Zur Möglichkeit einer - Melanie Engels und Andreas Fisahn gerechteren Flächen ver teilung
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
ONLINE-PUBLIKATION Melanie Engels und Andreas Fisahn Zur Möglichkeit einer gerechteren Flächenverteilung in Innenstädten Gutachten anhand des Beispiels der Berliner Pop-up-Radwege
MELANIE ENGELS arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Rechtswissenschaften an der Universität Bielefeld am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Umwelt- und Technikrecht, Rechtsphilosophie und -theorie. ANDREAS FISAHN lehrt an der Universität Bielefeld Öffentliches Recht und ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung. IMPRESSUM ONLINE-Publikation 9/2021 wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung V. i. S. d. P.: Alrun Kaune-Nüßlein Straße der Pariser Kommune 8A · 10243 Berlin · www.rosalux.de ISSN 2567-1235 · Redaktionsschluss: Juli 2021 Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin Layout/Satz: MediaService GmbH Druck und Kommunikation Diese Publikation ist Teil der Öffentlichkeitsarbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie wird kostenlos abgegeben und darf nicht zu Wahlkampfzwecken verwendet werden.
VORWORT UND POLITISCHE EINORDNUNG Eingriffe im Sinne der größeren Flächengerechtig- wäre – aber schon jetzt können entsprechende Maß- keit im Verkehr sind möglich und rechtlich zulässig. nahmen in die Wege geleitet werden. Eines der pro- Das ist die Nachricht dieses Gutachtens und Grund- minentesten Beispiele hierfür ist die Einrichtung von lage dafür, das Tempo beim Umbau der Straßen sogenannten Pop-up-Radwegen in Berlin und die Aus- und Städte mit Vorfahrt für den Umweltverbund von einandersetzung darum. Die Interpretation und Einord- öffentlichem Nahverkehr, Fahrrad- und Fußverkehr zu nung der entsprechenden Urteile zeigt: Pop-up-Rad- erhöhen und mehr Platz für mehr Grün, für Erholung, wege sind zulässig, auch dauerhaft. «Die Bezeichnung Spiel und Begegnung zu schaffen. des ‹Aufpoppens› kann hier irreführend sein», betonen Dies kann durch die Ausweisung autofreier innen- die Autor*innen des Gutachtens, «denn das Pop-up- städtischer Zonen gelingen, die für die Einrichtung Element ist letztlich nur in der beschleunigten Planung von Spielstraßen und anderen shared spaces genutzt und Umsetzung derartiger Maßnahmen zu sehen. Im werden können (mit den Auflagen: Schrittgeschwin- Grunde ist sie der Überraschung geschuldet, wenn digkeit für Autos, Vorrang von Fußgänger*innen behördliche (Planungs-)Vorgänge schneller gehen als und Car- bzw. Bike-Sharing und – wie etwa beim gewohnt. Denn die Anordnung von Pop-up-Radwegen Konzept der Superblocks in Madrid – mit nur noch folgt – wenn sie auf eine langfristige Ausgestaltung beschränkten Parkmöglichkeiten für Menschen mit gerichtet ist – denselben Regeln wie die Anordnung gesundheitlicher Einschränkung). Umfangreiche sonstiger Radfahrstreifen. Insbesondere sind diese Straßenumbauten wie bei überambitionierten Begeg- von der Darlegung einer qualifizierten Gefahr für die nungszonen sind unnötig, Straßen könnten zunächst Sicherheit der Verkehrsteilnehmer*innen befreit. Dem- mit einfachen Pollern für den (Durchgangs-)Verkehr entsprechend bedarf es des Terminus des ‹Pop-ups› gesperrt, die entsprechenden Zonen mit Verkehrs- verkehrsrechtlich auf lange Sicht nicht.» schildern ausgewiesen werden. Darüber hinaus sind weitere Maßnahmen zur Bevor- Damit nicht der gesamte Verkehr auf Hauptver- zugung des Umweltverbunds nötig und möglich: kehrsstraßen umgeleitet werden muss (und dort Die Straßenverkehrsordnung (StVO) fällt zwar in die die Anwohner*innen unzumutbar belastet), sollten Bundeskompetenz, aber die Länder sind «zuständig drei Spuren für die jeweiligen Verkehrsträger (Auto, für ihr jeweiliges Straßen- und Wegegesetz (StrWG), öffentlicher Nachverkehr und Rad) eingerichtet wer- sodass sie die Straßen, die sich in ihrem Hoheitsge- den, was auf Kosten des Parkraums ginge. Dafür sind biet befinden, planen und deren Nutzung festlegen viele Hindernisse in den Verwaltungen1 und in der können, soweit es sich nicht um Bundesstraßen han- Verkehrsordnung des Bundes zu überwinden.2 Aller- delt», erläutern die Gutachter*innen: «Die konkrete dings drängen zahlreiche Initiativen sowie Mobilitäts- Nutzung als Straße für den Automobilverkehr kann im wende-Bündnisse nach vorn, und die Sympathien in Einzelfall aufgehoben und durch die Einrichtung etwa der Bevölkerung, selbst unter Autofahrer*innen, sind einer Fußgängerzone oder Fahrradstraße ersetzt groß. Rebellische Kommunen und Bezirke könnten werden.» Damit ist also grundsätzlich eine extensive die Grenzen der Gesetzeslage austesten. Übrigens: Umverteilung der Verkehrsflächen zugunsten des Wo solche Modelle bereits realisiert sind, führt dies zu öffentlichen Nachverkehrs und des Fahrradverkehrs einer (Wieder-)Belebung des Einzelhandels. zulässig, sofern zum Beispiel eine Autospur erhalten Zu diesem Umbau gehört auch eine Entschleunigung bleibt oder ausreichende Ausweichmöglichkeiten für mehr Sicherheit: ein generelles Tempolimit von bestehen (Umlenkung des Verkehrs). Parkspuren 30 Stundenkilometern in Ortschaften. Tempo 30 ist können zu diesem Zweck ebenfalls umgewidmet schon jetzt stufenweise für zentrale und viel befah- werden. Ziel ist es, mehr Flächengerechtigkeit für die rene Achsen eingeführt worden und wäre sukzessive unterschiedlichen Verkehrsformen herzustellen. auf ganze Dörfer und Städte auszuweiten. Dies ist Darauf zielt auch die Volksbegehren-Initiative Ber- eine ausgesprochen wirksame und schnell umsetz- lin autofrei. Wie kann in großen Städten langfristig bare Maßnahme, die sich mit gesundheitspolitischer eine gerechtere und klimafreundliche Verteilung Gefährdung und Klimanotstand begründen lässt. So des Raums und der Verkehrsnutzung entstehen? weit der politische Wunsch. Dazu hat die Initiative Berlin autofrei kürzlich einen Das vorliegende Gutachten zeigt, dass die Rechtslage Gesetzesentwurf (Berliner Gesetz für gemeinwohl nicht unumstritten ist und durchaus zu verbessern orientierte Straßennutzung) eingereicht, auf den 1 Petri, Denis: Vom Drehen der Städte. Wie Radentscheide eine Mobilitätswende von unten vorantreiben, in: LuXemburg 1/2020, unter: www.zeitschrift- luxemburg.de/vom-drehen-der-staedte/. 2 Leidig, Sabine: Den Verkehr in eine neue Ordnung bringen, in: LuXemburg 1/2020, unter: www.zeitschrift-luxemburg.de/den-verkehr-in-eine-neue- ordnung-bringen/. 3
