100 Jahre Frauenwahlrecht 19 + 1 Künstlerinnen - Deutscher Bundestag

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100 Jahre Frauenwahlrecht 19 + 1 Künstlerinnen - Deutscher Bundestag
100 Jahre Frauenwahlrecht
                                                                   19 + 1 Künstlerinnen

Herausgeber: Deutscher Bundestag,      Weitere Informationen:
Sekretariat des Kunstbeirates,         Tel. 030-227-32027
Platz der Republik 1, 11011 Berlin,    kunst-raum@bundestag.de
Leitung: Dr. Andreas Kaernbach,        www.kunst-im-bundestag.de
Kuratoren der Ausstellung:             Workshop-Angebote unter
Dr. Andreas Kaernbach und Kristina     www.kunstfuechse.de
Volke, stellvertretende Leiterin,
Texte: Kristina Volke und
Andreas Kaernbach (Hagner und
Hörnschemeyer), Korrektorat: Carola
Krause, Abbildungen: Die Rechte für
die Abildungen liegen bei den Künst-
lerinnen und bei der Kunstsammlung
des Deutschen Bundestages,
Gestaltung: büro uebele visuelle
kommunikation, Stuttgart
100 Jahre Frauenwahlrecht 19 + 1 Künstlerinnen - Deutscher Bundestag
Franca Bartholomäi
Hilla Ben Ari
Yevgenia Belorusets
Valerie Favre
Anke Feuchtenberger
Parastou Forouhar
Jenny Holzer
Sabine Hornig
Franka Hörnschemeyer
Barbara Klemm
Azade Köker
Carina Linge
Sara Nabil
Zipora Rafaelov
Nikola Röthemeyer
Cornelia Schleime
Katharina Sieverding
Ulla von Brandenburg
Brigitte Waldach

Serpentina Hagner
(Graphic Novel)
100 Jahre Frauenwahlrecht 19 + 1 Künstlerinnen - Deutscher Bundestag
Am 19. Januar 1919 fand mit
                    der Wahl zur Deutschen Natio-
                    nalversammlung die erste
                    Wahl statt, bei der Frauen in
                    Deutschland aktives und
                    passives Wahlrecht besaßen.
                    Grundlage für diese Änderung
                    des bislang Männern vorbehal-
                    tenen Rechts war das Reich-
                    wahlgesetz vom 30. November
                    1918.

                    Das Frauenwahlrecht gilt als
                    einer der wichtigsten Grund-
                    steine für die gesetzliche
                    Gleichberechtigung von Frau-                                        Der 100. Jahrestag der Wahl
                    en und Männern. Seiner Ein-       Als erste Abgeordnete der         zur Weimarer Nationalver-
                    führung war ein langer Kampf      Weimarer Nationalversamm-         sammlung am 19. Januar 2019
                    vorausgegangen, der in der        lung sprach die Sozialdemo-       war dem Kunstbeirat des
                    Französischen Revolution sei-     kratin Marie Juchacz aus          Deutschen Bundestages An-
                    nen Anfang genommen und           Berlin: „Ich möchte hier fest-    lass, neunzehn Künstlerinnen
                    zu Beginn des 19. Jahrhunderts    stellen ..., dass wir deutschen   um ein Statement zum Thema
                    in vielen europäischen Län-       Frauen dieser Regierung nicht     zu bitten. Die so entstanden
                    dern von bürgerlichen und         etwa in dem althergebrachten      Arbeiten zeigen Perspektiven
                    sozialistischen Frauenbewe-       Sinne Dank schuldig sind.         auf ein Thema, das an Aktu-
                    gungen forciert worden war.       Was diese Regierung getan hat,    alität kaum verloren zu haben
                    Bei der ersten Wahl unter neuer   das war eine Selbstverständ-      scheint und – abhängig von
                    Gesetzgebung in Deutschland       lichkeit: sie hat den Frauen      Herkunft und Erfahrung der
                    kandidierten 310 Frauen.          gegeben, was ihnen bis dahin      Künstlerinnen – unterschied-
                    37 von ihnen erhielten ein        zu Unrecht vorenthalten wor-      liche Blickwinkel und Erzäh-
                    Abgeordnetenmandat.               den ist.“                         lungen hervorbringt.

1919 – 2019
100 Jahre Frauenwahlrecht
Ein Auftragsprojekt des Kunstbeirats
des Deutschen Bundestages
100 Jahre Frauenwahlrecht 19 + 1 Künstlerinnen - Deutscher Bundestag
Der Papierschnitt „1919 –
                                                                Mehr als eine Mode“ ist für
                                                                die Hallenser Künstlerin eine
                                                                ungewöhnliche Arbeit, die
                                Franca Bartholomäis Werk        normalerweise nie nach Foto-
                                besteht fast ausschließlich aus vorlagen und selten auf ein
                                Holz- und Papierschnitten,      konkretes Thema hin arbeitet:
                                deren Motive durch die in der „Deshalb brauchte ich ein
                                Technik angelegten Schwarz-     wenig Anlauf. Als Vorarbeit
                                Weiß-Kontraste zugleich ver-    entstanden mehrere Collagen,
                                dichtet und verfremdet werden. die sich eher assoziativ mit
                                Fast immer stehen dabei Frau- dem Frausein an sich beschäf-
                                en und Mädchen im Mittel-       tigen. Das Recht zu wählen ist
                                punkt mystisch anmutender       ja nur ein Aspekt unter vielen,
                                Bilderzählungen, manch-         nur ein kleiner Schritt in
                                mal werden sie von Tieren       Richtung Gleichberechtigung,
                                und Fabelwesen begleitet.       wenn auch von großer gesell-
                                Jeder Bildfindung Franca        schaftlicher Tragweite. Und
                                Bartholomäis geht ein langer    weil nichts anderes meine
                                Findungs- und Herstellungs-     Inspiration so sehr befördert
                                prozess voraus. Anleitungen,    wie die Arbeit selbst, war da
                                die kryptischen Tableaus und plötzlich der Gedanke, dass
                                Serien zu lesen, gibt es nicht. dieser Schritt mehr war als nur

