BÜRGERSCHAFTLICHES ENGAGEMENT - SPD Berlin
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Zeitung der Berliner Sozialdemokratie | Nr. 7 · 2018 | 68. Jahrgang TI TE LT H E MA BÜRGERSCHAFTLICHES ENGAGEMENT SAWSA N C H EB LI BA H N HOFSMISSION VO R 6 0 JA H R EN Nicht im Zuschauermodus „Die blaue Weste macht Die „Berliner Abendschau“ verharren uns alle gleich“ geht auf Sendung
Text Michael Müller Foto Carolin Weinkopf Mehr Menschlichkeit Eine Stadt lebt von den Menschen, die Ich möchte die Berlinerinnen und in ihr wohnen. Die tagtäglich mit ihrem Berliner ermutigen, sich Initiativen wie Engagement etwas dazu beitragen, der Berliner Tafel, der Telefonseelsorge damit Berlin der wundervolle Ort bleibt, oder den Lesepaten anzuschließen. der er ist. Menschen, die anderen unter Die Vielfalt ist groß. Und: Engagement die Arme greifen und sie stützen, wenn fängt im Kleinen an: Vorlesen in Kitas sie Hilfe benötigen. Die nicht lange und Schulen, Einkaufen für die ältere fragen, sondern aktiv etwas verändern. Nachbarin, Babysitten für die allein- Ich freue mich sehr, dass wir diese erziehende Freundin. Jeder kann seinen Ausgabe der Berliner Stimme all jenen Beitrag für die Gesellschaft leisten. Menschen widmen, die einen Großteil ihrer Zeit ehrenamtlich zur Verfügung Wir brauchen mehr Menschlichkeit. stellen. Denn das ist alles andere als Das solidarische Berlin kann nur selbstverständlich. gemeinsam gelingen. Es ist die Mitmenschlichkeit, die eine Gesellschaft lebenswert macht. Nicht Herzlich wegschauen, wenn wir Ungerechtig- Euer keiten begegnen, Verantwortung nicht abschieben, sondern sie selbst über- nehmen. Eine Hand ausstrecken, statt sie zurückzuziehen. Wir Politiker ver- danken den Ehrenamtlichen viel und ich begegne ihrer Arbeit voller Respekt. Es ist mir ein Anliegen, die Bedingungen für das bürgerschaftliche Engagement zu verbessern und zuzuhören, wenn sich Initiativen sich an uns wenden, um E ihrerseits Hilfe zu bekommen. D I T O R I A L B ER LI N ER STIMME 3
TI TE LTH E MA Bürgerschaftliches Engagement 02 EDITORIAL 06 GASTBEITRAG Mehr Menschlichkeit Bürgerschaftliches Engagement Text Michael Müller stärkt Zusammenhalt Foto Carolin Weinkopf Text Sawsan Chebli Foto Senatskanzlei Berlin 08 PORTRÄT: SABINE WERTH 11 TELEFONSEELSORGE BERLIN Die Mutter aller Tafeln Feuerwehr der Seele Text Christina Bauermeister Text Ulrich Schulte Döinghaus Fotos Dietmar Gust & Privat Foto Telefonseelsorge Berlin Lebensmittel für mehr als 300 soziale Einrich- tungen: Seit 25 Jahren gibt es die Berliner Tafel. Mehr auf den Seiten 8-10 Foto: Christina Bauermeister 12 BETTERPLACE.ORG 13 TECHNISCHES HILFSWERK Digitaler Support für eine bessere Welt Nichts für Superhelden Text Birte Huizing Text & Foto Foto betterplace.org Christina Bauermeister 14 SV ROT-WEISS VIKTORIA MITTE 08 E.V. 15 INTERVIEW MIT CAROLA SCHAAF-DERICHS Integration am Ball „Knoten im Netzwerk“ Text & Foto Fragen & Foto Ulrich Schulte Döinghaus Christina Bauermeister 18 BERLINER BAHNHOFSMISSION I „Die blaue Weste macht uns alle gleich“ N H Text Christina Bauermeister A Fotos Christina Bauermeister L T & Berliner Bahnhofsmission 4 B ER LI N ER STIMME
AUS DEM LAN DESVER BAN D Berliner Stimmen 22 INTERVIEW MIT ERKAN ERTAN 23 SPD ERNEUERN Trainer fürs politische Ehrenamt Treppensteigen für den Wiederaufstieg Fragen Christina Bauermeister Text Volker Warkentin Foto Privat Fotos Wiebke Neumann & Privat VERMISC HTES Kultur & Geschichte 26 FOTOSTRECKE: 28 REZENSION: DAS NETZWERK SOMMEREMPFANG „NEU BEGINNEN“ UND DIE DER SPD BERLIN BERLINER SPD NACH 1945 Gemeinsam für Berlin Konspirative Netzwerker Text Birte Huizing Text Ulrich Horb Fotos Hans Kegel Foto Verlag für Berlin-Brandenburg 29 HISTORIE: 60 JAHRE ABENDSCHAU „Durch Berlin fließt immer noch die Spree“ Text Alexander Kulpok Fotos Privat IMPRESSUM Berliner Stimme Mitarbeit an dieser Ausgabe Zeitung der Berliner Sozialdemokratie Sawsan Chebli, Ulrich Horb, Alexander Kulpok, Herausgeber Ulrich Schulte Döinghaus, Volker Warkentin SPD Landesverband Berlin, Grafik Nico Roicke und Hans Kegel Landesgeschäftsführerin Anett Seltz (V.i.S.d.P.), Müllerstraße 163, 13353 Berlin, Foto Titelseite Dietmar Gust · Berliner Tafel e.V. Telefon: 030.4692-222, E-Mail: spd@spd.berlin Webadresse: www.spd.berlin Abonnement 29 Euro pro Jahr im Postvertrieb I Redaktion Abo-Service Telefon: 030.4692-144, N Christina Bauermeister und Birte Huizing H Fax: 030.4692-118, berliner.stimme@spd.de A Telefon: 030.4692-150 L E-Mail: redaktion.berlinerstimme@spd.de Druck Häuser KG Buch- und Offsetdruckerei Köln T B ER LI N ER STIMME 5
Text Sawsan Chebli Foto Senatskanzlei Berlin Bürgerschaftliches Engagement stärkt Zusammenhalt Ehrenamt und persönlicher Einsatz für die Gesellschaft sind zu einer harten politischen Frage geworden Es ist etwas ins Rutschen geraten. Enorme Fliehkräfte zerren am gesellschaftlichen Zusammenhalt. Hass verbreitet sich nicht nur im Netz, sondern im richtigen Leben. Menschen, die seit Jahrzehnten unter uns leben und sich als Berlinerinnen und Berliner sehen, wird zugerufen: „Flüchtlinge, haut ab!“. Frauen wird auf offener Straße das Kopftuch heruntergerissen. Es hat sich etwas verändert, nicht erst seit den jüngsten Ereignissen in Chemnitz. Wir müssen uns Sorgen um unser friedliches und weltoffenes Land machen! Gerade jetzt ist bürgerschaftliches Engagement wichtiger denn je. Dieses Engagement kommt nicht von selbst. Es beginnt damit, dass wir nicht im Zuschauermodus verharren, sondern uns auf die elementaren Werte besinnen, die Generationen für uns erkämpft haben: Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Es geht um persönlichen Einsatz. Es geht um einen Rechtsstaat, der gegenüber seinen Feinden Stärke und Entschlossenheit zeigt. Und es geht darum, dass wir die Kräfte der Zivil- gesellschaft stärken. Ehrenamt und zivilgesellschaftliches Engagement sind zu einer harten politischen Frage geworden. Wir sind auf die Verteidigung unserer Demo- T I kratie angewiesen, auf Zivilcourage im Alltag, die Präsenz im öffentlichen T Raum, den wir den Feinden der Demokratie nicht überlassen dürfen. Gut, E L dass in Berlin starke demokratische Bündnisse genau dafür einstehen. 6 B ER LI N ER STIMME
