung. Die gängige Annahme, daß
der Buddhismus eine Religion sei, beruht im wesentlichen auf diesem Aspekt. Den-
noch ist der Buddhismus mehr als eine Religion im üblichen Sinne. Seine Themen
sind durchweg philosophisch. Argumentativ-überzeugend ist auch seine Methodik.
Man darf sich nur nicht mit dem gemütlichen Philosophieren begnügen, sondern die
Erkenntnisse müssen Konsequenzen für die Praxis haben. Diesem höchsten Ziel müs-
sen sich alle Theorien und Systeme unterordnen. Der letzte Prüfstein sind nicht die
logische Schlüssigkeit, sondern lebenspraktische Bestätigung und individuelle Erfah-
rungen. Nur in diesem Sinne hat der Buddha immer wieder darauf hingewiesen, dass
es keine Wahrheit gibt, die universal gültig wäre. Jeder Mensch müsse nach der
Wahrheit suchen, aber bitte für sich selbst und nach seiner eigenen:
„Richtet euch nicht nach dem, was euch zu Ohren gekommen ist, nach dem bloßen
Hörensagen, nach dem, was von einem zum anderen weitergegeben wurde, nach
Sammlungen von heiligen Überlieferungen, nach Vermutungen und ertüftelten Grün-
den, nicht nach äußeren Erwägungen, nicht nach eingewurzelten Anschauungen,
nicht nach dem, was aussieht, als ob es angemessen sein könnte, und nicht nach dem
Worte eines verehrten Meisters – sondern was ihr selbst als gut oder schlecht erkannt
habt, das nehmt an oder gebt auf“ (Glasenapp 1994:58: Anguttara-Nikaya III, 65,8).
    Konsequenzen, die sich daraus ergeben, sind eindeutig. Bedingt durch die Eigen-
artigkeit der gestellten Fragen lassen sich Kriterien für richtige Antworten nur schwer
angeben. Jeder Mensch wird bei der Suche nach der Wahrheit auf sich selbst zurück-

12
  Es handelt sich um einen Topos des Chan-Buddhismus. Pu Ji (1179-1253, Hrsg.): Wu deng wu
yuan (Sammlung der fünf wichtigsten Aufzeichnungen zum Chang-Buddhismus), kommentiert und
hrsg. von Su Yuanlei, Peking 1984, Kap. 1, über Sakayamuni.
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geworfen; trotzdem müssen wir davon ausgehen, dass es Menschen gibt, die mehr
wissen als wir, denn sonst wäre eine Meisterschaft, daher auch der Buddhismus, nicht
möglich gewesen; jedoch sind der Meister Lehren und Schriften als ein notwendiges
Übel zu betrachten. Wichtiger und bedeutender ist demnach zum einen das Nicht-
gesagte und zum anderen das Ungesagte im Gesagten.
Das buddhistische Selbstverständnis muss indessen nicht unbedingt typisch bud-
dhistisch sein, patentiert ist es ebenso wenig. Die Anpassung der Lehre an die Erfas-
sungskraft der Zuhörer, die Problematik der Texte und Schriften als unzulänglicher
Träger der Wahrheit und der Verweis auf das Nicht-gesagte, aber eben Gemeinte ge-
hören zu den gängigen Gemeinplätzen der Religionen, der Theologie, der Pädagogik
und zum Teil auch der Philosophie13. Origenes (um 185-spätestens 253) spricht von
einer mythischen Form des Christentums für die Masse, „die dem Kinde gleich die
Wahrheit nur in Hüllen und Bildern zu schauen vermag“, und einer vergeistigten
Form für die Wissenden (Vorländer 1964:30). Demnach wird „eine dreifach mögli-
che Auffassung der christlichen Urkunde“ verlangt: „eine leibliche, eine seelische,
eine geistige. Die leibliche ist die buchstäbliche, die seelische die moralisch-
allegorische, die geistige aber (pneumato intus docente) offenbart das in der Schrift
gemeinte [!] ewige Evangelium“ (Bloch 1985:591–592). Aurelius Augustinus (354-
430) gibt in seinen Bekenntnissen zu: „Er [Jesus Christus] hat die Speise, die zu neh-
men ich die Kraft nicht hatte, dem Fleische verbunden, da das Wort Fleisch geworden
war, damit für unsere Kindesschwäche Milch werde Deine Weisheit, durch die Du
alles erschaffen hast“ (Augustinus:1955:349): „Als ich ein Kind war, da redete ich
wie ein Kind und dachte wie ein Kind und urteilte wie ein Kind; als ich aber ein
Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war.“ (1. Kor 13,11). Nikolaus von Kues (1401-
1464) bittet „den Allmächtigen, dass er mir das Wort von oben verleihe, welches al-
lein sich selbst darlegen kann, um nach Eurer Fassungskraft wunderbare Dinge Euch
zu erzählen“ (De visione Dei, in, Nicolau Cusanus: Gespräche, Abhandlungen, be-
sorgt von Artur Buchenau, Berlin 1947, S. 5. Vgl. Lessing, Die Erziehung des Men-
schengeschlechts, §16, § 5).

