"WAS WOLLEN SIE? DIE ABSOLUTION?" - Opfer- und Täterprojektionen bei Maxim Biller

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NORBERT OTTO EKE

                     „WAS WOLLEN SIE? DIE ABSOLUTION?“
                    Opfer- und Täterprojektionen bei Maxim Biller

Den anhaltenden Auseinandersetzungen um Repräsentationsweisen und Darstellungsformen
der Shoah zum Trotz: das nicht allein ästhetisch intrikate Verhältnis von Schrecken und Kunst
ist nach wie vor nicht abschließend geklärt. Die oft quälende Selbstbezüglichkeit der Debatten
zu diesem Thema, in denen die immer gleichen Argumente versatzstückartig ins Feld geführt
werden, immerhin verweist auf den Stellenwert des vergangenen Vernichtungsgeschehens in
der Gegenwart, auf die offene Wunde nicht allein im Prozeß der Erinnerung, sondern auch in
der nur scheinbaren Normalität des deutsch-jüdischen Verhältnisses. „Darf die Kunst alles?“ –
Die Antwort des selbst der Shoah entkommenen Autors, Theatermachers und Regisseurs
George Tabori auf diese Frage ist so widersprüchlich wie klar: „Die Kunst darf alles, beson-
ders im Theater, wo das Undenkbare gedacht, das Unsagbare gesagt wird“1; und: „Die Kunst
darf natürlich nicht alles, und doch tut sie es. Künstler sind von Beruf Hexen. Ihr Auftrag war
schon immer, das Verdrängte herauszukitzeln, das Verschwiegene anzusprechen, das Verlo-
gene in Frage zu stellen.‚Nicht so, sondern so’ – ist ihr hippokratischer Eid.“2 Damit sind an-
deutungsweise bereits wesentliche Vorstellungsmomente zur Sprache gebracht, die auch den
als provokant empfundenen Umgang Maxim Billers mit der deutsch-jüdischen Geschichte
begründen.

I. Im „deutsch-jüdischen Zauberwald“

Auf irritierende Weise legen die Erzählungen Maxim Billers eine Spur im „Zauberwald“ des
deutsch-jüdischen Verhältnisses, in den, so Biller, „für die Alten nach dem Krieg ein einfa-
cher Weg hineingeführt hatte und der aber seine Kinder so leicht nicht entließ“3. Billers Texte
folgen den verschlungenen Pfaden der kulturellen Einschreibungen der Shoah im Denken und
Handeln der Nachgeborenen, (deutschen) Juden und Nicht-Juden gleichermaßen. Zwar hat
Biller nachdrücklich nicht nur auf die andauernde Bedeutung der Shoah in ihren Folgen für
das komplizierte deutsch-jüdische Verhältnis verwiesen, sondern sie auch als zentralen Ge-
genstand der Gegenwartsliteratur zu betrachten gefordert4; Fluchtpunkt seiner Texte aller-
dings ist weniger die Shoah als solche, die in seinen Geschichten lediglich vermittelt durch
das Echo der Geschichte(n), Mythen und Legenden ‚erzählt’ wird, als vielmehr die Bedeu-
tungslast, das Auschwitztrauma als Diskurskonfiguration. Repräsentationskritik, nicht Reprä-

1 George Tabori: Spiel und Zeit, in: Ders.: Betrachtungen über das Feigenblatt. Ein Handbuch für Verliebte
  und Verrückte, Frankfurt/Main 1993, S.13-23, S. 16.
2 George Tabori: Künstler sind Hexen, in: George Tabori. Dem Gedächtnis, der Trauer und dem Lachen ge-
  widmet. Portraits, hg. v. Andrea Welker, Wien, Linz, Weitra, München 1994, S. 175.
3 Maxim Biller: Wenn ich einmal reich und tot bin, in: Ders.: Wenn ich einmal reich und tot bin. Erzählungen,
  München 1993, S. 187-215, S. 200f.
4 Ohne deutsche Konkurrenz. Der Autor Maxim Biller fordert eine geschichtsbewußte Literatur, in: Focus, Nr.
  51, 19.12.1994, S. 124. Zum Stellenwert der Shoah für das eigene Schreiben vgl. Billers Skizze „Kleine Au-
  tobiographie: Prag, München und Israel in der Ferne“ (in: Neue Rundschau 103, 1992, H. 4, S. 49-51). – Zur
  überragenden Bedeutung der Shoah-Problematik in Billers Werk siehe auch Hartmut Steinecke: Deutsch-
  jüdische Literatur der „zweiten“ Generation und die Wende. „Geht jetzt wieder alles von vorne los“?, in:
  Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit (1990-2000), hg. v. Volker Wehdeking, Berlin
  2000, S. 189-200, S. 195.
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sentation, bildet das Zentrum dieser Texte, die sich abarbeiten an den Inszenierungen der Er-
innerung im „schamhaft-verklemmten Post-Holocaust-Deutschland“5 – für Biller heißt das:
am Entlastungs- und Bewältigungsdiskurs eines beschämten Philosemitismus auf der einen,
an der identifikatorischen Einvernahme der jüdischen Leidensgeschichte als Fluchtpunkt jüdi-
schen Selbstverständnisses auf der anderen Seite.
Aus den Widersprüchlichkeiten und Verdrängungsleistungen dieser deutsch-jüdischen Erin-
nerungskultur bezieht Billers Schreiben wesentliche Anregungs- und Erregungsmomente:
„Wissen wollen, wie es in Wahrheit war“, so Biller, sei „die beste Methode, die Wiederho-
lung von Verbrechen zu verhindern. Alle meine Erzählungen sind Versuche, die Wahrheit
herauszubekommen, sind literarische Erfindungen, die es mir und dem Leser schwerer ma-
chen sollen, sich selbst zu betrügen.“6 Von hier aus entwirft Biller in seinen Essays und Er-
zählungen eine Gegen-Schrift zum deutsch-jüdischen Bewältigungsdiskurs, die auf den Wi-
derspruch setzt, die den Haß mobilisiert und die Wut als Ferment von Aufklärung. Biller setzt
auf die widerspruchsbefördernde Kraft der Zuspitzung als Mittel zur Öffnung des verstellten
Wahrnehmungsfeldes und der Erschließung neuer Denkräume jenseits der geschlossenen
Kammern der Erinnerung; er polarisiert und spaltet; er verstößt planmäßig gegen den morali-
schen common sense, der die Opfer verklärt (und damit ein zweites Mal verdinglicht). In sei-
ner Tutzinger Rede „Über die Schwierigkeiten beim Sagen der Wahrheit“ hat er in diesem
Sinn die „politische Kategorie der Feindschaft“ als „Motor und [...] Fundament jeder morali-
schen Selbstvergewisserung“7 bestimmt: „Moral in der Kunst, in der Literatur heißt darum
nicht Moralisieren – sie heißt, fähig zu sein zu einer Art metaphysischer Wut, zu Gegner-
schaft, zur Position, zum Bericht.“8
Damit stößt Billers Prosa in ein moralisches Vakuum vor, das die Shoah im Verhältnis von
Deutschen und deutschen Juden hinterlassen hat. Die Absurditäten dieses Verhältnisses sind
das Spielmaterial insbesondere seiner frühen Erzählungen aus dem Band „Wenn ich einmal
reich und tot bin“ (1990) und den Texten der zweiten Prosasammlung „Land der Väter und
Verräter“ (1994), die in irritierender Weise das Feld der reinlichen Scheidungen in (deutsche)
Täter und (jüdische) Opfer räumen und damit die entlastenden Mythisierungen des Bösen
(und seines Gegenstücks: des ‚reinen’ Opfers) aufgeben. Billers Texte legen Sprengsätze an
die eingerasteten Vorstellungsbilder und die genormten Wahrnehmungsweisen im Umgang
von (deutschen) Juden und Nicht-Juden; sie stören den bequemen Philosemitismus, der einem
Exkulpierungsbedürfnis entspringt; sie brechen das Kontinuum der Schein-Normalität auf,
zwingen sie doch den Leser unmittelbar in Entscheidungssituationen hinein, wenn sie (auch)
unter Zuhilfenahme von Klischees und Stereotypen von ‚häßlichen’ Juden erzählen: von Auf-
steigern wie dem späteren Zionisten Amichai Süssmann, der dadurch „gleich nach dem Krieg
sehr schnell den [Frankfurter] Bahnhofsbezirk unter seine Kontrolle brachte, daß er, weil er es
nicht besser wußte, seine Organisation denselben Gesetzen unterordnete, die er in Treblinka
gelernt hatte“9 („Wenn ich einmal reich und tot bin“); von skrupellosen jüdischen Geschäfte-
machern im Nachkriegsdeutschland wie dem Frankfurter Baulöwen Salomon Pucher, der sich
als Schnapshändler und Zuhälter zunächst „genüßlich durch die fünfziger Jahre“ frißt, bis er
in den sechziger Jahren zum geachteten Bürger Frankfurts aufsteigt, als ‚Hofjude’ geliebt von
den Deutschen „aus Selbstmitleid und Angst vor einem jüdischen Zyklon-B-