sammenhalt. Wir bauen die Ehrenamts- karte zu einem attraktiven Instrument der Anerkennung aus, das wir jetzt auch für junge Engagierte und die Inhaber der Jugendleiter/In-Card „Juleica“ öffen. Einmal jährlich laden wir Stolperstein- Initiativen aus der ganzen Stadt ein, um ihr Engagement zu würdigen und sie darin zu unterstützen. Mit dem Arbeits- kreis gegen Antisemitismus, in dem Experten aus der Zivilgesellschaft mit- wirken, erarbeiten wir gerade Hand- lungsempfehlungen für Politik und Ver- waltung. Und Anfang Dezember werden OBEN wir erstmals den #FARBENBEKENNEN- Sawsan Chebli Award vergeben. Mit ihm sollen Geflüch- tete ausgezeichnet werden, die sich einbringen und Begegnung ermöglichen. Als Staatssekretärin für bürgerschaft- Vielfach werden Geflüchtete nur als liches Engagement begegne ich in allen passive Empfänger von Unterstützung Teilen der Stadt großartigen Menschen, gesehen. Viele von ihnen sind längst die oft im Stillen Tolles leisten. Fast 40 aktiv und machen sich für unsere demo- Prozent der Berlinerinnen und Berliner kratischen Werte stark. Darin möchte engagieren sich freiwillig. Sie stehen ich sie bestärken und dieses Engagement Menschen in Notsituationen zur Seite. sichtbar machen, auch um Hass und Sie organisieren Kulturprojekte, trainie- Vorurteilen entgegenzuwirken. ren den Nachwuchs im Sportverein oder engagieren sich in Rettungsdiensten. Dabei treibt mich ein Thema besonders Andere Freiwillige pflegen Stolpersteine um: Engagement führt nur dann zu einem zur Erinnerung an NS-Verfolgte oder besseren Zusammenhalt in unserer Stadt, setzen sich für ein gutes Miteinander wenn alle daran teilhaben können, nicht in der Nachbarschaft ein. nur diejenigen, die gewohnt sind, ihre Interessen durchzusetzen. Eine solidari- Ich setze mich dafür ein, dass dieses sche Stadtgesellschaft gelingt nur, wenn Engagement noch besser gedeihen kann es gleiche Zugangschancen auch zu Enga- und noch sichtbarer wird. So starten wir gement und Beteiligung gibt. Wir müs- jetzt erstmals ein Förderprogramm des sen uns fragen: Wie können wir Menschen Landes, um Freiwilligenagenturen zur einbeziehen, die bisher noch nicht enga- Vermittlung von Ehrenamtlichen flächen- giert sind? Wie können wir sie für demo- deckend in allen Bezirken zu fördern und kratische Beteiligung gewinnen? Wir damit die Engagement-Infrastruktur in werden mit Modellprojekten neue Wege den Bezirken zu stärken. Mit Freiwilligen- der Bürgerbeteiligung in den Bezirken börsen und Stiftungstagen bieten wir erproben. Denn eines steht fest: Wir Gelegenheiten, um zu zeigen, was Enga- müssen in den Zusammenhalt investie- gierte leisten und wo es sich lohnt mit- ren. Bürgerschaftliches Engagement T zumachen. Mit Aktionen wie „Berlin sagt und eine starke Zivilgesellschaft sind I Danke“ signalisieren wir: Engagement das Fundament unserer Demokratie T E ist wichtig für unsere Stadt und den Zu- und unserer weltoffenen Stadt Berlin. L B ER LI N ER STIMME 7
Text Christina Bauermeister Fotos Dietmar Gust · Berliner Tafel e.V. & Privat Die Mutter aller Tafeln Sabine Werth hat vor 25 Jahren quasi zufällig die Tafelbewegung ins Leben gerufen. Doch so alt wie die Tafel ist auch die Kritik daran. Ein Besuch auf dem Berliner Großmarkt. „Ach, Sie sind ja schon da“, sagt Sabine Werth und zieht die Augen- brauen leicht nach oben. Sie erzählt, es passiere häufig, dass sich Besu- cherinnen und Besucher der Berliner Tafel auf dem weitläufigen Gelände des Großmarktes an der Beusselstraße verlaufen. Die Geschäftsstelle der Tafel sitzt in Halle 30a – im Frischezentrum für Fleisch und Wurst. Doch statt Frischfleisch oder Schinkenaufschnitt sortieren die Ehrenamtlichen an diesem Vormittag vor allem Kisten mit leicht zerdrücktem Obst und Gemüse aus den Lieferungen der Supermärkte und Discounter. Der Ein- druck trügt nicht. Obst und Gemüse machen inzwischen 75 Prozent der verteilten Lebensmittel aus, darunter ist ca. 30 Prozent Bioware, weil diese im Discounter öfter liegenbleibt. Eine Etage höher wechselt die geschäftige Gemüsemarkt-Atmosphäre in eine kreative Start-up-Stimmung. In einem Großraumbüro sitzen mehrere Fundraiser, eine Mitarbeiterin für Öffentlichkeitsarbeit, eine Ehrenamtskoordinatorin und sogar eine Kollegin für die internationale Zusammenarbeit. Inzwischen hat die Berliner Tafel 28 hauptamtliche Beschäftigte. Auch Sabine Werth hat hier ihr Büro, sie arbeitet jedoch weiterhin unentgeltlich. T I „Ich will weiter Ehrenamtliche bleiben, auch weil mein Engagement T damit glaubhafter in der Außenwirkung ist. So empfinde ich es E L zumindest“, sagt sie. 8 B ER LI N ER STIMME
OBEN Die Berliner Tafel finanziert sich ausschließlich über Spenden und Mitgliedsbeiträge. Im vergangenen Jahr gingen ca. 1,3 Millionen Euro ein. Doch wie viele Wohltätigkeitsorganisationen hat auch die Tafel Nachwuchssorgen. „Junge Menschen lassen sich heute auf keine kontinuierliche Ehrenamtlichkeit ein, die sie in der Woche bindet. Sie spenden lieber, anstatt Vereinsmitglied zu werden“, so Sabine Werth (Foto, 2. v.l.). Die Tafel bietet deshalb immer häufiger kleinere Aktionen an. Neu ist, dass größere Firmen ihre Mitarbeiter als Teambuilding-Maßnahme einen Tag lang zur Tafel schicken. Die 61-Jährige hat die Berliner Tafel vor verteilten 45 Ausgabestellen in Kirchen- 25 Jahren gegründet und ist damit die gemeinden, beim Ausfahren oder beim Pionierin der deutschen Tafelbewegung. Sortieren im Zentrallager. 50.000 Men- Niemand konnte damals ahnen, dass schen kommen monatlich in die Aus- sich aus der Initiative Berliner Frauen, in gabestellen. Darunter sind ein Drittel einem harten Winter im Februar 1993 Alleinerziehende und ein weiteres Lebensmittel zu retten und sie an Bedürf- Drittel Rentnerinnen und Rentner auf tige und Obdachlose weiterzugeben, eine Grundsicherungsniveau. Weitere 75.000 so große Bewegung entwickeln würde. Bedürftige werden über die sozialen Heute gibt es bundesweit in mehr als Einrichtungen erreicht. Zahlen, die T 900 Städten solche Einrichtungen. Allein belegen, dass es eine zumindest stetige I in Berlin helfen 2300 Ehrenamtliche Anzahl von Abgehängten in der Gesell- T E regelmäßig in den über die ganze Stadt schaft gibt. L B ER LI N ER STIMME 9