das Gutachten Bezug nimmt: «In diesem [Gesetzes aufwendigen Nachweises». Während also bisher entwurf] wird versucht, über das Straßenrecht die «im Rahmen von § 45 Absatz 9 Satz 3 StVO in jedem Straßen neu zu verteilen, also ihre Nutzungsart über Einzelfall eine Prüfung der Verkehrssituation und den Begriff des Gemeingebrauchs neu zu definieren. Berechnung des Unfallrisikos für die Darlegung einer […] Das größere Ziel dieses Gesetzes ist es, durch die Gefahrenlage erforderlich» war, ist nach der Neufas- Verringerung des motorisierten Individualverkehrs in sung «die Anordnung bei genannten Maßnahmen Berlin die Zahl der verkehrsbedingten Todesfälle und von dieser strengen Regelung ausgenommen. Damit Verletzungen zu senken, gesundheits-, klima- und ist in den dort genannten Fällen ein Nachweis einer umweltschädliche Emissionen (insbesondere Lärm qualifizierten Gefahrenlage, wie zum Beispiel eines und Abgase) zu verringern, das Sicherheitsgefühl und Unfallschwerpunkts, nicht mehr notwendig. Dies Wohlempfinden gerade auch von besonders schutz- dient der erleichterten Anordnung. […] Es war Sinn bedürftigen Verkehrsteilnehmer*innen wie beispiels- und Zweck der Reform, die gefährdeten Verkehrs weise älteren Personen und Kindern zu verbessern, teilnehmer*innen präventiv schützen zu können. die Wohn- und Aufenthaltsqualität zu steigern sowie Diese Ausnahme für Radfahrstreifen, Tempo-30-Zo- die geschäftliche und kulturelle Attraktivität Berlins zu nen und verkehrsberuhigte Geschäftsbereiche ist in fördern.» der Schutzwürdigkeit der Verkehrsteilnehmer*innen Die Autor*innen des Gutachtens bemerken dazu: begründet. Radfahrer*innen, Kinder und Fußgän- «Gemäß § 3 des GemStrG Bln ist auf autoreduzierten ger*innen sind im Straßenverkehr besonders gefähr- Straßen der Gemeingebrauch beschränkt auf den det. Die Verkehrssicherheit für Radfahrer*innen hat Fußverkehr, den Radverkehr und den öffentlichen sich in den letzten Jahren sogar noch verschlechtert», Personennahverkehr (Umweltverbund) sowie den heißt es im Gutachten. Verkehr zu öffentlichen Zwecken nach Absatz 2 und Gleichzeitig weisen die Gutachter*innen aber darauf den Verkehr mit Taxen. Weiterhin gibt die Widmung, hin, «dass nach der StVO (noch) kein Instrument exis- dem Gesetz zufolge, den Verkehr für bestimmte, tiert, allumfassende Maßnahmen für mehrere Stre- zumeist elektrisch betriebene Fahrzeuge frei. Recht- cken durch eine einzige Anordnung zu treffen», weil lich erscheint diese Gesetzesinitiative äußerst inno- bislang jede einzelne Straße geprüft werden muss. vativ. Denn prinzipiell lässt das Bundesrecht auto Deshalb liege «die rechtlich wohl einzige Möglichkeit, freie Straßen nicht ohne Weiteres zu. […] Die Berliner flächendeckend umweltschonende Maßnahmen in Straßen sollen nun teileingezogen werden, also die Innenstädten zu planen und umzusetzen, […] folglich Widmung für den Gemeingebrauch soll in Teilen auf- im Straßenrecht. Nur im Wege einer straßenrecht gehoben werden und dem Gemeingebrauch sollen lichen (Teil-)Einziehung haben Projekte wie das der die Straßen nur noch gewidmet sein, sofern es sich Berliner Initiative für gemeinwohlorientierte Straßen- dabei um Radfahren und die Nutzung durch einige nutzung die Chance, überhaupt realisiert zu werden. andere durch das Gesetz privilegierte Verkehrsmittel […] Folglich besteht zwischen den Einzelmaßnahmen handelt.» nach der StVO und den großflächigen Einrichtungs- Es stehen durchaus Mittel zur Verfügung, um weiter- möglichkeiten des Straßenrechts kein Widerspruch. gehende Maßnahmen verwaltungsrechtlich umzu- Denn dort, wo die Straße einer Widmung unterliegt, setzen. Von Vorteil ist dabei insbesondere die erfolgte kann durch Maßnahmen nach der StVO der im Rah- Änderung der StVO: Sie «enthält seitdem unter ande- men der Widmung liegende Nutzungsgehalt immer rem bezogen auf Radfahrstreifen und innerörtliche noch umfassend geregelt werden. Es können somit streckenbezogene Geschwindigkeitsbeschränkun- auf Straßen, auf denen kein Individualmobilverkehr gen von 30 Stundenkilometern die Ausnahme von nach der straßenrechtlichen Zuordnung bzw. Wid- den strengen Voraussetzungen des § 45 Absatz 9 mung mehr möglich ist, immer noch Spuren zum Bei- Satz 3 StVO». Das Gutachten zitiert hierzu auch die spiel für ausschließlich elektrisch betriebene Busse Begründung der Änderungsverordnung: «Einen eingerichtet werden.» Baustein zur Verbesserung der Verkehrssicherheit Besser wäre natürlich, wir kämen endlich zu einer für schwächere Verkehrsteilnehmer, zu denen ins- sozial-ökologischen Modernisierung der StVO. Das besondere Kinder und ältere Personen zählen, kann Verkehrsministerium und der Gesetzgeber wollen die- die erleichterte streckenbezogene Anordnung von sen Schritt bislang nicht gehen – trotz Klimanotstands Tempo 30 auch an innerörtlich klassifizierten Straßen und des jüngsten Urteils des Bundesverfassungsge- (Bundes-, Landes- und Kreisstraßen) sowie auf wei- richts. Die Straße ist eben für das Auto gedacht und teren Vorfahrtstraßen insbesondere vor allgemeinbil- gemacht – aber nicht für immer. denden Schulen, Kindergärten, Kindertagesstätten, aber auch Senioren- und Pflegeheimen darstellen.» Mario Candeias Dass die genannten Orte «unter Verkehrssicherheit- Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse, saspekten besonders schützenswert sind», bedarf Rosa-Luxemburg-Stiftung gemäß Neuregelung nunmehr keines «konkreten Berlin, Juli 2021 4
INHALT 1 Problemaufriss und Ausgangslage 6 2 Der aktuelle Verfahrensstand des Verwaltungsstreitverfahrens in Berlin 7 2.1 Zur Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin vom 4. September 2020 7 2.2 Zur Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 6. Januar 2021 7 3 Verkehrliche Maßnahmen – rechtliche Einordnung 7 3.1 Straßenrecht 8 3.1.1 Maßnahmen nach dem Straßenrecht 8 3.1.1.1 Begriff der öffentlichen Straße 8 3.1.1.2 Gemeingebrauch und Widmung einer Straße 8 3.1.1.3 (Teil-)Einziehung 10 3.1.2 Zwischenfazit 11 3.2 Das Berliner Gesetz für gemeinwohlorientierte Straßennutzung 11 4 Straßenverkehrsrecht 12 4.1 Voraussetzungen einer Maßnahme nach der Straßenverkehrsordnung 12 4.2 Zuständigkeit des Senats 12 4.3 Mögliche Ermächtigungsgrundlagen für Pop-up-Radwege 13 4.4 Befristung von Maßnahmen 14 4.5 Sind außerhalb des Verkehrs liegende Begründungen von Anordnungen möglich? 14 4.6 Vorliegen einer konkreten Gefahrenlage 15 4.7 Herabsetzung der Anordnungshürden durch § 45 Absatz 9 StVO 15 4.8 Einordnung durch die Gerichte 17 5 Kritik und Ausblick: Radwege erzeugen Radfahrten 18 6 Literaturverzeichnis 21 5