5 Maxim Biller: Auschwitz sehen und sterben, in: Ders.: Die Tempojahre, München 1992, S. 115-131, S. 119.
6 Ohne deutsche Konkurrenz [Anm. 4].
7 Maxim Biller: Feige das Land, schlapp die Literatur. Über die Schwierigkeiten beim Sagen der Wahrheit, in:
  Die Zeit, Nr. 16, 13.4.2000, S. 47-49, S. 47.
8 Ebd., S. 48.
9 Biller [Anm. 3], S. 203.
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Vergeltungsschlag“10 – beides Figuren aus Billers Debütband „Wenn ich einmal reich und tot
bin“. Und Billers Erzählungen durchkreuzen den aus „ein bisschen Klezmer, ein bisschen
Schtetl, ein paar jüdische[n] Witzigkeiten“ und – so wäre diese Aufzählung Matthias Alten-
burgs zu ergänzen – jeder Menge Betroffenheitsrhetorik gebildeten Ablaß-Handel im deut-
schen Kultur-Betrieb11, wenn sie, wie in den in Billers zweitem Prosaband „Land der Väter
und Verräter“ gesammelten Geschichten, von den Verstrickungen der Überlebenden und
Nachgeborenen in Schuld- und Verdrängungszusammenhänge erzählen, von Menschen vor
allem auch, die sich in ihren (und fremden) Leidensgeschichten eingerichtet haben. In augen-
fälliger Weise hat Biller in dieser erzählerischen Abrechnung mit den Vätern den zentralen
Konflikt aller seiner Erzählungen aus dem Verhältnis der jungen Juden zu denen, die die Sho-
ah überlebt haben, entwickelt, dabei den kollektiven Opfermythos auf den Prüfstand gehoben,
vor allem aber die lähmende und (ver-)störende Wirkung der Mythen und Legenden im Ver-
hältnis der Generationen zur Sprache gebracht, den Haß der Jungen auf den Mythos von Tod
und Überleben und die eigene (Ver-)Bannung in diesen Mythos. So wird die Kritik an den
wahrnehmungslogischen Aporien des Offizialdiskurses zugleich zum Fluchtpunkt einer Kritik
an den Identitätskonstruktionen von Juden im Land der Täter.
In exemplarischer Weise beschreibt Biller vor diesem Hintergrund in der Erzählung „Erinne-
rung, schweig“ wie die Erinnerung in Umkehr von Nabokovs liebevoller Vergangenheitsbe-
schwörung „Speak, Memory“ (Conclusion Evidence, 1951/1966) zu keiner dauerhaften Har-
monie der erinnerten, aber auch der gegenwärtigen Welt mehr führt, sondern zur Hölle wird,
aus der es kein Entkommen gibt – ein Gedanke den bereits Jean Luc Godard in „Nouvelle
Vague“ seinen Figuren in den Mund gelegt hat.12
Die Erzählung formuliert diesen düsteren Befund als Monolog des durch die emotionalen
Ausbrüche des Vaters aus der Hölle seiner Kindheit in die künstlichen Paradiese der Drogen
getriebenen Sohnes, als fiktives, an die anonyme Instanz eines Therapeuten adressiertes
Selbstgespräch. Ein hartnäckig beschwiegenes Familiengeheimnis, in dem der Sohn die
schreckliche Erfahrung der Shoah und die Überlebensschuld des Vaters vermutet, liegt über
der Familie des Erzählers, tschechischer Juden, die sich nach dem Prager Frühling in
Deutschland niedergelassen haben. Auf eine für den Sohn undurchschaubare Weise verbindet
dieses Geheimnis sich mit dem „abscheuliche[n] Hundewort“13 „Tschüs“, bei dessen Erwäh-
nung der Vater regelmäßig in eine unerklärliche Raserei verfällt. Das Geheimnis klärt sich

10 Maxim Biller: Roboter, in: Biller [Anm. 3], S. 59.
11 Vgl. dazu Matthias Altenburg: Der fremde Blick. Matthias Altenburg über seinen Schriftstellerkollegen Ma-
   xim Biller und dessen Debüt-Roman „Die Tochter“. In: Die Woche, 17.3.2000: „Also Haltungen? Ja. Und
   Moral. Immer wieder dieses Wort: Moral. Ziemlich selten in einer Umgebung, wo keiner mehr eine Meinung
   haben will, wo alles sich wegduckt, wo alle so tun, als wären die alten Fronten aufgeweicht: zwischen den
   Fremden und den Hiesigen, zwischen den cleveren Feiglingen und den wenigen, die versuchen, bei Verstand
   und anständig zu bleiben. Bloß kein guter Kulturjude sein. Weil sich mit dem ja alle so prima arrangieren
   könnten, die Fernsehpastoren und -moderatoren, die folkloregeilen Israel-Touristen, die guten deutschen Li-
   teratur-Doofis, weil sie sich bei dem ja zurücklehnen könnten, ein bisschen Klezmer, ein bisschen Schtetl, ein
   paar jüdische Witzigkeiten und jede Menge Ablass. So nicht! Wir müssen noch mal ganz von vorne anfan-
   gen, meint Biller. Wir müssen eine Generation erziehen, die wieder Ethos hat und einen Sinn für Qualität.
   Und Mut. Auch den Mut, uns zu widersprechen. Tja, könnte wohl sein, dass er auch damit Recht hat.“
12 In Godards Film ergänzt die Vorstellung einer zur Hölle gewordenen Erinnerung den Gedanken von der
   Erinnerung als dem (einzigen) Paradies, aus dem der Mensch nicht vertrieben werden könne. Vgl. dazu den
   folgenden Dialog zwischen den Figuren Delon und Elena: „DELON Die Erinnerung ist das Paradies, aus dem
   wir nicht vertrieben werden können. ELENA Ja, aber das stimmt leider nicht immer. DELON Im allgemeinen
   ist die Erinnerung die einzige Hölle, zu der wir verdammt werden, Elena, in aller Unschuld.“ (Mitschrift
   N.O.E.)
13 Maxim Biller: Erinnerung, schweig, in: Ders.: Land der Väter und Verräter. Erzählungen, München 1997, S.
   305-336; S. 305.
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erst nach Jahren der Trennung in einem Gespräch, in dem der Sohn den Vater mit dem Plan
zur Literarisierung von dessen Lebensgeschichte beeindrucken und für sich einzunehmen
sucht: kein erlittenes Leid, keine moralische Schuld, kein Verbrechen, vielmehr die eigene
Lebenslüge, das als eigene Schande verdrängte Leben im Land der Mörder, die Scham über
die versäumte Aliah, ist es, an die den Vater das inkrimierte Wort immer wieder aufs neue
erinnert und die ihn immer wieder außer sich geraten läßt. Die späte Erinnerung daran, das
Aussprechen der ‚Wahrheit’ nun wirkt nicht mehr befreiend, denn sie kommt zu spät. So steht
am Ende die folgende bittere Konsequenz, die der Sohn aus dieser Erkenntnis zieht: „denn ich
hatte in diesem Moment endlich begriffen, daß wirklich nur jene die schrecklichste aller
schrecklichen Zeiten überstehen konnten, die immer richtig fühlten und dachten, aber niemals
aufrecht handelten.“14 Die Bedeutung dieses Schlusses liegt auf der Hand: die Verdunkelung
der eigenen Schwächen und Fehler, die Mythisierungen der Schrecken hat den Riß zwischen
den Generationen unüberwindbar gemacht; die Lügen der Väter haben das Leben der Söhne
zerstört.