RECHTS Berlin friert im Februar 1993, als sich die Initiativ- gruppe Berliner Frauen um Sabine Werth entschließt, obdachlosen Menschen zu helfen. Ursprünglich war die Aktion nur für einen Winter geplant. Sabine Werth ist in ihrem Büro gerade dabei, Unterlagen ihrer Beschäftigten für das Steuerbüro zusammenzutragen. Gemeint sind nicht die Angestellten der Tafel – Sabine Werth ist seit mehr als 30 die Ausgabestellen und ist eine gemein- Jahren selbstständige Familienpflegerin. same Initiative der Tafel, des rbb und Das heißt, sie unterstützt kurz- oder der Berliner Kirchengemeinden. langzeiterkrankte Familienangehörige in der alltäglichen Hausarbeit und bei Die Kritik an der Berliner Tafel ist so alt der Betreuung der Kinder. Normaler- wie der Verein. Das weiß auch Sabine weise erledigt ihre Geschäftsführerin Werth, und sie ist gut vorbereitet. Vor diese Aufgaben, doch diese ist gerade allem redet sie gern Tacheles. Die Tafel im Urlaub, genauso wie die Leitung der will nicht die Lösung des Problems sein, Berliner Tafel. Deshalb sitzt Sabine Werth sondern nur ein Übergang zu einer ge- gerade von morgens bis abends am PC, rechteren Gesellschaft. Menschen mit beantwortet Mails, telefoniert oder hilft wenig Geld das Leben erleichtern und in Konfliktsituationen. Natürlich hat sie gleichzeitig immer wieder den Finger sich in all den Jahren viele Gedanken in die Wunde legen. gemacht über die Grauzonen ihres Enga- gements. Wo ist die Grenze zwischen Wie kann die Politik die Ehrenamtlichen Lebensmittel und Müll? Entlässt die Tafel noch besser unterstützen? Es scheint den Sozialstaat aus der Verantwortung, eine von Sabine Werths Lieblingsfragen für die Bedürftigen zu sorgen? Verfestigt zu sein. Sie holt einmal tief Luft. „Wissen sie Armutsstrukturen? Sie, ich habe durch mein Ehrenamt in- zwischen fast jeden Orden, den dieses Mitte Januar tauchte eine weitere Grau- Land vergibt. Aber weil ich mein ganzes zone auf, eine, die eine gewaltige Medien- Leben selbstständig war, habe ich im wucht erzeugte und bis heute nachhallt. Moment einen Rentenanspruch von Mit der Entscheidung der Essener Tafel, 124 Euro.“ Sie findet, dass man mit ehren- künftig keine ausländischen Neukunden amtlichen Tätigkeiten Rentenpunkte mehr aufzunehmen, entbrannte in erwerben sollte. Eine entsprechende Deutschland ein Streit über Verteilungs- Initiative hat der Bundesverband der gerechtigkeit und Rassismus. Tafeln gerade auf den Weg gebracht. Sabine Werth betont, dass viele Hartz-IV- „Wir hatten in drei unserer Ausgabe- Beziehende, die bei der Tafel mitarbeiten, stellen genau diese Überforderungs- so ein kleines Plus für ihre spätere Rente situation“, erzählt Werth. Der Beirat von erwirtschaften könnten und kommt Laib und Seele hat daraufhin beschlos- zu dem Schluss: „Solange wir behaupten, sen, dass es keine Ausgrenzung einzelner dass wir noch ein Sozialstaat sind, sollte T I Gruppen geben darf. Es gehe bei der an dieser Stelle etwas gemacht werden.“ T Tafelarbeit um die Bedürftigkeit, nicht E L um die Herkunft. Laib und Seele betreibt www.berliner-tafel.de 10 B ER LI N ER STIMME
Text Ulrich Schulte Döinghaus Foto Telefonseelsorge Berlin Feuerwehr der Seele „Gut, dass ich durchgekommen bin. geworden. Oder werden von Depression Ich möchte mit jemandem reden.“ und Verzweiflung niedergedrückt, bis So oder so ähnlich fangen Gespräche hin zu Selbsttötungsgedanken. Familien- mit Anruferinnen und Anrufern an, krisen. Prüfungsangst. Geldnot. Schlaf- die 0800-111 0 111 gewählt haben. Rund losigkeit. Langeweile. Darüber möchten um die Uhr, Tag und Nacht sind in der Berlinerinnen und Berliner mit den Telefonseelsorge Berlin ehrenamtliche anonymen Telefonseelsorgern sprechen, Gesprächspartner zu erreichen. Es gibt den Feuerwehrleuten der Seele. keinen Anrufbeantworter. Immer häufiger kreisen die Gespräche um die Arbeitswelt und Leistungsdruck im Betriebsalltag. „Bis vor drei, vier Jahren ging’s oft um Hartz IV oder Ärger mit dem Jobcenter“, sagt eine erfahrene Tele- fonseelsorgerin. „Heute sprechen wir erstaunlich häufig über Termindruck, Konkurrenz und Karriere.“ Rund 15.000 Gespräche verzeichnete im vergangenen Jahr der gemeinnützige Trägerverein Telefonseelsorge Berlin e.V. Unter seinem Dach tun rund 120 ehren- amtliche Telefonseelsorger freiwillig und unbezahlt Dienst, jeder mindestens 120 Stunden im Jahr, auch nachts und am Wochenende. Die meisten Ehrenamt- OBEN lichen sind berufstätig. Auf ihren Frei- Rund 15.000 Gespräche verzeichnete die Berliner willigenjob werden sie eineinhalb Jahre Telefonseelsorge im vergangenen Jahr. Immer häufiger kreisen die Gespräche um Termindruck, lang intensiv vorbereitet. Danach gibt es Konkurrenz und Karriere. regelmäßige Supervisionen und Weiter- bildungen. Warum das alles? Unter an- derem für diese Reaktion: „Schön, dass Menschen, die nicht weiterwissen, rufen ich mit Ihnen sprechen konnte. Das T an. Ihnen ist nach langen gemeinsamen Gespräch hat mir unendlich gutgetan!“ I Jahren die Liebe abhandengekommen. T E Sie sind vor Einsamkeit fast verrückt www.telefonseelsorge-berlin.de L B ER LI N ER STIMME 11
Text Birte Huizing Foto betterplace.org Digitaler Support für eine bessere Welt Mehr Berlin geht nicht: betterplace.org sitzt in einer Fabriketage über den Dä- chern von Berlin. Ganz unten sieht man den Freischwimmer, in der Schlesischen Straße werden die Lattes geschlürft, hier oben wird die Welt ein Stück besser gemacht. Durch und mit dem Internet. Das Netz, das aktuell einen Imageschaden OBEN als „Raum der Hetze“ erleidet – hier ist es Betterplace-Büro in Berlin ein Ort für viele gute Ideen und Menschen, die helfen und unterstützen wollen. viel Enthusiasmus mit digitalem Wissen Die Idee: Die Spendenplattform better- verknüpft wird. „Es gibt so viel Gutes da place.org verknüpft Online-Kommuni- draußen, von dem wir noch nichts wis- kation mit Fundraising. Organisationen, sen. Mit unserer Plattform wollen wir wie z. B. die Stadtmission, können ihre sozialen Projekten zu mehr Sichtbarkeit sozialen Projekte auf der Plattform vor- verhelfen. Und wir sind auch Brücken- stellen und dafür Unterstützer finden. bauer ins Digitale“, so Lampe. Was einfach klingt, hat eine irrsinnige Schlagkraft. Eine durchschnittliche Wie gut das mit dem Digitalen klappt, Offline-Spende liegt bei 30 Euro, die zeigt die Neuköllner Initiative Morus 14. durchschnittliche Spende bei better- Die Organisation unterstützt Kinder aus place.org beträgt 70 Euro. Allein letztes dem Rollbergkiez bei den Hausaufgaben. Jahr wurden über 13 Millionen Euro Anfangs war das Projekt relativ unbe- über die Plattform gespendet. Und: kannt, mittlerweile hat es durch die Menschen, die bisher nicht in das Präsenz im Netz viele Spenden und Spenderklientel fallen, zeigen sich Unterstützer bekommen. Das Geheim- erstaunlich spendabel. Vor allem die nis von betterplace:„Wir sind nicht 25- bis 40-Jährigen spenden bei better- nur eine reine Abwicklungsplattform. place.org Zeit und Geld. Wir beziehen auch Stellung, positionie- ren und engagieren uns selbst.“ Es gibt Einer der Menschen hinter der Plattform viel Gutes da draußen. Also einfach T I ist Björn Lampe aus dem Vorstand von mitmachen. Für eine bessere Welt. T betterplace. Wenn er über die Plattform E L spricht, hört man schnell raus, dass hier www.betterplace.org 12 B ER LI N ER STIMME
