BÜRGERSCHAFTLICHES ENGAGEMENT - SPD Berlin

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BÜRGERSCHAFTLICHES ENGAGEMENT - SPD Berlin
Zeitung der Berliner Sozialdemokratie | Nr. 7 · 2018 | 68. Jahrgang

     TI TE LT H E MA

     BÜRGERSCHAFTLICHES
     ENGAGEMENT

SAWSA N C H EB LI                   BA H N HOFSMISSION                VO R 6 0 JA H R EN
Nicht im Zuschauermodus             „Die blaue Weste macht            Die „Berliner Abendschau“
verharren                           uns alle gleich“                  geht auf Sendung
BÜRGERSCHAFTLICHES ENGAGEMENT - SPD Berlin
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2   B ER LI N ER STIMME
BÜRGERSCHAFTLICHES ENGAGEMENT - SPD Berlin
Text Michael Müller
                                 Foto Carolin Weinkopf

    Mehr Menschlichkeit

Eine Stadt lebt von den Menschen, die         Ich möchte die Berlinerinnen und
in ihr wohnen. Die tagtäglich mit ihrem       Berliner ermutigen, sich Initiativen wie
Engagement etwas dazu beitragen,              der Berliner Tafel, der Telefonseelsorge
damit Berlin der wundervolle Ort bleibt,      oder den Lesepaten anzuschließen.
der er ist. Menschen, die anderen unter       Die Vielfalt ist groß. Und: Engagement
die Arme greifen und sie stützen, wenn        fängt im Kleinen an: Vorlesen in Kitas
sie Hilfe benötigen. Die nicht lange          und Schulen, Einkaufen für die ältere
fragen, sondern aktiv etwas verändern.        Nachbarin, Babysitten für die allein-
Ich freue mich sehr, dass wir diese           erziehende Freundin. Jeder kann seinen
Ausgabe der Berliner Stimme all jenen         Beitrag für die Gesellschaft leisten.
Menschen widmen, die einen Großteil
ihrer Zeit ehrenamtlich zur Verfügung         Wir brauchen mehr Menschlichkeit.
stellen. Denn das ist alles andere als        Das solidarische Berlin kann nur
selbstverständlich.                           gemeinsam gelingen.

Es ist die Mitmenschlichkeit, die eine
Gesellschaft lebenswert macht. Nicht          Herzlich
wegschauen, wenn wir Ungerechtig-             Euer
keiten begegnen, Verantwortung nicht
abschieben, sondern sie selbst über-
nehmen. Eine Hand ausstrecken, statt
sie zurückzuziehen. Wir Politiker ver-
danken den Ehrenamtlichen viel und
ich begegne ihrer Arbeit voller Respekt.
Es ist mir ein Anliegen, die Bedingungen
für das bürgerschaftliche Engagement
zu verbessern und zuzuhören, wenn sich
Initiativen sich an uns wenden, um
                                                                                            E
ihrerseits Hilfe zu bekommen.                                                               D
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BÜRGERSCHAFTLICHES ENGAGEMENT - SPD Berlin
TI TE LTH E MA

         Bürgerschaftliches Engagement
    02   EDITORIAL                                   06      GASTBEITRAG
         Mehr Menschlichkeit                                 Bürgerschaftliches Engagement
         Text Michael Müller                                 stärkt Zusammenhalt
         Foto Carolin Weinkopf                               Text Sawsan Chebli
                                                             Foto Senatskanzlei Berlin

    08   PORTRÄT: SABINE WERTH                       11      TELEFONSEELSORGE BERLIN
         Die Mutter aller Tafeln                             Feuerwehr der Seele
         Text Christina Bauermeister                         Text Ulrich Schulte Döinghaus
         Fotos Dietmar Gust & Privat                         Foto Telefonseelsorge Berlin

                                                                 Lebensmittel für mehr
                                                                 als 300 soziale Einrich-
                                                                 tungen: Seit 25 Jahren
                                                                 gibt es die Berliner Tafel.
                                                                 Mehr auf den Seiten 8-10

                                                                 Foto: Christina Bauermeister

    12   BETTERPLACE.ORG                             13      TECHNISCHES HILFSWERK
         Digitaler Support für eine bessere Welt             Nichts für Superhelden
         Text Birte Huizing                                  Text & Foto
         Foto betterplace.org                                Christina Bauermeister

    14   SV ROT-WEISS VIKTORIA MITTE 08 E.V.         15      INTERVIEW MIT CAROLA SCHAAF-DERICHS
         Integration am Ball                                 „Knoten im Netzwerk“
         Text & Foto                                         Fragen & Foto
         Ulrich Schulte Döinghaus                            Christina Bauermeister

    18   BERLINER BAHNHOFSMISSION
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H        Text Christina Bauermeister
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         Fotos Christina Bauermeister
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T              & Berliner Bahnhofsmission

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BÜRGERSCHAFTLICHES ENGAGEMENT - SPD Berlin
AUS DEM LAN DESVER BAN D

                           Berliner Stimmen
22    INTERVIEW MIT ERKAN ERTAN                        23   SPD ERNEUERN
      Trainer fürs politische Ehrenamt                      Treppensteigen für den Wiederaufstieg
      Fragen Christina Bauermeister                         Text Volker Warkentin
      Foto   Privat                                         Fotos Wiebke Neumann & Privat

                                               VERMISC HTES

                        Kultur & Geschichte
26    FOTOSTRECKE:                                     28   REZENSION: DAS NETZWERK
      SOMMEREMPFANG                                         „NEU BEGINNEN“ UND DIE
      DER SPD BERLIN                                        BERLINER SPD NACH 1945
      Gemeinsam für Berlin                                  Konspirative Netzwerker
      Text Birte Huizing                                    Text Ulrich Horb
      Fotos Hans Kegel                                      Foto Verlag für Berlin-Brandenburg

29    HISTORIE: 60 JAHRE ABENDSCHAU
      „Durch Berlin fließt
      immer noch die Spree“
      Text Alexander Kulpok
      Fotos Privat

IMPRESSUM
Berliner Stimme                                        Mitarbeit an dieser Ausgabe
Zeitung der Berliner Sozialdemokratie                  Sawsan Chebli, Ulrich Horb, Alexander Kulpok,
Herausgeber                                            Ulrich Schulte Döinghaus, Volker Warkentin
SPD Landesverband Berlin,
                                                       Grafik Nico Roicke und Hans Kegel
Landesgeschäftsführerin Anett Seltz (V.i.S.d.P.),
Müllerstraße 163, 13353 Berlin,                        Foto Titelseite Dietmar Gust · Berliner Tafel e.V.
Telefon: 030.4692-222, E-Mail: spd@spd.berlin
Webadresse: www.spd.berlin
                                                       Abonnement 29 Euro pro Jahr im Postvertrieb          I
Redaktion                                              Abo-Service Telefon: 030.4692-144,                   N
Christina Bauermeister und Birte Huizing                                                                    H
                                                       Fax: 030.4692-118, berliner.stimme@spd.de            A
Telefon: 030.4692-150                                                                                       L
E-Mail: redaktion.berlinerstimme@spd.de                Druck Häuser KG Buch- und Offsetdruckerei Köln       T

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BÜRGERSCHAFTLICHES ENGAGEMENT - SPD Berlin
Text Sawsan Chebli
                                      Foto Senatskanzlei Berlin

                 Bürgerschaftliches
                 Engagement stärkt
                  Zusammenhalt
               Ehrenamt und persönlicher Einsatz für die Gesellschaft
                  sind zu einer harten politischen Frage geworden

            Es ist etwas ins Rutschen geraten. Enorme Fliehkräfte zerren am
            gesellschaftlichen Zusammenhalt. Hass verbreitet sich nicht nur im Netz,
            sondern im richtigen Leben. Menschen, die seit Jahrzehnten unter uns
            leben und sich als Berlinerinnen und Berliner sehen, wird zugerufen:
            „Flüchtlinge, haut ab!“. Frauen wird auf offener Straße das Kopftuch
            heruntergerissen. Es hat sich etwas verändert, nicht erst seit den jüngsten
            Ereignissen in Chemnitz. Wir müssen uns Sorgen um unser friedliches
            und weltoffenes Land machen!

            Gerade jetzt ist bürgerschaftliches Engagement wichtiger denn je. Dieses
            Engagement kommt nicht von selbst. Es beginnt damit, dass wir nicht
            im Zuschauermodus verharren, sondern uns auf die elementaren Werte
            besinnen, die Generationen für uns erkämpft haben: Menschenwürde,
            Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Es geht um persönlichen Einsatz.
            Es geht um einen Rechtsstaat, der gegenüber seinen Feinden Stärke und
            Entschlossenheit zeigt. Und es geht darum, dass wir die Kräfte der Zivil-
            gesellschaft stärken.