II. Täter-Opfer-Diskurs 1. Opferkonstruktionen und kultureller Ablaßhandel

Mit ihren provokanten Tabubrüchen stören Billers Texte die Rituale des einfühlenden Nach-
erlebens über die Identifikation mit den Opfern; sie brechen mit dem simplifizierenden Blick
auf die reinlich geschiedene Geschichte mit ihren tragisch überhöhten Opferbiographien und
Sentimentalisierungen, die das Grauen dem Kitsch anzuverwandeln drohen, dem Leser aber
ein selbstzufriedenes Einverständnis erlauben. Indem Billers Texte die Stereotypien und Kli-
schees der Täter-Opfer-Schemata in Frage stellen, verstoßen sie gegen die symbolischen Rep-
räsentationen der eingeführten Trauerpolitiken. Dies geschieht nicht jedoch, um so die Opfer
ein zweites Mal zu verhöhnen; es geschieht in erster Linie auch nicht, um so die in Deutsch-
land durch das Nachkriegstabu und den beschämten Philosemitismus als Menschen hinter den
Opfern unsichtbar gemachten Juden wieder sichtbar zu machen; Billers Texte stellen die ge-
wohnten Strukturen der Rede auf den Kopf vielmehr, um vermittelt darüber den Konstruktio-
nenen einer jüdischen Identität allein über das Opfer die Bedeutungsmacht zu entziehen und
solcherart Möglichkeiten einer Wiedergewinnung jüdisch-deutscher Identität nicht jenseits
oder abseits, sondern trotz der Shoah zu schaffen.15
Die Erzählung „Harlem Holocaust“ aus dem Band „Wenn ich einmal reich und tot bin“ über-
setzt diese Auseinandersetzung mit den ritualisierten Bewältigungsritualen, in denen sich das
komplex-komplizierte Verhältnis zwischen deutschen Juden und Nicht-Juden spiegelt, in ein
vielschichtiges Erzählmodell. Im Zentrum von „Harlem Holocaust“ stehen zwei Figuren, die
beide die Shoah bereits nur noch vermittelt über die Erfahrung der Überlebenden kennen: ein
amerikanischer Jude deutscher Abstammung, Linguistik-Professor und Autor, und sein deut-
scher Übersetzer, der zugleich als Ich-Erzähler auftritt (und erst am Ende des Romans in ei-
nem erzähltechnischen Verwirrspiel einem Herausgeber-Ich Platz macht): Gerhard (Gary)
Warszawski und Efraim Rosenhain – auf der einen Seite ein die Nerven des sensibilisierten

14 Ebd., S. 336.
15 In ähnlicher Weise argumentiert Karen Remmler im Rahmen einer abwägenden Einschätzung der Erzählver-
   fahren Billers, Esther Dischereits, Barbara Honigmanns und Rafael Seligmanns. Diesen Autoren der zweiten
   und dritten Generation gehe es darum, „to break down monolithic images of ‚The Jew’ as victim“; ihr Werk
   „questions the continued sense of alienation that many Jews feel in Germany. Honigmann, Dischereit, Selig-
   mann, and Biller question the possibility of reestablishing a Jewish culture in Germany despite the legacy of
   the killing of the Jews under the Nazis.“ (Karen Remmler: The „Third Generation“ of Jewish-German writers
   after the Shoah emerges in Germany and Austria, in: Yale Companion to Jewish Writing and Thought in
   German Culture 1096-1996, hg. v. Sander L. Gilman, Jack Zipes, New Haven, London 1997, S. 796-804, S.
   800.)
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deutschen Publikums überstrapazierender jüdischer Autor, der nicht nur sein Judesein als
Grundlage seiner Karriere benutzt (was bezeichnenderweise in dieser Form nur in Deutsch-
land funktioniert), sondern der für sich genommen auch alle antisemitischen Klischees in sich
vereint: intellektuelle Brillanz und Arroganz, Zynismus und Skrupellosigkeit, ungenierte
Geilheit und (Hyper-)Potenz (von physiognomischen Zügen ganz zu schweigen); ihm gegen-
über steht auf der anderen Seite der „leidende deutsche Tätersohn“16 mit dem programmati-
schen, Philosemitismus und Wiedergutmachungswillen indizierenden Namen Efraim Rosen-
hain17, der sich lustvoll der „Gier nach Schuld und Entsühnung“18 hingibt. In diesem seltsa-
men male-couple hat Biller das deutsch-jüdische Schuldsyndrom entlang einer Linie von
Mehrfachprojektionen in bissig-satirischer Weise entlarvt.
Ausgestattet mit dem „selbstherrlichen Auschwitz-Bonus“19 spielt der jüdische Intellektuelle
Warszawski berechnend auf der Klaviatur der Bewältigungs- und Wiedergutmachungsrituale.
„Wieso ich?“ läßt der Erzähler den Sohn jüdischer Emigranten seinen deutschen Verleger in
rhetorischer Weise nach der Bedeutung der Shoah und der eigenen Rolle im deutschen Kul-
turbetrieb fragen; und Warszawski liefert selbst gleich auch die Antwort nach: „es gefällt Ih-
nen, mich zu haben, weil ich den Tod erlebt habe, indem ich ihm entkam und nun darüber
schreibe. Was wollen Sie? Die Absolution? Wir Juden tun Christenblut in unsere Mazzes, und
wir Amerikaner wollen bezahlt werden, wenn wir andere erlösen.“20 Warszawskis Autor-
Sozialisation selbst erfolgt allerdings im Zuge einer doppelt gestaffelten identifikatorischen
Besetzung des Opferstatus: in Abwendung zunächst von seiner jüdischen upper-middle-class-
Herkunft als Identifizierung mit der Welt der afroamerikanischen Opfer von Rassendiskrimi-
nierung und sozialer Unterprivilegierung; als Revolte des jugendlichen Warszawski gegen das
elterliche „Nostalgie-Brimborium“ aus „Rilke-Bände[n], Heine-Zitate[n] und George-Grosz-
Reproduktionen, [...] allwöchentlichen Stammtische[n] in der ‚Kleinen Konditorei’ in der 86.
Straße, [...] wo selbstverliebter, romantisch-aufklärerischer Intellektualismus regierte, die Er-
innerung und nur die Erinnerung, aber niemals ein Plan“21. Die unmittelbare Konfrontation
mit den Opfern der Shoah, die in Gestalt eines Cousins der Mutter in die Familie Warszwaski
einbricht, führt zu einer Verschiebung der identifikatorischen Projektion wahren Opfertums
dann auf die Juden. So führt Gary Warszawskis Weg über die unmittelbare Begegnung mit
dem Opfer, das er als Jude auch hätte sein können, weg von Harlem zum Holocaust, von der
„Negerpassion“22 zum Leid der Juden, aus der Realität der amerikanischen Klassen- und Ras-
senauseinandersetzungen zum physischen Überlebenskampf der verfolgten europäischen
Glaubensbrüder und -schwestern. Aus Gary Warszawski, dem privilegierten New Yorker E-
migrantensohn, wird der ‚jüdische’ Schriftsteller Gerhard Warszawski, der in der „Surfiction“
seiner Prosa eine ihm fremde Erfahrung literarisch ausbreitet und darin verspiegelt zugleich
mit großem Erfolg auf dem deutschen Buchmarkt seinen „Überlebendenselbsthaß“23 abarbei-
tet.
Als „Kriegsgewinnler“24 und Dybuk (Totengeist)25, der sich an den Leib der Lebenden anhef-
tet, ist der erfolgreiche jüdische Autor Warszawski eine „Ausgeburt deutschen Schuldbewußt-