Text & Foto Christina Bauermeister Nichts für Superhelden Die Müdigkeit ist Stephan Dannigkeit noch ein wenig anzusehen, als er die Tür an der Meeraner Str. 15b öffnet. Hier am Stützpunkt des Technischen Hilfswerks Lichtenberg ist der 42-Jährige seit vier Jahren der Chef. Am Abend zuvor war er noch bis 23 Uhr mit seinen Kameraden unterwegs. Am Tag der Offenen Tür der Bundesregierung hatte der Ortsverband OBEN den kompletten Kanzlergarten mit Strom Stephan Dannigkeit leitet den versorgt. Bis spät in den Abend haben THW-Ortsverband Berlin-Lichtenberg die Lichtenberger Kabel und Aggregate wieder abgebaut und verladen. phenschutzorganisation des Bundes. An diesem Montag hat Dannigkeit frei. Die ultramarinblauen Fahrzeuge sind bei Im Hauptberuf ist er Polizist. „Hat beides Bränden, Hochwasser oder Unfällen eher etwas mit Blaulicht zu tun“, scherzt er. unauffällig im Einsatz. Unter anderem Am Ausgang des THW-Gebäudes ist ein versorgen sie Feuerwehr und Rettungs- Hinweis angebracht „Ausloggen nicht kräfte mit Strom, räumen Wege frei, vergessen“. So werden die Arbeitsstun- pumpen Wasser ab oder bekämpfen Öl- den erfasst. Bis Ende August hatten die schäden. „Alles nichts für Superhelden – ca. 100 ehrenamtlichen Helferinnen und sondern eher was für Technikverliebte“, Helfer 22.000 Stunden angesammelt. so Dannigkeit. Der normale Jahres-Durchschnitt liege bei ca. 25.000 Stunden, sagt Dannigkeit. Allein die Grundausbildung umfasst Was macht dieses Jahr so besonders? Der 100 Stunden. Nachwuchssorgen hat der Ortsbeauftragte zuckt mit den Schultern. Ortsverband im Moment nicht. Die meis- „Nichts besonderes, wir investieren viel ten Freiwilligen stehen mit beiden Beinen Zeit in Ausbildung, hatten ein Jugend- im Beruf und sind zwischen Ende 20 und lager, dazu kommen Einsätze und Mate- Mitte 40. Auch die Zeiten, in der der Män- rialpflege.“ nerhaufen unter sich geblieben ist, sind beim THW längst vorbei. In Lichtenberg T Vor 65 Jahren gegründet, ist das THW engagieren sich inzwischen 17 Frauen. I T eine beinahe ausschließlich von Ehren- E amtlichen getragene Zivil- und Katastro- www.lv-bebbst.thw.de L B ER LI N ER STIMME 13
Text & Foto Ulrich Schulte Döinghaus Integration am Ball RECHTS In der kurzen, zehnjährigen Geschichte haben Claudia Voges und Jörg Ewald den Fußball-Verein Rot-Weiß Viktoria Mitte 08 zu einem Integrationsverein entwickelt. Kinder in roten Trikots rufen einander entwickelt, sagt Jörg Ewald, der als ehren- „hier“ oder „gib ab!“ zu. Die Trainer korri- amtliches Vorstandsmitglied unter ande- gieren und feuern an. Auf dem Sport- rem für den Reha-Sport verantwortlich platz an der Stralsunder Straße 18-22 in ist. „Im Wedding und Alt-Mitte wohnen Berlin-Gesundbrunnen ist gerade Fuß- Familien aus vielen Ländern und Kul- balltraining der Junioren – wie fast jeden turen – und denen kommt unser sport- Tag. Der Belegungsplan ist prall gefüllt. liches Angebot sehr entgegen.“ Das hat „An den Wochenenden sind hier unun- sich auch bei Einwandererfamilien terbrochen Punktspiele“, sagt Claudia herumgesprochen, die in den vergan- Voges, eine der Mannschaftsbetreuerin- genen Jahren als Geflüchtete nach Berlin nen. Sie ist ehrenamtliches Vorstands- gekommen sind. Auch unbegleitete junge mitglied des 3500-Mitglieder-Sport- Geflüchtete haben hier eine sportliche vereins Rot-Weiß Viktoria Mitte 08 e.V., Heimat gefunden. Neuerdings arbeiten unter anderem zuständig für Daten- zwei junge Geflüchtete im Verein als schutz und Rechtsberatung. „Viele Eltern“, Bundesfreiwilligendienstler. Der Fußball sagt sie, „schätzen es sehr, dass nicht nur und die 15 anderen Sportarten sorgen leistungsorientierte Nachwuchskicker dafür, dass Familien und ihre Kinder aus zu uns kommen, sondern auch Kinder, vielen Berliner Bezirken und sozialen die einfach nur Fußball spielen wollen.“ Milieus Anschluss finden – und Deutsch lernen. „Hier wird grundsätzlich Deutsch In der kurzen, zehnjährigen Geschichte gesprochen und angefeuert“, so Claudia T I habe der gemeinnützige Verein sich Voges. T quasi von allein zum einem anerkannten E L und ausgezeichneten Integrationsverein www.viktoriamitte.de 14 B ER LI N ER STIMME
Fragen & Foto Christine Bauermeister „Knoten im Netzwerk“ Die Geschäftsführerin der Landesfreiwilligenagentur Carola Schaaf-Derichs im Interview über die Freude, Weichensteller für Menschen zu sein, Grenzen der spontanen Hilfsbereitschaft und modernes Freiwilligenmanagement. Liebe Frau Schaaf-Derichs, seit mittlerweile 30 Jahren gibt es die Landes- freiwilligenagentur Berlin. Sie selbst sind seit 26 Jahren dabei. Wenn Sie zurückblicken: Welche Herausforderungen gab es in der Anfangszeit? Herausfordernd war am Anfang, dass wir in Deutschland so ziemlich die Einzigen im Bereich des Freiwilligenmanagements waren. Hierzulande kannten wir bis dahin Anlaufstellen für Freiwillige noch nicht. Insofern waren wir in einer Pionierfunktion, als der damalige Gesundheits- und Sozialsenator Ulf Fink Ende der 80er Jahre von einer USA-Fachreise die Idee der Volunteer Centers mitbrachte. Diese Idee dann auf die hiesige soziale und gesellschaftliche Kultur zu übertragen, war unsere erste Über- setzungs- und Entwicklungsaufgabe. Sie sind ausgebildete Diplom-Psychologin und waren vorher freiberuf- lich vor allem im Bereich Organisationsentwicklung unterwegs. Was hat sie 1992 gereizt, Geschäftsführerin des Treffpunktes Hilfsbereitschaft (so hieß die Landesfreiwilligenagentur damals noch) zu werden? Ich bin damals durch eine Zeitungsanzeige im „Tagespiegel“ auf die Stelle aufmerksam geworden. Was mich an der Ausschreibung reizte, war die Kombination aus der Entwicklung einer neuen Organisation und der Gestaltung gesellschaftlicher Beteiligung. Mein Vorgänger erklärte mir, es ginge darum, dass Menschen, die ihre freie Kraft und ihre guten Ideen für die Gesellschaft anzubieten haben, den Ort finden, wo genau diese Fähig- keiten gebraucht werden. Das fand ich spannend. In einem neuen gesell- schaftlichen Feld Weichensteller für Menschen zu sein, die etwas in die Gesellschaft hineingeben wollen. Später haben wir diesen Prozess „Mat- T ching“ getauft. Und den Begriff der „Freiwilligenagentur“ geprägt. Gerade I T in so einer Großstadt wie Berlin gibt es so viele Herausforderungen für E eine aktive Zivilgesellschaft einerseits und Interessierte andererseits. L B ER LI N ER STIMME 15