Franca Bartholomäi
1919 – Mehr als nur eine Mode
Papierschnitt, 2018
100 Jahre Frauenwahlrecht 19 + 1 Künstlerinnen - Deutscher Bundestag
eine Modeerscheinung. Damit
stand das Wort ‘Mode’ im Raum
und ich begann mich für das
Thema zu interessieren. Bei
meinen Recherchen stieß ich
auf ein Foto jener Jahre: Es
zeigt eine Frau im schwarz-
weißen Kostüm, recht schlicht
geschnitten, weniger feminin
als die Kleider um die Jahr-
hundertwende, aber noch                                             Franca Bartholomäi (geb. 1975
nicht so androgyn wie in den                                        in Hohenmölsen, Sachsen-
1920er Jahren. Da ich fast                                          Anhalt) studierte an der Burg
ausschließlich schwarzweiß                                          Giebichenstein, Hochschule
arbeite, sprach mich das Bild                                       für Kunst und Design Halle
sofort an. Ich zeichnete es       idee aus dem Dunkel auf-          Malerei bei Professor Thomas
ab und übertrug die Zeich-        leuchtet. Selbstbewusst blickt    Rug. Seit 2010 lehrt sie dort
nung freihändig auf schwar-       die Frau aus ihrem hellen         im Fachgebiet Grafik. Franca
zen Karton, was mir die Mög-      Geviert. Vielleicht ist sie auf   Bartholomäi wurde mit zahl-
lichkeit einer besonderen         dem Weg zur Wahl – ganz           reichen Preisen und Stipen-
Aneignung, ja Identifikation      sicher auf den Weg in eine        dien geehrt, darunter dem
gab – ich machte das Gesicht      Zukunft, in der sich vieles       Nordhäuser Grafikpreis der
zu ‘meinem’ Gesicht. Die          ändern wird – bezüglich der       Ilsetraut-Glock-Grabe-Stiftung
Figur stellte ich in ein weißes   Rollenverteilung und bezüg-       (2016), dem Mainzer Stadt-
Fenster um ihr Tiefe zu ver-      lich des Verständnisses von       drucker-Preis (2016), dem Preis
leihen. Zugleich kann es dem      Geschlecht an sich. Eine Ent-     des Freundeskreises Neues
Betrachter etwas von der Fas-     wicklung, die bis heute an-       Kunsthaus Ahrenshoop (2015)
zination vermitteln, die mich     dauert und noch lange nicht       und dem Landeskunstpreis
immer erfüllt, wenn eine Bild-    abgeschlossen ist.“               Sachsen-Anhalt (2013).
100 Jahre Frauenwahlrecht 19 + 1 Künstlerinnen - Deutscher Bundestag
Hilla Ben Ari
Scales
Pigment inkjet print on fine art paper, 2018
Tänzerin: Or Ashkenazi, Foto: Omri Meron
100 Jahre Frauenwahlrecht 19 + 1 Künstlerinnen - Deutscher Bundestag
Die israelische Künstlerin
Hilla Ben Ari (geb. 1972 in
Jagur, Israel) arbeitet seit
vielen Jahren mit dem Motiv                                          Einerseits bezieht sich das Werk
des weiblichen Körpers, da                                           auf das Motiv der Waage und
er für sie eine „metaphorische                                       die Idee von Balance. Ande-
Kreuzung zwischen privaten,                                          rerseits erscheint der Körper,
sozialen und politischen                                             als sei er in einer Wieder-
Themen“ darstelle. Der weib-                                         holungsschleife gefangen. Die
liche Körper ist das Zentrum                                         körperlichen Grenzen funk-
ihres Werks, das Fotografien,     und Gruppe. Das Thema ist          tionieren als fotografischer
Videos, Skulpturen, Instal-       für die israelische Gesellschaft   Rahmen, der den Rahmen
lationen und Papierschnitte       zentral und auch in meiner         der Fotografie bestimmt und      für Kultur und Sport, den
umfasst. Geboren und aufge-       Biografie fest verankert.“         zugleich seine Begrenzung        Premio Combat Prize in der
wachsen in einem Kibbutz im                                          kennzeichnet.                    Kategorie Video, den Award
Norden Israels, beschäftigt       Das für die Ausstellung ge-                                         on behalf of the Ostrovsky
sie sich auch mit der ständigen   schaffene Werk „Scales“ zeigt      Hilla Ben Ari lebt und arbei-    Family Fund (alle 2016), den
Spannung zwischen dem             in Lebensgröße Kopf und            tet in Tel Aviv. Sie studierte   Mifal HaPais sowie die Jury
privaten und dem kollektiven      Schultern einer Frau, die wie      an der Jerusalemer Bezalel       selection des 18. Japan Media
Körper und wirft Fragen zu        die titelgebende Waage schwere     Academy of Art and Design,       Arts Festival, Tokyo u.v.a. Ihre
Begrenzungen und Grenzen          Gewichte auf den Oberarmen         absolvierte ein Meisterstudium Werke befinden sich in öffent-
desselben auf: „Indem ich         trägt und dabei scheinbar keine    am Kalisher College in Tel       lichen wie privaten Samm-
Stereotypen des Weiblichen        Kraft aufwenden muss. Wie          Aviv und erhielt schließlich     lungen, darunter in der Samm-
aufzeige, zeigen meine Werke      andere Arbeiten der Künst-         einen Master in Literatur und lung des Israel Museums
den Körper als bezwing-           lerin auch untersucht das Werk     vergleichender Literaturwis-     Jerusalem, des Tel Aviv Mu-
bare Sphäre, die trotz ihrer      die Wechselwirkung von Stärke      senschaft der Tel Aviver         seums of Art, des Petach Tikva
Schwäche und Verletzlichkeit      und Zerbrechlichkeit. Die          Universität. Sie erhielt zahl-   Museum of Art, der Knesset
einen eigenen Raum in An-         Spannung, die durch das Hal-       reiche Preise wie das For-       Art Collection Jerusalem, der
spruch nehmen. Ein anderes        ten der rostigen Metallplatten     schungsstipendium „Asylum        Sheila Sonenshine collection
Hauptthema meiner Arbeit ist      entsteht, betont zugleich die      Arts” (2017, NY), den Award      in Californien und in der
das komplexe Spannungsver-        verletzliche wie die kraftvolle    for an established video artist Kunstsammlung im Deutschen
hältnis zwischen Individuum       Präsenz der weiblichen Figur.      des Israelischen Ministeriums Bundestags.
100 Jahre Frauenwahlrecht 19 + 1 Künstlerinnen - Deutscher Bundestag
Yevgenia Belorusets
Christine kämmt ihr Haar,
das ihr verdammt viel wert war
Toretsk, Ukraine
C-Print, 2018
100 Jahre Frauenwahlrecht 19 + 1 Künstlerinnen - Deutscher Bundestag
Für das Auftragsprojekt des
Die ukrainische Künstlerin         Deutschen Bundestages begann
Yevgenia Belorusets ist Foto-      Yevgenia Belorusets mit einer
grafin, Videokünstlerin und        Fotoserie über das Leben der
Schriftstellerin. Sie ist die      Familie von Christine Belous,
Gründerin von „Prostory”,          einer Menschenrechtlerin und
einem Journal für Literatur,       Juristin, die gemeinsam mit         zur Schule zu schicken. Dank
Kunst und Politik, und Mit-        ihrer Schwester für die Rechte      Ihrer Tätigkeit besuchen be-
glied der Kuratorengruppe          der Sinti und Roma kämpft           reits 60 Kinder in diesem Jahr
„Hudrada”. Ihre Werke              und dafür im ukrainischen           die Schulen von Toretsk.“
bewegen sich an der Schnitt-       Toretsk eine – die einzige in
stelle von Kunst, Literatur,       der Region – Menschenrechts-        Yevgenia Belorusets wählte
Journalismus und sozialem          organisation gründete: „Die         das dritte Bild der Serie für
Aktivismus. Dafür entwickelte      eigenen Traditionen sind in         die Ausstellung im Deutschen
sie Langzeitprojekte wie           allen Roma-Communities              Bundestag aus: „Es zeigt
„Gogol Street 32”, das die         extrem wichtig und sie sind         Christine im Hof ihres Hauses,
Bewohner eines kommunalen          sehr männlich geprägt.              ihr Haar kämmend. Langes
Wohnhauses bei ihren täg-          Christines Vater etwa ist ein       Haar gehört zu den Attributen
lichen Verrichtungen in einem      ‘Elder’, er vertritt die Interes-   einer Roma-Frau. Als junges        Yevgenia Belorusets (geb. 1980
langsam zerfallenden Wohn-         sen der Familie in der Gemein-      Mädchen und später als             in Kiew) erhielt für ihr Arbeit
umfeld porträtierte, oder          schaft. Mehr als 70 Prozent         Jura-Studentin wurde sie aber      zahlreiche Preise und Stipen-
das Projekt „Victories of the      der in der Ukraine lebenden         just wegen ihres Aussehens         dien, darunter das Grenz-
defeated“ (Siege der Besiegten),   Sinti und Roma können weder         diskriminiert und sollte sogar     gänger-Stipendium der Robert-
für das sie zwischen 2014 und      lesen noch schreiben. Das ist       wegen des Drucks, kein langes      Bosch-Stiftung, das Stipen-
2016 Kohlebergwerke in             einer der Gründe, warum sie         Haar und keine langen Röcke        dium für künstlerische For-
der Ukraine in der Nähe der        unter allen Krisen, auch in der     zu tragen, die Universität         schung der Friedrich-Ebert-
Kriegszone besuchte, um die        Situation des Konflikts in der      wechseln. Christine aber legt      Stiftung an der Universität
zeitgenössischen Formen            Ostukraine, am schwersten           Wert darauf, ihr Aussehen          der Künste Berlin und den
der Arbeit in Zeiten des mili-     leiden. Die Frauen, die ich por-    selbst zu bestimmen und so         Joan Wakelin Preis des The
tärischen Konflikts um das         trätierte, arbeiten mit den         zu sein, wie sie will. Ihre Her-   Guardian/der Royal Photo-
Donbass-Becken zu unter-           Familien der Gemeinde und           kunft zu maskieren käme für        graphic Society. Sie lebt und
suchen.                            überzeugen sie, ihre Kinder         sie nicht in Frage.“               arbeitet in Berlin und Kiew.
100 Jahre Frauenwahlrecht 19 + 1 Künstlerinnen - Deutscher Bundestag
In den vergangenen Jahren
                                   arbeitete Ulla von Brandenburg
                                   (geb. 1974 in Karlsruhe), die
                                   vor allem durch Installationen
                                   und Filmarbeiten einem inter-
                                   nationalen Publikum bekannt
                                   wurde, immer wieder an
                                   Zeichnungen, die sich verschie-
                                   densten Aspekten vergange-
                                   ner und gegenwärtiger Macht-      ihrer Zeichnungen von einer
                                   verhältnisse widmen. Dabei        „geradezu schaurigen Präsenz“
                                   entstanden auch Porträts von      gekennzeichnet seien. Sie bil-
                                   Frauen, die unmittelbar mit       deten demnach „eine Gemein-
                                   der Geschichte der Frauen-        schaft ‚Nachlebender‘, die aus
                                   bewegung verbunden sind,          diesen Zeugen vergangener
                                   etwa der Schriftstellerin und     Zeiten die idealen Beobachter
                                   Frauenrechtlerin Hedwig           der Welt von heute macht.
                                   Dohm oder der Juristin und        Gleich dem Vorhalten eines
                                   Aktivistin der bürgerlich-        Spiegels werden wir durch die
                                   radikalen Frauenbewegung          Zeichnungen daran erinnert,
                                   Anita Augspurg. Ganz gleich,      dass die Fragestellungen der
                                   ob es sich um diese oder          Vergangenheit auch die
                                   andere Personen der Zeitge-       unsrigen sind und dass die
                                   schichte handelt, Ulla von        existenziellen Kämpfe un-
                                   Brandenburg wurde beschei-        aufhaltsam die Epochen über-
                                   nigt, dass die Protagonisten      schreiten.“ (J. Enckell Juliard)