            Ehrenamt und zivilgesellschaftliches Engagement sind zu einer harten
            politischen Frage geworden. Wir sind auf die Verteidigung unserer Demo-
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I           kratie angewiesen, auf Zivilcourage im Alltag, die Präsenz im öffentlichen
T           Raum, den wir den Feinden der Demokratie nicht überlassen dürfen. Gut,
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L           dass in Berlin starke demokratische Bündnisse genau dafür einstehen.

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BÜRGERSCHAFTLICHES ENGAGEMENT - SPD Berlin
sammenhalt. Wir bauen die Ehrenamts-
                                               karte zu einem attraktiven Instrument
                                               der Anerkennung aus, das wir jetzt auch
                                               für junge Engagierte und die Inhaber
                                               der Jugendleiter/In-Card „Juleica“ öffen.
                                               Einmal jährlich laden wir Stolperstein-
                                               Initiativen aus der ganzen Stadt ein, um
                                               ihr Engagement zu würdigen und sie
                                               darin zu unterstützen. Mit dem Arbeits-
                                               kreis gegen Antisemitismus, in dem
                                               Experten aus der Zivilgesellschaft mit-
                                               wirken, erarbeiten wir gerade Hand-
                                               lungsempfehlungen für Politik und Ver-
                                               waltung. Und Anfang Dezember werden
OBEN                                           wir erstmals den #FARBENBEKENNEN-
Sawsan Chebli                                  Award vergeben. Mit ihm sollen Geflüch-
                                               tete ausgezeichnet werden, die sich
                                               einbringen und Begegnung ermöglichen.
  Als Staatssekretärin für bürgerschaft-       Vielfach werden Geflüchtete nur als
  liches Engagement begegne ich in allen       passive Empfänger von Unterstützung
  Teilen der Stadt großartigen Menschen,       gesehen. Viele von ihnen sind längst
  die oft im Stillen Tolles leisten. Fast 40   aktiv und machen sich für unsere demo-
  Prozent der Berlinerinnen und Berliner       kratischen Werte stark. Darin möchte
  engagieren sich freiwillig. Sie stehen       ich sie bestärken und dieses Engagement
  Menschen in Notsituationen zur Seite.        sichtbar machen, auch um Hass und
  Sie organisieren Kulturprojekte, trainie-    Vorurteilen entgegenzuwirken.
  ren den Nachwuchs im Sportverein oder
  engagieren sich in Rettungsdiensten.         Dabei treibt mich ein Thema besonders
  Andere Freiwillige pflegen Stolpersteine     um: Engagement führt nur dann zu einem
  zur Erinnerung an NS-Verfolgte oder          besseren Zusammenhalt in unserer Stadt,
  setzen sich für ein gutes Miteinander        wenn alle daran teilhaben können, nicht
  in der Nachbarschaft ein.                    nur diejenigen, die gewohnt sind, ihre
                                               Interessen durchzusetzen. Eine solidari-
  Ich setze mich dafür ein, dass dieses        sche Stadtgesellschaft gelingt nur, wenn
  Engagement noch besser gedeihen kann         es gleiche Zugangschancen auch zu Enga-
  und noch sichtbarer wird. So starten wir     gement und Beteiligung gibt. Wir müs-
  jetzt erstmals ein Förderprogramm des        sen uns fragen: Wie können wir Menschen
  Landes, um Freiwilligenagenturen zur         einbeziehen, die bisher noch nicht enga-
  Vermittlung von Ehrenamtlichen flächen-      giert sind? Wie können wir sie für demo-
  deckend in allen Bezirken zu fördern und     kratische Beteiligung gewinnen? Wir
  damit die Engagement-Infrastruktur in        werden mit Modellprojekten neue Wege
  den Bezirken zu stärken. Mit Freiwilligen-   der Bürgerbeteiligung in den Bezirken
  börsen und Stiftungstagen bieten wir         erproben. Denn eines steht fest: Wir
  Gelegenheiten, um zu zeigen, was Enga-       müssen in den Zusammenhalt investie-
  gierte leisten und wo es sich lohnt mit-     ren. Bürgerschaftliches Engagement
                                                                                             T
  zumachen. Mit Aktionen wie „Berlin sagt      und eine starke Zivilgesellschaft sind        I
  Danke“ signalisieren wir: Engagement         das Fundament unserer Demokratie              T
                                                                                             E
  ist wichtig für unsere Stadt und den Zu-     und unserer weltoffenen Stadt Berlin.         L

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BÜRGERSCHAFTLICHES ENGAGEMENT - SPD Berlin
Text Christina Bauermeister
                            Fotos Dietmar Gust · Berliner Tafel e.V. & Privat

       Die Mutter aller Tafeln
        Sabine Werth hat vor 25 Jahren quasi zufällig die Tafelbewegung
      ins Leben gerufen. Doch so alt wie die Tafel ist auch die Kritik daran.
                   Ein Besuch auf dem Berliner Großmarkt.

            „Ach, Sie sind ja schon da“, sagt Sabine Werth und zieht die Augen-
            brauen leicht nach oben. Sie erzählt, es passiere häufig, dass sich Besu-
            cherinnen und Besucher der Berliner Tafel auf dem weitläufigen Gelände
            des Großmarktes an der Beusselstraße verlaufen. Die Geschäftsstelle der
            Tafel sitzt in Halle 30a – im Frischezentrum für Fleisch und Wurst. Doch
            statt Frischfleisch oder Schinkenaufschnitt sortieren die Ehrenamtlichen
            an diesem Vormittag vor allem Kisten mit leicht zerdrücktem Obst und
            Gemüse aus den Lieferungen der Supermärkte und Discounter. Der Ein-
            druck trügt nicht. Obst und Gemüse machen inzwischen 75 Prozent der
            verteilten Lebensmittel aus, darunter ist ca. 30 Prozent Bioware, weil
            diese im Discounter öfter liegenbleibt.

            Eine Etage höher wechselt die geschäftige Gemüsemarkt-Atmosphäre
            in eine kreative Start-up-Stimmung. In einem Großraumbüro sitzen
            mehrere Fundraiser, eine Mitarbeiterin für Öffentlichkeitsarbeit, eine
            Ehrenamtskoordinatorin und sogar eine Kollegin für die internationale
            Zusammenarbeit. Inzwischen hat die Berliner Tafel 28 hauptamtliche
            Beschäftigte. Auch Sabine Werth hat hier ihr Büro, sie arbeitet jedoch
            weiterhin unentgeltlich.
T
I           „Ich will weiter Ehrenamtliche bleiben, auch weil mein Engagement
T           damit glaubhafter in der Außenwirkung ist. So empfinde ich es
E
L           zumindest“, sagt sie.

8   B ER LI N ER STIMME
BÜRGERSCHAFTLICHES ENGAGEMENT - SPD Berlin
OBEN
Die Berliner Tafel finanziert sich ausschließlich über Spenden und Mitgliedsbeiträge. Im vergangenen
Jahr gingen ca. 1,3 Millionen Euro ein. Doch wie viele Wohltätigkeitsorganisationen hat auch die Tafel
Nachwuchssorgen. „Junge Menschen lassen sich heute auf keine kontinuierliche Ehrenamtlichkeit ein,
die sie in der Woche bindet. Sie spenden lieber, anstatt Vereinsmitglied zu werden“, so Sabine Werth
(Foto, 2. v.l.). Die Tafel bietet deshalb immer häufiger kleinere Aktionen an. Neu ist, dass größere Firmen
ihre Mitarbeiter als Teambuilding-Maßnahme einen Tag lang zur Tafel schicken.

Die 61-Jährige hat die Berliner Tafel vor               verteilten 45 Ausgabestellen in Kirchen-
25 Jahren gegründet und ist damit die                   gemeinden, beim Ausfahren oder beim
Pionierin der deutschen Tafelbewegung.                  Sortieren im Zentrallager. 50.000 Men-
Niemand konnte damals ahnen, dass                       schen kommen monatlich in die Aus-
sich aus der Initiative Berliner Frauen, in             gabestellen. Darunter sind ein Drittel
einem harten Winter im Februar 1993                     Alleinerziehende und ein weiteres
Lebensmittel zu retten und sie an Bedürf-               Drittel Rentnerinnen und Rentner auf
tige und Obdachlose weiterzugeben, eine                 Grundsicherungsniveau. Weitere 75.000
so große Bewegung entwickeln würde.                     Bedürftige werden über die sozialen
Heute gibt es bundesweit in mehr als                    Einrichtungen erreicht. Zahlen, die
                                                                                                              T
900 Städten solche Einrichtungen. Allein                belegen, dass es eine zumindest stetige               I
in Berlin helfen 2300 Ehrenamtliche                     Anzahl von Abgehängten in der Gesell-                 T
                                                                                                              E
regelmäßig in den über die ganze Stadt                  schaft gibt.                                          L

                                                                                      B ER LI N ER STIMME     9
BÜRGERSCHAFTLICHES ENGAGEMENT - SPD Berlin
RECHTS
      Berlin friert im Februar 1993, als sich die Initiativ-
     gruppe Berliner Frauen um Sabine Werth entschließt,
      obdachlosen Menschen zu helfen. Ursprünglich war
                 die Aktion nur für einen Winter geplant.