„Das freiwillige Engagement sollte nicht in die Logik des Sie hatten schon beschrieben, dass Sie in Berlin mit der Arbeit in einer Pionierrolle Arbeitsmarktes eingebunden waren. Wann änderte sich der Zeitgeist? werden. Es hat seinen So ab Mitte der neunziger Jahre hatte ich das Gefühl, dass es eine spürbare Bewe- eigenen Sinn.“ gung in diesem Feld gibt. Nachdem es in Berlin durch die Verbreitung unserer praktischen Arbeit Impulse für mehr En- gagementförderung gab, zogen auch an- dere Bundesländer und Verbände nach. Zusammen mit der Stiftung Mitarbeit wagten wir deshalb 1996 die erste bun- desweite Fachtagung. Dort fanden sich Wie hat sich das Aufgabenfeld Ihrer ca. 30 Akteure zusammen, deren Arbeit Agentur durch die Ausdifferenzierung ähnlich angelegt war. Ich habe mich verändert? 1999 für die Gründung der BAG Freiwilli- Unsere Rolle als Entwickler und Modera- genagenturen (Bagfa e.V.) als Vorsitzende tor für eine lebendige Zivilgesellschaft engagiert. in Berlin ist klar definiert sichtbar. Früher haben wir sehr viel persönliche Beratung Und wie ist die Situation heute? von Engagierten von Ort angeboten. Inzwischen gibt es in Berlin sehr viele Diesen Part übernehmen jetzt überwie- verschiedene Akteure in diesem Bereich. gend die bezirklichen Agenturen. Wenn Ob Freiwilligenagenturen auf Bezirks- Freiwillige aktiv sind, entwickeln sie ebene bzw. an Verbände gekoppelt, wichtige Bereiche der Gesellschaft. Damit Stadtteilzentren, Selbsthilfekontaktstel- sind sie gewissermaßen zivilgesellschaft- len oder Quartiersbeiräte. Mit über 80 liche Managerinnen und Manager. Eine zivilgesellschaftlichen Organisationen qualifizierte und professionelle Koopera- sind wir seit 2005 durch das Landesnetz- tion zwischen Freiwilligen und Organisa- werk Bürgerengagement verbunden. tionen ist ausschlaggebend für den Erfolg. Heute ist vielen Verantwortlichen klar, Derzeit arbeiten wir mit ca. 2000 Orga- dass das Ehrenamt ohne modernes Frei- nisationen auf der Grundlage gemeinsa- willigenmanagement schnell ein Pro- mer Qualitätskriterien für die Freiwilli- blem bekommt. Auch die Gewinnung genarbeit zusammen. Ein wichtiger Teil neuer Aktiver, insbesondere in Leitungs- unserer Arbeit umfasst das Community- verantwortung, stellt eine enorme Management: Wir organisieren berlin- Herausforderung dar. Als Knoten im weite Veranstaltungen wie die Freiwilli- Netzwerk sind wir auch dafür bedeut- genbörse, den Stiftungstag oder die samer geworden. Seit der Entscheidung Engagementwoche und als Diskurs die im Jahr 2011, die Wehrpflicht auszusetzen Runden Tische „Zivilgesellschaft.Berlin“. und damit den Zivildienst abzuschaffen, hat sich die Entwicklung gerade im so- Es ist nicht allzu lange her, da hat eine zialen Sektor noch einmal verschärft. Das große Anzahl von Geflüchteten, die in T I freiwillige Engagement sollte nicht in die Folge des Syrienkrieges nach Deutsch- T Logik des Arbeitsmarktes eingebunden land kamen, gezeigt, wie wichtig E L werden. Es hat seinen eigenen Sinn. bürgerschaftliches Engagement ist, 16 B ER LI N ER STIMME
LINKS Carola Schaaf-Derichs: „Wir brauchen mehr und bessere Kooperationen zwischen Staat und Zivil- gesellschaft, um wieder krisenfester zu werden.“ aber auch aus welchen Bereichen sich Welche Fehler könnten in Zukunft der Staat bereits zurückgezogen hat. vermieden werden? Mit welchen Gefühlen haben Sie auf Egal, welches gesellschaftliche Feld ich diese Situation geschaut? mir ansehe: Ohne bürgerschaftliches Ich habe das aus zwei Blickwinkeln be- Engagement, ohne Freiwilligkeit wird es trachtet. Zum einen ist solch eine spon- auch in Zukunft nicht gehen. Im Gegen- tane Hilfsbereitschaft großartig. Sie ist teil, wir brauchen mehr und bessere der beste Leumund für eine soziale, inte- Kooperationen zwischen Staat und Zivil- grative und solidarische Gesellschaft. gesellschaft, um wieder krisenfester zu Auf der anderen Seite habe ich mir 2015 werden. Öffentliche Einrichtungen und viele Gedanken über den Sinn unserer Behörden brauchen mehr Kooperations- Arbeit gemacht. Denn: Das Wissen um ansätze und -strukturen hin zur aktiven einen guten und nicht verschleißenden Bürgergesellschaft. Und die ist gerade Einsatz von Freiwilligen konnten wir in Berlin besonders vielfältig. Das heißt präventiv nicht einbringen. Die Ausein- also, dass sich staatliche Stellen und auch andersetzungen in den Einrichtungen, zivilgesellschaftliche noch mehr inter- die wachsende Überlastung der Ehren- kulturell öffnen sollten. Nur so kann das amtlichen, dazu die kulturelle Vielfalt. große Potenzial aller Menschen in unse- T Aber inzwischen haben sich viele Initia- rer Stadt konstruktiv einbezogen werden. I T tiven gut aufgestellt und wir sind im E Austausch. www.landesfreiwilligenagentur.berlin L B ER LI N ER STIMME 17
Text Christina Bauermeister Fotos Christina Bauermeister & Berliner Bahnhofsmission „Die blaue Weste macht uns alle gleich“ Ein Besuch mit Ülker Radziwill in der Bahnhofsmission am Zoo T I T E L 18 B ER LI N ER STIMME
In einer der Lieblingsanekdoten von Dieter Puhl geht es um eine Begegnung mit dem ehemaligen Chef der Deutschen Bahn Rüdiger Grube. Dieser besuchte die Bahnhofsmission in der Jebenstraße vor einiger Zeit, um vor Ort ein bisschen mitzuhelfen. Brote schmieren, abwaschen, an der Ausgabe-Theke stehen. Auch seine Sekretärin war mit vor Ort. Nach fünf Minuten haut sie ihrem Chef in die Seite: „Nun schmier’ mal ein bisschen schneller“. Hinterher erzählt Grube Dieter Puhl, wie erleichtert er gewesen sei, dass die Mitarbeiterin endlich mal normal mit ihm geredet habe. Im Bahn-Tower sei das nicht möglich gewesen. Dieter Puhl zieht die Mundwinkel nach oben. Trotz Schieber- mütze im Gesicht, ist das Leuchten in seinen Augen zu erkennen. „Die blaue Weste macht uns alle gleich. Sie zeigt uns, dass wir alle ähnliche Talente haben“. Puhl ist Sozialarbeiter und seit zehn Jahren Leiter der Bahnhofsmission am Zoo. Die Weste mit dem Malteserkreuz ist das Erkennungszeichen der rund 160 Ehrenamtlichen der Bahnhofsmission. Marein Müller ist eine von ihnen. Die Juristin LINKS für Gesellschaftsrecht ist Freiwillige Helferin Marein Müller, durch einen Vortrag von Bahnhofsmission-Leiter Dieter Puhl, Dieter Puhl bei der Deut- SPD-Abgeordnete Ülker Radziwill und Freiwilligenkoordinator Andi Barzda (v.l.) schen Bahn „kleben ge- blieben“. Kurz darauf gab sie am Silvesterabend 2016 an Obdachlose warme Getränke und belegte Brote aus. Müller sagt: „Die Arbeit erdet mich. Hier bekomme ich nochmal eine andere Perspektive auf das Leben, die einem sehr bewusst macht, wie gut es einem selbst geht.“ Am liebsten steht sie hinter der Theke an der Essens- ausgabe. „Da gibt es immer diese kleinen Momente, in denen man den Menschen auf der anderen Seite ins Gesicht schaut. Das gibt einem so viel.“ Die Bahn spendet Raum, Ehrenamtliche ihre Zeit, andere Geld. So kann Menschen mit einer Mahlzeit bzw. einem offenen Ohr geholfen werden oder ganz praktisch mit einer Dusche, Fuß- pflege oder Haarschnitt im Hygienecenter. Kirchliche Träger T gründeten die erste Bahnhofsmission bereits zur Zeit der Indus- I triellen Revolution. Heute organisieren katholische und evange- T E lische Kirche die Anlaufstelle für Menschen in Not gemeinsam. L B ER LI N ER STIMME 19