1 PROBLEMAUFRISS UND AUSGANGSLAGE Während der SARS-CoV-2-Pandemie haben Städte Fahrbahn grundsätzlich in weißer Farbe gekennzeich- europaweit sogenannte Pop-up-Radwege eingerich- net,7 nur vorübergehend gültige Markierungen sind tet. Insbesondere in Berlin als «Vorreiterin der Bewe- gelb.8 «Pop-up» bedeutet hier die schnelle Anordnung gung», aber auch in zahlreichen anderen deutschen von Infrastrukturmaßnahmen, die kurzfristig und Städten wurden Radwege innerhalb weniger Tage in einer stark vereinfachten Form (meist) temporär beschlossen und eingerichtet. Insgesamt zehn Stre- umgesetzt werden.9 Dabei wird selbst eine dauer- ckenabschnitte hat der Berliner Senat seit der Coro- haft angeordnete Verkehrsinfrastruktur als «Pop-up» na-Krise im Jahre 2020 auf besonders stark befahrenen verstanden, solange sie per Anordnung ohne großen Straßen mit Pop-up-Radwegen versehen. Die Rede Planungsaufwand erlassen wird. ist von «temporären Radspuren»1 oder «(temporären) Präzision bedarf es hinsichtlich des Begriffs Radweg. Radfahrstreifen»,2 also Radfahrstreifen, deren Anord- Bei Pop-up-Radwegen handelt es sich rechtlich meist nung befristet ist und die daher nur so lange bestehen um sogenannte Radfahrstreifen innerhalb geschlos- bleiben, wie dies von den Behörden verfügt wird.3 sener Ortschaften,10 auf denen Kraftfahrzeugverkehr In der allgemeinen Definition ist ein Pop-up-Radweg nicht zugelassen ist. ein «kurzfristig eingerichteter Radweg, der in einer Mit Beschluss vom 4. September 202011 gab das akuten Gefahren- oder Krisensituation oder bei plötz- Berliner Verwaltungsgericht einem Kläger Recht, der lich veränderten Rahmenbedingungen im Straßen- sich im Juni 2020 mit einem Eilantrag gegen acht verkehr schnell für mehr Platz und Sicherheit im Rad- der bestehenden temporären Radverkehrsanlagen verkehr sorgen soll».4 Unter Pop-up-Radwegen wird in Berlin gewandt hatte. In dem Beschluss äußerte zudem ein «unter bestimmten Rahmenbedingungen das Verwaltungsgericht Zweifel an der Rechtmäßig- (etwa in Gefahren- und Krisensituationen) kurzfristig, keit der entsprechenden Verkehrszeichen und ver- häufig provisorisch und meist nicht auf Dauer ange- pflichtete den Berliner Senat, die Kennzeichnung der legter bzw. verbreiterter Fahrstreifen für den Radver- Pop-up-Radwege auf den in Rede stehenden Stra- kehr» verstanden.5 ßenabschnitten zu entfernen. Der Erlass einer ver- Zwei Elemente kommen in diesen Definitionen zum kehrsregelnden Anordnung setze, so die wesentliche Ausdruck. Einerseits die Kurzfristigkeit: Pop-up-Rad- Begründung des Beschlusses, eine konkrete Gefahr wege werden ohne großen planerischen Vorlauf für die Sicherheit oder Ordnung des Straßenverkehrs kurzfristig eingerichtet. Andererseits das Temporäre: voraus, die jedoch von der Senatsverwaltung im bis- Pop-up-Radwege sind derzeit lediglich befristet ange- herigen Verfahren nicht nachgewiesen worden sei.12 ordnet. Dies ist jedoch keineswegs zwingend.6 Selbst Die Rechtslage bleibt nach wie vor unklar. Ähnliche wenn derartige Radfahrstreifen dauerhaft eingerichtet Projekte wie das der Berliner Pop-up-Radwege sind werden sollen, bietet sich die zunächst nur vorüberge- auch weiterhin der Gefahr eines gerichtlichen Verfah- hende Anordnung aus dem praktischen Grund an, weil rens ausgesetzt. Was die Verkehrsbehörden nun aus die kurzfristige Einrichtung durch Gelb-Markierungen dem Beschluss für die Zukunft lernen könnten, wo auf der Fahrbahn möglich ist, ohne dass die ursprüng- die rechtlichen Hürden bei der kurzfristigen Einrich- lichen weißen Markierungen direkt entfernt werden tung eines Fahrradwegs liegen und wie die bestehen- müssen. den Pop-up-Radwege vielleicht doch noch, auch mit Dies dürfte ein relevanter Zeitfaktor bei der Einrich- Blick auf die Zukunft, gerettet werden können, soll im tung sein. Denn Verkehrszeichen werden auf der Wege dieses Gutachtens erklärt werden. 1 Deutscher Bundestag, WD-Gutachten 5 – 3000 – 057/20, S. 4. 2 Deutscher Bundestag, WD-Gutachten 7 – 3000 – 074/20, S. 5. 3 Abgeordnetenhaus von Berlin, WPD-Gutachten vom 7. August 2020, S. 3. 4 Ebd. 5 Ebd. 6 So z. B. die Anordnung unbefristeter Radfahrstreifen für die Strecke zwischen Kottbusser Tor und Hermannplatz in Berlin, VG Berlin, Beschluss vom 4.9.2020 –11 L 205/20. 7 § 39 Absatz 5 Satz 2 StVO. 8 Dann heben sie die weißen Markierungen auf, § 39 Absatz 5 Satz 3 StVO. 9 Auch in Berlin hat der Senat die Anordnung der Radwege im Sinne des § 36 Absatz 2 Nr. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz Berlin (VwVfG Bln) teilweise auf eine bestimmte Zeit befristet. 10 Vgl. § 45 Absatz 9 Satz 4 Nr. 3 StVO. 11 VG Berlin – VG 11 L 205/20. 12 Ebd. 6
2 DER AKTUELLE VERFAHRENSSTAND DES VERWALTUNGS STREITVERFAHRENS IN BERLIN 2.1 ZUR ENTSCHEIDUNG DES 2.2 ZUR ENTSCHEIDUNG DES OBERV ER VERWALTUNGSGERICHTS BERLIN WALTUNGSGERICHTS BERLIN-BRANDEN VOM 4. SEPTEMBER 2020 BURG VOM 6. JANUAR 2021 Das Verwaltungsgericht (VG) Berlin entschied am Demgegenüber seien aus Sicht der Senatsverwal- 4. September 2020 auf Eilantrag eines Abgeord- tung, so die Beschwerdebegründung vor dem Ober- neten des Berliner Abgeordnetenhauses, dass die verwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg, die Pop-up-Radwege in Berlin rechtswidrig angeordnet Pop-up-Radwege rechtmäßig angeordnet worden und worden seien, und verpflichtete die Senatsverwal- hinreichend nach den Erfordernissen der Straßenver- tung als Rechtsfolge der Entscheidung zum sofor- kehrsregeln begründet. Sie dienten, so die Senats- tigen Rückbau der Einrichtungen. Der Erlass einer verwaltung in ihrer Beschwerde, insbesondere der verkehrsregelnden Anordnung setze, so die wesent- Sicherheit und Ordnung des Straßenverkehrs. Zudem liche Begründung des Beschlusses, eine konkrete sei, nach der insoweit pauschalen Begründung, gene- Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung des Straßen- rell keine andere verkehrsteilnehmende Person in ihren verkehrs voraus, die jedoch von der Senatsverwal- Grundrechten verletzt, wenn die Benutzungspflicht tung im bisherigen Verfahren nicht nachgewiesen von Radwegen angeordnet werde. worden sei. Das OVG Berlin-Brandenburg folgte der Begründung Vor diesem Hintergrund hat das Verwaltungsgericht der Senatsverwaltung, die ergänzend und im Ver- zu den vor Gericht verhandelten Berliner Pop-up-Rad- fahren erstmals die für die nach Auffassung des VG wegen entschieden, dass die Anordnung rechts- Berlin erforderliche Gefahrenprognose notwendigen widrig war, weil weder eine konkrete Gefahr noch Tatsachen durch Nachreichung von Verkehrszählun- besondere Umstände, die die Anordnung der Rad- gen und Unfallstatistiken vorlegte, und