     Sabine Werth ist in ihrem Büro gerade
     dabei, Unterlagen ihrer Beschäftigten
     für das Steuerbüro zusammenzutragen.
     Gemeint sind nicht die Angestellten der
     Tafel – Sabine Werth ist seit mehr als 30                 die Ausgabestellen und ist eine gemein-
     Jahren selbstständige Familienpflegerin.                  same Initiative der Tafel, des rbb und
     Das heißt, sie unterstützt kurz- oder                     der Berliner Kirchengemeinden.
     langzeiterkrankte Familienangehörige
     in der alltäglichen Hausarbeit und bei                    Die Kritik an der Berliner Tafel ist so alt
     der Betreuung der Kinder. Normaler-                       wie der Verein. Das weiß auch Sabine
     weise erledigt ihre Geschäftsführerin                     Werth, und sie ist gut vorbereitet. Vor
     diese Aufgaben, doch diese ist gerade                     allem redet sie gern Tacheles. Die Tafel
     im Urlaub, genauso wie die Leitung der                    will nicht die Lösung des Problems sein,
     Berliner Tafel. Deshalb sitzt Sabine Werth                sondern nur ein Übergang zu einer ge-
     gerade von morgens bis abends am PC,                      rechteren Gesellschaft. Menschen mit
     beantwortet Mails, telefoniert oder hilft                 wenig Geld das Leben erleichtern und
     in Konfliktsituationen. Natürlich hat sie                 gleichzeitig immer wieder den Finger
     sich in all den Jahren viele Gedanken                     in die Wunde legen.
     gemacht über die Grauzonen ihres Enga-
     gements. Wo ist die Grenze zwischen                       Wie kann die Politik die Ehrenamtlichen
     Lebensmittel und Müll? Entlässt die Tafel                 noch besser unterstützen? Es scheint
     den Sozialstaat aus der Verantwortung,                    eine von Sabine Werths Lieblingsfragen
     für die Bedürftigen zu sorgen? Verfestigt                 zu sein. Sie holt einmal tief Luft. „Wissen
     sie Armutsstrukturen?                                     Sie, ich habe durch mein Ehrenamt in-
                                                               zwischen fast jeden Orden, den dieses
     Mitte Januar tauchte eine weitere Grau-                   Land vergibt. Aber weil ich mein ganzes
     zone auf, eine, die eine gewaltige Medien-                Leben selbstständig war, habe ich im
     wucht erzeugte und bis heute nachhallt.                   Moment einen Rentenanspruch von
     Mit der Entscheidung der Essener Tafel,                   124 Euro.“ Sie findet, dass man mit ehren-
     künftig keine ausländischen Neukunden                     amtlichen Tätigkeiten Rentenpunkte
     mehr aufzunehmen, entbrannte in                           erwerben sollte. Eine entsprechende
     Deutschland ein Streit über Verteilungs-                  Initiative hat der Bundesverband der
     gerechtigkeit und Rassismus.                              Tafeln gerade auf den Weg gebracht.
                                                               Sabine Werth betont, dass viele Hartz-IV-
     „Wir hatten in drei unserer Ausgabe-                      Beziehende, die bei der Tafel mitarbeiten,
     stellen genau diese Überforderungs-                       so ein kleines Plus für ihre spätere Rente
     situation“, erzählt Werth. Der Beirat von                 erwirtschaften könnten und kommt
     Laib und Seele hat daraufhin beschlos-                    zu dem Schluss: „Solange wir behaupten,
     sen, dass es keine Ausgrenzung einzelner                  dass wir noch ein Sozialstaat sind, sollte
T
I    Gruppen geben darf. Es gehe bei der                       an dieser Stelle etwas gemacht werden.“
T    Tafelarbeit um die Bedürftigkeit, nicht
E
L    um die Herkunft. Laib und Seele betreibt                    www.berliner-tafel.de

10   B ER LI N ER STIMME
Text Ulrich Schulte Döinghaus
                                       Foto Telefonseelsorge Berlin

            Feuerwehr der Seele

   „Gut, dass ich durchgekommen bin.                   geworden. Oder werden von Depression
   Ich möchte mit jemandem reden.“                     und Verzweiflung niedergedrückt, bis
   So oder so ähnlich fangen Gespräche                 hin zu Selbsttötungsgedanken. Familien-
   mit Anruferinnen und Anrufern an,                   krisen. Prüfungsangst. Geldnot. Schlaf-
   die 0800-111 0 111 gewählt haben. Rund              losigkeit. Langeweile. Darüber möchten
   um die Uhr, Tag und Nacht sind in der               Berlinerinnen und Berliner mit den
   Telefonseelsorge Berlin ehrenamtliche               anonymen Telefonseelsorgern sprechen,
   Gesprächspartner zu erreichen. Es gibt              den Feuerwehrleuten der Seele.
   keinen Anrufbeantworter.
                                                       Immer häufiger kreisen die Gespräche
                                                       um die Arbeitswelt und Leistungsdruck
                                                       im Betriebsalltag. „Bis vor drei, vier Jahren
                                                       ging’s oft um Hartz IV oder Ärger mit
                                                       dem Jobcenter“, sagt eine erfahrene Tele-
                                                       fonseelsorgerin. „Heute sprechen wir
                                                       erstaunlich häufig über Termindruck,
                                                       Konkurrenz und Karriere.“

                                                       Rund 15.000 Gespräche verzeichnete
                                                       im vergangenen Jahr der gemeinnützige
                                                       Trägerverein Telefonseelsorge Berlin e.V.
                                                       Unter seinem Dach tun rund 120 ehren-
                                                       amtliche Telefonseelsorger freiwillig
                                                       und unbezahlt Dienst, jeder mindestens
                                                       120 Stunden im Jahr, auch nachts und
                                                       am Wochenende. Die meisten Ehrenamt-
OBEN                                                   lichen sind berufstätig. Auf ihren Frei-
Rund 15.000 Gespräche verzeichnete die Berliner        willigenjob werden sie eineinhalb Jahre
Telefonseelsorge im vergangenen Jahr. Immer
häufiger kreisen die Gespräche um Termindruck,         lang intensiv vorbereitet. Danach gibt es
Konkurrenz und Karriere.                               regelmäßige Supervisionen und Weiter-
                                                       bildungen. Warum das alles? Unter an-
                                                       derem für diese Reaktion: „Schön, dass
   Menschen, die nicht weiterwissen, rufen             ich mit Ihnen sprechen konnte. Das
                                                                                                        T
   an. Ihnen ist nach langen gemeinsamen               Gespräch hat mir unendlich gutgetan!“            I
   Jahren die Liebe abhandengekommen.                                                                   T
                                                                                                        E
   Sie sind vor Einsamkeit fast verrückt                  www.telefonseelsorge-berlin.de                L

                                                                                  B ER LI N ER STIMME   11
Text Birte Huizing
                                         Foto betterplace.org

              Digitaler Support
            für eine bessere Welt
     Mehr Berlin geht nicht: betterplace.org
     sitzt in einer Fabriketage über den Dä-
     chern von Berlin. Ganz unten sieht man
     den Freischwimmer, in der Schlesischen
     Straße werden die Lattes geschlürft,
     hier oben wird die Welt ein Stück besser
     gemacht. Durch und mit dem Internet.
     Das Netz, das aktuell einen Imageschaden         OBEN
     als „Raum der Hetze“ erleidet – hier ist es      Betterplace-Büro in Berlin
     ein Ort für viele gute Ideen und Menschen,
     die helfen und unterstützen wollen.
                                                      viel Enthusiasmus mit digitalem Wissen
     Die Idee: Die Spendenplattform better-           verknüpft wird. „Es gibt so viel Gutes da
     place.org verknüpft Online-Kommuni-              draußen, von dem wir noch nichts wis-
     kation mit Fundraising. Organisationen,          sen. Mit unserer Plattform wollen wir
     wie z. B. die Stadtmission, können ihre          sozialen Projekten zu mehr Sichtbarkeit
     sozialen Projekte auf der Plattform vor-         verhelfen. Und wir sind auch Brücken-
     stellen und dafür Unterstützer finden.           bauer ins Digitale“, so Lampe.
     Was einfach klingt, hat eine irrsinnige
     Schlagkraft. Eine durchschnittliche              Wie gut das mit dem Digitalen klappt,
     Offline-Spende liegt bei 30 Euro, die            zeigt die Neuköllner Initiative Morus 14.
     durchschnittliche Spende bei better-             Die Organisation unterstützt Kinder aus
     place.org beträgt 70 Euro. Allein letztes        dem Rollbergkiez bei den Hausaufgaben.
     Jahr wurden über 13 Millionen Euro               Anfangs war das Projekt relativ unbe-
     über die Plattform gespendet. Und:               kannt, mittlerweile hat es durch die
     Menschen, die bisher nicht in das                Präsenz im Netz viele Spenden und
     Spenderklientel fallen, zeigen sich              Unterstützer bekommen. Das Geheim-
     erstaunlich spendabel. Vor allem die             nis von betterplace:„Wir sind nicht
     25- bis 40-Jährigen spenden bei better-          nur eine reine Abwicklungsplattform.
     place.org Zeit und Geld.                         Wir beziehen auch Stellung, positionie-
                                                      ren und engagieren uns selbst.“ Es gibt
     Einer der Menschen hinter der Plattform          viel Gutes da draußen. Also einfach
T
I    ist Björn Lampe aus dem Vorstand von             mitmachen. Für eine bessere Welt.
T    betterplace. Wenn er über die Plattform
E
L    spricht, hört man schnell raus, dass hier           www.betterplace.org