Ulla von Brandenburg
Isabelle
Aquarell auf Papiercollage, 2018
Für den Auftrag des Kunstbei-
rats entschied sie sich für ein
Porträt Isabelle Eberhardts,
jener Schweizer Schriftstelle-
rin russischer Herkunft, die
als polyglotte Feministin in
arabischen Männerkleidern
und unter männlichem              Zeit nahezu unzugänglich
Pseudonym sieben Jahre lang       waren, ihre Kraft, das Leben      Ulla von Brandenburg studierte
durch die Sahara reiste und       ganz nach ihren persönlichen      zunächst Bühnenbild und
unter anderem einer Muslim-       Vorstellungen und Idealen zu      Medienkunst an der Staatlichen
brüderschaft beitrat. Auf ihren   gestalten, prädestinierte sie     Hochschule für Gestaltung
Reisen verfasste sie mehrere      dafür. Anfang der 1990er Jahre    Karlsruhe und später bildende
Romane, Erzählungen und           wurde ihr Leben verfilmt,         Kunst an der Hochschule für
Reiseberichte, die allerdings     noch einmal dreißig Jahre         Bildende Künste Hamburg.
erst viele Jahre nach ihrem       später führte der Broadway        Seit 2016 lehrt sie als Profes-
Tod, der sie schon im Alter       ein Musical mit ihrem Namen       sorin an der Hochschule für
von 26 Jahren bei einer Sturz-    auf. Ulla von Brandenburg         Gestaltung Karlsruhe. Zu den
flut in einem Wadi ereilte,       zeigt sie noch vor ihren großen   zahlreichen Preisen und
bekannt wurden. Isabelle          Abenteuerreisen als Mädchen       Stipendien zählen der Ham-
Eberhardt galt in den 1970er      in einen Matrosenanzug ge-        burger Kunstpreis (2013), der
Jahren als Vorbild der mo-        kleidet. Sie huldigt also nicht   Kunstpreis Böttcherstraße
dernen Frauenbewegung.            der legendären erwachsenen        der Kunsthalle Bremen (2007)
Ihr bewusster Wechsel der         Frau, sondern zeigt das junge     und ein Stipendium der
Geschlechterrolle, die Er-        Mädchen Isabelle, dem der         Jürgen-Ponto-Stiftung (2006).
oberung von Räumen und            zu jener Zeit fast unmögliche     Ulla von Brandenburg lebt in
Orten, die für Frauen in jener    Aufbruch noch bevorsteht.         Frankreich.
Die deutsche Comiczeichnerin
                         Anke Feuchtenberger (geb.
                         1963 in Berlin, DDR) gilt als
                         eine der renommiertesten
                         Erfinderinnen und Zeichnerin-
                         nen von Bildgeschichten in
                         Deutschland. Ihre Bücher sind
                         nicht Comics im herkömm-
                         lichen Sinne, sondern auf         und Frauentheater. Sie ver-
                         Einzelzeichnungen beruhende       wendet ihre unverwechsel-
                         Bilderzählungen, in denen         bare Bildsprache zudem für
                         sich, begleitet von kurzen Tex-   komplex erzählte Bildkompo-
                         ten, dichte, oft heitere oder     sitionen wie den erst im Jahr
                         absurde Geschichten entfalten.    2017 eingeweihten Comic-
                         Anke Feuchtenberger begann        Altar ,,Tracht und Bleiche“, in
                         ihre freiberufliche künstle-      dem sie die Passionsgeschichte
                         rische Arbeit 1991 mit Arbei-     in Anlehnung an Bildpro-
                         ten wie dem Wahlplakat „Alle      gramme aus dem Mittelalter
                         Frauen sind mutig! stark!         neu und vor allem in moder-
                         schön!“ für den Unabhängigen      ner Sprache für das Landes-
                         Frauenverband zur ersten          museum Westfalen-Lippe ins
                         gemeinsamen deutschen Wahl        Bild setzte – und dabei immer
                         und anderen Plakaten für          wieder Frauen in den Mittel-
                         Frauenhäuser, Notruftelefone      punkt des Geschehens rückte.

Anke Feuchtenberger
Wahl
Kohle auf Papier, 2018
Auch für die Auftragsarbeit
zum 100. Jahrestag des Frauen-
wahlrechts bezog sich Anke
Feuchtenberger auf viel ältere
Motive und Sehgewohnheiten.
Im Mittelpunkt ihrer Kohle-      an Anna Selbdritt – eine seit
zeichnung steht eine Frauen-     dem achten Jahrhundert ver-
gruppe verschiedenster Lebens-   wendete Bildmetapher für
alter: die erste ein Mädchen,    Anna, die Mutter der heiligen
die sich auf die zweite, eine    Maria, und Maria, die ihrer-
alte, mit einer Kelle wasser-    seits den Jesusknaben auf
schöpfende Frau stützt, die      dem Arm trägt und damit als
dritte und zentrale Gestalt      Gottesmutter und Himmels-
gebeugt, auf ihren Schultern     königin erkenntlich wird, und
ein Baby, in den Armen ein       andere Frauengestalten, die
kleines Mädchen haltend, das     in der christlichen Passions-
den von der Mutter gehaltenen    geschichte eine zentrale Rolle                                     Anke Feuchtenberger studier-
Kinderwagen von sich stößt,      spielen. Die weibliche Schöp-                                      te an der Kunsthochschule
so dass er ins Meer, das die     fung ist auch in der dritten                                       Weißensee Berlin. Seit 1997 ist
drei umgibt, zu fallen droht.    Assoziationsebene des Werks                                        sie Professorin und unterrich-
                                 von Anke Feuchtenberger                                            tet Zeichnen und Graphische
Anke Feuchtenberger knüpft       enthalten: Eigentlich war es     noch um die göttliche Drei-       Erzählung an der Universität
damit an mehrere in der Kunst- ein Knabe, den Kirchenvater        faltigkeit, also um die Drei-     für angewandte Wissenschaften
geschichte tradierte mytholo-    Augustinus mit einer Kelle       einigkeit von Gottvater, Sohn     in Hamburg. Ihre Bücher wur-
gische Erzählungen an und        am Strand traf, wo dieser        und Heiligem Geist, verwan-       den in die französische, eng-
nutzt deren Ikonografie, um      versuchte, das Wasser des        delt sich die Allegorie in        lische, italienische, finnische
ihren persönlichen Zugang        Meeres in ein kleines Loch zu    Feuchtenbergers Werk zu einer     und chinesische Sprache über-
zum Thema auszudrücken:          schöpfen. Die Begegnung          Allegorie für die Vorstellungs-   setzt. Sie erhielt den Förder-
Frauengestalten wie diese sind zwischen dem Heiligen und          kraft um die Rolle der Frau       preis des e.O. Plauen Preises
als Allegorie auf die Lebens-    dem Knaben gilt als Metapher     und deren Veränderbarkeit, die    (1997) und den Max-und-
alter bekannt, in denen sich     für die Vorstellungskraft des    durch die Bildzitate die Ge-      Moritz-Preis des Internatio-
der Kreislauf des Lebens zwi- Menschen, das Göttliche be-         schichte des Abendlandes          nalen Comicsalons Erlangen.
schen Geburt und Tod mani-       greifen und beschreiben zu       von der frühen Neuzeit bis in     Sie lebt und arbeitet in
festiert. Sie erinnern aber auch können. Ging es bei Augustinus   unsere Tage umfasst.              Hamburg und Vorpommern.
Das Oeuvre der US-amerika-
                                                          nischen Konzeptkünstlerin
                                                          Jenny Holzer (geb. 1950 in
                                                          Gallipolis, Ohio) ist von Tex-
                                                          ten und vom Umgang mit
                                                          dem geschriebenen wie
                                                          gesprochenen Wort geprägt.
                                                          International bekannt wurde
                                                          sie schon mit ihrer ersten
                                                          Arbeit, den „Truisms“, die
                                                          wie die meisten anderen auch
                                                          von vornherein im öffentli-      Wenig später, in den Jahren
                                                          chen Raum realisiert wurden      1979 – 1982, verfasste sie die
                                                          und Kunst damit zum unmit-       „Inflammatory Essays“, kurze
                                                          telbar gesellschaftspolitisch    und provokante Texte, in
                                                          relevanten Medium machte.        denen sie gesellschaftliche
                                                          Jene Binsenweisheiten und        Tabus thematisierte. Diese so-
                                                          Aphorismen bestanden aus ein-    wie ihre weitere Textserien
                                                          zeiligen Texten vermeintlich     wurden in weit sichtbare LED-
                                                          unstrittiger Wahrheiten um       Schriftbänder verwandelt,
                                                          Politik, Sex, Macht, Umwelt,     auf T-Shirts und Plaketten ge-
                                                          Gewalt und Gender, die die       druckt, auf Steinbänke gemei-
                                                          Künstlerin Ende der 1970er       ßelt und auf Gebäuden und
                                                          Jahre anonym an Gebäuden,        Landschaften projiziert. Dieses
                                                          Bauzäunen und Mauern von         Prinzip der unbedingten
                                                          Lower-Manhattan plakatierte.     Öffentlichkeit wurde mit jeder