entschied am fahrstreifen zwingend erforderlich machen, dargelegt 6. Oktober 2020, dass die Pop-up-Radwege vorerst worden seien.13 bestehen bleiben dürfen und damit die Vollziehung der Entscheidung des VG Berlin auszusetzen sei.14 Letztendlich hob das Oberverwaltungsgericht Ber- lin-Brandenburg die Entscheidung des Verwaltungs- gerichts im Hauptsacheverfahren auf.15 3 VERKEHRLICHE MASSNAHMEN – RECHTLICHE EINORDNUNG Warum gab das Verwaltungsgericht dem Antragstel- Maßnahmen innerhalb des Straßenverkehrs erläu- ler recht, muten die getroffenen Maßnahmen doch tert, um anschließend zu prüfen, ob und inwieweit zunächst insbesondere aus umwelt- sowie infektions- Pop-up-Radwege zulässig sind. Vorab werden die schutzrechtlicher Perspektive durchaus vernünftig Bereiche Straßenrecht und Straßenverkehrsrecht an? Dies lässt sich mitunter damit begründen, dass zum tieferen Verständnis voneinander abgegrenzt. eine mögliche Lösung für die sich hier stellende Pro- Dabei werden insbesondere die begrifflichen Details blematik nicht im Umweltschutz- oder im Infektions- einer straßenverkehrsrechtlichen Gefahr sowie die schutzrecht zu verorten ist, sondern vielmehr in den gerichtliche Darlegungslast der zuständigen Ver- Grundätzen und Details verkehrsrechtlicher Maßnah- kehrsbehörden ins Auge gefasst, da hier die schwer- men zu finden ist. punktmäßigen Problematiken innerhalb der gericht- In den folgenden Abschnitten werden die potenziel- lichen Bewertung des Berliner Verwaltungsgerichts len rechtlichen Grundlagen für Anordnungen und auszumachen sind. 13 Ebd. 14 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 6.10.2020 – 1 S 116/20. 15 Ebd. 7
3.1 STRASSENRECHT zugewiesenen Fläche eingezogen und neu zugeord- net werden müssten. Fraglich ist, in welches Rechtsgebiet die Einrichtung von Pop-up-Radwegen fällt. Rechtlich ist zunächst bei 3.1.1.1 Begriff der öffentlichen Straße jeder verkehrlichen Maßnahme zwischen dem Stra- Fraglich ist, ob eine straßenrechtliche Teileinziehung ßen- (und Wege-)Recht und dem Straßenverkehrs- einer Straße erforderlich ist, um langfristig Radwege recht zu unterscheiden. Die Benutzung gewidmeter einzurichten. Straßen, also der klassifizierten Straßen, auf denen Während sich das Straßenrecht nur auf die förmlich der Verkehr in der Regel stattfindet, unterliegt nicht gewidmeten (also im Prinzip einem öffentlichen Träger nur dem Straßenverkehrsrecht, sondern auch dem zugeordneten) Straßen bezieht, ist der Straßenbegriff Straßenrecht. des Straßenverkehrsrechts weiter. So sind öffentliche Welchen Grundsätzen das Straßenrecht folgt und wo Straßen nach § 1 StVG alle Wege, die der Öffentlichkeit sich dort eventuelle Handlungsoptionen für die Ver- zur Verfügung stehen: Das sind vor allem öffentliche kehrsplanung ergeben, soll im Folgenden dargestellt Wege im Sinne des Wegerechts, die dem Straßen- werden. In einem Zwischenfazit wird das Zusammen- verkehr zugeschrieben sind, aber auch «tatsächlich spiel beider Rechtsmaterien erläutert. öffentliche» Wege, auf denen der oder die Eigentü- mer*in einen öffentlichen Verkehr eröffnet hat oder 3.1.1 Maßnahmen nach dem Straßenrecht duldet.17 Es kommt daher auf die faktische Öffentlich- Das Straßenrecht ist die Rechtsgrundlage für die keit der Benutzung an, nicht auf das Wegeeigentum. Festlegung der allgemeinen Verwendungsfunktion Eine Straße ist demnach öffentlich im verkehrsrecht- einer Straße. Es handelt sich um einen Gegenstand lichen Sinne, wenn sie faktisch für die Allgemeinheit der konkurrierenden Gesetzgebung gemäß Artikel 70 zur Benutzung für Verkehrszwecke offensteht und Absatz 1 Nr. 22 Grundgesetz (GG). Das bedeutet, dass tatsächlich auch so genutzt wird. eine Gesetzgebungskompetenz der Länder nur dann Die für die tatsächliche Öffentlichkeit eines Weges besteht, wenn der Bund von seiner Kompetenz kei- notwendige Zulassung des allgemeinen Verkehrs nen Gebrauch gemacht hat. Der Bund hat das Stra- durch den bzw. die Verfügungsberechtigte*n liegt in ßenverkehrsgesetz (StVG) erlassen, das die Grund- jedem Verhalten, aus dem die Allgemeinheit entneh- lage für das Straßenverkehrsrecht, insbesondere die men darf, dass die Wegebenutzung nicht gegen den Straßenverkehrsordnung darstellt, vor allem weil ernstlichen Willen des bzw. der Verfügungsberech- das Verkehrsministerium durch das StVG ermächtigt tigten verstößt; auch die bloße Duldung kann daher wird, die StVO zu erlassen (§ 6 StVG). Die Länder sind Zulassung sein.18 zuständig für ihr jeweiliges Straßen- und Wegegesetz Für die Einordnung kommt es entscheidend auf das (StrWG), sodass sie die Straßen, die sich in ihrem nach außen erkennbare Gesamtbild an, für das die Hoheitsgebiet befinden, planen und deren Nutzung Verkehrsbedeutung der Verkehrsfläche maßgeb- festlegen können, soweit es sich nicht um Bundes- lich ist.19 Auch nach den straßenverkehrsrechtlichen straßen handelt, die nach dem Bundesfernstraßen- Anordnungen bleiben die betreffenden Straßen- gesetz (FStrG) geplant werden. Die StrWG der Län- abschnitte für alle Verkehrsteilnehmer*innen im der behandeln die Rechtsverhältnisse der Flächen, Rahmen der verkehrsrechtlichen Einschränkungen die dem öffentlichen Verkehr dienen, und regeln nutzbar. Sonderregeln gelten für die Nutzung von deren Einstufung, Widmung und Teileinziehung. Ihr Waldwegen, die in den Waldgesetzen der Länder Gegenstand wird daher auch häufig als öffentliches geregelt, für die hier anstehende Frage aber nicht Sachenrecht bezeichnet.16 Nach der Auffassung des relevant sind. Klägers im Verfahren vor dem VG Berlin soll es für die Einrichtung temporärer Radwege einer straßenrecht- 3.1.1.2 Gemeingebrauch und Widmung lichen Anordnung bedürfen. Gemäß seinem Vortrag einer Straße sollen derartige Radverkehrsanlagen einer straßen- Die Anschlussfrage ist nunmehr, wie einer öffent- rechtlichen Teileinziehung bedürfen, das heißt, dass lichen Straße ihr konkreter Nutzungszweck zuge- Teile der bereits einem gewissen Gebrauchszwecks ordnet wird und welchen Kriterien diese Zuordnung 16 Herber, in: Kodal, Straßenrecht, Kap. 4 Rn. 4.3. 17 Auch eine nicht gewidmete, tatsächlich öffentliche Verkehrsfläche darf der bzw. die Grundstückseigentümer*in oder sonstige Berechtigte nur mit Zustimmung der zuständigen Behörde oder aufgrund eines gerichtlichen Titels auf eigene Kosten beseitigen oder sperren (BayVGH, Urteil vom 26.2.2013 – 8 B 11.1708, BayVBl. 2013, 629). 18 Kodal, Straßenrecht, 7. Aufl., 2010, Kap. 5 Rn. 19. 19 OLG Saarbrücken, Urteil vom 27.11.2014 – 4 U 21/14, NZV 2015, 492; etwas weiter gehend: BayObLG, Beschluss vom 20.1.1972 – 2 St 631/71 Owi, DAR 1972, 219: Zur Abgrenzung des öffentlichen Weges im Sinne des Verkehrsrechts von der Grundstückseinfahrt und Ausfahrt. Bei der Beurteilung dieser Frage muss weitgehend auf sichtbare Merkmale zurückgegriffen werden; denn die Kraftfahrer*innen müssen sich auf das sich ihnen bietende äußere Gesamtbild verlassen können. 8