12   B ER LI N ER STIMME
Text & Foto Christina Bauermeister

  Nichts für Superhelden

Die Müdigkeit ist Stephan Dannigkeit
noch ein wenig anzusehen, als er die Tür
an der Meeraner Str. 15b öffnet. Hier am
Stützpunkt des Technischen Hilfswerks
Lichtenberg ist der 42-Jährige seit vier
Jahren der Chef. Am Abend zuvor war er
noch bis 23 Uhr mit seinen Kameraden
unterwegs. Am Tag der Offenen Tür der
Bundesregierung hatte der Ortsverband           OBEN
den kompletten Kanzlergarten mit Strom          Stephan Dannigkeit leitet den
versorgt. Bis spät in den Abend haben           THW-Ortsverband Berlin-Lichtenberg
die Lichtenberger Kabel und Aggregate
wieder abgebaut und verladen.
                                                phenschutzorganisation des Bundes.
An diesem Montag hat Dannigkeit frei.           Die ultramarinblauen Fahrzeuge sind bei
Im Hauptberuf ist er Polizist. „Hat beides      Bränden, Hochwasser oder Unfällen eher
etwas mit Blaulicht zu tun“, scherzt er.        unauffällig im Einsatz. Unter anderem
Am Ausgang des THW-Gebäudes ist ein             versorgen sie Feuerwehr und Rettungs-
Hinweis angebracht „Ausloggen nicht             kräfte mit Strom, räumen Wege frei,
vergessen“. So werden die Arbeitsstun-          pumpen Wasser ab oder bekämpfen Öl-
den erfasst. Bis Ende August hatten die         schäden. „Alles nichts für Superhelden –
ca. 100 ehrenamtlichen Helferinnen und          sondern eher was für Technikverliebte“,
Helfer 22.000 Stunden angesammelt.              so Dannigkeit.
Der normale Jahres-Durchschnitt liege
bei ca. 25.000 Stunden, sagt Dannigkeit.        Allein die Grundausbildung umfasst
Was macht dieses Jahr so besonders? Der         100 Stunden. Nachwuchssorgen hat der
Ortsbeauftragte zuckt mit den Schultern.        Ortsverband im Moment nicht. Die meis-
„Nichts besonderes, wir investieren viel        ten Freiwilligen stehen mit beiden Beinen
Zeit in Ausbildung, hatten ein Jugend-          im Beruf und sind zwischen Ende 20 und
lager, dazu kommen Einsätze und Mate-           Mitte 40. Auch die Zeiten, in der der Män-
rialpflege.“                                    nerhaufen unter sich geblieben ist, sind
                                                beim THW längst vorbei. In Lichtenberg           T
Vor 65 Jahren gegründet, ist das THW            engagieren sich inzwischen 17 Frauen.            I
                                                                                                 T
eine beinahe ausschließlich von Ehren-                                                           E
amtlichen getragene Zivil- und Katastro-            www.lv-bebbst.thw.de                         L

                                                                           B ER LI N ER STIMME   13
Text & Foto Ulrich Schulte Döinghaus

                Integration am Ball

                                  RECHTS
            In der kurzen, zehnjährigen
         Geschichte haben Claudia Voges
       und Jörg Ewald den Fußball-Verein
     Rot-Weiß Viktoria Mitte 08 zu einem
           Integrationsverein entwickelt.

     Kinder in roten Trikots rufen einander                 entwickelt, sagt Jörg Ewald, der als ehren-
     „hier“ oder „gib ab!“ zu. Die Trainer korri-           amtliches Vorstandsmitglied unter ande-
     gieren und feuern an. Auf dem Sport-                   rem für den Reha-Sport verantwortlich
     platz an der Stralsunder Straße 18-22 in               ist. „Im Wedding und Alt-Mitte wohnen
     Berlin-Gesundbrunnen ist gerade Fuß-                   Familien aus vielen Ländern und Kul-
     balltraining der Junioren – wie fast jeden             turen – und denen kommt unser sport-
     Tag. Der Belegungsplan ist prall gefüllt.              liches Angebot sehr entgegen.“ Das hat
     „An den Wochenenden sind hier unun-                    sich auch bei Einwandererfamilien
     terbrochen Punktspiele“, sagt Claudia                  herumgesprochen, die in den vergan-
     Voges, eine der Mannschaftsbetreuerin-                 genen Jahren als Geflüchtete nach Berlin
     nen. Sie ist ehrenamtliches Vorstands-                 gekommen sind. Auch unbegleitete junge
     mitglied des 3500-Mitglieder-Sport-                    Geflüchtete haben hier eine sportliche
     vereins Rot-Weiß Viktoria Mitte 08 e.V.,               Heimat gefunden. Neuerdings arbeiten
     unter anderem zuständig für Daten-                     zwei junge Geflüchtete im Verein als
     schutz und Rechtsberatung. „Viele Eltern“,             Bundesfreiwilligendienstler. Der Fußball
     sagt sie, „schätzen es sehr, dass nicht nur            und die 15 anderen Sportarten sorgen
     leistungsorientierte Nachwuchskicker                   dafür, dass Familien und ihre Kinder aus
     zu uns kommen, sondern auch Kinder,                    vielen Berliner Bezirken und sozialen
     die einfach nur Fußball spielen wollen.“               Milieus Anschluss finden – und Deutsch
                                                            lernen. „Hier wird grundsätzlich Deutsch
     In der kurzen, zehnjährigen Geschichte                 gesprochen und angefeuert“, so Claudia
T
I    habe der gemeinnützige Verein sich                     Voges.
T    quasi von allein zum einem anerkannten
E
L    und ausgezeichneten Integrationsverein                     www.viktoriamitte.de

14   B ER LI N ER STIMME
Fragen & Foto Christine Bauermeister

„Knoten im Netzwerk“
   Die Geschäftsführerin der Landesfreiwilligenagentur
    Carola Schaaf-Derichs im Interview über die Freude,
Weichensteller für Menschen zu sein, Grenzen der spontanen
 Hilfsbereitschaft und modernes Freiwilligenmanagement.

Liebe Frau Schaaf-Derichs, seit mittlerweile 30 Jahren gibt es die Landes-
freiwilligenagentur Berlin. Sie selbst sind seit 26 Jahren dabei. Wenn Sie
zurückblicken: Welche Herausforderungen gab es in der Anfangszeit?
Herausfordernd war am Anfang, dass wir in Deutschland so ziemlich die
Einzigen im Bereich des Freiwilligenmanagements waren. Hierzulande
kannten wir bis dahin Anlaufstellen für Freiwillige noch nicht. Insofern
waren wir in einer Pionierfunktion, als der damalige Gesundheits- und
Sozialsenator Ulf Fink Ende der 80er Jahre von einer USA-Fachreise die
Idee der Volunteer Centers mitbrachte. Diese Idee dann auf die hiesige
soziale und gesellschaftliche Kultur zu übertragen, war unsere erste Über-
setzungs- und Entwicklungsaufgabe.

Sie sind ausgebildete Diplom-Psychologin und waren vorher freiberuf-
lich vor allem im Bereich Organisationsentwicklung unterwegs. Was
hat sie 1992 gereizt, Geschäftsführerin des Treffpunktes Hilfsbereitschaft
(so hieß die Landesfreiwilligenagentur damals noch) zu werden?
Ich bin damals durch eine Zeitungsanzeige im „Tagespiegel“ auf die
Stelle aufmerksam geworden. Was mich an der Ausschreibung reizte, war
die Kombination aus der Entwicklung einer neuen Organisation und der
Gestaltung gesellschaftlicher Beteiligung. Mein Vorgänger erklärte mir, es
ginge darum, dass Menschen, die ihre freie Kraft und ihre guten Ideen für
die Gesellschaft anzubieten haben, den Ort finden, wo genau diese Fähig-
keiten gebraucht werden. Das fand ich spannend. In einem neuen gesell-
schaftlichen Feld Weichensteller für Menschen zu sein, die etwas in die
Gesellschaft hineingeben wollen. Später haben wir diesen Prozess „Mat-                 T
ching“ getauft. Und den Begriff der „Freiwilligenagentur“ geprägt. Gerade              I
                                                                                       T
in so einer Großstadt wie Berlin gibt es so viele Herausforderungen für                E
eine aktive Zivilgesellschaft einerseits und Interessierte andererseits.               L