Jenny Holzer
Das allgemeine Stimmrecht
Prägedruck auf Bütten, 2018
Druck: Gailer Stamping & Diecutting, New York
Text: „Frauenwahlrecht“ aus „Intellektuelle Grenzlinien
zwischen Mann und Frau“ von Helene Lange, 1899.
Vom AddF – Archiv der deutschen Frauenbewegung, Kassel,
freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
ihrer zahlreichen Installationen
deutlicher. Die verwendeten
Texte stellen dabei immer die
fundamentalen Fragen von
Sprache als Instrument einer
Wirklichkeits- und Wahrheits-
behauptung. Der Betrachter
kommt dabei nicht umhin zu
fragen, wer da eigentlich spricht
und aus welchem Kontext der
Text stammt, ob er humorvoll                                     Jenny Holzers Werke befinden
oder ernst gemeint ist, ob er                                    sich in vielen internationalen
Teil einer realen Begebenheit                                    Sammlungen. Sie wurde viel-
oder ob er künstlerisch über-                                    fach ausgezeichnet, darunter
formte Wirklichkeit ist.          und die Einführung des         mit dem Goldenen Löwen der
                                  Frauenwahlrechts forderte.     Biennale Venedig (1990), dem
Für die Ausstellung zum 100. Der von Holzer gewählte             Crystal Award des Weltwirt-
Jahrestag des Frauenwahl-         Textausschnitt, aus einem      schaftsforums (1996), den
rechts in Deutschland suchte      Neudruck des Essays, der im    Kaiserring der Stadt Goslar
Jenny Holzer nach originalen      Jahr 1899 im Buch „Intellek-   (2002), die Barnard Medal of
Texten und fand Helene Langes tuelle Grenzlinien zwischen        Distinction (2011) und dem
Werk „Frauenwahlrecht“ aus        Mann und Frau“ erschien,       Ordre des Arts et des Lettres
dem Jahr 1896. Lange, die in      nimmt unmittelbar auf das      im Rang eines Offiziers der
Berlin als Lehrerin arbeitete,    deutsche Parlament und die     Französischen Regierung
gehörte zur ersten Generation Forderung nach Frauen-             (2016). Seit 2011 ist sie Mit-
deutscher Frauenrechtlerin-       wahlrecht Bezug und enthält    glied der American Academy
nen und Feministinnen, die        wichtige Kernsätze der Argu-   of Arts and Sciences, seit
für die Gleichberechtigung        mentation um 1918, darunter    2018 der American Academy
der Geschlechter eintrat,         die als Titel verwendete Be-   of Arts and Letters. Sie lebt
sich für gleiche Berufs- und      zeichnung „Das allgemeine      und arbeitet im Bundesstaat
Bildungschancen einsetzte         Stimmrecht“.                   und in der Stadt New York.
Sabine Hornig
Es genügt nicht
Inkjet auf archivechtem Büttenpapier, 2018
Unter Verwendung eines Fotos von Achim Melde und
von Textpassagen aus Sebastian Bukow und Fabian Voß:
„Frauen in der Politik: Der weite Weg zur geschlechter-
gerechten Repräsentation“ (Böll-Stiftung, 2018)
das Leben davor mit dem da-
                                    hinter zu überlagern, während
                                    sie dabei verschiedene Pers-
                                    pektiven des Hinein-, Hin-                                        Sabine Hornig studierte an der
                                    durch- und Zurückblickens                                         Hochschule der Künste Berlin
Die Künstlerin Sabine Hornig        ins Werk integriert.                                              und absolvierte dort auch ihr
(geb. 1964 in Pforzheim), die                                                                         Meisterschülerstudium. Sie
nicht nur Bildende Kunst            Das Hereinschauen ist auch                                        wurde mit zahlreichen Preisen
sondern auch Bildhauerei            ein leitendes Motiv der Auf-                                      ausgezeichnet und Stipendien
studierte, ist nicht nur für ihre   tragsarbeit, die im Rahmen                                        gefördert, darunter 2015 als
Skulpturen und Fotografien,         des Ausstellungsprojekts zu     ist ein Text gelegt, der sich     Artist in Residence im Museo
sondern auch für ihre orts-         100 Jahren Frauenwahlrecht      farblich mit dem Untergrund       Nivola, Orani, Italien, 2014
spezifischen Installationen         entstand und direkt auf das     vermischt. Der Textausschnitt     mit einem Stipendium des
international bekannt. Der          Parlament Bezug nimmt.          behandelt das Thema Unter-        Goethe Institutes, Bangalore,
Gegenstand ihrer Arbeiten sind      Sabine Hornig verwendete        repräsentation der Anzahl         2009 mit dem Stipendium des
oft urbane Räume, deren             dafür eine Fotografie aus dem   der Frauen im Parlament und       Goethe-Instituts an der Villa
Formen und Wirkungen auf            Plenarsaal des Deutschen        untersucht die paritätische       Aurora, Los Angeles und dem
die darin lebenden Menschen         Bundestages während einer       Ungleichheit. Die Passagen        PS1-Stipendium der Stadt
sie beobachtet, verfremdet,         Abstimmung der Abgeord-         ‚weniger als ein Drittel der      Berlin in New York 2000. Ihre
in überraschender Weise nach-       neten. Dabei verfremdet sie     Gewählten‘, ‚paritätisch‘ und     Werke sind in zahlreichen
baut und mit Fotografien von        den gewählten Ausschnitt        ‚es genügt nicht‘ sind farblich   privaten und öffentlichen
Räumen kombiniert. Auf diese        durch einen Eingriff in den     hervorgehoben. Die Arbeit         Sammlungen, unter anderen
Weise überschreitet Hornig          fototechnischen Umkehr-         benutzt die Umkehrung der         im Malmö Konstmuseet, in
die Grenzen der Kunstgat-           Entwicklungsprozess des         Farben und des Lichts in der      der Pinakothek der Moderne
tungen und nutzt deren künst-       Negativs: Positiv erscheinen    analogen Fotografie und           München, in der Bundes-
lerische Möglichkeiten für          nur die weiblichen Abge-        wendet diese inhaltlich an,       kunstsammlung Bonn, in der
visuelle und inhaltliche Unter-     ordneten, alle männlichen       indem sie Abschnitte inver-       Sammlung der Deutschen
suchungen, deren Wirkungen          Abgeordneten sind wie die       tiert. Die Analoge zum tech-      Bundesbank, in der Hamburger
den Raum für den Betrachter         Architektur und die Möblie-     nischen Begriff ‚Entwicklung‘     Kunsthalle, im Museum of
unmittelbar verändern. Von          rung negativ dargestellt. Auf   oder ‚es entwickelt sich‘,        Modern Art (MOMA) New
besonderem Interesse sind           diese Weise wird der Blick      kommen hier buchstäblich          York, in der Guggenheim
Sabine Hornig dabei Fenster,        des Betrachtenden automa-       und thematisch in Bezug auf       Collection, New York, im
die sie wie Spiegel- oder           tisch auf die Frauen – und      die paritätische Repräsenta-      Hirshhorn Museum of Art
Projektionsflächen und als          damit auf das Thema des         tion von Frauen im Parlament      Washington und dem LACMA
gerahmte Blicke einsetzt, um        Werks gelenkt: „Über das Bild   zum Tragen.“                      Los Angeles.
Franka Hörnschemeyer
Augenblicksbilder
L. St. Berlin, 12. Novbr. 1918
1 (20) und 2 (20)
Papier, Stempelfarbe, 2018
Die Bildhauerin Franka                                                                                Franka Hörnschemeyer lebt in
Hörnschemeyer (geboren 1958                                                                           Berlin und hat eine Professur
in Osnabrück) setzt sich in      bis zu drei Meter hoch, sind so      eine räumliche Arbeit gewor-    an der Kunstakademie Düssel-
ihren teils begehbaren, groß-    ineinandergeschoben, dass ein        den, zwar aus Papier, aber      dorf. Neben „BFD – bündig
formatigen Skulpturen mit        filigranes, durchscheinendes,        dieses in Streifen geschnitten, fluchtend dicht“ für das Parla-
den Bedingungen von Syste-       geradezu verspieltes Raum-           die wie Klapptafeln nebenei-    mentsgebäude ist die Installa-
men, Informationen und           labyrinth entsteht. Wege führen      nander stehen. Die Innenseiten tion „Trichter“, die in der
Strukturen von Raum ausei-       hinein, Räume können durch-          der Streifen tragen Wort für    Innenstadt von Dresden einen
nander. Sie bearbeitet Be-       quert werden, es gibt aber auch      Wort den ersten Abschnitt ei-   Blick und einen Weg in den
ziehungen zwischen vorge-        Sackgassen oder nicht zugäng-        nes Textes einer überregio-     Untergrund öffnet, ein bekann-
fundenen wie zugefügten          liche Kammern. Die Gitter-           nalen Zeitung vom 12.11.1918. tes Werk im öffentlichen Raum.
Elementen im Raum und den        module dienten einst zum Be-         Er beschreibt die Atmosphäre    Die Arbeit wurde mit dem mfi-
hieraus ableitbaren histori-     tonieren von Wand- oder              in Berlin genau an jenem Tag    Preis für Kunst am Bau aus-
schen oder gesellschaftlichen    Bodenflächen des Paul-Löbe-          der Einführung des Frauen-      gezeichnet. In der Hamburger
Zusammenhängen. Durch            Hauses. Die Anordnung der            wahlrechts, eine Szene, in der Kunsthalle hatte sie zuvor den
Veränderungen der Raumsitu-      Elemente greift sowohl den           das Militär wenig später durch Lehmbruck-Saal umgestaltet
ation bis hin zum Umbau          Grundriss von Räumen des             die Arbeiter entwaffnet wird.   und paradigmatisch für ihr
ganzer Räume sowie der Neu-      Paul-Löbe-Hauses auf als auch        Durch die Segmentierung der     Konzept, so Hörnschemeyer,
Positionierung der Elemente      von einst vorhandenen Bauten         Papierstreifen sind immer nur „die Vielschichtigkeit der
entsteht ein neuer Erfahrungs-   der Grenztruppen der DDR:            Fragmente der Sätze zu sehen, Beziehungen zwischen den
raum, der die Atmosphäre,        Geschichte und Gegenwart             die je nach Blickwinkel vari-   skulpturalen Körpern und
Verknüpfungen und Geschichte     sind eine unauflösliche Ver-         ieren. Das Werk macht die       dem Umfeld“ erforscht, unter
eines Ortes und den Gehalt       klammerung eingegangen,              Individualität der Wirklich-    gleichermaßen „historischen,
seiner Bestandteile neu in den   die Raumskulptur überwindet          keitswahrnehmung offensicht- politischen und psychologi-
Blick nimmt.                     Grenzen und Zeiten.                  lich, da sowohl der Zeitge-     schen“ Aspekten. „Ich denke,
                                                                      nosse der damaligen Ereig-      dass Information viel entschei-
In diesem umfassenden Sinne      Kongenial überträgt die Künst-       nisse als auch und erst recht   dender für die Erscheinungs-
hat Franka Hörnschemeyer         lerin dieses Konzept auf ihre        der spätere Beobachter immer form der Welt ist als Materie.
bereits in den Jahren 1998       ebenfalls die Geschichte the-        nur Wirklichkeitsausschnitte    Information ist das Dazwischen,
bis 2001 für den Deutschen       matisierende Auftragsarbeit zur      wahrnimmt. Durch wechs-         der relative Raum zwischen
Bundestag in einem Außenhof      Erinnerung an die Einführung         elnde Blickwinkel kann er       der Materie. Aus dieser An-
des Paul-Löbe-Hauses das         des Frauenwahlrechtes vor 100        unterschiedliche Perspektiven ordnung baut sich eine kom-
Werk „BFD – bündig fluchtend     Jahren im Zuge der November-         einnehmen, aber auch die        plexe Struktur auf, und das ist
dicht“ entwickelt. Rot- und      revolution. Es ist, für eine Bild-   Multi-Perspektivität bleibt     die Information, die in dem
gelblackierte Gitterelemente,    hauerin nicht überraschend,          letztlich Fragment.             System steckt.“
Die Schweizer Künstlerin
                                               Valérie Favre (geb. 1959 in
                                               Evilard) widmet ihre Arbeit
                                               der Französin Olympe de
                                               Gouges, einer der ersten
                                               Frauenrechtlerinnen Europas.     die Gleichstellung der bis
                                               De Gouges (eigentliche Marie     dahin rechtlosen Frauen zu
                                               Gouze, 1748 – 1793) entstammte   fordern. Zu den Kernsätzen
                                               armen Verhältnissen, entschied   ihres Manifests gehört der
                                               sich nach dem frühen Tod         erste Artikel: „Die Frau wird
                                               ihres Mannes aber für einen      frei geboren und bleibt dem
                                               Umzug nach Paris und ver-        Manne gleich in allen Rechten.
                                               fasste nach einigen Jahren des   Die gesellschaftlichen Unter-
                                               Selbststudiums, in denen sie     schiede können nur im
                                               sich Lesen und Schreiben bei-    allgemeinen Nutzen begründet
                                               brachte und die höfische         sein.“ Zu ihren zentralen For-
                                               Gesellschaft studierte, eigene   derungen gehörte das Wahl-
                                               hoch politische Texte und        recht für Frauen. Olympe de
                                               Theaterstücke, in denen sie      Gouges scheute keine Ausei-
                                               etwa die Abschaffung der         nandersetzung und war schon
                                               Sklaverei in den Kolonien for-   während der Französischen
                                               derte. 1791, zwei Jahre nach     Revolution auf der Bastille
                                               der Deklaration der Menschen-    inhaftiert gewesen. Unter der
                                               und Bürgerrechte, sendete sie    Herrschaft Robespierres aller-
                                               die von ihr verfasste „Erklä-    dings wurde sie von einem
                                               rung der Rechte der Frau und     Revolutionsgericht zum Tode
                                               Bürgerin“ an die Nationalver-    verurteilt und am 3. November
                                               sammlung Frankreichs und         1793 durch die Guillotine hin-
                                               die französische Königin, um     gerichtet. In der Begründung