                                    Schlussbemerkungen
   Durch diese Hinweise auf christlich-europäische Autoritäten und Quellen möchte
ich die grundsätzliche Kommunikationsmöglichkeit zwischen dem christlichen und
dem buddhistischen Denken andeuten, ohne aber auf diesen Aspekt näher eingehen
zu wollen (Siehe: Li 1999; Li 2002). Stattdessen ist nun die Anfangsgeschichte auf-
zugreifen und die dort angeschlossene Frage zu diskutieren: Was hat der Buddhis-
mus, was das Christentum anzubieten nicht in der Lage zu sein scheint? Denn eins ist
deutlich: Die Geschichte unserer „Nadja“ erzählt mehr vom „christlichen Glauben“
als vom Buddhismus, der eigentlich gerade nicht das anbietet, was man „Fröhlich-
keit“ nennen könnte, denn das Leben ist buddhistisch gesehen Leiden, und „fröhlich“
13
 Die sogenannte exakte Wissenschaft möchte sich eben u. a. auch auf diese Weise von den übrigen
Kulturbereichen unterscheiden. Siehe dazu (Elkana 1986:67-71).

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kann nicht einmal der sein, der die höchste Erleuchtung erlangt hat, denn Nirwana ist
ein Zustand, wo alle Gegensätze aufgehoben worden sind, und den zu beschreiben
jede positive Setzung versagt: es ist ein Zustand des „weder … noch“. Dies ist nun
bei unserer Nadja mit Sicherheit nicht der Fall.
   Der Buddhismus bietet ein anderes Glaubensmodell und ein anderes Religionsver-
ständnis, so dass man eigentlich fragen könnte, ob es sich dabei noch um Glauben
und Religion handelte. Unsere „Nadja“ geht hinaus, um ein „Sinnsystem“ zu suchen
und es dort glaubt gefunden zu haben, wo ein Sinnsystem angedeutet, aber nicht vor-
gegeben worden zu sein scheint; der buddhistische Verweis auf das Individuelle, weil
es eine Wahrheit für alle nicht gebe, und die Erklärung der erlebten Welt zur Welt
des Bewusstseins entsprechen dem vor allem in der westlichen weit verbreiteten
„postmodernen“ Drang nach Spiritualität jenseits der Institutionen und Glaubens-
dogmen; mit dem Leugnen der Existenz eines allmächtigen Gottes werden auch die
damit gebunden Probleme aus der Welt geschafft; Theodizee ist in der Tat ein typisch
christliches Problem. Im Buddhismus gibt es kein Mysterium, und noch weniger
„klare“ dogmatische Antworten; hier werden mehr Fragen gestellt und Lösungsansät-
ze angeboten.