unterliegt. Zentral ist hier der Begriff der straßenrecht- ßenrechtliche Abschluss der Planung und Herstel- lichen Widmung nach dem StrWG des Landes. lung einer Straße28 und somit der «Geburtsakt» der Bei dieser handelt es sich um einen hoheitlichen öffentlichen Straße. Sie lässt somit die öffentliche Rechtsakt, durch den eine öffentliche Stelle erklärt, Sache entstehen, legt den besonderen öffentlichen dass die Sache einem bestimmten öffentlichen Zweck fest, dem die öffentliche Sache dienen soll, Zweck dienen soll und ihre Benutzung durch die All- und überantwortet die öffentliche Sache «Straße» als gemeinheit geregelt wird.20 Sachgesamtheit des öffentlichen Rechts den Normen Soweit sich die Art der Benutzung, der die zu wid- des Verwaltungsrechts.29 Sie begründet damit ins- mende Straße im Rahmen ihrer öffentlichen Zweck- besondere Rechte und Pflichten für den Träger der bestimmung dienen soll, nicht ohne Weiteres aus der Straßenbaulast, für den oder die Grundstückseigen- Einstufung (ggf. in Verbindung mit der Festlegung der tümer*in und für die Straßenbenutzer*innen, nur in Verkehrsfunktion) ergibt, wie etwa bei Bundesauto- bestimmter Hinsicht auch für die Anlieger*innen. bahnen oder Bundesstraßen, kann in der Widmung die Der Gebrauch der öffentlichen Straße ist gemäß § 10 Zweckbestimmung noch weiter beschränkt werden.21 Absatz 2 BerlStrG jeder und jedem im Rahmen der Die Beschränkungen der Benutzungsarten können in Widmung für den Verkehr (Gemeingebrauch) gestat- der Widmung im Hinblick auf den technischen Aus- tet. Auf die Aufrechterhaltung des Gemeingebrauchs bauzustand ebenso wie zur Konkretisierung des für besteht darüber hinaus kein Rechtsanspruch, das die einzelne Straße entwickelten Verkehrs- und Nut- heißt, die konkrete Nutzung als Straße für den Auto- zungskonzepts ausdrücklich statuiert werden;22 zum mobilverkehr kann im Einzelfall aufgehoben und Teil sind auch Beschränkungen auf bestimmte Benut- durch die Einrichtung etwa einer Fußgängerzone zungszwecke oder Benutzungszeiten möglich. 23 oder Fahrradstraße ersetzt werden. Dabei können Widmungsbeschränkungen im Prinzip Gemeingebrauch besteht an bestimmten öffent- von allen öffentlichen Interessen getragen werden lichen, das heißt dem Staat oder sonstigen Verwal- wie zum Beispiel Gesichtspunkte der Sicherheit und tungsträgern zustehenden Sachen, insbesondere an Ordnung des Verkehrs, des Verkehrs-Umweltschut- öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen. Das bedeu- zes oder des Städtebaus.24 Diese Beschränkungen tet, dass der Gebrauch dieser Sachen der Allgemein- werden gleichzeitig mit der Widmung verfügt.25 Dabei heit im Rahmen der Widmung und der die Benutzung handelt es sich um einen unselbstständigen Teil des regelnden gesetzlichen Vorschriften gestattet ist, so einheitlichen Verwaltungsakts der Widmung. Wid- bei öffentlichen Straßen und Wegen zu Verkehrszwe- mungsbeschränkungen haben eine Einschränkung cken im Rahmen der jeweiligen Widmung und der im Gemeingebrauch zur Folge.26 Sie sind vom Träger verkehrsrechtlichen Vorschriften, nicht jedoch zu der Straßenbaulast bei Indienststellung der Straße gewerblichen Zwecken.30 kenntlich zu machen. Über die Art dieser Kennzeich- Der Gemeingebrauch ist von einer besonderen nung gibt es keine Vorschriften. Grundsätzlich ergibt Zulassung nicht abhängig; für ihn ist in der Regel die sich aber eine Beschränkung der Widmung einer Erhebung einer Gebühr nicht vorgesehen (vgl. § 7 I öffentlichen Verkehrsfläche nicht aus deren Beschil- 4 FStrG). Der Gemeingebrauch muss gemeinver- derung, sondern aus ihren äußerlich erkennbaren träglich ausgeübt werden, darf also den Widmungs- Merkmalen unter Berücksichtigung der örtlichen zweck und die Interessen der übrigen Berechtig- Gegebenheiten und der allgemeinen Verkehrsan- ten nicht mehr als unvermeidbar beeinträchtigen. schauung.27 Übersteigt die Benutzung einer öffentlichen Sache Mit der Widmung entsteht die öffentliche Straße im diese Grenzen, so bedarf sie als Sondernutzung der Sinne des Straßenrechts. Die Widmung ist der stra- behördlichen Erlaubnis. Das gilt beispielsweise für die 20 OVG Schleswig, Urteil vom 28.4.2016 – 4 LB 23/15. 21 Herber, in: Kodal: Straßenrecht, 7. Aufl. 2010, Kap. 8 Rn. 6. 22 Vgl. z. B. Artikel 6 Absatz 2 Satz 3 BayStrWG. Zeitler, BayStrWG, Stand 10/2015, Artikel 6 Rn. 38 führt hier als Beispiele den Ausschluss von Benutzungsformen wie Gehen, Radfahren, Fahren (abgestuft nach Lkw, Pkw, Krafträdern und differenziert nach Gewichten [Tonnagen]), Reiten und Viehtreiben an. 23 Marschall, FStrG, 6. Aufl. 2012, S. 7, Rn. 5. Nicht möglich sind allerdings subjektive, auf bestimmte Personengruppen bezogene Nutzungs beschränkungen (BayVGH, 11.11.1971 – 70 III 69, DVBl. 1973, 508). 24 Widmungsbeschränkungen finden ihre Grenze dort, wo die Zugehörigkeit zur bisherigen Straßenklasse infrage gestellt ist, weil durch die Widmungsbeschränkung letztendlich eine neue Straßenklasse geschaffen werden würde (Zeitler, BayStrWG, Stand 10/2015, Artikel 6 RN 36). 25 Die nachträgliche Widmungsbeschränkung (Teileinziehung) von Straßenteilen mit einer Beschränkung der Widmung auf bestimmte Benutzungsarten und Benutzerkreise setzt lediglich ein Überwiegen der Gründe des öffentlichen Wohls (etwa Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs und städtebauliche Gesichtspunkte) voraus, woran sich ein intendiertes Ermessen (Soll) anschließt (VG Oldenburg, Beschluss vom 25.6.2015 – 5 B 2312/15). 26 Zeitler, BayStrWG, Stand 10/2015, Artikel 6 Rn. 35. Zu unterscheiden sind Beschränkungen kraft Gesetz (etwa als Folge der Einstufung in eine bestimmte Straßenklasse) und solche, die konkret von der Straßenbaubehörde verfügt worden sind. 27 Thüringer OLG, Urteil vom 10.11.2004 – 4 U 432/04, NZV 2005, 192. 28 VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 7.7.1994 – 5 S 679/94, NVwZ-RR 1995, 185. 29 Zeitler, BayStrWG, 2010, Artikel 6 Rn. 2; VG München, Urteil vom 24.1.2012 – 2 K 11.5640. 30 Weber, in: Creifelds Rechtswörterbuch. 9