Valérie Favre
Ein Baum über Texten
von Olympe de Gouges
Siebdruck über gouachiertem Papier, 2018
(Edition Reclam: Texte von Olympe de Gouges)
zum Urteilsspruch hatte es
geheißen: „Ein Staatsmann
wollte sie sein, und das Gesetz                                 Valérie Favre ist seit 2006
hat die Verschwörerin dafür                                     Professorin für Malerei an der
bestraft, dass sie die Tugenden                                 Universität der Künste zu
vergaß, die ihrem Geschlecht                                    Berlin. Ihre Arbeiten sind in
geziemen.“                      der Welt der Männer zu          zahlreichen öffentlichen und
                                suchen. Zugleich ist es ihr     privaten Sammlungen in Frank-
In Valérie Favres Arbeit ist    wichtig, auf die aktuellen      reich, in der Schweiz und in
Olympe de Gouges durch ihre Herausforderungen gesell-           Deutschland. Zu den ihr ver-
Texte präsent. Sie bilden,      schaftlicher Kampfplätze        liehenen Preisen zählen der
wie ein Wabenmuster zusam-      hinzuweisen. In Verbindung      Livre Bibliographique des
mengelegt, eine Folie, in deren der der Collage zugrunde-       französischen Kulturministe-
Mitte Favre ein Selbstbildnis   liegenden Raute, die seit       riums, der Fond national d’art
setzt. In der Hand hält sie     Aristoteles die vier Elemente   contenporain, der Prix de
einen kleinen Baum, der als     Feuer, Wasser, Erde und         Peinture, Salon de Montrouge,
Symbol für die Natur steht –    Luft symbolisiert, versteht     France und der Prix de la
jene Metapher, die einst dazu   sie den Kampf um ein öko-       Fondation Irène Raymond.
gedient hatte, Frauen auf       logisch nachhaltiges und also   2012 war sie für den Marcel-
ihren „natürlichen“ Platz in    gerechtes Leben als zentrale    Duchamp-Preis nominiert.
der Gemeinschaft unterhalb      Aufgabe aller.                  Sie lebt und arbeitet in Berlin.
Für ihre grafischen Arbeiten
                                                                               hat Parastou Forouhar ein
                                                                               besonderes Prinzip ornamen-
                                                                               taler Bildmuster entwickelt,
                                                                               in denen sich aus gestalterisch
                                                                               dichten, meist großflächigen
                                                                               Gesamtkompositionen Einzel-
                                               Die iranische Konzeptkünst-     darstellungen und Szenen
                                               lerin Parastou Forouhar (geb.   herausschälen, die nichts mit
                                               1962 in Teheran) bedient sich   der Schönheit des ersten Ein-
                                               in ihrem Werk den künstle-      drucks zu tun haben, sondern
                                               rischen Techniken der Foto-     im Gegenteil meist grausame,
                                               grafie, der Zeichnung oder      verstörend brutale Darstel-
                                               computeranimierter Bild-        lungen von Folter und Gewalt
                                               sequenzen. Zentrales Thema      darstellen: „Ich fordere den
                                               ihres Schaffens ist die Situ-   zweiten Blick heraus. Auf den
                                               ation von Frauen in der         ersten Blick sieht man das
                                               Gesellschaft, ihr besonderes    schöne Muster und denkt, ah
                                               Augenmerk liegt dabei auf       ich hab’s verstanden, ich hab’s
                                               muslimischen Gesellschaften     wahrgenommen. Und dann
                                               und insbesondere ihrer irani-   geht man näher und merkt,
                                               schen Heimat, die sie 1991      nein, das ist ganz anders, ich
                                               verließ, um in Deutschland      habe nichts verstanden. Diesen
                                               ein Aufbaustudium in bil-       zweiten Blick herauszufor-
                                               dender Kunst zu absolvieren.    dern, das ist für mich span-
                                               An politischer Brisanz gewan-   nend. Der Betrachter wird auf
                                               nen ihre Arbeiten im Jahr       sich selbst zurückgeworfen,
                                               1998, als ihre Eltern Dariush   auf seine Wahrnehmung und
                                               und Parvaneh Forouhar in        muss diese Wahrnehmung
                                               Teheran ermordet wurden.        überprüfen.“