16 Maxim Biller: Harlem Holocaust, in: Ders. [Anm. 3], S. 76-122; S. 80.
17 Rosenhain stammt väterlicher- und mütterlicherseits aus einer typisch deutschen Gemengelage aus hochmü-
   tiger Ignoranz, Mitläufertum (bystanders) und Mittäterschaft. Vgl. dazu ebd., S. 77.
18 Ebd., S. 78.
19 Ebd., S. 114.
20 Ebd., S. 84.
21 Ebd., S. 82f.
22 Ebd., S. 101.
23 Ebd., S. 76.
24 Ebd., S. 92.
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seins“26, konkret hier: die Projektion des reuevollen Tätersohnes Efraim Rosenhain, der sich
selbst an einer Shoah-Erzählung mit dem Titel „Warschauers Vermächtnis“ versucht, um sich
und der Öffentlichkeit den Beweis eigener „Stärke und ‚gojischer’ Ebenbürtigkeit“27 zu
erbringen, ästhetisch (und moralisch) damit aber scheitert. So entpuppt sich am Ende die Ge-
schichte des seltsamen Verhältnisses von Juden und Deutschen als Fiktion: als eine von nie-
mand anderem als dem New Yorker Professor Hermann Warschauer aus dem Nachlaß des
mutmaßlichen Selbstmörders Friedrich (nicht Efraim!) Rosenhain herausgegebene Erzählung
eines seit frühester Zeit bereits an einem „phantasmagorische[n] System“, an „Schwindelan-
fälle[n] und Zerrbilder[n]“28 leidenden deutschen Bastardkindes von (latentem und manifes-
tem) Antisemitismus und Entschuldungssehnsucht.
Offeriert Biller dem Leser mit dem übermächtigen und auf den Schuldzusammenhang po-
chenden Warszawski auf der einen Seite das mit allen antisemitischen Klischees ausgestattete
Zerrbild deutscher Schuldprojektionen, so bietet er dem Leser in Gestalt seines Schattens
Efraim Rosenhain zunächst Identifikationsmomente an, lockt ihn regelrecht in die Perspektive
des paranoiden Erzählers hinein (ein ähnliches Verfahren wird Biller in dem Roman „Die
Tochter“ ein weiteres Mal anwenden), um ihm anschließend den Boden des eigenen Vorur-
teils unter den Füßen wegzureißen, Voreinstellungen (positive und negative) immer wieder
aufs Neue in Frage zu stellen: der ‚böse’ Jude, der sich in die Gestalt des Opfers hineinproji-
ziert, ist seinerseits die Projektion eines beschämten Philosemiten, dessen Erzählung der Ver-
such eines Exorzismus, der die Toten los zu werden trachtet. So wird „Harlem Holocaust“
vom Ende her lesbar als Vexierspiel mit Klischees und Projektionen, das die Frage der kultu-
rellen Identität, der deutschen wie der deutsch-jüdischen im Clinch von Schuld und Überle-
bensschuld offenhält.29

III. Täter-Opfer-Diskurs 2: Kulturelle Identität und Fremdheitserfahrung

Fragen der Schuld und der Schuldverdrängung, die Gespenster gebiert, stehen im Zentrum
auch von Billers Roman „Die Tochter“, der dichtungslogisch zugleich um Fragen der Kon-
struktion von Wirklichkeit kreist, um Täuschung und Wahrheit und die Realität des Scheins.
Anschließend an David Vogels Roman „Eine Ehe in Wien“ (1929/30)30 entfaltet Biller in sei-
nem Roman ein doppeltes: die Erfahrung des Fremdseins (als Jude in Deutschland), darin
eingeschlossen das Problem deutsch-jüdischer Identität und eine Suche nach Erlösung, die im
Zusammenbruch aller metaphysischen Sinnordnungsmodelle endet.
Im Mittelpunkt des Romans, der an einem einzigen Tag im winterlichen München der neun-
ziger Jahre spielt, steht der vor seinen Toten, d.h.: um zu vergessen, von Israel nach Deutsch-

25 Als solchen Quäl-Geist läßt der Erzähler sich Warszawski selbst stilisieren (vgl. ebd., S. 111).
26 Manuel Köppen: Auschwitz im Blick der zweiten Generation. Tendenzen der Gegenwartsprosa (Biller,
   Grossman, Schindel), in: Kunst und Literatur nach Auschwitz, hg. von Manuel Köppen in Zusammenarbeit
   mit Gerhard Bauer und Rüdiger Steinlein, Berlin 1993, S. 67-82, S. 70.
27 Biller [Anm. 16], S. 115.
28 Ebd., S. 78.
29 Vgl. dazu auch das Schlußresümee Manuel Köppens. Als Fazit bleibe, „die Aussage, daß allen Ritualen um
   Schuld und Überlebensschuld immer etwas Verlogenes anhaftet, andererseits aber die Aporien der deutsch-
   jüdischen Beziehungen nicht einfach aufzulösen sind und auf beiden Seiten, der deutschen wie der deutsch-
   jüdischen, die Frage einer kulturellen Identität offenbleibt, die sich der Vergangenheit bewußt wäre, ohne in
   manisches Selbstmitleid oder zynische Geschichtsaufbereitung zu verfallen.“ (Köppen [Anm. 26], S. 71.)
30 Biller selbst hat in einem Essay auf diese Beziehung aufmerksam gemacht. Vgl. dazu Maxim Biller: Wo
   Menschen sind, kann es kein Paradies geben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 98, 27.4.2000, S. 52.
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land, in das „Totenland“31 der Täter, geflüchtete Jude Mordechai (Motti) Wind. Im Libanon-
krieg ist er als Soldat zum Mörder geworden. Außer jeder Kontrolle haben er und sein Freund
Eli im Blutrausch mit einem gefangenen Palästinenser (Muamar) das sogenannte „Itzik-
Spiel“32, eine Art russisches Roulette für nur einen Spieler gespielt, den Wehrlosen viehisch
abgeschlachtet und zuletzt mit seinem abgeschlagenen Kopf Ball gespielt. Biller führt diese
Figur eines von seiner Kriegsschuld traumatisierten Mörders am Anfang seines Romans ein
als Voyeur, dem die Wirklichkeit entglitten ist. Buchstäblich nackt steht der Held zu Beginn
vor dem Leser, masturbierend vor einem Porno-Video, auf dem er seine seit zehn Jahren ge-
trennt von ihm bei ihrer deutschen Mutter lebende Tochter Nurit wiederzuerkennen glaubt.
Das Bild der Tochter auf dem Bildschirm öffnet Motti regelrecht die Augen; er kommt sich
wieder zu Bewußtsein und setzt von nun alles daran, die gefallene Tochter aus den Händen
ihrer kalten, bleichen Mutter (die Brecht-Analogie in der Typisierung der deutschen ‚Mutter’
liegt auf der Hand) zu retten und sie heimzuholen in sein warmes Israel.
Die Suche nach der verlorenen Tochter wird zur Reise in die Abgründe der Seele, in das Ter-
rain der verdrängten Erinnerungen. Immer tiefer führt Biller seinen Helden aus dem „dunk-
le[n] Loch des Vergessens“33 in den „weißen Raum seiner Erinnerung“34 zurück, in dem das
Geheimnis einer verdrängten Schuld lauert, die buchstäbliche Leiche im Keller (der Erinne-
rung): der Kriegstote und ein geschändeter Leichnam, ein totes Kind und ein geschändeter
Körper.
Bewußt hat Biller den Status des Erzählten dabei in der Schwebe gehalten. Möglicherweise ist
das Initial der Erinnerung, das erschreckte Wiedererkennen der Tochter, nichts als die Wahn-
idee eines mehrfach Schuldiggewordenen, in dessen paranoides Wahnsystem der Leser wie in
einen Strudel hineingezogen wird, denn: Nurit ist seit zehn Jahren bereits tot, aus dem Fenster
gestürzt, gestoßen allem Anschein nach von Motti selbst, der seine Tochter fortwährend miß-
braucht hatte. Mottis Suche nach der (im durchaus doppeldeutigen Wortsinn) ‚gefallenen’
Tochter, diese Kolportage-Geschichte mit ihren sensationsheischenden Erregungsmomenten
schockierender Obsessionen, bildet so auch nur eine, gleichsam die äußere Schicht eines
komplex geschichteten Zerrbildes, das am Ende alle Gewißheiten verunsichert haben wird.
Alles ist wie beschrieben und zugleich anders: nicht auszuschließen ist, daß auch die Ge-
schichte der geschändeten Tochter nur das Phantasma, die Projektion des traumatisierten Sol-
daten und Mörders ist, der über seine Schuld (dem Mord im Krieg und dem Verlust der Toch-
ter) den Verstand verloren hat; möglicherweise aber ist auch die Geschichte Motti Winds
selbst nur die Projektion des – abgesehen von wenigen, wenn auch nicht zu übersehenden
Kurzauftritten zuvor – gegen Ende des Romans als Double seines Helden auftretenden Ich-
Erzählers, der seine Traumata als Jude in Deutschland, seine Fremdheit im kalten ‚Toten’-
und Mörderland in der Kunstfigur des schuldig unschuldigen Täters Motti Wind überhöht35
und aus einzelnen Fakten und Andeutungen seinem Helden die Geschichte des verzweifelten
Mörders und (Kinder-)Schänders auf den Leib geschrieben hat. Zu nennen sind lediglich die
drei wichtigsten Elemente dieses für den Erzähler bedeutenden Ausgangsmaterials: der Un-
falltod eines Kindes; eine Reportage über „die Verrückten und Verstümmelten von Tel Ha-
schomer“36, einem israelischen Rehabilitationszentrum für kriegstraumatisierte Soldaten, von
deren Qualen das nüchterne Vokabular der Medizin (battle-shock-syndrom) keinen Ausdruck