Nutzung einer Straße für ein Straßenfest oder die Nut- eine sogenannte Teileinziehung notwendig.37 Die zung durch Fahrzeuge mit Überbreite. Grenze, die straßenverkehrsrechtlichen Maßnahmen im Hinblick auf die straßenrechtliche und wegerecht- 3.1.1.3 (Teil-)Einziehung liche Widmung einer Straße gesetzt ist, wird dann Die Einziehung, die auch als Entwidmung bezeich- überschritten, wenn die Regelung des konkreten net wird, ist die Allgemeinverfügung, durch die eine Verkehrsverhaltens im Ergebnis auf eine Erweiterung gewidmete Straße die Eigenschaft einer öffentlichen oder Beschränkung der Widmung durch Zulassung Straße verliert, das heißt der Entzug der Verkehrsflä- oder Untersagung einer ganzen Verkehrsart hinaus- che für jeden öffentlichen Verkehr.31 Sie ist der actus läuft, da diese Frage bereits zum Gemeingebrauch contrarius, also das Gegenstück zur Widmung.32 selbst gehört.38 Die (Teil-)Einziehung einer öffentlichen Straße ist Hier kann schon ein Blick auf das Problem der Pop-up- im Regelfall ein Geschäft der laufenden Verwal- Radwege geworfen werden. Denn nach dem Gesag- tung, sodass die (interne) Mitwirkung des Rats der ten bedarf es, entgegen der Ansicht des Klägers,39 Gemeinde nicht erforderlich ist. Dies gilt grundsätz- für die Einrichtung von Pop-up-Radwegen (zunächst) lich auch für die straßenrechtliche Statusentschei- keiner straßenrechtlichen Teileinziehung. Mit seinem dung der Widmung. Die Beibehaltung eines Lage- Vorbringen, Radfahrstreifen dürften nur außerhalb vorteils ist rechtlich nicht geschützt. Diejenigen, von Fahrbahnen eingerichtet werden, konnte der die bisher vom Gemeingebrauch «profitiert» haben, Antragsteller – wenig überraschend – nicht verfangen. haben auch keinen Anspruch darauf, dass die bisheri- Dies steht im Einklang mit der bisherigen Rechtspre- gen Nutzungsmöglichkeiten nur im Einklang mit dem chung, wonach eine Teileinziehung vorzunehmen ist, geltenden Recht beseitigt werden. wenn die Beschränkung des Verkehrs nicht zu einer Die Teileinziehung ist also ein Verwaltungsakt, durch auf Dauer gerichteten Beeinträchtigung des Wid- den eine ursprünglich offenere Widmung nachträg- mungsgehalts öffentlicher Verkehrsflächen führt.40 lich auf bestimmte Benutzungsarten, Benutzungs- Aufgrund der Tatsache, dass bei der Einrichtung der zwecke oder Benutzerkreise beschränkt wird.33 Das Berliner Pop-up-Radwege auf keiner der benannten Straßenrecht bietet somit grundsätzlich Instrumente, Straßenabschnitte der Automobilverkehr in hohem um bisherige Straßenflächen anderen Nutzungen Maße begrenzt oder gar gänzlich ausgeschlossen zuzuführen. Diese Verfahren setzen jedoch in der wurde, konnte somit richtigerweise auf das Straßen- Regel andere, mitunter langwierigere Prozesse als verkehrsrecht und die darin enthaltenen verkehrsre- eine einfache straßenverkehrsrechtliche Anordnung gelnden Maßnahmen zurückgegriffen werden. Dies voraus.34 Straßenrechtliche Vorschriften werden all- bestätigte auch das Verwaltungsgericht in seiner Ent- gemein zum Beispiel als Rechtsgrundlage für die scheidung. Einrichtung von Fußgängerzonen angesehen.35 Der Die Pop-up-Radwege sind folglich durch den Berliner Begriff der Teileinziehung soll allerdings auch die Senat im Wege einer straßenverkehrsrechtlichen vollumfängliche Einziehung nur eines Teilstücks einer Anordnung eingerichtet worden. Die Berliner Rad- Straße decken.36 wege sind straßenverkehrsrechtlich betrachtet für Daraus ergibt sich, dass der jeweilige Widmungs- den Radverkehr bestimmte, von der Fahrbahn nicht zweck einer Straße zu beachten ist. Maßnahmen nach baulich, sondern mit Zeichen 295 (Fahrbahnbegren- dem Straßenverkehrsrecht dürfen nicht zu einem voll- zung) abgetrennte und mit dem Zeichen 237 (Rad- ständigen Ausschluss des Fahrverkehrs und damit zu weg) gekennzeichnete Teile der Straße, wobei der einer Widmungseinschränkung führen wie zum Bei- Verlauf durch wiederholte Markierung des Zeichens spiel die Anordnung einer Fußgängerzone entgegen verdeutlicht werden kann.41 Die Radfahrstreifen sind der Straßenwidmung. Das wäre Aufgabe des Stra- ausschließlich dem Fahrradverkehr vorbehalten. ßenrechts. Für einen vollständigen Ausschluss des Sie können zusätzlich durch Schutzelemente (etwa Fahrzeugverkehrs ist eine Widmungseinschränkung, Absperrbaken, Kübel oder Poller) abgegrenzt wer- 31 Sauthoff, Öffentliche Straßen, 2. Aufl. 2010, Rn. 235. 32 OVG Lüneburg, Beschluss vom 29.12.2015 – 7 ME 53/15. 33 Herber, in: Kodal, Kap. 11 Rn. 50 ff. 34 Vgl. etwa § 4 Absatz 2 Satz 2 BerlStrG: «Die Absicht, die Straße einzuziehen oder teileinzuziehen, ist mindestens einen Monat vorher im Amtsblatt für Berlin bekannt zu machen, um Gelegenheit zu Einwendungen zu geben»; vgl. auch Artikel 8 Absatz 2 Satz 1 BayStrWG: «Die Absicht der Einziehung ist drei Monate vorher in den Gemeinden, die von der Straße berührt werden, ortsüblich bekannt zu machen.» 35 BVerwG, Urteil vom 8.9.1993 – 11 C 38/92, BVerwG 94, 136; NJW 1994, 1080; NZV 1993, 125; NdsOVG Beschluss vom 29.12.2015 – 7 ME 53/15. 36 So VGH BW, Beschluss vom 22.2.1999 – 5 S 172/99, VBlBW 1999, 313; dies dürfte allenfalls für das Straßenrecht in Baden-Württemberg zutreffen. 37 Rebler, in: Bachmeier/Müller/Rebler, Verkehrsrecht, § 45 Rn. 3; Schurig, StVO, § 45, S. 713. 38 BVerfG, Urteil vom 9.10.1984 – 2 BvL 10/82. 39 Ebd. 40 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 9.10.1984 – 2 BvL 10/82; Schurig, § 45, S. 713. 41 Verwaltungsvorschriften zu § 2 Absatz 4 Satz 2 StVO; Janker, DAR 2006, S. 68 ff. 10
den. Eine straßenrechtliche Teileinziehung42 ist für die Jedenfalls liegt nach Auffassung des BVerwG «ein Einrichtung oder Verbreiterung von Radfahrstreifen Übergriff in straßen- und wegerechtliche Kompeten- somit nicht erforderlich, da keine Benutzungsart voll- zen nicht im Falle solcher verkehrsrechtlich begründe- ständig von der (gesamten) Straße ausgeschlossen ter Straßenbenutzungsregelungen vor, die nur einen wird. Es erfolgt insofern allein eine Neuregelung des Teil des Kraftfahrzeugverkehrs absperren»,48 wie dies in den Grenzen des Gemeingebrauchs stattfindenden bei temporären Radwegen der Fall ist, die dem mehr- Verkehrs, also im Rahmen der straßenverkehrsrecht- spurigen Verkehr mit Kraftfahrzeugen lediglich einen lich vorgesehenen Verfügungen. Die Einrichtung der von mehreren Fahrstreifen temporär entziehen. Pop-up-Radwege konnte somit im Wege einer Anord- nung nach der Straßenverkehrsordnung erfolgen. 