                                                                 B ER LI N ER STIMME   15
„Das freiwillige Engagement
                                                     sollte nicht in die Logik des
     Sie hatten schon beschrieben, dass Sie in
     Berlin mit der Arbeit in einer Pionierrolle     Arbeitsmarktes eingebunden
     waren. Wann änderte sich der Zeitgeist?
                                                     werden. Es hat seinen
     So ab Mitte der neunziger Jahre hatte ich
     das Gefühl, dass es eine spürbare Bewe-         eigenen Sinn.“
     gung in diesem Feld gibt. Nachdem es in
     Berlin durch die Verbreitung unserer
     praktischen Arbeit Impulse für mehr En-
     gagementförderung gab, zogen auch an-
     dere Bundesländer und Verbände nach.
     Zusammen mit der Stiftung Mitarbeit
     wagten wir deshalb 1996 die erste bun-
     desweite Fachtagung. Dort fanden sich         Wie hat sich das Aufgabenfeld Ihrer
     ca. 30 Akteure zusammen, deren Arbeit         Agentur durch die Ausdifferenzierung
     ähnlich angelegt war. Ich habe mich           verändert?
     1999 für die Gründung der BAG Freiwilli-      Unsere Rolle als Entwickler und Modera-
     genagenturen (Bagfa e.V.) als Vorsitzende     tor für eine lebendige Zivilgesellschaft
     engagiert.                                    in Berlin ist klar definiert sichtbar. Früher
                                                   haben wir sehr viel persönliche Beratung
     Und wie ist die Situation heute?              von Engagierten von Ort angeboten.
     Inzwischen gibt es in Berlin sehr viele       Diesen Part übernehmen jetzt überwie-
     verschiedene Akteure in diesem Bereich.       gend die bezirklichen Agenturen. Wenn
     Ob Freiwilligenagenturen auf Bezirks-         Freiwillige aktiv sind, entwickeln sie
     ebene bzw. an Verbände gekoppelt,             wichtige Bereiche der Gesellschaft. Damit
     Stadtteilzentren, Selbsthilfekontaktstel-     sind sie gewissermaßen zivilgesellschaft-
     len oder Quartiersbeiräte. Mit über 80        liche Managerinnen und Manager. Eine
     zivilgesellschaftlichen Organisationen        qualifizierte und professionelle Koopera-
     sind wir seit 2005 durch das Landesnetz-      tion zwischen Freiwilligen und Organisa-
     werk Bürgerengagement verbunden.              tionen ist ausschlaggebend für den Erfolg.
     Heute ist vielen Verantwortlichen klar,       Derzeit arbeiten wir mit ca. 2000 Orga-
     dass das Ehrenamt ohne modernes Frei-         nisationen auf der Grundlage gemeinsa-
     willigenmanagement schnell ein Pro-           mer Qualitätskriterien für die Freiwilli-
     blem bekommt. Auch die Gewinnung              genarbeit zusammen. Ein wichtiger Teil
     neuer Aktiver, insbesondere in Leitungs-      unserer Arbeit umfasst das Community-
     verantwortung, stellt eine enorme             Management: Wir organisieren berlin-
     Herausforderung dar. Als Knoten im            weite Veranstaltungen wie die Freiwilli-
     Netzwerk sind wir auch dafür bedeut-          genbörse, den Stiftungstag oder die
     samer geworden. Seit der Entscheidung         Engagementwoche und als Diskurs die
     im Jahr 2011, die Wehrpflicht auszusetzen     Runden Tische „Zivilgesellschaft.Berlin“.
     und damit den Zivildienst abzuschaffen,
     hat sich die Entwicklung gerade im so-        Es ist nicht allzu lange her, da hat eine
     zialen Sektor noch einmal verschärft. Das     große Anzahl von Geflüchteten, die in
T
I    freiwillige Engagement sollte nicht in die    Folge des Syrienkrieges nach Deutsch-
T    Logik des Arbeitsmarktes eingebunden          land kamen, gezeigt, wie wichtig
E
L    werden. Es hat seinen eigenen Sinn.           bürgerschaftliches Engagement ist,

16   B ER LI N ER STIMME
LINKS
                                                                Carola Schaaf-Derichs:
                                                                „Wir brauchen mehr und
                                                                bessere Kooperationen
                                                                zwischen Staat und Zivil-
                                                                gesellschaft, um wieder
                                                                krisenfester zu werden.“

aber auch aus welchen Bereichen sich        Welche Fehler könnten in Zukunft
der Staat bereits zurückgezogen hat.        vermieden werden?
Mit welchen Gefühlen haben Sie auf          Egal, welches gesellschaftliche Feld ich
diese Situation geschaut?                   mir ansehe: Ohne bürgerschaftliches
Ich habe das aus zwei Blickwinkeln be-      Engagement, ohne Freiwilligkeit wird es
trachtet. Zum einen ist solch eine spon-    auch in Zukunft nicht gehen. Im Gegen-
tane Hilfsbereitschaft großartig. Sie ist   teil, wir brauchen mehr und bessere
der beste Leumund für eine soziale, inte-   Kooperationen zwischen Staat und Zivil-
grative und solidarische Gesellschaft.      gesellschaft, um wieder krisenfester zu
Auf der anderen Seite habe ich mir 2015     werden. Öffentliche Einrichtungen und
viele Gedanken über den Sinn unserer        Behörden brauchen mehr Kooperations-
Arbeit gemacht. Denn: Das Wissen um         ansätze und -strukturen hin zur aktiven
einen guten und nicht verschleißenden       Bürgergesellschaft. Und die ist gerade
Einsatz von Freiwilligen konnten wir        in Berlin besonders vielfältig. Das heißt
präventiv nicht einbringen. Die Ausein-     also, dass sich staatliche Stellen und auch
andersetzungen in den Einrichtungen,        zivilgesellschaftliche noch mehr inter-
die wachsende Überlastung der Ehren-        kulturell öffnen sollten. Nur so kann das
amtlichen, dazu die kulturelle Vielfalt.    große Potenzial aller Menschen in unse-           T
Aber inzwischen haben sich viele Initia-    rer Stadt konstruktiv einbezogen werden.          I
                                                                                              T
tiven gut aufgestellt und wir sind im                                                         E
Austausch.                                    www.landesfreiwilligenagentur.berlin            L

                                                                        B ER LI N ER STIMME   17
Text Christina Bauermeister
                           Fotos Christina Bauermeister & Berliner Bahnhofsmission

           „Die blaue Weste
          macht uns alle gleich“
           Ein Besuch mit Ülker Radziwill in der Bahnhofsmission am Zoo

T
I
T
E
L

18   B ER LI N ER STIMME
In einer der Lieblingsanekdoten von Dieter Puhl geht es um eine
Begegnung mit dem ehemaligen Chef der Deutschen Bahn Rüdiger Grube.
Dieser besuchte die Bahnhofsmission in der Jebenstraße vor einiger Zeit,
um vor Ort ein bisschen mitzuhelfen. Brote schmieren, abwaschen, an der
Ausgabe-Theke stehen. Auch seine Sekretärin war mit vor Ort. Nach fünf
Minuten haut sie ihrem Chef in die Seite: „Nun schmier’ mal ein bisschen
schneller“. Hinterher erzählt Grube Dieter Puhl, wie erleichtert er gewesen
sei, dass die Mitarbeiterin endlich mal normal mit ihm geredet habe.
Im Bahn-Tower sei das nicht möglich gewesen.

          Dieter Puhl zieht die Mundwinkel nach oben. Trotz Schieber-
          mütze im Gesicht, ist das Leuchten in seinen Augen zu erkennen.
          „Die blaue Weste macht uns alle gleich. Sie zeigt uns, dass wir
          alle ähnliche Talente haben“. Puhl ist Sozialarbeiter und seit
          zehn Jahren Leiter der Bahnhofsmission am Zoo. Die Weste
          mit dem Malteserkreuz ist das Erkennungszeichen der rund
          160 Ehrenamtlichen der Bahnhofsmission.