„Viele bekommen hier erst das Gefühl, dass sie selbst etwas bewirken können.“ Andi Barzda Die Deutsche Bahn stellt der Bahnhofs- mission in unmittelbarer Nachbarschaft zusätzliche 500 Quadratmeter Fläche kostenfrei für 25 Jahre zur Verfügung. Dort sollen Beratung und Begleitung ausgebaut sowie Bildung und Begegnung leben der heutigen Arbeitsgesellschaft. gefördert werden. Ziel ist, die gesellschaft- „Viele bekommen hier erst das Gefühl, liche Teilhabe Obdachloser zu verbessern. dass sie selbst etwas bewirken können.“ Er erzählt von Freiwilligen, die zunächst An einem der letzten heißen Sommer- gar nicht so großen Kontakt zu den „Gäs- tage hat sich um 13.30 Uhr bereits eine ten“ suchen, lieber erst Brote schmieren, längere Schlange vor dem Missionsge- Teller spülen oder Klamotten packen in bäude gebildet. Schon morgens werden der kleinen Notkleiderkammer. Mit der Marken an die Wartenden verteilt. Zwi- Zeit beobachte er bei einigen einen Ver- schen 14 und 18 Uhr gibt es drei Essens- wandlungsprozess. Sie werden neugierig ausgaben. Maximal 60 Personen passen auf die Menschen, Geschichten und in den kargen Speiseraum. Durch die Schicksale auf der anderen Seite. beengte Raumsituation kommen in der ersten Runde oft nicht alle Wartenden in Kurz vor 14 Uhr versammeln sich im den Saal. Der „Job an der Tür“ erfordert Essensraum die Freiwilligen und Haupt- daher ein besonderes Feingefühl. Ehren- amtlichen für die Planung und Eintei- amtskoordinator Andi Barzda bringt es lung am Nachmittag und am Abend, auf die Formel, man müsse „Gastgeber wo Lunchtüten am Fenster ausgegeben statt Türsteher“ sein. Die Person an der werden. Als Ülker Radziwill in den Raum Tür sollte ausgeglichen und in ange- kommt, klatscht die Runde, dann umarmt spannten Situationen nicht impulsiv sie Dieter Puhl. Puhl und Radziwill ken- reagieren. Barzda ist einer von 20 haupt- nen sich seit mehr als 15 Jahren. Damals amtlichen Mitarbeitern. Anders als wohnten beide im selben Kiez – in Dieter Puhl, trägt er lieber Basecap als der Charlottenburger Nehringstraße. Schiebermütze, hat aber denselben Inzwischen wohnt Ülker Radziwill am beseelten Gesichtsausdruck, wenn er Klausenerplatz und hat Dieter Puhl als über seine Arbeit spricht. Barzda hat auf Beisitzer in das hiesige Stadtteilzentrum dem zweiten Bildungsweg Abitur ge- geholt. macht und ist über ein freiwilliges Prak- tikum zur Bahnhofsmission gekommen Ülker Radziwill ist seit 2001 Mitglied des und geblieben. Abgeordnetenhauses und Sprecherin für Soziales, Senioren und Pflege der SPD- Es ist nach wie vor so, dass viele Berli- Fraktion. Zusammen mit dem Fraktions- nerinnen und Berliner bei der Bahnhofs- vorsitzenden Raed Saleh hat sie in den T I mission ehrenamtlich mithelfen wollen. Beratungen zum Doppelhaushalt 2018/ T Warum ist das so? Barzdas Antwort 2019 zusätzliche finanzielle Mittel für E L klingt wie ein tiefer Blick in das Seelen- die Mission erstritten. 200.000 Euro und 20 B ER LI N ER STIMME
OBEN Die Zeitungen betitelten ihn als „Schutzpatron der Jebensstraße“. Im vergangenen Jahr bekam Dieter Puhl (m.) vom Regierenden Bürgermeister Michael Müller (l.) das Bundesverdienstkreuz verliehen. Puhl sagt: „Das Kreuz ist ein Gemeinschaftsorden. Es gehört der gesamten Bahnhofsmission.“ „Wir sind eine der reichsten zusätzlich nochmal 150.000 Euro für das Metropolen der Welt und reden Hygienecenter, das im Dezember 2015 eröffnete. In einer Rekordzeit von drei über 6.000 Menschen, als wäre das Monaten wurden ehemalige Personal- ein riesiges Problem.“ Dieter Puhl räume der Deutschen Bahn zu Toiletten- und Duschräumen umgebaut. Das zusätz- liche Geld soll vor allem in die Auswei- tung der Öffnungszeiten – derzeit ganz- jährig 10 bis 18 Uhr – investiert werden. ten Metropolen der Welt. Berlin bringt jeden Tag 37.000 wohnungslose Men- „Die Stadt- und die Bahnhofsmission schen unter und wir reden über 6.000 sind stadtweitbekannte Einrichtungen, Menschen, als wäre das ein riesiges die Augen und Herzen öffnen und Ver- Problem. Das ist ein Armutszeugnis.“ ständnis wecken für einen menschlichen Puhl ist seit 25 Jahren bei der Bahnhofs- und nicht populistischen Umgang mit mission. Er berichtet von einem sehr auf- Bedürftigen und wohnungslosen Men- geschlossenen und freundlichen Klima schen“, so Ülker Radziwill. Als in der für seine Institution über alle Parteigren- Stadt im Herbst letzten Jahres über den zen hinweg. Nur manchmal kommen Umgang mit zeltenden Obdachlosen im ihm Zweifel am moralischen Zustand der Tiergarten gestritten wurde, hat auch sie Leistungsgesellschaft, etwa wenn er an sich über den teils sehr abfälligen Ton in seinen erfolgreichsten Spendenaufruf der Debatte geärgert. denkt. Er galt den kranken Hunden der Obdachlosen. T Dieter Puhl hat sich nicht nur geärgert. I T Seine Miene verfinstert sich geradezu bei www.berliner-stadtmission.de/ E diesem Thema. „Wir sind eine der reichs- bahnhofsmission L B ER LI N ER STIMME 21
Fragen Christina Bauermeister Foto Privat Trainer fürs politische Ehrenamt Lieber Erkan, seit 2013 bist du zertifizier- ter Fachtrainer für Bürgerschaftliches Engagement. Was macht so ein Fach- trainer, und wie bist auf die Idee ge- kommen, das selbst zu werden? Erkan: Durch meine Parteiarbeit – u. a. war ich Mitglied im Bundesvorstand der Jusos und bei den Juso-Hochschulgrup- pen – musste ich schon sehr früh Semi- nare organisieren. Das war mir keines- OBEN wegs lästig, sondern hat mir großen Erkan Ertan ist tagsüber Referent für EU-Angelegen- heiten in der Senatskanzlei. In seiner Freizeit hilft Freude gemacht. Als Trainer unterstütze er politisch Ehrenamtlichen, sich in der Gruppe zu ich mit dem berühmten roten Faden die organisieren und hat sogar jede Menge Spaß dabei. Teilnehmenden auf dem Weg zu beson- deren Erkenntnissen oder gewünschten Ergebnissen. Inzwischen arbeite ich seit Aber auch Methoden wie Moderieren, mehr als sechs Jahren in der Berliner Ansprache am Infostand, gutes Zeit- Verwaltung und kann meine Erfahrungs- management, das Vorbereiten von Klau- werte an junge Menschen weitergeben. surtagungen oder die Entwicklung neuer Es macht unglaublich viel Spaß zu sehen, Veranstaltungsformate gehören dazu. wie durch Coaching eine Gruppendyna- mik entsteht und dass man gemeinsam