Parastou Forouhar
Vote for Women
Digitale Zeichnung, C-Print auf Papier, 2018
totalitären Aspekt, den ich
                                 aufzeigen will. Es geht um
                                 ein System, das die Freiheit
Dieser Widerspruch zwischen des Individuums radikal
der visuellen Präsenz wieder- einschränkt und einem seine
holter Linien, Formen und        Macht einfach überall auf-
Farbanordnungen und den          zwingt.“ (P.F. in einem Inter-
Details klar konturierter Szene- view für die Sammlung
rien ist ihr die bildnerische    Deutsche Bank)
Entsprechung für die empfun-
dene und erfahrene Wider-        Für die Ausstellung zum
sprüchlichkeit ihrer Heimat,     100. Jahrestag des Frauenwahl-
die wie die Ornamente von        rechts in Deutschland griff
Schönheit und Religiosität       Parastou Forouhar das orna-      Parastou Forouhar studierte
und darin tief eingebetteter     mentale Gestaltungsprinzip       1984 bis 1990 an der Univer-
politischer Mechanismen von auf und komponierte das               sität Teheran Kunst und zog
Gewalt und Machtmissbrauch       Gesamtbild aus Einzelformen      1991 nach Deutschland, wo
gerade gegenüber Frauen          stilisierter Frauenkörper in     sie ein Aufbaustudium an der
gekennzeichnet ist: „(Das)       stark gemusterten Gewändern,     Hochschule für Gestaltung
Ornament (ist) ein ästhe-        die wie Versatzstücke der        Offenbach am Main absolvierte.
tisches Phänomen, das keine      „Bildtapeten“ Forouhars nun      Seit 1992 lebt sie in Offenbach
Brüche zulässt, Individualität als bewegte Kleidungs- und         am Main. Jedes Jahr reist die
nicht zulässt, Veränderung       Verhüllungstücke fungieren,      Künstlerin nach Teheran, um
nicht zulässt (…). Alles was     aus denen Köpfe und Glied-       eine Gedenkveranstaltung für
sich dieser ornamentalen         maßen unterschiedlicher          ihre ermordeten Eltern zu
Ordnung nicht unterordnet,       Hautfarbe herausschauen.         organisieren. Sie erhielt zahl-
wird wegradiert. Es ist nicht    Dabei bleibt es den Betrach-     reiche Stipendien und Preise,
existent und dadurch erscheint tenden selbst überlassen zu        darunter ein Stipendium der
das Ornament als etwas           entscheiden, ob die Bewegun-     Villa Massimo in Rom (2006),
Totalitäres. Natürlich ist das   gen als Flucht vor oder Auf-     den Sophie von La Roche-Preis
Ornament nicht darauf zu         bruch aus den offensichtlich     (2012) und ein Aufenthalts-
reduzieren. Aber meine Heran- zugefügten schmerzhaften und        stipendium der Künstler-
gehensweise an das Orna-         erniedrigenden Situationen       residenz Chretzeturm, Stein
ment bezieht sich auf diesen     lesen lassen.                    am Rhein (2017).
Für die Ausstellung zum 100.
                                                                                  Jahrestag des Frauenwahl-
                                               Barbara Klemm (geb. 1939 in        rechts im Deutschen Bundes-
                                               Münster in Westfalen) gehört       tag wählte sie eine Aufnahme
                                               zu den bekanntesten Fotojour-      aus dem Jahr 1974. Es zeigt
                                               nalistinnen Deutschlands.          Teilnehmerinnen einer Demon-
                                               Viele der Fotografien, die sie     stration, die ein selbst gestal-
                                               als Redaktionsfotografin bei       tetes Plakat mit dem Text
                                               der Frankfurter Allgemeinen        tragen: „Das Weib sei willig,
                                               Zeitung publizierte, sind fester   dumm und stumm – diese
                                               Bestandteil des deutschen          Zeiten sind jetzt um.“ Es wurde
                                               Bildgedächtnisses sowohl für       bei einer der zahlreichen
                                               das geteilte als auch für das      Kundgebungen vor oder nach
                                               wiedervereinigte Land. Barbara     der Änderung des Paragra-
                                               Klemm dokumentierte zentrale       phen 218 aufgenommen, denn
                                               politische Ereignisse wie die      das Jahr 1974 ist in Bezug auf
                                               Treffen der Regierungschefs        die Rechte der Frauen in der
                                               aus Ost und West, den Mauer-       Bundesrepublik ein so wich-
                                               fall und die Wiedervereinigung.    tiges wie ereignisreiches Jahr:
                                               Sie beobachtete die Studen-        Als der Deutsche Bundestag
                                               tenunruhen der 68er und zeigte     Anfang des Jahres die dritte
                                               die Demonstrationen und            Lesung der Reform zum Para-
                                               Initiativen der Friedensbewe-      graphen 218 des Grundge-
                                               gung, sie beobachtete den          setzes ankündigt, mobilisiert
                                               Alltag der Deutschen und ihrer     eine junge Westberliner
                                               Nachbarn und porträtierte          Fraueninitiative nicht nur
                                               Künstler und Politiker. Trotz      bereits gegründete feminis-
                                               aller technischen Neuerungen       tische Gruppen, sondern initi-
                                               blieb sie dabei immer dem          iert eine breite gesellschaft-
                                               Schwarz-Weiß-Bild und der          liche Bewegung, die vor allem
                                               analogen Fotografie treu.          an den Universitäten massiven

Barbara Klemm
Frauendemonstration
Frankfurt am Main 1974
Digitale Zeichnung, C-Print auf Papier, 2018
Barbara Klemm war von 1970
                                  bis 2005 Redaktionsfotografin
                                  der FAZ. Da ihre Aufnahmen
                                  von Anfang an eine große
                                  Öffentlichkeit weit über den
                                  Leserkreis hinaus fanden und
                                  schnell als Ikonen für wichtige
Zuspruch erfährt. Rund um         zeithistorische Prozesse
den internationalen Frauentag     angesehen wurden, wurde
am 7. März organisieren Frauen    Klemms Werk immer wieder
im ganzen Land eine „Aktions-     in großen Ausstellungen
woche“, die medial aufmerk-       präsentiert, darunter 1976 im
sam begleitet und oft kritisch    Museum für Kunst und
kommentiert wird. Nicht           Gewerbe Hamburg, 1978 im
zuletzt die als erster Fernseh-   Kunstverein Frankfurt, 1982
skandal der Bundesrepublik        im Folkwangmuseum Essen,          der Maria Sibylla Merian-Preis
bezeichnete Absetzung eines       1991 im Museum für Moderne        für bildende Künstlerinnen in
Panorama-Beitrags der Journa-     Kunst Frankfurt am Main,          Hessen, der Westfälische
listin und Feministin Alice       1999 im Deutschen Histo-          Kulturpreis und der Max-
Schwarzer, der zu einer Inter-    rischen Museum Berlin und         Beckmann-Preis der Stadt
vention der Katholischen          2013 im Martin-Gropius-Bau        Frankfurt u.a. Sie wurde 2011
Kirche geführt hatte, ließ tau-   Berlin. Zu den ihr verliehenen    in den Orden „Pour le Mérite“
sende Frauen am „Nationalen       Preisen zählen der Dr.-Erich-     aufgenommen und ist Mitglied
Protesttag“, dem 16. März         Salomon-Preis der DGPH und        der Akademie der Künste
1974, in vielen deutschen         die Hugo-Erfurth-Auszeich-        Berlin. Sie lebt und arbeitet in
Städten auf die Straße gehen.     nung der Stadt Leverkusen,        Frankfurt am Main.
willens abzulesen sind. Ein
                                                                       anderer Teil ihres Werks sucht
                                                                       nach körperlichen Metaphern:
                                                                       Händen, Armen, Torsi, die
                                                                       aus leicht verformbaren Materi-
                                      Azade Köker (geb.1949 in         alien wie Papier oder Kunst-
                                      Istanbul) ist eine in Berlin le- stoffen zeichenhaft in Räume
                                      bende türkische Bildhauerin      gesetzt werden, um dem Poten-
                                      und Malerin, die sich mit Fra- zial von Schöpfungs- und
                                      gen der Identität und Zuge-      Zerstörungswillen Gestalt zu
                                      hörigkeit auseinandersetzt. Als geben. Oft verwendet sie in
                                      zentraler Werkstoff, auch in     ihren Arbeiten repetitive
                                      oft kolossalen Skulpturen,       Muster: wiederholte Formen,
                                      dient ihr dabei Papier, dessen die auf der Oberfläche eines
                                      Wandelbarkeit von einem          Werks jede Illusion eines
                                      leichten, durchsichtigen, bieg- scheinbar natürlichen Abbilds
                                      samen Stoff zu festen und        stören.
                                      stabilen Formen ihr die Mög-
                                      lichkeit gibt, die ihr wichtigen Dieses Gestaltungsprinzip
                                      Dimensionen von Durchlässig- wendet sie auch bei der
                                      keit und Transparenz und         Auftragsarbeit für die Ausstel-
                                      dem Wechselspiel zwischen        lung zum 100. Jahrestag des
                                      Verletzlichkeit und Gewalt zu Frauenwahlrechts in Deutsch-
                                      thematisieren. Azade Köker       land an. Im Mittelpunkt ihres
                                      schafft bildnerische Gleichnisse Werks stehen zwei Protagonis-
                                      von Stadt- und Naturräumen,      tinnen der Frauenbewegung
                                      an denen die unvermeidlichen von 1918: Marie Juchacz
                                      Spuren menschlicher Inter-       (1879 – 1956), die erste Frau,
                                      vention und gesellschaftlichen die nach Einführung des
                                      wie politischen Gestaltungs-     Frauenwahlrechts eine Rede