                                                    Marein Müller ist eine
                                                    von ihnen. Die Juristin
        LINKS
                                                    für Gesellschaftsrecht ist
        Freiwillige Helferin Marein Müller,         durch einen Vortrag von
        Bahnhofsmission-Leiter Dieter Puhl,         Dieter Puhl bei der Deut-
        SPD-Abgeordnete Ülker Radziwill und
        Freiwilligenkoordinator Andi Barzda (v.l.)
                                                    schen Bahn „kleben ge-
                                                    blieben“. Kurz darauf gab
                                                    sie am Silvesterabend
                                                    2016 an Obdachlose
            warme Getränke und belegte Brote aus. Müller sagt: „Die Arbeit
            erdet mich. Hier bekomme ich nochmal eine andere Perspektive
            auf das Leben, die einem sehr bewusst macht, wie gut es einem
            selbst geht.“ Am liebsten steht sie hinter der Theke an der Essens-
            ausgabe. „Da gibt es immer diese kleinen Momente, in denen
            man den Menschen auf der anderen Seite ins Gesicht schaut.
            Das gibt einem so viel.“

          Die Bahn spendet Raum, Ehrenamtliche ihre Zeit, andere Geld.
          So kann Menschen mit einer Mahlzeit bzw. einem offenen Ohr
          geholfen werden oder ganz praktisch mit einer Dusche, Fuß-
          pflege oder Haarschnitt im Hygienecenter. Kirchliche Träger
                                                                                          T
          gründeten die erste Bahnhofsmission bereits zur Zeit der Indus-                 I
          triellen Revolution. Heute organisieren katholische und evange-                 T
                                                                                          E
          lische Kirche die Anlaufstelle für Menschen in Not gemeinsam.                   L

                                                                    B ER LI N ER STIMME   19
„Viele bekommen hier
                                                               erst das Gefühl, dass sie selbst
                                                                     etwas bewirken können.“
                                                                                   Andi Barzda
     Die Deutsche Bahn stellt der Bahnhofs-
     mission in unmittelbarer Nachbarschaft
     zusätzliche 500 Quadratmeter Fläche
     kostenfrei für 25 Jahre zur Verfügung.
     Dort sollen Beratung und Begleitung
     ausgebaut sowie Bildung und Begegnung           leben der heutigen Arbeitsgesellschaft.
     gefördert werden. Ziel ist, die gesellschaft-   „Viele bekommen hier erst das Gefühl,
     liche Teilhabe Obdachloser zu verbessern.       dass sie selbst etwas bewirken können.“
                                                     Er erzählt von Freiwilligen, die zunächst
     An einem der letzten heißen Sommer-             gar nicht so großen Kontakt zu den „Gäs-
     tage hat sich um 13.30 Uhr bereits eine         ten“ suchen, lieber erst Brote schmieren,
     längere Schlange vor dem Missionsge-            Teller spülen oder Klamotten packen in
     bäude gebildet. Schon morgens werden            der kleinen Notkleiderkammer. Mit der
     Marken an die Wartenden verteilt. Zwi-          Zeit beobachte er bei einigen einen Ver-
     schen 14 und 18 Uhr gibt es drei Essens-        wandlungsprozess. Sie werden neugierig
     ausgaben. Maximal 60 Personen passen            auf die Menschen, Geschichten und
     in den kargen Speiseraum. Durch die             Schicksale auf der anderen Seite.
     beengte Raumsituation kommen in der
     ersten Runde oft nicht alle Wartenden in        Kurz vor 14 Uhr versammeln sich im
     den Saal. Der „Job an der Tür“ erfordert        Essensraum die Freiwilligen und Haupt-
     daher ein besonderes Feingefühl. Ehren-         amtlichen für die Planung und Eintei-
     amtskoordinator Andi Barzda bringt es           lung am Nachmittag und am Abend,
     auf die Formel, man müsse „Gastgeber            wo Lunchtüten am Fenster ausgegeben
     statt Türsteher“ sein. Die Person an der        werden. Als Ülker Radziwill in den Raum
     Tür sollte ausgeglichen und in ange-            kommt, klatscht die Runde, dann umarmt
     spannten Situationen nicht impulsiv             sie Dieter Puhl. Puhl und Radziwill ken-
     reagieren. Barzda ist einer von 20 haupt-       nen sich seit mehr als 15 Jahren. Damals
     amtlichen Mitarbeitern. Anders als              wohnten beide im selben Kiez – in
     Dieter Puhl, trägt er lieber Basecap als        der Charlottenburger Nehringstraße.
     Schiebermütze, hat aber denselben               Inzwischen wohnt Ülker Radziwill am
     beseelten Gesichtsausdruck, wenn er             Klausenerplatz und hat Dieter Puhl als
     über seine Arbeit spricht. Barzda hat auf       Beisitzer in das hiesige Stadtteilzentrum
     dem zweiten Bildungsweg Abitur ge-              geholt.
     macht und ist über ein freiwilliges Prak-
     tikum zur Bahnhofsmission gekommen              Ülker Radziwill ist seit 2001 Mitglied des
     und geblieben.                                  Abgeordnetenhauses und Sprecherin für
                                                     Soziales, Senioren und Pflege der SPD-
     Es ist nach wie vor so, dass viele Berli-       Fraktion. Zusammen mit dem Fraktions-
     nerinnen und Berliner bei der Bahnhofs-         vorsitzenden Raed Saleh hat sie in den
T
I    mission ehrenamtlich mithelfen wollen.          Beratungen zum Doppelhaushalt 2018/
T    Warum ist das so? Barzdas Antwort               2019 zusätzliche finanzielle Mittel für
E
L    klingt wie ein tiefer Blick in das Seelen-      die Mission erstritten. 200.000 Euro und

20   B ER LI N ER STIMME
OBEN
Die Zeitungen betitelten ihn als „Schutzpatron der Jebensstraße“. Im vergangenen Jahr bekam
Dieter Puhl (m.) vom Regierenden Bürgermeister Michael Müller (l.) das Bundesverdienstkreuz verliehen.
Puhl sagt: „Das Kreuz ist ein Gemeinschaftsorden. Es gehört der gesamten Bahnhofsmission.“

                                                         „Wir sind eine der reichsten
zusätzlich nochmal 150.000 Euro für das
                                                         Metropolen der Welt und reden
Hygienecenter, das im Dezember 2015
eröffnete. In einer Rekordzeit von drei                  über 6.000 Menschen, als wäre das
Monaten wurden ehemalige Personal-
                                                         ein riesiges Problem.“ Dieter Puhl
räume der Deutschen Bahn zu Toiletten-
und Duschräumen umgebaut. Das zusätz-
liche Geld soll vor allem in die Auswei-
tung der Öffnungszeiten – derzeit ganz-
jährig 10 bis 18 Uhr – investiert werden.             ten Metropolen der Welt. Berlin bringt
                                                      jeden Tag 37.000 wohnungslose Men-
„Die Stadt- und die Bahnhofsmission                   schen unter und wir reden über 6.000
sind stadtweitbekannte Einrichtungen,                 Menschen, als wäre das ein riesiges
die Augen und Herzen öffnen und Ver-                  Problem. Das ist ein Armutszeugnis.“
ständnis wecken für einen menschlichen                Puhl ist seit 25 Jahren bei der Bahnhofs-
und nicht populistischen Umgang mit                   mission. Er berichtet von einem sehr auf-
Bedürftigen und wohnungslosen Men-                    geschlossenen und freundlichen Klima
schen“, so Ülker Radziwill. Als in der                für seine Institution über alle Parteigren-
Stadt im Herbst letzten Jahres über den               zen hinweg. Nur manchmal kommen
Umgang mit zeltenden Obdachlosen im                   ihm Zweifel am moralischen Zustand der
Tiergarten gestritten wurde, hat auch sie             Leistungsgesellschaft, etwa wenn er an
sich über den teils sehr abfälligen Ton in            seinen erfolgreichsten Spendenaufruf
der Debatte geärgert.                                 denkt. Er galt den kranken Hunden der
                                                      Obdachlosen.                                       T
Dieter Puhl hat sich nicht nur geärgert.                                                                 I
                                                                                                         T
Seine Miene verfinstert sich geradezu bei                www.berliner-stadtmission.de/                   E
diesem Thema. „Wir sind eine der reichs-                 bahnhofsmission                                 L

                                                                                  B ER LI N ER STIMME    21
Fragen Christina Bauermeister
                                              Foto Privat

                  Trainer fürs
             politische Ehrenamt
     Lieber Erkan, seit 2013 bist du zertifizier-
     ter Fachtrainer für Bürgerschaftliches
     Engagement. Was macht so ein Fach-
     trainer, und wie bist auf die Idee ge-
     kommen, das selbst zu werden?
     Erkan: Durch meine Parteiarbeit – u. a.
     war ich Mitglied im Bundesvorstand der
     Jusos und bei den Juso-Hochschulgrup-
     pen – musste ich schon sehr früh Semi-
     nare organisieren. Das war mir keines-           OBEN