Wie kann man sich für das Trainer- mehr erreichen kann. programm bewerben? Ich hatte mich 2013 für das Programm In welchem Bereich hast du dich „Train The Trainer“ beim Parteivorstand B spezialisiert? beworben, das mit einem Zertifikat E R Meine Leidenschaft gilt der Bildungs- des Bundesverbandes für Trainer und L arbeit für Mitgliederorganisationen wie Coaches verbunden war. Dieses Pro- I N Parteien und Gewerkschaften. Hier be- gramm gibt es unter anderem auch E schäftige ich mich zum Beispiel mit bei den Gewerkschaften, der Friedrich- R Fragen: Wie kriegt man Menschen dazu, Ebert-Stiftung oder bei der IHK. Die S dass sie schnell in den Strukturen Fuß Organisationen bieten so den eigenen T I fassen und Spaß an der politischen Leuten methodisches und didaktisches M Arbeit entwickeln? Wie kann man Pro- Rüstzeug. Für die Interessierten ist es M E zesse verbessern und Menschen befähi- eine Chance, sich als Coach für das poli- N gen, Verantwortung zu übernehmen? tische Ehrenamt zu professionalisieren. 22 B ER LI N ER STIMME
Text Volker Warkentin Fotos Wiebke Neumann & Privat Treppensteigen für den Wiederaufstieg Auf der Suche nach Wegen aus der Krise ist Kreativität gefragt. Ein Besuch bei der SPD in Tempelhof-Schöneberg. Jeder Boxprofi weiß, dass geschickte Beinarbeit im Ring die halbe Miete ist. Eine ähnliche Erfahrung machen seit einigen Monaten auch die Genossinnen und Genossen der SPD-Abteilung Schöneberg-City, denen wie anderen auch der Wiederaufstieg der Partei Herzenssache ist. Im Kampf um Mandate kommt es nicht immer nur auf die besseren Argumente an. Gut trainierte Waden können genauso wichtig sein, zumindest wenn der Weg zu neuen Wählerinnen und Wählern durch Häuser ohne Fahrstuhle führt. Schließlich muss der Kampf um die Herzen und Köpfe der 20 Millionen Menschen, die der SPD seit 1998 den Rücken gekehrt haben, im Kleinen gewonnen werden. Tür-zu-Tür-Kampagnen gelten mittlerweile zur heißen Phase der Wahl- kämpfe. Ziel aller Parteien ist es, ihre Kandidatinnen und Kandidaten bei möglichst vielen Stimmberechtigten bekannt zu machen. Zeit für tiefschürfende Analysen bleibt nicht. Bei der Anfang des Jahres angelaufenen Tür-zu-Tür-Aktion geht es eher um Entschleunigung, wie die Abteilungsvorsitzende Angelika Schöttler B E erläutert. Es gehe darum, möglichst vielen im Abteilungsgebiet rund R ums Rathaus Schöneberg die SPD-Positionen zu den brennenden Fragen L I in „Tempelberg“ zu erläutern. Im Gegenzug könne die Partei lernen, wo N die Menschen der Schuh drückt. E R Die Abteilung Schöneberg-City gehört zu den kleineren Abteilungen S T im Kreisverband Tempelhof-Schöneberg. Dafür ist sie sicherlich eine der I buntesten. Sie reicht vom KaDeWe bis zum Bayerischen Platz. Das von M M der LGBT-Szene dominierte Regenbogenviertel gehört ebenso dazu wie E das gediegen bürgerliche Bayerische Viertel. N B ER LI N ER STIMME 23
„Guten Tag, wir kommen von der SPD“, eher an den Infoständen“, ergänzt Jan- stellen sich Wiebke Neumann und Jan- Henrik. „Bevor die Bürger uns ihren Henrik Herchenröder mindestens ein- Ärger über Hartz IV vor die Füße knallen, mal pro Woche an den Wohnungstüren sammeln sie sich im Supermarkt ne- vor. Arbeit, Bildung und Sicherheit, vor benan ihren ganzen Mut zusammen.“ B allem aber die explodierenden Kosten E R fürs Wohnen in der Mieterstadt Berlin Die These des früheren FDP-Vordenkers L sind Dauerbrenner-Themen. „Wir wol- Ralf Dahrendorf, die Sozialdemokratie I N len Menschen deutlich machen, dass habe sich bei ihrem Kampf um die E wir uns um ihre Sorgen kümmern“, Emanzipation der Arbeiterschaft zu Tode R begründen die beiden ihr Engagement. gesiegt und sich überflüssig gemacht, S halten sie für abwegig. Die SPD sei als T I Beide sagen, sie seien durchweg freund- „Schutzmacht der kleinen Leute“ (Johan- M lich aufgenommen worden. „Wegen nes Rau) nötiger denn je. Das ist nicht M E Hartz IV hat uns noch niemand ange- nur wegen des gelegentlichen Treppen- N griffen“, meint Wiebke. „Kritik kommt steigens eine mühselige Arbeit. 624 B EBREL RI N L IENRE SRT SI M T IM MEM E
LINKS Tür-zu-Tür-Aktionen der SPD Schöneberg-City: Hannelore Scharf, Wiebke Neumann, Jan-Henrik Herchenröder, Rüdiger Lautmann (v.l.) OBEN Volker Warkentin (67) hat sich die meiste Zeit seines langen Journalistenlebens im Nachrichten- geschäft getummelt. Der gebürtige Bremerhavener hat von 1978 an zunächst in Bonn und ab 1985 in Berlin als Redakteur und Reporter für die Nach- richtenagentur Reuters gearbeitet. Am 9. November 1989 hat er zwei Minuten vor der Konkurrenz den bevorstehenden Fall der Mauer vermeldet. „So lange ihr eure Agendapolitik macht, Hier sieht der Juso-Bundesvorsitzende kannste den Flyer vergessen“, erinnerte Kevin Kühnert eine Vorreiterrolle für sich der SPD-Landesvorsitzende und die Berliner SPD. In einer Stadt mit vie- Regierende Bürgermeister Michael Mül- len Start-ups und nur projektbezogenen, ler an die Weigerung eines Wählers, im befristeten Jobs könnten die Berliner Wahljahr 2017 SPD-Wahlwerbung anzu- SPD vormachen, wie man diese immer nehmen. Da fuhr die SPD mit 20 Prozent größer werdende Wähler-Gruppe an- ihr schlechtestes Ergebnis bei Bundes- spricht. Gemeinsam mit den Gewerk- tagswahlen ein. Auf Bundesebene war es schaften ließen sich auch neue Formen die vierte Niederlage in Folge. In Bayern der Interessenvertretung entwickeln. und Baden-Württemberg scheint die Par- tei an Schwindsucht zu leiden. Im Osten droht ihr die Auszehrung. „Die SPD muss deutlich Klar ist allen Beteiligten auch, dass es machen, dass sie regieren mit Tür-zu-Tür-Aktionen allein nicht getan ist. Neue Ideen zu entwickeln und will und nicht der neue Wählergruppen zu erschließen, Rollator der Union ist.“ sind das Gebot der Stunde. Denn durch den Strukturwandel in der Industrie sind Gero Neugebauer B E schon jetzt Millionen Facharbeiter-Jobs R gestrichen worden. Stattdessen sind L I diese Leute heute auf Hartz IV angewie- N sen oder arbeiten schlecht bezahlt in der Bei allem Willen zur Erneuerung muss E R Dienstleistungsbranche. Alarmierend ist die SPD bei der Frage nach dem Macht- zudem, dass nur noch etwa jeder zweite willen aus der Sicht des Parteienfor- S T Beschäftigte in Deutschland durch einen schers Gero Neugebauer ganz „Old I Tarifvertrag vor Lohndumping und Unter- School“ bleiben: „Die SPD muss deutlich M M schreiten sozialer Mindeststandards machen, dass sie regieren will und nicht E geschützt ist. der Rollator der Union ist.“ N B ER LI N ER STIMME 25