Azade Köker
Marie Juchacz und ihre
Schwester Elisabeth Kirschmann
Papierschnitt und Fotocollage, 2018
Azade Köker war Professorin
                                                                      und Leiterin des Instituts für
im Parlament hielt, eine sozial-                                      Bildende Kunst an der
demokratische Politikerin                                             Technischen Universität
der ersten Stunde, die die                                            Braunschweig. Ihre Werke
Gründung der Arbeiterwohl-                                            sind in zahlreichen öffentli-
fahrt durchgesetzt hatte und                                          chen und Unternehmens-
ihre zu Unrecht weit unbe-                                            sammlungen vertreten, etwa
kanntere Schwester Elisabeth                                          der Akbank Istanbul; des
Kirschmann-Roehl, die wie                                             British Museums in London;
Marie Juchacz intensiv am                                             der Berlinischen Galerie, dem
Aufbau der Arbeiterwohlfahrt                                          Elgiz Museum of Contempora-
gearbeitet und sich politisch –     Azade Köker zeigt beide Frauen    ry Art in Istanbul und dem
in diesem Fall als Abgeordne-       im Mittelpunkt einer Bild-        John Michael Kohler Arts
te des preußischen Landtags         collage, die an die Kämpfe        Center in Wisconsin. Sie hat
– für deren Durchsetzung            der Frauen um 1918 erinnern.      zahlreiche Werke im öffentli-
engagiert hatte. Die Schwestern     Über allem liegt das Motiv        chen Raum realisiert und
stützten sich in ihren politi-      einer wiederholten, über die      erhielt mehrere Preise,
schen Auseinandersetzungen          ganze Fläche verteilten Einzel-   darunter den Kunstpreis der
gegenseitig und hielten den         figur, die in der Reihung zu      Stadt Darmstadt (1985) und
Anfeindungen, denen sie in          einer namenlosen Masse und        den Kritikerpreis für bildende
der Öffentlichkeit für ihr          damit zum Sinnbild für die        Kunst vom Verband der
Engagement ausgesetzt waren,        vielen Frauen und Männer          Deutschen Kritiker (1986). Sie
stand. Elisabeth Hirschmann         wird, die sich am Kampf um        lebt und arbeitet in Berlin und
verstarb allerdings bereits 1930.   Frauen(Wahl)rechte beteiligten.   Istanbul.
Die 1976 in Cuxhaven gebo-
                           rene Fotografin Carina Linge
                           thematisiert in ihrer Arbeit
                           die Stellung der Künstlerinnen    Carina Linge aber setzt gerade
                           in der heutigen Gesellschaft.     nicht auf die überlieferten
                           Im Kontext einer großen Serie,    Frauenrollen, sondern zeigt
                           in der sie Malerinnen, Foto-      den Harlekin, den Soldaten Il
                           grafinnen, Bildhauerinnen ver-    Capitano, den Dottore, den
                           kleidete, schminkte, mit Attri-   Pantalone oder aber wie hier
                           buten versah und in Position      die Figur des „Scaramouche“,
                           stellte oder setzte, inszeniert   der einst den Typus des nea-
                           sie Bilder, die eher wie Ge-      politanischen Abenteurers
                           mälde aus vergangenen Zeiten      und Aufschneiders, des „Groß-
                           wirken denn als zeitgenös-        mauls“ darstellte, und am
                           sische Fotografien – und tat-     schwarzen Anzug und der
                           sächlich an überlieferte Dar-     Gitarre zu erkennen ist. Viele
                           stellungen der Commedia           Rollen der Commedia de’ll
                           de’ll arte anknüpfen. Diese       arte verkörpern auf die eine
                           spezifische Tradition des         oder andere Art Narren und
                           italienischen Volkstheaters       weckten aus diesem Grund
                           existierte zwischen dem           das Interesse der Künstlerin:
                           16. und dem 18. Jahrhundert       „Narren hielten dereinst ihrem
                           und wurde sowohl auf Jahr-        Herren, aber auch der Gesell-
                           märkten als auch an den Höfen     schaft den Spiegel vor. Für sie
                           Europas gespielt. Anders als      galt keine Regel, sie neckten
                           im klassischen Theater durften    und warnten vor gefährlichen
                           in den Wandertruppen auch         Abwegen. Zugleich beförderten
                           Frauen spielen, denen dann        sie die Selbsterkenntnis, in-
                           die Rolle der Diebin, der         dem sie fragwürdige Gewohn-
                           Magd, der Geliebten oder der      heiten unterhaltsam vor
                           Köchin zufiel.                    Augen führten.“

Carina Linge
Scaramouche (NK. Doege)
C-Print auf Dibond, 2018
Carina Linge verknüpft diese
zugeschriebenen Eigenschaf-
ten mit dem Bild von Künst-
lern, denen im Laufe der
Jahrhunderte ähnliche Eigen-
schaften und Fähigkeiten
zugesprochen wurden: „Im
aktuellen Zeit-(Kunst-)
Geschehen übernehmen nicht
selten einzelne Künstler diese
Rolle – oder sie lassen ihre
Werke sprechen. Künstlerin-
nen haben es in diesem Feld
noch schwerer als ihre männ-
lichen Kollegen – patriarcha-
lische Machtstrukturen, ein                                          Carina Linge studierte an der
männlich geprägter Geniekult,                                        Bauhaus-Universität Weimar
Vorurteile, institutioneller                                         bildende Kunst und erhielt
Sexismus – man könnte vieles      Geschichten, Emotionen und         zahlreiche Förderungen und
aufzählen. Vor diesem Hinter-     Gedanken der porträtierten         Preise, darunter Stipendien
grund habe ich Künstlerinnen      Künstlerinnen durchscheinen        der Kunststiftung Sachsen-
als Närrinnen in psychogram-      zu lassen. (…) 100 Jahre Frauen-   Anhalt, der Kulturstiftung
martigen, arrangierten Bild-      wahlrecht ist ein freudiger        Thüringen und der Stiftung
kompositionen porträtiert. Die    Anlass, der jedoch nicht da-       Kunstfonds. Ihre Arbeiten
Figurentypen der „Commedia        rüber hinwegtäuschen darf,         sind in privaten und öffent-
dell’arte“, auf die ich zurück-   dass die Gleichberechtigung        lichen Sammlungen, darunter
gegriffen habe, ließen mir den    von Mann und Frau bei der          in der Eres Stiftung München,
Raum, nicht nur vordergrün-       Ausübung aller wirtschaftli-       der Fundacion Banco Sabadell
dig auf diese Missstände hin-     chen, sozialen, kulturellen,       Barcelona, der Sammlung
zuweisen, sondern in Form         bürgerlichen und politischen       Segantini Lugano und der
von „aufgeladenen Rollenbild-     Rechte noch lange nicht            Sammlung Mayen Beckmann.
nissen“ auch die persönlichen     sichergestellt ist.“               Sie lebt und arbeitet in Leipzig.
Die aus Afghanistan stammen-
                                                                  de, inzwischen in Frankfurt
                                                                  am Main lebende Künstlerin
                                                                  Sara Nabil (1994 geboren in
                                                                  Kabul) versteht sich als poli-    in Wiesbaden zeigte sie sech-
                                                                  tische Künstlerin: „Kunst ist     zehn Porträts geflüchteter
                                                                  meine Waffe, damit ich Frei-      Frauen, bei ihrer ersten Einzel-
                                                                  heit, Frieden, Gleichberech-      ausstellung im Jahr 2018
                                                                  tigung erreichen kann.“ Sie       Installationen und Videos, die
                                                                  begann als Jugendliche in ihrem   die Erinnerung an ihre Heimat
                                                                  Heimatland mit Installationen     mit aktuellem Zeitgeschehen.
                                                                  und Fotografien, suchte Kon-      Ihr Anspruch ist klar: „Ich
                                                                  takt zu anderen Künstlerinnen     mache mit meiner Kunst
                                                                  und Möglichkeiten, auszustel-     Politik.“
                                                                  len. 2014 wird sie bei einem
                                                                  Selbstmordanschlag in einem       Sara Nabil greift das Thema
                                                                  Hörsaal an der Kabuler Uni-       Frauenwahlrecht direkt auf.
                                                                  versität Zeugin, wie ein          Das Werk „We, the symbolic
                                                                  befreundeter Fotograf getötet     actors.“ (Wir, die symboli-
                                                                  wird. Ein Jahr später nutzt sie   schen Akteure) zeigt die Künst-
                                                                  eine Einladung zu einem           lerin in einem Selbstbildnis
                                                                  Symposium in den Niederlan-       vor dem persischen Schrift-
                                                                  den, um in Deutschland um         zeichen für das Wort „Ich“.
                                                                  politisches Asyl zu bitten.       Einzelne Teile der Kaligrafie
                                                                  Seitdem studiert sie an der       sind mit blauem Faden be-
                                                                  Hochschule für Gestaltung in      stickt, drei Nadeln hängen da-
                                                                  Offenbach Kunst. Bei ihrer        ran herab. Sie symbolisieren
                                                                  ersten Ausstellungsbeteiligung    die traditionellen Tätigkeiten