     wegs lästig, sondern hat mir großen              Erkan Ertan ist tagsüber Referent für EU-Angelegen-
                                                      heiten in der Senatskanzlei. In seiner Freizeit hilft
     Freude gemacht. Als Trainer unterstütze          er politisch Ehrenamtlichen, sich in der Gruppe zu
     ich mit dem berühmten roten Faden die            organisieren und hat sogar jede Menge Spaß dabei.
     Teilnehmenden auf dem Weg zu beson-
     deren Erkenntnissen oder gewünschten
     Ergebnissen. Inzwischen arbeite ich seit         Aber auch Methoden wie Moderieren,
     mehr als sechs Jahren in der Berliner            Ansprache am Infostand, gutes Zeit-
     Verwaltung und kann meine Erfahrungs-            management, das Vorbereiten von Klau-
     werte an junge Menschen weitergeben.             surtagungen oder die Entwicklung neuer
     Es macht unglaublich viel Spaß zu sehen,         Veranstaltungsformate gehören dazu.
     wie durch Coaching eine Gruppendyna-
     mik entsteht und dass man gemeinsam              Wie kann man sich für das Trainer-
     mehr erreichen kann.                             programm bewerben?
                                                      Ich hatte mich 2013 für das Programm
     In welchem Bereich hast du dich                  „Train The Trainer“ beim Parteivorstand
B    spezialisiert?                                   beworben, das mit einem Zertifikat
E
R    Meine Leidenschaft gilt der Bildungs-            des Bundesverbandes für Trainer und
L    arbeit für Mitgliederorganisationen wie          Coaches verbunden war. Dieses Pro-
I
N    Parteien und Gewerkschaften. Hier be-            gramm gibt es unter anderem auch
E    schäftige ich mich zum Beispiel mit              bei den Gewerkschaften, der Friedrich-
R
     Fragen: Wie kriegt man Menschen dazu,            Ebert-Stiftung oder bei der IHK. Die
S    dass sie schnell in den Strukturen Fuß           Organisationen bieten so den eigenen
T
I    fassen und Spaß an der politischen               Leuten methodisches und didaktisches
M    Arbeit entwickeln? Wie kann man Pro-             Rüstzeug. Für die Interessierten ist es
M
E
     zesse verbessern und Menschen befähi-            eine Chance, sich als Coach für das poli-
N    gen, Verantwortung zu übernehmen?                tische Ehrenamt zu professionalisieren.

22   B ER LI N ER STIMME
Text Volker Warkentin
                      Fotos Wiebke Neumann & Privat

    Treppensteigen
für den Wiederaufstieg
Auf der Suche nach Wegen aus der Krise ist Kreativität gefragt.
       Ein Besuch bei der SPD in Tempelhof-Schöneberg.

Jeder Boxprofi weiß, dass geschickte Beinarbeit im Ring die halbe Miete
ist. Eine ähnliche Erfahrung machen seit einigen Monaten auch die
Genossinnen und Genossen der SPD-Abteilung Schöneberg-City, denen
wie anderen auch der Wiederaufstieg der Partei Herzenssache ist.
Im Kampf um Mandate kommt es nicht immer nur auf die besseren
Argumente an. Gut trainierte Waden können genauso wichtig sein,
zumindest wenn der Weg zu neuen Wählerinnen und Wählern durch
Häuser ohne Fahrstuhle führt. Schließlich muss der Kampf um die
Herzen und Köpfe der 20 Millionen Menschen, die der SPD seit 1998
den Rücken gekehrt haben, im Kleinen gewonnen werden.

Tür-zu-Tür-Kampagnen gelten mittlerweile zur heißen Phase der Wahl-
kämpfe. Ziel aller Parteien ist es, ihre Kandidatinnen und Kandidaten
bei möglichst vielen Stimmberechtigten bekannt zu machen. Zeit für
tiefschürfende Analysen bleibt nicht.

Bei der Anfang des Jahres angelaufenen Tür-zu-Tür-Aktion geht es eher
um Entschleunigung, wie die Abteilungsvorsitzende Angelika Schöttler                B
                                                                                    E
erläutert. Es gehe darum, möglichst vielen im Abteilungsgebiet rund                 R
ums Rathaus Schöneberg die SPD-Positionen zu den brennenden Fragen                  L
                                                                                    I
in „Tempelberg“ zu erläutern. Im Gegenzug könne die Partei lernen, wo               N
die Menschen der Schuh drückt.                                                      E
                                                                                    R

Die Abteilung Schöneberg-City gehört zu den kleineren Abteilungen                   S
                                                                                    T
im Kreisverband Tempelhof-Schöneberg. Dafür ist sie sicherlich eine der             I
buntesten. Sie reicht vom KaDeWe bis zum Bayerischen Platz. Das von                 M
                                                                                    M
der LGBT-Szene dominierte Regenbogenviertel gehört ebenso dazu wie                  E
das gediegen bürgerliche Bayerische Viertel.                                        N

                                                              B ER LI N ER STIMME   23
„Guten Tag, wir kommen von der SPD“,       eher an den Infoständen“, ergänzt Jan-
         stellen sich Wiebke Neumann und Jan-       Henrik. „Bevor die Bürger uns ihren
         Henrik Herchenröder mindestens ein-        Ärger über Hartz IV vor die Füße knallen,
         mal pro Woche an den Wohnungstüren         sammeln sie sich im Supermarkt ne-
         vor. Arbeit, Bildung und Sicherheit, vor   benan ihren ganzen Mut zusammen.“
B        allem aber die explodierenden Kosten
E
R        fürs Wohnen in der Mieterstadt Berlin      Die These des früheren FDP-Vordenkers
L        sind Dauerbrenner-Themen. „Wir wol-        Ralf Dahrendorf, die Sozialdemokratie
I
N        len Menschen deutlich machen, dass         habe sich bei ihrem Kampf um die
E        wir uns um ihre Sorgen kümmern“,           Emanzipation der Arbeiterschaft zu Tode
R
         begründen die beiden ihr Engagement.       gesiegt und sich überflüssig gemacht,
S                                                   halten sie für abwegig. Die SPD sei als
T
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         Beide sagen, sie seien durchweg freund-    „Schutzmacht der kleinen Leute“ (Johan-
M        lich aufgenommen worden. „Wegen            nes Rau) nötiger denn je. Das ist nicht
M
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         Hartz IV hat uns noch niemand ange-        nur wegen des gelegentlichen Treppen-
N        griffen“, meint Wiebke. „Kritik kommt      steigens eine mühselige Arbeit.

624   B EBREL RI N
                 L IENRE SRT SI M
                                T IM
                                   MEM E
LINKS
Tür-zu-Tür-Aktionen
der SPD Schöneberg-City:
Hannelore Scharf,
Wiebke Neumann,
Jan-Henrik Herchenröder,
Rüdiger Lautmann (v.l.)

                                               OBEN
                                               Volker Warkentin (67) hat sich die meiste Zeit
                                               seines langen Journalistenlebens im Nachrichten-
                                               geschäft getummelt. Der gebürtige Bremerhavener
                                               hat von 1978 an zunächst in Bonn und ab 1985
                                               in Berlin als Redakteur und Reporter für die Nach-
                                               richtenagentur Reuters gearbeitet. Am 9. November
                                               1989 hat er zwei Minuten vor der Konkurrenz
                                               den bevorstehenden Fall der Mauer vermeldet.

   „So lange ihr eure Agendapolitik macht,     Hier sieht der Juso-Bundesvorsitzende
   kannste den Flyer vergessen“, erinnerte     Kevin Kühnert eine Vorreiterrolle für
   sich der SPD-Landesvorsitzende und          die Berliner SPD. In einer Stadt mit vie-
   Regierende Bürgermeister Michael Mül-       len Start-ups und nur projektbezogenen,
   ler an die Weigerung eines Wählers, im      befristeten Jobs könnten die Berliner
   Wahljahr 2017 SPD-Wahlwerbung anzu-         SPD vormachen, wie man diese immer
   nehmen. Da fuhr die SPD mit 20 Prozent      größer werdende Wähler-Gruppe an-
   ihr schlechtestes Ergebnis bei Bundes-      spricht. Gemeinsam mit den Gewerk-
   tagswahlen ein. Auf Bundesebene war es      schaften ließen sich auch neue Formen
   die vierte Niederlage in Folge. In Bayern   der Interessenvertretung entwickeln.
   und Baden-Württemberg scheint die Par-
   tei an Schwindsucht zu leiden. Im Osten
   droht ihr die Auszehrung.
                                                  „Die SPD muss deutlich
   Klar ist allen Beteiligten auch, dass es
                                                  machen, dass sie regieren
   mit Tür-zu-Tür-Aktionen allein nicht
   getan ist. Neue Ideen zu entwickeln und        will und nicht der
   neue Wählergruppen zu erschließen,
                                                  Rollator der Union ist.“
   sind das Gebot der Stunde. Denn durch
   den Strukturwandel in der Industrie sind       Gero Neugebauer                                   B
                                                                                                    E
   schon jetzt Millionen Facharbeiter-Jobs                                                          R
   gestrichen worden. Stattdessen sind                                                              L
                                                                                                    I
   diese Leute heute auf Hartz IV angewie-                                                          N
   sen oder arbeiten schlecht bezahlt in der   Bei allem Willen zur Erneuerung muss                 E
                                                                                                    R
   Dienstleistungsbranche. Alarmierend ist     die SPD bei der Frage nach dem Macht-
   zudem, dass nur noch etwa jeder zweite      willen aus der Sicht des Parteienfor-                S
                                                                                                    T
   Beschäftigte in Deutschland durch einen     schers Gero Neugebauer ganz „Old                     I
   Tarifvertrag vor Lohndumping und Unter-     School“ bleiben: „Die SPD muss deutlich              M
                                                                                                    M
   schreiten sozialer Mindeststandards         machen, dass sie regieren will und nicht             E
   geschützt ist.                              der Rollator der Union ist.“                         N

                                                                             B ER LI N ER STIMME    25
Text Birte Huising
                                    Fotos Hans Kegel

               Gemeinsam für Berlin
            Beim Sommerempfang mit mehr als 500 Gästen appelierte der
      SPD-Landesvorsitzende Michael Müller an alle demokratischen Parteien,
                zusammenzuarbeiten statt sich gegeneinanderzustellen.