Text Birte Huising Fotos Hans Kegel Gemeinsam für Berlin Beim Sommerempfang mit mehr als 500 Gästen appelierte der SPD-Landesvorsitzende Michael Müller an alle demokratischen Parteien, zusammenzuarbeiten statt sich gegeneinanderzustellen. Traditionell lädt die Berliner SPD Vertreterinnen und Vertreter aus Zivil- gesellschaft und Sozialwirtschaft sowie der Medien- und Wirtschaftsbranche im Sommer zu einem gemeinsamen F Ideen- und Debatten-Austausch ein. O Auch in diesem Jahr traf man sich im T O „Pier 13“ im Tempelhofer Hafen. S T R E C K E 26 B ER LI N ER STIMME
Michael Müller warb in seiner Rede darum, gemeinsam für ein besseres Berlin einzutreten. Nach Jahren des Sparens würde nun die Zeit der Investitionen beginnen. Die Früchte dieser Arbeit könne man allerdings erst in den nächsten Jahren überall bemerken. „Mir geht auch vieles zu langsam“, so Müller. Die Schulbauoffensive etwa sei im vollen Gange, aber es dauere, bis an allen Schulen die Neubau- und Sanierungs- maßnahmen abgeschlossen seien. Die Überlegungen von Siemens, massiv in den Standort Berlin zu investieren, zeigten, „dass wir für Innovation und Zukunft stehen.“ F O T O S T R E C K E B ER LI N ER STIMME 27
Text Ulrich Horb Bild Verlag für Berlin-Brandenburg (VBB) Konspirative Netzwerker Das Netzwerk „Neu Beginnen“ und die Berliner SPD nach 1945 In der Berliner SPD der Nachkriegs- jahre wurden wichtige Funktionen von Mitgliedern einer konspirativen Organi- sation eingenommen. Ihre Geschichte beschreibt der Historiker Tobias Kühne jetzt in seinem Buch „Das Netzwerk ,Neu beginnen‘ und die Berliner SPD nach 1945“. Und er geht der Frage nach, warum die anfänglichen Verfechter linkssozialistischer Positionen nach 1945 am rechten Rand der Berliner SPD zu finden waren. Ende der zwanziger Jahre sammelte der Tobias Kühne, Das Netzwerk „Neu beginnen“ und die Berliner SPD nach 1945, charismatische Walter Loewenheim Verlag für Berlin-Brandenburg 2018, (Pseudonym: Miles) Mitglieder aus KPD 504 Seiten, ISBN: 978-3-947215-00-3, 35 Euro und SPD in seiner „Leninistischen Orga- nisation“, kurz: ORG. Während die KPD die SPD erbittert bekämpfte, orientierte sich die kleine Geheimorganisation mit gesteuerten KPD und dem NS-Regime, ihren Schulungen auf eine einheitliche so beschreibt es Tobias Kühne, führten Arbeiterbewegung. 1931 stieß der Berliner zum bedingungslosen Kampf gegen Vorstand der SPD-Jugendorganisation Totalitarismus, aber auch gegen jede SAJ zur ORG. Er wurde im April 1933, vermutete Form davon. So betrieben die nach Vorbereitungen auf die Illegalität, Netzwerker Parteiausschlüsse linker aus der SPD ausgeschlossen. Wenige Sozialdemokraten und wirkten in rechten Wochen später war die SPD verboten, SPD-Zirkeln. Nach 1968 endete ihre Tätig- das nun „Neu Beginnen“ genannte keit. Netzwerk wurde aktiv im Widerstand. R E Nach 1945 fanden auch viele der 1933 Die Buchvorstellung mit Michael Müller, Z ausgeschlossenen SAJ-Mitglieder, darun- den Historikern Siegfried Heimann und E N ter Kurt Mattick, Theo Thiele oder Eber- Peter Steinbach sowie Autor Tobias Kühne S hard Hesse, beim Wiederaufbau der SPD findet am 25. September 2018 um 19 Uhr I O zusammen. Gemeinsame Erfahrungen in der Galerie im Kurt-Schumacher-Haus, N ihrer Altersgruppe mit einer von Moskau Müllerstraße 163, 13353 Berlin, statt. 28 B ER LI N ER STIMME
Text Alexander Kulpok Fotos Privat „Durch Berlin fließt immer noch die Spree“ Die „Berliner Abendschau“ wird 60 Der 1. September 1958 war ein Montag. Um 19 Uhr erklang für die wenigen tau- send Berliner Fernsehteilnehmer zum ersten Mal die von Jean und Robert Gilbert komponierte Melodie „Durch Berlin fließt immer noch die Spree“ als Opening der „Berliner Abendschau“. Die Themen des Sonntags wurden an jenem September-Montag von den TV- Machern des Senders Freies Berlin auf- gearbeitet: Die Polizeischau vor einhun- derttausend Besuchern im Olympia- stadion (ein jährliches Riesenevent in West-Berlin während der Zeit des Kalten Krieges), ein Interview mit dem Ver- kehrssenator zu aktuellen Flugpreis- erhöhungen und ein wenig Wassersport. Nach fünfzehn Minuten war alles vorbei. Moderator und Abendschau-Chef Günter Piecho hatte Feierabend. Mein Chef im damaligen Ullstein-Haus, der spätere Springer-Vorstandsvorsitzen- de Günter Prinz, ließ kein gutes Haar an dieser Premiere. Und mein hilfreicher Ratgeber und Mentor Ekkehart Reinke, H damals der King unter den Berliner Lokal- I S journalisten, fand das Ganze in seiner T OBEN Kurzkritik „Reichlich müde!“. Doch wir O Kritik zur ersten „Abendschau“- R hofften – nicht nur im Interesse der klei- Sendung, erschienen am I nen Fernsehgemeinde – auf Besseres. 2. September 1958 in der B.Z. E B ER LI N ER STIMME 29
Die erste Neuerung kam überraschend: Selbstverständlich war die Berichterstat- Günter Piecho konnte den Verlockungen tung mit dem Willen zur Wahrheit bei und Angeboten des von starken politi- Trennung von Nachricht und Kommen- schen Kräften der Republik vorbereiteten tar auch SFB-Intendanten wie Walter „Adenauer-Fernsehens“ (das allerdings Steigner (1961-1968), Franz Barsig (1968– vom Bundesverfassungsgericht gekippt 1978) und Wolfgang Haus (1978– 1983) wurde) nicht widerstehen und verließ oder dem Chefredakteur Peter Pechel den Sender Freies Berlin. Sein Stellvertre- (1966-1981) und seinem TV-Stellvertreter ter Harald Karas übernahm die Leitung Peter Schultze (1964-1987) zu verdanken. der „Berliner Abendschau“. Wie kein Das war nicht immer einfach, hatte der anderer prägte Karas fast 30 Jahre lang SFB – und damit sein TV-Flaggschiff das Gesicht dieser Sendung und ist zu „Abendschau“ – doch unausgesprochen, Recht als „Mister Abendschau“ in die aber allseits einvernehmlich die politi- Geschichte des Senders Freies Berlin ein- schen Positionen des westlichen Bünd- gegangen. Nicht einmal die häufig pro- nisses und der drei westlichen Schutz- blembeladenen Einflüsse der politischen mächte der geteilten Stadt gegenüber Parteien konnten der Stellung von Karas der DDR und der Sowjetunion zu vertre- etwas anhaben. So lange die 60-Prozent- ten. Der Vietnam-Krieg und die dortige Partei SPD in West-Berlin regierte, galt Rolle der US-Amerikaner führten nicht H es als ausgemacht, dass der CDU-Mann nur in den SFB-Redaktionen zu heftigen I Karas den Chefposten der „Berliner Kontroversen. Die Studentenbewegung S T Abendschau“ innehatte. Im Zweifelsfall mit Rudi Dutschke an der Spitze, das O zählte die journalistische Qualität – und Attentat auf Dutschke im April 1968 und R I da waren Karas und sein Team selten die anschließende Anti-Springer-Kam- E oder gar nicht angreifbar. pagne wurden zur Zerreißprobe für die 30 B ER LI N ER STIMME
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