   Im historischen Buddha lässt sich daher mehr Sokrates erblicken als Jesus Chris-
tus. Der Buddha mochte gelebt haben oder auch nicht; zum Verständnis seiner Lehre
und des Buddhismus schlechthin trägt die Lebensgeschichte des Buddha kaum etwas
bei, während das Fundament des Christentums, mit Schopenhauer gesagt, „eine ein-
zelne Begebenheit“ bildet (Schopenhauer 1989:V:465) und fast alle Glaubensätze wie
Auferstehung und Himmelfahrt ohne Erlebnisse Jesu Christi kaum zu verstehen wä-
ren. Darin unterscheidet sich der Buddhismus vom Christentum erheblich14. Und da-
rin mochte der Grund dafür sein, dass unsere „Nadja“ im Buddha einen „Gott“ ge-
funden zu haben glaubt, „der ein Freund für ihren inneren Weg“ sei, und hierin liegt
schließlich auch der Grund für ihr „Nichts-anfangen-können“ mit christlichen Riten
sprich Sakramenten, denn diese Riten sind in der Tat viel schwerer geladen als bud-
dhistische Feierzeremonien und Verhaltensregeln.
Wo „Wahrheit“ offiziell verkündet und geglaubt werden soll, wo man auf alles eine
Antwort zu haben glaubt, dort muss sie (Wahrheit wie Antwort) auch überwacht,
festgelegt, beschlossen und verteidigt werden; die dadurch entstandene Institutionali-
sierung des Glaubens scheint mir der Übergang von der Religiosität zur Religion zu
sein; und im Vergleich zu der existentiellen Bedeutung der Institutionen und der
Konzilien in der christlichen Kulturgeschichte erscheint mir schon sehr merkwürdig,
dass die Buddhisten es bis jetzt nicht geschafft haben und es nicht schaffen wollen,
über einige Versammlungen nach des Buddhas Tod (die erste fand kurz nach dem
14
  Max Weber konstatiert in seinen Studien gar: “Der Konfuzianismus ist im Sinne des Fehlens jeder
Metaphysik und fast aller Reste religiöser Verankerung: – so weitgehend, daß er an der äußersten
Grenze dessen steht, was man überhaupt allenfalls noch eine religiöse Ethik nennen kann, – so rati-
onalistisch und zugleich, im Sinne des Fehlens und der Verwerfung aller nicht nicht utilitarischen
Maßstäbe, so nüchtern, wie kein anderes der ethischen Systeme außer etwa demjenigen J[eremy]
Benthams.” (Weber 1991:20) Vor einem unvorsichtigen Genuss von Webers Studien sei jedoch
gewarnt.
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Tod des Buddhas statt, die letzte (die vierte) angeblich 500 Jahre nach des Buddhas
Tod) weitere, den Buddhismus umfassend definierende Generalversammlungen mit
dogmatischen Beschlüssen zu veranstalten. Eben aus diesem Grund ist der Buddhis-
mus lockerer institutionalisiert, insbesondere im Vergleich der hierarchischen Struk-
tur christlicher Instanzen und Kirchen. Die Frage, ob jemand Christ sei, ist relativ
leicht zu beantworten, denn hier gibt es eindeutige „verwaltungsmäßige“ Kriterien;
ob jemand ein Buddhist sei, ist hingegen nicht so klar zu beantworten, wegen der
mangelnden äußeren Merkmalzuschreibungen.
   Soll es nun heißen, dass der Buddhismus Probleme christlichen Glaubens und
christlicher Kirchen und Institutionen lösen könnte, und dass nur dieser, der Bud-
dhismus, ein, wenn nicht das, Sinnsystem biete. Mitnichten! Abgesehen davon, dass
buddhistische Anhänger nur eine witzig kleine Anzahl von Menschen in Europa aus-
mache, macht die Nachfrage nach Buddhismus nichts weiter als Probleme des Chris-
tentums deutlich und sichtbar.
   Und was noch nicht zu vergessen ist: In Asien (z. B. China), wo traditionell der
Buddhismus als eine Religion empfunden wird, scheint der christliche Glaube im
Kommen zu sein; mit der zunehmenden politischen Liberalisierung wird das Chris-
tentum dort seine weitere Verbreitung, aber auch Entwicklung und Inkulturation er-
fahren. Dort, im Heimatland des Buddhismus, erwarten die Menschen keine Belie-
bigkeit; klare Antworten sind gefragt, diese Antworten pflegt der christliche Glaube
anzubieten, und nicht der Buddhismus.

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