31 Maxim Biller: Die Tochter. Roman, Köln 2000, S. 13 und passim.
32 Ebd., S. 188.
33 Ebd., S. 229.
34 Ebd., S. 115 und passim.
35 Von der Warte des Ich-Erzählers aus gesehen, liest sich der Roman wie ein Stück der Ablösung und Aufar-
   beitung, auch der Abrechnung: „Heute komme ich mir überhaupt nicht mehr wie Motti vor.“ (Ebd., S. 403)
36 Ebd., S. 390.
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gibt; der Bericht zumal über einen in seiner ‚Schuld’ regelrecht „[ver-]brennenden Panzer-
kommandanten“, den nach zehn Jahren die Erinnerung an seine im Krieg verbrannten Kame-
raden schockartig überfällt, und der erst wieder zur Ruhe kommt, als er gelernt hat, „ohne
Hoffnung zu leben“37. Auch dieser Erzähler ist Vater einer Tochter, dem Anschein nach (und
anders als Nurit, die in Deutschland als Kind aus einem deutsch-jüdischen Verhältnis keine
Zukunft hat) das Produkt einer gelungenen deutsch-jüdischen Symbiose – bis sich am Ende
herausstellt, daß nicht der Ich-Erzähler der leibliche Vater dieses Mädchens ist, sondern ein
nicht-jüdischer Freund der Mutter. So wird die Figur des Täters Motti Wind lesbar auch als
Projektionsfigur einer anderen Schuld, des Lebens in der Diaspora des deutschen „Totenlan-
des“, das der Erzähler mit dem Entschluß, Deutschland zu verlassen, auszulöschen sucht.
Natürlich ist auch dieser Ich-Erzähler, an den der Roman die Aufgabe delegiert, ‚wahr’ zu
sprechen, kein zuverlässiger Erzähler. Möglicherweise führt so auch diese Deutung auf eine
falsche Fährte; die letzten Sätze zumindest schlagen mit einem zweiten Augen-Blick des Er-
schreckens den Bogen zurück zum Anfang; Motti erwacht aus dem Alptraum des Romans,
nur um sich in diesem wiederzufinden:
       Bloß nicht umdrehen, dachte er, und er fuhr mit der Hand unter die Decke und be-
       rührte sein nacktes Bein. Die Hand zuckte zurück, so schnell, als hätte er sich ver-
       brannt, und danach lag er wieder eine Weile ganz still da. Schließlich, fast ohne
       sein Zutun, begann die Hand erneut unter die Decke zu wandern, sie schob sich
       forschend über Bein und Hüfte, und als sie seinen samenverklebten Bauch
       erreichte, zuckte sie abermals wie von selbst zurück. Schade, dachte er, wirklich
       schade, denn er hatte einen Moment lang tatsächlich geglaubt, es sei alles gut.
       Dann richtete er sich im Bett auf, er stopfte das Kissen hinter den Rücken und sah
       auf den Bildschirm. Das Standbild zitterte leicht, aber er konnte sie genau erken-
       nen – er sah ihr schmales polnisches Gesicht, die eng zusammenstehenden Au-
       genbrauen, die dunkle, lange Nase, die blassen Lippen. Alles war wie vorhin, be-
       vor er eingeschlafen war, nur ihr Haar kam ihm heller, lockiger vor, und dann
       schob Motti die Bettdecke leicht zur Seite, er nahm die Fernbedienung und drück-
       te auf Start.38
Der im Rahmen einer zum Blutrausch gesteigerten Verkehrung der Opfer-Täter-
Konfiguration begangene Mord an dem Palästinenser Muamar stellt das Bindeglied dar zwi-
schen Motti und seiner neuen Heimat. Motti wechselt gleichsam die Fronten: aus Israel, das
aus Angst vor Schwäche sich zu einer Überlegenheit aufschwingt, die buchstäblich über Lei-
chen geht39, läuft er über „zum historischen Feind [...], mit dem er nichts als Auschwitz-
Erzählungen teilt.“40 Die bizarre Verdrängungsleistung der Deutschen läßt Motti dieses
Deutschland anfangs noch als Gegenbild erfahren zu dem Land seines Herkommens, das er
nicht mehr ertragen zu können geglaubt hat, „weil hier alles immer nur Krieg war, echter und
falscher Krieg, Krieg gegen die Araber wie gegen die eigenen Leute“41. In Deutschland wird
Motti „ruhiger“42 und in den Armen seiner deutschen Frau Sofie, die für ihn zum Judentum
konvertiert, beginnt er wie die Deutschen ihre historische ‚große’ Schuld nun auch seine