3.2 DAS BERLINER GESETZ FÜR GEMEIN 3.1.2 Zwischenfazit WOHLORIENTIERTE STRASSENNUTZUNG Wie gesagt: Die Grenze, die straßenverkehrsrechtli- chen Maßnahmen im Hinblick auf die straßen- und Einen ähnlichen Ansatz wie den der straßenrechtli- wegerechtliche Widmung einer Straße gesetzt ist, chen Teileinziehung verfolgt die Initiative Berlin auto wird erst dann überschritten, wenn die Regelung des frei, die versucht, den Begriff des Gemeingebrauchs konkreten Verkehrsverhaltens im Ergebnis auf eine umzudeuten und den Berliner Straßen im Wege einer Erweiterung oder Beschränkung der Widmung durch straßenrechtlichen (Teil-)Einziehung einen abseits Zulassung oder Untersagung einer ganzen Verkehrs des Automobilverkehrs liegenden Nutzungscharakter art hinausläuft, da diese Frage bereits zum Gemein- zu verleihen. gebrauch selbst gehört. 43 Dies ist bezüglich der Wie kann in großen Städten also langfristig eine Pop-up-Radwege nicht der Fall, so urteilte auch das gerechtere und klimafreundliche Verteilung des Rau- Verwaltungsgericht Berlin in seiner Entscheidung.44 mes und der Verkehrsnutzung entstehen? Dieser Somit genügt für eine straßenverkehrsrechtliche Frage ist die Initiative nachgegangen und hat nun Anordnung, dass überhaupt straßenverkehrsbezo- einen Gesetzesentwurf («Berliner Gesetz für gemein- gene Gründe vorliegen und dass diese Gründe ausrei- wohlorientierte Straßennutzung», GemStrG Bln) chen, um die Voraussetzungen zu erfüllen, an die § 45 eingereicht. In diesem wird versucht, über das Stra- Absatz 1 StVO den Erlass verkehrsbeschränkender ßenrecht die Straßen neu zu verteilen, also ihre Nut- Anordnungen knüpft (siehe Näheres dazu unten). Das zungsart über den Begriff des Gemeingebrauchs neu gilt auch dann, wenn sich die Maßnahmen gegen ein- zu definieren. Denn «die gesamte Stadt ist um das zelne Verkehrsarten oder bestimmte Benutzerkreise Auto herum gebaut worden, dieser Zustand versperrt richten, denen die Straßenbenutzung durch die stra- das Denken über Alternativen», so Nina Noblé, eine ßenrechtliche Widmung eröffnet ist.45 der tragenden Aktivist*innen der Initiative.49 Dem soll Die Anordnung und die Anbringung von temporä- nun im Wege des GemStrG Bln entgegengewirkt wer- ren Radfahrstreifen benötigen keine Einziehung oder den. Teileinziehung bestimmter Bereiche des öffentlichen Zweck des Gesetzes ist es, eine flächengerechte, Verkehrsraums nach den Regelungen des Straßen- gesunde, sichere, lebenswerte sowie klima- und und Wegerechts. Die Widmung der jeweiligen Straße umweltfreundliche Nutzung der öffentlichen Stra- bleibt demnach unberührt.46 Regelungen, insbeson- ßen in Berlin zu ermöglichen. Das größere Ziel dieses dere der Rechtsverhältnisse der Verkehrswege selbst, Gesetzes ist es, durch die Verringerung des motori- sind Sache der Länder,47 jedoch liegen die Vorausset- sierten Individualverkehrs in Berlin die Zahl der ver- zungen, die eine Teileinziehung der Straße begründen kehrsbedingten Todesfälle und Verletzungen zu sen- würden, bei temporären Radwegen nicht vor. Bei der ken, gesundheits-, klima- und umweltschädliche Anordnung und Anbringung von Pop-up-Radwegen Emissionen (insbesondere Lärm und Abgase) zu geht es lediglich um die Ausgestaltung des straßen- verringern, das Sicherheitsgefühl und Wohlempfin- und wegerechtlichen Gemeingebrauchs. Damit han- den gerade auch von besonders schutzbedürftigen delt es sich um eine Regelungsmaterie des Straßen- Verkehrsteilnehmer*innen wie beispielsweise älteren verkehrsrechts. Personen und Kindern zu verbessern, die Wohn- und 42 Vgl. etwa § 4 Absatz 1 Satz 3 und 4 BerlStrG. 43 BVerfG, Urteil vom 9.10.1984 – 2 BvL 10/82. 44 VG Berlin – VG 11 L 205/20. 45 Vgl. BVerwG, Urteil vom 25.4.1980 – 7 C 19/78. 46 Rebler, Adolf: Pop-up-Radwege aus straßen(verkehrs)rechtlicher Sicht, in: Verkehrsdienst 11/2020, S. 283 ff. 47 BVerfG, Beschluss vom 9.10.1984 – 2 BvL 10/82. 48 BVerwG, Urteil vom 25.4.1980 – 7 C 19/78, Rn.19, NJW 1981, S. 184. 49 Heidtmann, Jan: «Die Stadt ist um das Auto herum gebaut», Interview mit Nina Noblé von der Initiative Berlin autofrei, süddeutsche.de, 25.2.2021, unter: www.sueddeutsche.de/politik/berlin-autofrei-verkehr-1.5216984. 11
Aufenthaltsqualität zu steigern sowie die geschäftli- in aller Regel auch dem Individualverkehr mit dem che und kulturelle Attraktivität Berlins zu fördern. Auto, gewidmet ist. Die Berliner Straßen sollen nun Gemäß § 3 des GemStrG Bln ist auf autoreduzierten teileingezogen werden, also die Widmung für den Straßen der Gemeingebrauch beschränkt auf den Gemeingebrauch soll in Teilen aufgehoben werden, Fußverkehr, den Radverkehr und den öffentlichen und dem Gemeingebrauch sollen die Straßen nur Personennahverkehr (Umweltverbund) sowie den noch gewidmet sein, sofern es sich dabei um Radfah- Verkehr zu öffentlichen Zwecken nach Absatz 2 und ren und die Nutzung durch einige andere durch das den Verkehr mit Taxen.50 Weiterhin gibt die Widmung, Gesetz privilegierte Verkehrsmittel handelt. dem Gesetz zufolge, den Verkehr für bestimmte Wagt man an dieser Stelle eine Prognose, wird ein zumeist elektrisch betriebene Fahrzeuge frei. entsprechendes Gesetz von den Gerichten überprüft Rechtlich erscheint diese Gesetzesinitiative äußerst werden. Denn wenn schon gegen die Pop-up-Rad- innovativ. Denn prinzipiell lässt das Bundesrecht wege geklagt wird, wird sich sicherlich auch gegen autofreie Straßen nicht ohne Weiteres zu. Der Begriff ein derartig groß angelegtes Projekt gerichtlich zur Straße bedeutet so gut wie immer zugleich Auto- Wehr gesetzt werden. Es stellt sich die Frage, ob das mobilverkehr. Die Berliner Straßen sollen nach dem geplante Vorhaben mit Bundesrecht vereinbar ist Gesetzesentwurf allerdings keine kompletten Straßen bzw. wo aktuell die Einfallstore für ein Verfahren zu in diesem Sinne mehr sein. Eine Straße ist, wie oben finden sind. Eine Auseinandersetzung mit diesen Fra- erläutert, ein Grundstück, das der öffentlichen Hand gen würde allerdings den Rahmen dieses Gutachtens gehört und das dem Gemeingebrauch als Straße, also sprengen. 