                                                    Traditionell lädt die Berliner SPD
                                                    Vertreterinnen und Vertreter aus Zivil-
                                                    gesellschaft und Sozialwirtschaft sowie
                                                    der Medien- und Wirtschaftsbranche
                                                    im Sommer zu einem gemeinsamen
F                                                   Ideen- und Debatten-Austausch ein.
O                                                   Auch in diesem Jahr traf man sich im
T
O                                                   „Pier 13“ im Tempelhofer Hafen.
S
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26   B ER LI N ER STIMME
Michael Müller warb in seiner Rede darum, gemeinsam für ein besseres Berlin
einzutreten. Nach Jahren des Sparens würde nun die Zeit der Investitionen beginnen.
Die Früchte dieser Arbeit könne man allerdings erst in den nächsten Jahren überall
bemerken. „Mir geht auch vieles zu langsam“, so Müller. Die Schulbauoffensive etwa
sei im vollen Gange, aber es dauere, bis an allen Schulen die Neubau- und Sanierungs-
maßnahmen abgeschlossen seien. Die Überlegungen von Siemens, massiv in den
Standort Berlin zu investieren, zeigten, „dass wir für Innovation und Zukunft stehen.“

                                                                                                 F
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                                                                                                 K
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                                                                           B ER LI N ER STIMME   27
Text Ulrich Horb
                               Bild Verlag für Berlin-Brandenburg (VBB)

     Konspirative Netzwerker
             Das Netzwerk „Neu Beginnen“ und die Berliner SPD nach 1945

     In der Berliner SPD der Nachkriegs-
     jahre wurden wichtige Funktionen von
     Mitgliedern einer konspirativen Organi-
     sation eingenommen. Ihre Geschichte
     beschreibt der Historiker Tobias Kühne
     jetzt in seinem Buch „Das Netzwerk
     ,Neu beginnen‘ und die Berliner SPD
     nach 1945“. Und er geht der Frage nach,
     warum die anfänglichen Verfechter
     linkssozialistischer Positionen nach
     1945 am rechten Rand der Berliner SPD
     zu finden waren.

     Ende der zwanziger Jahre sammelte der            Tobias Kühne, Das Netzwerk „Neu beginnen“
                                                      und die Berliner SPD nach 1945,
     charismatische Walter Loewenheim
                                                      Verlag für Berlin-Brandenburg 2018,
     (Pseudonym: Miles) Mitglieder aus KPD            504 Seiten, ISBN: 978-3-947215-00-3, 35 Euro
     und SPD in seiner „Leninistischen Orga-
     nisation“, kurz: ORG. Während die KPD
     die SPD erbittert bekämpfte, orientierte
     sich die kleine Geheimorganisation mit           gesteuerten KPD und dem NS-Regime,
     ihren Schulungen auf eine einheitliche           so beschreibt es Tobias Kühne, führten
     Arbeiterbewegung. 1931 stieß der Berliner        zum bedingungslosen Kampf gegen
     Vorstand der SPD-Jugendorganisation              Totalitarismus, aber auch gegen jede
     SAJ zur ORG. Er wurde im April 1933,             vermutete Form davon. So betrieben die
     nach Vorbereitungen auf die Illegalität,         Netzwerker Parteiausschlüsse linker
     aus der SPD ausgeschlossen. Wenige               Sozialdemokraten und wirkten in rechten
     Wochen später war die SPD verboten,              SPD-Zirkeln. Nach 1968 endete ihre Tätig-
     das nun „Neu Beginnen“ genannte                  keit.
     Netzwerk wurde aktiv im Widerstand.
R
E    Nach 1945 fanden auch viele der 1933             Die Buchvorstellung mit Michael Müller,
Z    ausgeschlossenen SAJ-Mitglieder, darun-          den Historikern Siegfried Heimann und
E
N    ter Kurt Mattick, Theo Thiele oder Eber-         Peter Steinbach sowie Autor Tobias Kühne
S    hard Hesse, beim Wiederaufbau der SPD            findet am 25. September 2018 um 19 Uhr
I
O
     zusammen. Gemeinsame Erfahrungen                 in der Galerie im Kurt-Schumacher-Haus,
N    ihrer Altersgruppe mit einer von Moskau          Müllerstraße 163, 13353 Berlin, statt.

28   B ER LI N ER STIMME
Text Alexander Kulpok
                                       Fotos Privat

     „Durch Berlin fließt
    immer noch die Spree“
                       Die „Berliner Abendschau“ wird 60

Der 1. September 1958 war ein Montag.
Um 19 Uhr erklang für die wenigen tau-
send Berliner Fernsehteilnehmer zum
ersten Mal die von Jean und Robert
Gilbert komponierte Melodie „Durch
Berlin fließt immer noch die Spree“ als
Opening der „Berliner Abendschau“.
Die Themen des Sonntags wurden an
jenem September-Montag von den TV-
Machern des Senders Freies Berlin auf-
gearbeitet: Die Polizeischau vor einhun-
derttausend Besuchern im Olympia-
stadion (ein jährliches Riesenevent in
West-Berlin während der Zeit des Kalten
Krieges), ein Interview mit dem Ver-
kehrssenator zu aktuellen Flugpreis-
erhöhungen und ein wenig Wassersport.
Nach fünfzehn Minuten war alles vorbei.
Moderator und Abendschau-Chef Günter
Piecho hatte Feierabend.

Mein Chef im damaligen Ullstein-Haus,
der spätere Springer-Vorstandsvorsitzen-
de Günter Prinz, ließ kein gutes Haar an
dieser Premiere. Und mein hilfreicher
Ratgeber und Mentor Ekkehart Reinke,                                                           H
damals der King unter den Berliner Lokal-                                                      I
                                                                                               S
journalisten, fand das Ganze in seiner                                                         T
                                                     OBEN
Kurzkritik „Reichlich müde!“. Doch wir                                                         O
                                                     Kritik zur ersten „Abendschau“-           R
hofften – nicht nur im Interesse der klei-           Sendung, erschienen am                    I
nen Fernsehgemeinde – auf Besseres.                  2. September 1958 in der B.Z.             E

                                                                         B ER LI N ER STIMME   29
Die erste Neuerung kam überraschend:          Selbstverständlich war die Berichterstat-
     Günter Piecho konnte den Verlockungen         tung mit dem Willen zur Wahrheit bei
     und Angeboten des von starken politi-         Trennung von Nachricht und Kommen-
     schen Kräften der Republik vorbereiteten      tar auch SFB-Intendanten wie Walter
     „Adenauer-Fernsehens“ (das allerdings         Steigner (1961-1968), Franz Barsig (1968–
     vom Bundesverfassungsgericht gekippt          1978) und Wolfgang Haus (1978– 1983)
     wurde) nicht widerstehen und verließ          oder dem Chefredakteur Peter Pechel
     den Sender Freies Berlin. Sein Stellvertre-   (1966-1981) und seinem TV-Stellvertreter
     ter Harald Karas übernahm die Leitung         Peter Schultze (1964-1987) zu verdanken.
     der „Berliner Abendschau“. Wie kein           Das war nicht immer einfach, hatte der
     anderer prägte Karas fast 30 Jahre lang       SFB – und damit sein TV-Flaggschiff
     das Gesicht dieser Sendung und ist zu         „Abendschau“ – doch unausgesprochen,
     Recht als „Mister Abendschau“ in die          aber allseits einvernehmlich die politi-
     Geschichte des Senders Freies Berlin ein-     schen Positionen des westlichen Bünd-
     gegangen. Nicht einmal die häufig pro-        nisses und der drei westlichen Schutz-
     blembeladenen Einflüsse der politischen       mächte der geteilten Stadt gegenüber
     Parteien konnten der Stellung von Karas       der DDR und der Sowjetunion zu vertre-
     etwas anhaben. So lange die 60-Prozent-       ten. Der Vietnam-Krieg und die dortige
     Partei SPD in West-Berlin regierte, galt      Rolle der US-Amerikaner führten nicht
H    es als ausgemacht, dass der CDU-Mann          nur in den SFB-Redaktionen zu heftigen
I    Karas den Chefposten der „Berliner            Kontroversen. Die Studentenbewegung
S
T
     Abendschau“ innehatte. Im Zweifelsfall        mit Rudi Dutschke an der Spitze, das
O    zählte die journalistische Qualität – und     Attentat auf Dutschke im April 1968 und
R
I
     da waren Karas und sein Team selten           die anschließende Anti-Springer-Kam-
E    oder gar nicht angreifbar.                    pagne wurden zur Zerreißprobe für die

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