37 Ebd., S. 390.
38 Ebd., 425f.
39 Vgl. dazu den Kurzauftritt der Menschenrechts-Anwältin Felicia Langer im Roman (ebd., S. 177ff.).
40 Thomas Wirtz: Beglückend wie die Nähe von Galeerensklaven auf der Ruderbank. Wo Hass und Liebe eins
   sind: Maxim Biller hat einen großen Roman über die gegenwärtige Vergangenheit geschrieben, in: Frankfur-
   ter Allgemeine Zeitung, Nr. 68, 21.3.2000, S. L2.
41 Biller [Anm. 31], S. 72f.
42 Ebd., S. 73.
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‚kleine’ Schuld zu vergessen: die Erinnerung schweigt: „Er hatte“, so heißt es an einer Stelle
des Romans, „in München von einem Tag auf den anderen den Krieg vergessen. Ja, wirklich,
er hatte ihn praktisch aus seinem Gedächtnis gelöscht“43.
Dieses – zumindest temporär glückende – Vergessen der eigenen (und der kollektiven)
Kriegs-Geschichte bildet die Folie für die Wiederkehr der Erinnerung als Schuld, von der
Biller in „Die Tochter“ erzählt. Was Heimat werden sollte (und es anfangs zunächst auch zu
werden schien, weil Deutschland mit seinem „krankhaften Philosemitismus“ einfach der per-
fekte „Ort des Vergessens“ ist44), wird für Motti bald wieder zur Hölle, zu einem anderen
Alptraum: Die Ehe zwischen Motti und Sofie, zwischen Juden und Deutschen, wandelt sich
zum Kriegsschauplatz, auf dem der von seinen Gespenstern gejagte Jude die gemeinsame
Tochter Nurit, Frucht und Spiegelbild einer ‚kranken’ Beziehung, des Ausnahmezustands
zwischen Juden/Fremden und Deutschen, zur Komplizin macht im Kampf gegen die kalte
deutsche Mutter, ohne daß er sich von ihr zu lösen imstande wäre. Das Entscheidende des hier
einspielenden Inzestmotivs liegt weniger dabei in seinem Erregungswert, als vielmehr in der
Verwandlung des Täters in das Opfer mit der Tat, die die Verlagerung der kollektiven Kriegs-
schuld in die innere Biographie begleitet. Das Vergehen an der Tochter und das Vergehen an
dem gefangenen Palästinenser – beides macht Motti zum Opfer seiner Tat, denn er kann der
Erinnerung an seine Schuld von nun an nicht mehr entkommen, die ihn in seinen Tagträumen
heimsucht. Insofern ist die (zweite) Schändung der Tochter auch nicht mehr als Spiegelfolie
der (ersten) Schändung des gemordeten Palästinensers.
Zwar gibt die Erfahrung, schuldig geworden zu sein, den Anlaß für Mottis Reise. Die damit
verbundene Kritik am Eingreifen Israels in den Libanonkrieg und an der politischen Legiti-
mierung rassistischer und aggressiver Verhaltensmuster unter umgekehrten Vorzeichen aller-
dings ist allenfalls ein sekundäres Element des Romans, dem es nur am Rande um die absurde
Situation eines Konflikts geht, in dem Israelis/Juden und Palästinenser zum „Schatten“45 der
jeweils anderen geworden sind. Die an der Oberfläche liegende Geschichte des schuldigen
Opfers, in die – vermittelt über die Eltern des Helden – die Shoah als ferne Referenz einer
vergangenen Schuld eingelassen ist, gibt vielmehr dem spekulativen Diskurs um eine spiritu-
elle Sinnsuche Halt, die die Versprechen der Erlösung dementiert, die den an die Idee des
Opfers angelagerten Erinnerungskonzeptionen eignet. Bereits Mottis Wahl der neuen Heimat
im Land der Täter mutet an wie eine Abirrung vom Weg der Sühne, den Motti mit seinem
Weggang aus Israel seiner selbst unbewußt beschritten hat. Ursprünglich nämlich war Indien
sein Reiseziel gewesen, das Sehnsuchtsziel mystischer Erfahrung vieler junger Israelis auf
ihrer Suche nach spiritueller Erleuchtung.46 Die Liebe zu der Deutschen Sofie, der er im Flug-
zeug näher kommt, bringt ihn von diesem Weg ab; bei einem Zwischenstopp in München
verläßt er den Weg von Tel Aviv nach Neu Dehli (zur Erleuchtung), um seiner neuen Gelieb-
ten zu folgen.
Wiederholt spricht der Erzähler von Mottis Angst und seiner Suche nach Hilfe, nach einem
Gott; immer wieder läßt er, gesteigert bis zum negativen Gottesbeweis, seinen Helden mit
Gott rechten, mit den Propheten und Patriarchen, allen voran Moses, dem Zeugen des abwe-

43 Ebd., S. 92.
44 Biller [Anm. 5], S. 116.
45 Vgl. zu diesem Begriff Joshua Sobol: Im Reich der Schatten, in: Theater heute, 4, 1992, S. 68: „Im israe-
   lisch-palästinensischen Konflikt sind Juden und Palästinenser jeweils zum Schatten des anderen geworden.
   Die Palästinenser sprechen manchmal von sich als von ‚den neuen Juden des mittleren Ostens’ oder ‚den Ju-
   den unter den Arabern’.“
46 Genau genommen hatte ihn bereits der Libanonkrieg von diesem Weg abgebracht. Vgl. dazu Biller [Anm.
   31], S. 14f.
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senden Gottes.47 Diese als Theodizee-Diskussion angelegte Gottessuche kulminiert in einem
ekstatischen Seelen-‚Aufstieg’ Mottis in den Himmel – einer Art Gegenstück jener anderen
Aliah, von der mit seinem Helden auch der Erzähler träumt. Biller hat dieser Schlüsselszene
seines Romans ein besonderes Gewicht verschafft durch die motivliche Anlehnung an die
visionäre Merkaba- und Hechalot-Mystik mit ihren Beschreibungen des göttlichen Thronwa-
gens (dies in Anlehnung an die Theophanie des Propheten Ezechiel) und der himmlischen
Hallen und Paläste. Zum Teil wörtlich zitiert Biller insbesondere aus dem im 6. Jahrhundert
entstandenen „Traktat von den himmlischen Hallen“ sowie dem späteren chassidischen „Ma-
nifest des Baal-Schem-Tov“ [Rabbi Israel ben Elieser]48, projiziert so den Weg seines Helden
auf die Lehre vom Abstieg in die Merkaba, der als Seelenaufstieg gedacht ist, zugleich als
Annäherung an das göttliche Geheimnis, in dem sich das Rätsel der Erlösung entdeckt. Mottis
Seelenaufstieg aus der Dunkelheit der Geistesnacht (Mottis Umnachtung) ins Licht der Er-
kenntnis und Wahrheit, die seinen Erkenntnisprozeß zusammenfaßt, beginnt mit einem Erlö-
sungsversprechen, das den Tag der Erzählhandlung im Duktus prophetischer Verkündigungen
wiederholt – und den Leser zunächst auf eine falsche Fährte setzt: „UND ES WAR IN SEINEM
SIEBZEHNTEN deutschen Jahr und im zehnten Jahr von Nurits schrecklichem Fall, am Ende
des siebten Tags des zwölften Monats, daß eine große schwarze Dunkelheit Mordechai um-
gab, die sich gleich wieder lichtete, und ein greller weißer Schein trat an ihre Stelle, in dem
alles, was er nun sah, alles bedeutete und nichts, und jeder Schmerz verwandelte sich in die-
sem Gleißen in Wohlgefühl, und jede Untat wurde darin wie in einem rückwärtslaufenden
Film für immer gelöscht und jede Furcht auf Ewigkeiten vergessen gemacht.“49
Motti, der nun durchgehend bei seinem vollen Namen, Mordechai, genannt wird, legt „alle
selbstsüchtigen und kleinmütigen Ängste“50 ab und stürzt sich aus dem Wohnungsfenster
„seiner stummen, fallenden Tochter hinterher“51. Gemeinsam mit ihr sinkt und fällt er, „um
aufzusteigen zum Haus Israel“52. Noch einmal nimmt der Text in diesem Zusammenhang die
Indien-Thematik53 auf, wenn sich unter den Fallenden der Boden öffnet und der Blick frei
wird auf die unterste der „sieben Hallen der unbeschreibbarsten, unbekanntesten Herrlich-
keit“54, zugleich sich die Bewegung des Falls umkehrt zum Aufstieg durch die sieben Him-
mel: „da sie sich so angesehen hatten, drehten Erde und Himmel sich, und es begann ihr Auf-
stieg aus ihrem Fall und aus dieser Stadt.“55
Begleitet wird Mottis Aufstieg durch die sieben Hallen von der Wiederkehr der Erinnerung
und der sie begleitenden Auslöschung der Schuld – an Muamar, dem Palästinenser, und an