Sara Nabil
We, the symbolic actors!
Inkjet print on fine art paper, bestickt mit blauem Faden, 2018
und zugleich das Rollenver-
ständnis der Frau in ihrem
Heimatland.

„Ich wählte zum ersten Mal im
Jahr 2014, gerade, dass ich
20 Jahre alt geworden war. Die
ersten Jahre meines Lebens
waren vom Krieg geprägt. Un-
ter der Herrschaft der Taliban     die im Land bis heute nicht
galten Frauen nicht als Men-       existiert. Die Frauen mit ihren
schen. Mit meiner Stimmab-         Wünschen und Vorstellungen
gabe wollte ich endlich selbst     bleiben nach wie vor auf der
über das Schicksal meines          Strecke. Aber wir wollen
Landes mit entscheiden und         keine symbolischen Akteure
die Ungleichheit zwischen          mehr sein.“
Männern und Frauen beenden.
Aber ich musste erkennen,          Sara Nabil studierte von 2013
dass das Frauenwahlrecht           bis 2015 Politikwissenschaften
lediglich symbolisch, nicht        an der Karwan University in
jedoch faktisch existierte. Sehr   Kabul, seit 2016 ist sie in der
viele Frauen haben sich an der     Klasse Heiner Blum für experi-
Wahl beteiligt, aber es waren      mentelle Raumkonzepte an          in Afghanistan, Österreich,
ihre Männer oder Brüder,           der Hochschule für Gestaltung     Spanien, Italien, Indien,
die für sie die Wahlentschei-      in Offenbach am Main. 2018        Nepal, Norwegen und in den
dung getroffen hatten, nicht       gewann sie dort den Rund-         USA zu sehen. 2016 nahm
sie selbst. Das System ver-        gangspreis der Frankfurter        Sara Nabil an der Gruppenaus-
wehrt ihnen diese Chance bis       Künstlerhilfe. Bereits im Alter   stellung Curriculum Vitae
heute. Das Frauenwahlrecht         von 14 Jahren zeigte sie in       (C.V.) – Intellektuelle Freihan-
in Afghanistan existiert seit      der Gruppenausstellung Make       delszone im Nassauischen
einem halben Jahrhundert. Es       Art. Not War (2008) erstmals      Kunstverein Wiesbaden teil.
ist jedoch nur ein Feigenblatt     Arbeiten in Deutschland,          Sara Nabil lebt und arbeitet
für eine Pseudo-Demokratie,        anschließend waren Arbeiten       in Frankfurt am Main.
figur ist Protagonistin in Dürers
                                                                         rätselhafter Szene. Umgeben
                                                                         von Attributen aus Handwerk
                                                                         und Kunst, Wissenschaft und
                                                                         Forschung, verfügt sie über all
                                                                         das, was Frauen sich erst viele
                                         Nikola Röthemeyer (geb. 1972 Jahre später erkämpft haben:
                                         in Braunschweig) griff auf      Macht, Geld, Gerechtigkeit,
                                         der Suche ,,nach einem zeit-    Bildung und Zeit. Kontempla-
                                         losen Träger“ für ihre Bildidee tiv und nachdenklich ist sie
                                         auf zwei Ikonen der Kunst-      Sinnbild des forschenden Geis-
                                         geschichte zurück: Albrechts    tes, des Denkens, des Zwei-
                                         Dürers Meisterstich ,,Melen-    felns, der Hoffnung und der
                                         colia I“, das als eines der     Suche. Cranachs Melencolia
                                         Schlüsselwerke der europä-      dagegen ist tatkräftig: Gemein-
                                         ischen Kunstgeschichte gilt,    sam prophezeien sie, was die
                                         und Lucas Cranachs Gemälde Frauen einmal bewegen wird:
                                         Die Melancholie, das Dürers     Wissensdurst (Denn Wissen
                                         Bildidee in eine reale Szenerie selbst ist Macht, proklamierte
                                         der Renaissance versetzt. Im    1597 der englische Philosoph
                                         Mittelpunkt beider Werke steht Francis Bacon) und Taten-
                                         eine Frauenfigur, deren Be-     drang (Taten statt Worte war
                                         deutung seit Jahrhunderten      im November 1913 der Aus-
                                         Kunsthistoriker zu Interpreta- spruch der britischen Suffra-
                                         tionen reizt. Röthemeyer be-    gette Emmeline Pankhurst in
                                         schreibt es so: ,,Eine Engels-  ihrer Freedom or Death Rede).

Nikola Röthemeyer
Room No 1 (Wolf)
Aus der Serie „A Room of One’s Own“
(work in progress)
Graphit und Farbstift auf Papier, 2018
Die Melencolia in ihrem eige-
                                                                   nen Zimmer ist Zeugin sich
                                                                   wandelnder Zeiten. Heute
                                                                   verbirgt sich in ihrem Seelen-
                                                                   gefieder eine weitere, drän-
                                                                   gende Frage, nämlich die der
                                                                   Rückeroberung der Welt durch
                                                                   die Natur und deren Gleich-
Nikola Röthemeyer verknüpfte                                       berechtigung auf diesem
ihre zeitgenössische Interpre-                                     Planeten.“
tation der Dürer-Cranachschen
Frauengestalt mit einer wei-                                       Nikola Röthemeyer war an
teren Bedeutungsebene: ,,Und                                       der Kunsthochschule Berlin-
noch etwas – beide Frauen                                          Weißensee Meisterschülerin in
haben ein eigenes Zimmer. Ein                                      der Zeichenklasse von Nanne
Frauenzimmer. Undenkbar                                            Meyer. Sie wurde für ihre Ar-
in ihrer Zeit! Und so verwan-                                      beiten und Projekte mehrfach
delt sich der Hund, Begleiter                                      ausgezeichnet und erhielt u.a.
des Melancholikers und Ge-        der wichtigsten Beiträge der     den Birkner-Preis für Zeich-
lehrten in den Bildern Dürers     Frauenbewegung wurde. Zwei       nung, ein Erasmus-Stipendium
und Cranachs, in ,,Room No 1      Bedingungen mussten für          für Glasgow, ein DAAD-Stipen-
(Wolf)“ in eine Wölfin. Der       Woolf erfüllt sein, damit auch   dium für Buenos Aires und
Beistelltisch in Cranachs         Frauen große Literatur pro-      das Artist-in-Residence Stipen-
,,Die Melancholie“ wird zum       duzieren konnten: fünfhundert    dium »sommer.frische.kunst«
Schreibtisch von Virginia         Pfund im Jahr (materielle        in Bad Gastein, Österreich.
Woolf an dem sie 1929 (sie ist,   Unabhängigkeit von Ehemän-       2017 erhielt sie das Mathilde-
wie ich selbst, 46 Jahre alt)     nern oder Almosen) und ein       Planck-Lehrauftragsstipendium
ihren Essay ,,A room of One’s     eigenes Zimmer (geistige         an der Hochschule Pforzheim.
Own“ verfasste, der zu einem      Unabhängigkeit).                 Sie lebt und arbeitet in Berlin.
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