4 STRASSENVERKEHRSRECHT Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, wie vorhanden ist (Vorbehalt des Straßenrechts).52 Es Maßnahmen nach der Straßenverkehrsordnung bestimmt, nach welchen Regeln vorhandener Stra- grundsätzlich angeordnet werden können und wel- ßenraum für Verkehrszwecke genutzt werden darf. chen Voraussetzungen sie unterliegen. Hiervon dürfen die Länder kein abweichendes Lan- desrecht schaffen (sogenannter Vorrang des Bun- des-Straßenverkehrsrechts).53 4.1 VORAUSSETZUNGEN EINER Das Straßenverkehrsgesetz ist im Gegensatz zu den MASSNAHME NACH DER STRASSEN Straßen- und Wegegesetzen bundeseinheitlich gere- VERKEHRSORDNUNG gelt. Im Fall von Pop-up-Radwegen als Einzelmaß- nahmen konnte insofern richtigerweise auf das Stra- Das bundesrechtliche Straßenverkehrsrecht regelt im ßenverkehrsrecht abgestellt werden. Auf die konkrete Gegensatz zum Straßenrecht das Wie der Straßen- Rechtsnatur straßenverkehrsrechtlicher Vorgaben nutzung im Rahmen der straßenrechtlich vorgenom- sowie deren konkrete Anwendung im vorliegenden menen Widmung. Es regelt, wie sich die Verkehr- Fall soll in den folgenden Abschnitten näher einge- steilnehmer*innen untereinander in der konkreten gangen werden. Verkehrssituation zu verhalten haben.51 Das Straßen- verkehrsrecht dient der Regelung innerhalb der fest- gelegten Nutzung einer Straße. Es soll innerhalb des 4.2 ZUSTÄNDIGKEIT DES SENATS Straßenrechts Gefahren abwehren und zugleich für die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs sorgen. Der Berliner Senat müsste für eine derartige Anord- Das Straßenverkehrsrecht findet nur Anwendung, nung zuständig sein. Nach § 44 Absatz 1 Satz 1 StVO soweit eine zu den jeweiligen Verkehrszwecken auf- sind zur Ausführung der StVO grundsätzlich die Stra- grund des Straßenrechts gewidmete Straßenfläche ßenverkehrsbehörden sachlich zuständig.54 Im Land 50 Vgl. § 47 Absatz 1 des Personenbeförderungsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 8.8.1990 (BGBl. I, S. 1690), geändert durch Artikel 10 des Gesetzes vom 3.12.2020 (BGBl. I, S. 2694). 51 BVerfGE, Jahr 40, S. 371–384. 52 BVerwG, Urteil vom 26.6.1981 – 7C2779 7 C 27/79. 53 Vgl. BVerwG, Urteil vom 12.12.1969 – VII C 76.68. 54 Vgl. auch § 45 Absatz 3 StVO. 12
Berlin ist dies im Regelfall die Senatsverwaltung für Ermächtigungsgrundlage zur Einrichtung von Rad- Umwelt, Verkehr und Klimaschutz.55 Gemäß § 44 wegen enthalten. Absatz 1 Satz 2 StVO kann die Zuständigkeit der Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert gemäß obersten Landesbehörden und der höheren Verwal- § 1 Absatz 1 StVO Vorsicht und gegenseitige Rück- tungsbehörden im Einzelfall oder allgemein auf eine sicht. In den letzten Jahren verstärkte sich die Über- andere Stelle übertragen werden. Die örtliche Zustän- zeugung, dass ein Mehr an Verkehrszeichen nicht digkeit richtet sich nach Landesrecht. Nach Rand- unbedingt mit einem Mehr an Verkehrssicherheit ein- nummer 1 der VwV-StVO zu § 45 Absatz 1 bis 1e) hergeht.57 Es hat sich daher durchgesetzt, dass ein*e sind vor jeder Entscheidung die Straßenbaubehörde Verkehrsteilnehmer*in nur vor solchen Gefahren im und die Polizei zu hören. Die Umsetzung der Anord- Straßenverkehr durch Verkehrsschilder gewarnt wer- nung, also das tatsächliche Errichten zum Beispiel der den muss, die er oder sie auch bei Einhalten der all- Pop-up-Radwege durch die Anbringung von gelben gemeinen Grundsätze der Teilnahme am Straßenver- Markierungen auf der Fahrbahn oder Schutzbaken, kehr, insbesondere §§ 1 bis 5 StVO, nicht vermeiden obliegt nach § 45 Absatz 5 StVO dem Baulastträger. oder beherrschen kann.58 Einem undurchsichtigen Zur konkreten Umsetzung der Anordnung ist damit Schilderwald soll damit entgegengewirkt werden. der Bezirk als Baulastträger gemäß § 45 Absatz 5 StVO Seit der StVO-Novelle von 199759 ist das Anordnen verpflichtet. Praktisch bedeutet das, dass das Bezirks von Beschränkungen des fließenden Verkehrs des- amt jemanden damit beauftragt, die entsprechende halb grundsätzlich nur bei einer Gefahrenlage erlaubt, Kennzeichnung des Radwegs vorzunehmen. Welche die erheblich über dem allgemeinen Risiko liegt.60 Kennzeichnung (etwa Schilder, Piktogramme, Linien Unter dieser Prämisse sind die folgenden Abschnitte oder Poller) notwendig ist, hängt davon ab, für welche zu lesen. Art von Radweg sich die Straßenverkehrsbehörde ent- Zur Einrichtung von Radwegen benötigt die Straßen- schieden hat. In Betracht kommen Radfahrstreifen, die verkehrsbehörde grundsätzlich – anders als für Fuß- mit einem durchgezogenen Breitstrich von der Fahr- gängerzonen oder Fahrradstraßen – nur das Instru- bahn getrennt werden, geschützte Radfahrstreifen, die ment der straßenverkehrsbehördlichen Anordnung. durch Kübel oder Poller von der Fahrbahn abgegrenzt Deren Rechtsgrundlage ist auch heute mitnichten werden, oder auch einfache «Schutzstreifen», die infektionsschutzrechtlicher oder umweltschutzrechtli- durch schmale unterbrochene Linien und dem Pikto- cher Art, sondern die Generalklausel des § 45 Absatz 1 gramm Fahrrad auf dem Asphalt markiert werden. Satz 1 StVO,61 deren Tatbestandsvoraussetzungen in Der Berliner Senat kann demzufolge auf Grundlage § 45 Absatz 9 StVO modifiziert werden. Die zentrale des § 45 Absatz 1 Satz 1 StVO als Straßenverkehrsbe- Norm hinsichtlich einer straßenverkehrsrechtlichen hörde Pop-up-Radwege anordnen. Maßnahme ist insofern die des § 45 StVO. Hier heißt es in Absatz 1 Satz 1: «Die Straßenverkehrsbehörden können die Benutzung bestimmter Straßen oder Stra- 4.3 MÖGLICHE ERMÄCHTIGUNGSGRUND ßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ord- LAGEN FÜR POP-UP-RADWEGE nung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten.» Diese Norm, die die jeweils Für öffentlich-rechtliche Maßnahmen nach der StVO zuständige Behörde ermächtigt, gilt es im Folgen- bedarf es für deren Umsetzung jeweils einer Ermäch- den zu untersuchen, insbesondere im Hinblick auf tigungsgrundlage, also einer Norm, die die zustän- die Möglichkeit befristeter, schnell umzusetzender dige Behörde ermächtigt, Maßnahmen und Anord- Anordnungen, wie die, die den hier in Rede stehenden nungen zu treffen. Pop-up-Radwegen zugrunde lagen. Im vorliegenden Fall der Pop-up-Radwege hat das VG Gemäß § 45 Absatz 1 Satz 1 StVO können die Stra- Berlin die Ermächtigung für die Anordnung innerhalb ßenverkehrsbehörden «die Benutzung bestimm- des Straßenverkehrsrechts verortet und festgestellt, ter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der dass eine straßenrechtliche Teileinziehung der Straße Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken nicht notwendig ist.56 Fraglich ist insofern, welche oder verbieten und den Verkehr umleiten». Hierbei straßenverkehrsrechtlichen Normen eine mögliche handelt es sich um die sogenannte Generalklausel 55 Nr. 11 Absatz 3 und 4 des Zuständigkeitskatalogs Ordnungsaufgaben; § 2 Absatz 4 des Allgemeinen Gesetzes zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Berlin (ASOG) in der Fassung vom 11.10.2006 (GVBl., S. 930), zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes vom 12.9.2020 (GVBl., S. 736). 56 VG Berlin – VG 11 L 205/20. 57 Rebler, in: Bachmeier/Müller/Rebler, Verkehrsrecht, § 45 StVO Rn. 83. 58 Ebd. 59 Vierundzwanzigste Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 7.8.1997, BGBl. I 1997, S. 2028. 60 Vgl. § 45 Absatz 9 Satz 3 StVO. 61 BVerwG, DAR, 2001, S. 424. 13
Sie können auch lesen