47 Vgl. ebd., S. 284ff.
48 Biller zitiert unter anderem aus dem dritten und vierten Abschnitt des „Traktats von den himmlischen Hal-
   len“ (abgedruckt in: Jüdischer Glaube. Eine Auswahl aus zwei Jahrtausenden, hg. v. Kurt Wilhelm, Bremen
   1961, S. 211-226) und dem sogenannten Manifest des Baal Schem über die Dinge, die er bei seinem Seelen-
   aufstieg in den Himmel geschaut hat (abgedruckt in: Jüdische Geisteswelt. Zeugnisse aus zwei Jahrtausen-
   den, hg. v. Hans Joachim Schoeps, Dreieich 1980, S. 214-216).
49 Biller [Anm. 31], S. 413.
50 Ebd., S. 417.
51 Ebd., S. 417.
52 Ebd., S. 416.
53 Vgl. ebd., S. 418. „Sogleich wurde es wieder vollkommen dunkel um sie herum, und Vater und Tochter fie-
   len in einer Finsternis aus Gewölk und Wolkendunkel noch tiefer hinab, sie fielen Arm in Arm, Wange an
   Wange, Atem in Atem, und es war wie in einem Flugzeug auf dem Weg nach Indien, während es die Wol-
   kendecke durchbricht und man beim Blick aus dem Fenster absolut nicht begreift, ob es nach oben geht oder
   nach unten, nach Indien oder ganz anderswo hin.“
54 Ebd., S. 418.
55 Ebd., S. 419.
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Nurit, der Frucht der unmöglichen Verbindung von Deutschen und Juden –, zumindest hat es
zunächst den Anschein. Nurit aber verläßt den Vater, geleitet von Muamar. Noch einmal er-
blickt der Alleingelassene die sieben Hallen; diesmal aber brennt in jeder von ihnen ein Feu-
ermal seiner Schuld, die der Text in Analogie zu den sieben Hallen in siebenfacher Weise
stuft. Vorbei an den Torwächtern kämpft Motti sich vor bis an den göttlichen Thron, verbren-
nend in seiner Schuld wie der Panzerkommandant von Tel Haschomer. Biller faßt in dieser
Passage noch einmal den Weg seines Helden zusammen; sie sei darum hier in aller Ausführ-
lichkeit zitiert:
      Und die sieben Hallen, in die Mordechai derart geschleudert ward, waren voll
      Kohlen und Fackeln und Pfeilen und Blitzen, und sie waren voll Säulen aus Koh-
      len und Säulen aus züngelnden Flammen und Säulen aus Fackeln und Säulen aus
      Blitzen und Säulen aus Feuer, die so hoch waren wie der Abstand von der Erde
      bis zur höchsten der höchsten Sphäre. [...] und doch konnte Mordechai jede der
      Hallen von den andern sechs unterscheiden, sie hatten jede ihren eigenen Eingang
      und jede ihren eigenen Wächter, und jeder der Wächter wollte ihn nicht hineinlas-
      sen, aber Mordechai schaffte es trotzdem, an ihnen vorbeizukommen, denn er
      kannte sie alle, und er wollte auch nicht mehr frieren und brennen, er wollte end-
      lich ankommen vor dem König der Könige und ihm sagen, daß er kein Schwein
      mehr sei, weil er alles in Ordnung gebracht habe, doch wenn er sähe, daß es kei-
      nen König der Könige gab, nicht oben und nicht unten, nicht links und nicht
      rechts, dann um so besser. [...] Und Myriaden von Dienstengeln sahen ihm sin-
      gend und flehend dabei zu, wie er sich im Streit und Kampf mit seinen Widersa-
      chern verzehrte, und sie alle waren vom Ballen ihres Fußes bis zum Scheitel ihres
      Hauptes voll Augen, und jedes dieser Augen war wie eine Mondkugel, und sie
      schauten damit. Sie schauten, wie er brannte in seinem Kampf und Streit, aber
      nicht durch die Flammen und Fackeln und Blitze und Feuer um ihn herum, die ihn
      ebenfalls aufhalten sollten auf dem Weg hinauf und hinab, er brannte aus sich
      selbst, er brannte-brannte-brannte, er war selbst eine feurige Fackel, sein Fleisch
      war zu Flammen geworden, seine Adern zu loderndem Feuer, seine Wimpern zu
      sprühenden Blitzen und seine Augäpfel zu feurigen Bränden, und er hatte keine
      Hände und Füße mehr, da sie ihm ebenfalls verbrannt waren bei seinem Gang
      hinauf und hinab, er war so verstümmelt wie Imas Jungs von Tel Haschomer, aber
      er schritt dennoch so leicht wie noch nie und bar jeder Furcht hinauf und hinab,
      denn er wollte endlich wissen, was sich hinter dem letzten Vorhang aus Feuer vor
      dem Thron von Licht verbarg, den er vor sich sah, und natürlich war er nervös.56
Die erhoffte Teilhabe am Göttlichen, an Gottes Einheit, Heiligkeit und Segensfülle aber bleibt
aus. Die ekstatische Erfahrung der Gottesschau, Ziel des Abstiegs der Seele in die himmli-
schen Hallen kehrt sich in Billers Roman um in die Erfahrung der Leere: der Himmel leer.
Das psychoanalytische Modell der erinnernden Seelenentblößung, dem der Roman an seiner
Oberfläche folgt, führt nicht zur Erlösung – weder auf der psychischen noch auf der theologi-
schen Ebene; Schuld wird vielmehr auf Dauer, am Ende alles wieder auf Anfang gestellt: die
im mystischen Modell des Seelenaufstiegs antizipierte eschatologische Perspektive hat in der
realen Geschichte keine Überzeugungskraft, das Rätsel der Theodizee bleibt ungelöst. Morde-
chai durchschreitet so den letzten vor das Allerheiligste gehängten Vorhang (die Analogie zu
Schillers philosophischem Gedicht „Das verschleierte Bild zu Sais“ liegt auf der Hand) – und
entdeckt das Nichts, den banalen Kinderglauben hinter den theologischen Lehren (auf dem
Thron der göttlichen Herrlichkeit, der sich im obersten der sieben Himmel befindet, im Ara-
both, sitzt ein Kinderspielzeug: sein in Kindertagen verlorener Plüschfrosch Bubtschak, von

56 Ebd., S. 422f.
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dem ihm der Vater erzählt hatte, er sei auf Reisen gegangen und zuletzt auf der Insel der
Plüschtiere heimisch geworden):
       Und hinter dem Vorhang war es hoch wie im Himmel, und darüber war es gestal-
       tet wie ein Saphir, und der sah aus wie ein Stuhl; und auf dem Stuhl saß einer, der
       sah aus wie ein großer grüner Frosch aus durchgescheuertem Plüsch. Und Morde-
       chai sah all dies, und es war lichthell, und in dem Thron des Froschs war es
       gestaltet wie ein Feuer um und um. Von seinen Lenden auf- und abwärts sah er es
       wie Feuer glänzen um und um. Gleichwie der Regenbogen schimmert in den
       Wolken, wenn es geregnet hat, glänzte es um und um. Und dies also war das An-
       sehen der unbeschreibbaren, unbekannten Herrlichkeit des Herrn, und da Morde-
       chai es gesehen hatte, fiel er auf sein Angesicht und hörte den Frosch reden. Und
       er verstand kein einziges Wort, und es war ihm egal.57

IV. Für eine Literatur des Widerspruchs

Daß er seine Geschichten wie am Reißbrett konstruiere, dabei die Plausibilität vernachlässige
und seine Figuren zu bloßen Illustrationsinstrumenten seiner Thesen degradiere, gehört noch
zu den gelinderen Vorbehalten, auf die Biller mit seinen Erzählungen immer wieder stößt.58
Obszönität im Kalkül des Tabubruchs, Profilierungssucht haben andere Kritiker Biller vorge-
worfen59; er verstelle mit dem brachialen Gestus seines Erzählens sensibles Terrain60, handle
„unverantwortlich und dumm“61. Biller selbst versteht seine Texte als Herausforderung eines
von ihm konstatierten moral- und idealismusresistenten Systemopportunismus in der Kunst,
der die alte Trias vom Guten, Wahren und Schönen als Perspektive gerade auch der Literatur
preisgegeben habe.62 Allein „wenn die toten Juden aus ihren Gräbern gezerrt werden oder sich
von allein aus ihnen erheben, und wenn es um die Reinigung von der bösen historischen deut-
schen Erbschuld geht“, so Biller in seinem Vortrag „Über die Schwierigkeiten beim Sagen der
Wahrheit“, weiche die moralische Gleichgültigkeit in den öffentlichen Diskussionen einer
doppeldeutigen Aufgeregtheit, während die Literatur und die Filme aus Deutschland zu die-
sem Thema Kopfgeburten blieben, ohne Zugang zu dem, was Biller vage die „letzten Din-
ge“63 nennt, ohne Zugang vor allem auch zu den „Seelen“64 der Leser.65
Weniger die Kritik an der moralischen Indifferenz der Spaß- und Infotainmentgesellschaft, als
vielmehr der apodiktisch-lehrhafte Anspruch, mit dem Biller diese Beobachtung in ein allge-

57 Ebd., S. 424.
58 Vgl. Hajo Steinert: Hardcore-Realismus. Maxim Billers neue Erzählungen, in: Die Zeit, Nr. 45, 4.11.1994.
   Leonore Schwartz: Die einsamen Väter und die selbstgerechten Söhne, in: Der Tagesspiegel, Nr. 15052,
   5.10.1994.
59 Vgl. Matthias Schubert: Wie man sich ins Gespräch bringt. Vom Unterschied zwischen Mitteilungsdrang und
   Literatur, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 102, 3.5.1990, S. 34.
60 Vgl. Ulrich Fuchs: Opportunismus und Verrat in Zeiten des Krieges. Neue Geschichten von Maxim Biller,
   dem Provokateur und enfant terrible: „Land der Väter und Verräter“, in: Badische Zeitung, Nr. 71,
   25.3.1995, S. 4.
61 Wolfgang Rüger: Einsame Erektionen. Maxim Biller, Wenn ich einmal reich und tot bin, in: Tageszeitung
   (Berlin), Nr. 3138, 22.6.1990, S. 16.
62 Biller [Anm. 7], S. 47.
63 Ebd.
64 Ebd.
65 Stellvertretend nennt Biller Bernhard Schlink („Die Vorleserin“), Marcel Beyer („Flughunde“) und Romuald
   Karmakar („Nichts als die Wahrheit“).
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meingültiges ästhetisches Modell umzuschreiben versuchte, sorgte für Irritation und Wider-
spruch.66 Gerade hier aber, wo Biller umstandlos Kunst mit Moral identifiziert, gewinnt seine
Polemik ihre für sein Anliegen unverzichtbare Schärfung, geht es Biller in diesem Teil seiner
Rede doch um den Nachweis, daß „die Unfähigkeit, von Moral zu träumen, zu erzählen bei
den meisten deutschen Schriftstellern, egal ob Pop- oder nicht Pop-, egal ob jung oder nicht
mehr ganz so jung, nicht nur ein moralisches, sondern auch ein ästhetisches Problem“ darstel-
le.67 Der morallosen „Schlappschwanz-Literatur“68 wiederum stellt er eine (seine) realistisch-

66 Vgl. Matthias Altenburg: Alles Kohl. Welche Moral braucht die Literatur?, in: Die Zeit, Nr. 17, 19.4.2000, S.
   48. Altenburg kritisiert in seiner Replik insbesondere die Kurzschlüssigkeit der von Biller für die Literatur
   gezogenen Folgerungen. Der „angeblichen ‚Schlappschwanz-Literatur’“ setze Biller eine „Deppen-Ästhetik“
   entgegen, die in doktrinärer Weise die Pluralität und Polyphonie der Kunst zugunsten einer einzigen, der von
   Biller geforderten realistischen Schreibweise verenge. Bereits der von Biller ins Feld geführte Moralbegriff
   sei „reaktionär“ und „kunstfeindlich“, sein Ästhetik-Modell zumal bleibe vollends weit hinter der Radikalität
   der eigenen Forderungen zurück; sie sei getragen von einem vormodernen Ästhetik-Verständnis, diene letzt-
   lich allein Marktinteressen und bringe im ganzen genau jene Anti-Intellektualität zum Ausdruck, gegen die
   sie zu Felde ziehe: „Das gibt sich forciert und redet doch in Wahrheit einem handzahmen Realismus das
   Wort, der von den Verlegern mit dem Vibrato des Begehrens ‚gehobene Unterhaltung’ genannt wird und sich
   seit fünf Jahren auf dem deutschen Buchmarkt ausbreitet wie ein Karzinom. Sein Erfolg beruht darauf, dass
   er dem folgt, was der‚gesunde Menschenverstand’ einzig als‚wahre Kunst’ gelten lässt, nämlich das Ver-
   ständliche, auf das mit Einverständnis auch der Dümmste reagieren kann. [...] Billers Verständnis von Litera-
   tur ist kein Gegenentwurf zum kulturellen Rollback der Kohl-Ära, sondern dessen Produkt. Es ist anti-
   intellektuell, antiliterarisch und das Gegenteil von Aufklärung. Während es noch glaubt, dem Volk aufs Maul
   zu schauen, redet es diesem schon längst nach dem Mund.“
67 Biller [Anm. 7], S. 49. Biller hat hier Thesen seines früheren „Grundsatzprogramms“ für einen neuen Rea-
   lismus aufgegriffen. Vgl. dazu: Soviel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel. Warum die neue deutsche Li-
   teratur nichts so nötig hat wie den Realismus. Ein Grundsatzprogramm. In: Die Weltwoche, Nr. 30,
   25.7.1991, S. 34. Biller attestiert der Gegenwartsliteratur in diesem Beitrag einen blutleeren Intellektualis-
   mus. Die tonangebenden Bücher seien „sperrige, abweisende Ideen- und Wortkonstrukte, ohne Sinn für
   Dramaturgie – und außerdem aber ungangbare Ausflüge in die unwichtigen Seelenqualen ihrer unwichtigen
   Wohlstandsgesellschaft-Autoren“, Produkte eines „Exorzismus nach echter Akademikerart“, mit der der
   deutschen Literatur „jedes Leben, jedes Stück Wirklichkeit und der Wille zur Aussenweltkommunikation
   ausgetrieben“ worden sei. Der Wirklichkeitsferne eines narzißtischen Ästhetentums hält er die an andere
   Stelle auf die griffige Formel „Literatur ist einfach Inhalt, basta, aus.“ (Literatur ist Inhalt, basta, aus! Maxim
   Biller im Gespräch mit Norbert Kron, in: Konzepte 9, 1993, Nr. 14, S. 23-37, S. 37) verkürzte Forderung
   nach einer „Verbindung von Journalismus und Literatur“ entgegen (gemeint ist die durch Recherche vermit-
   telte Aneignung faktischer Realität im Unterschied zu narzißtischer Selbstbespiegelung); die Aneignung der
   res factae schärfe nicht allein den Blick für die Wirklichkeit, sie lehre auch eine verständliche, publikums-
   wirksame Art und Weise des Schreibens: „Realismus“ sei für die Literatur „lebensnotwendig“. Literatur sei
   „nichts anderes als eine stete, ewige Recherche des menschlichen Daseins, der Geschichte des einzelnen, ei-
   ner Gruppe, eines Volkes, des ganzen Menschengeschlechts. Und so ist jeder Text, den ein Schriftsteller
   schreibt und der ihm gelingt, ebenso die Reportage seines eigenen Lebens als auch des Lebens all derer, die
   sich auf ihn einlassen wollen und können, die seinen Stil mögen, die seine Metaphern spüren, die seine Dia-
   loge komisch oder ergreifend finden und seine Einsichten so was wie visionär. Die er packt. Die mit ihm et-
   was erleben wollen und die durch ihn plötzlich etwas Neues von sich selbst verstehen. So einfach ist das, und
   es ist mir völlig egal, ob gerade ich all das vermag, was ich da so leichtfertig verlange, denn es steht hier oh-
   nehin nicht zur Debatte. / Ich glaube, man kann die Literatur retten. Man muss einfach nur so lange gegen die
   selbstgefällige Sturheit der Altavantgardisten und Literaturnomenklaturisten anreden und anschreiben, bis es
   wieder anständige Romane gibt. Romane, die man in einem Ruck durchliest. Die man liebt, die man genauso
   atemlos und gebannt durchlebt wie eine gute Reportage, einen prima Film. Romane, die von allem Mögli-
   chen handeln werden, bloss nicht davon, dass es keine Romane mehr gibt.“
68 Zum Begriff der „Schlappschwanz-Literatur“ vgl. Biller [Anm. 7], S. 49: „Ich nenne so was Schlapp-
   schwanz-Literatur. Es ist eine Literatur, an der man merkt, dass ihre Verfasser sich längst selbst aufgegeben
   haben, so wie sie überhaupt den Kampf gegen das Schlechte und für das Gute in unserer verschwiegenen
   Wohlstandsmeinungsdiktatur aufgegeben haben, und darum haben sie, noch bevor sie den ersten Satz hinge-
   schrieben haben, auch schon ihre Romanfiguren aufgegeben. So geistern durch unsere Gegenwartsliteratur
   Dutzende von Papierleichen, die nichts wollen, nichts hassen, nichts lieben; die nicht fallen können, nicht
   schreien, nicht töten. Ihre Handlungen können – im Sinne der aristotelischen Katharsis – niemanden scho-
                                                         13
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