14: Viktimologie - strafrecht-online.org
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Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht § 14: Viktimologie I. Begriff Viktimologie: von dem lateinischen Begriff für Opfer „victima“ → Lehre vom Opfer. Das Opfer einer Straftat stand in der Kriminologie lange im Schatten des Täters und wurde nicht als Unter- suchungsgegenstand gesehen. Erst in den 1970er Jahren hat sich die Viktimologie als interdisziplinäre Wis- senschaft entwickelt (Neubacher Kriminologie, 12. Kap. Rn. 1). Die Viktimologie befasst sich mit dem Prozess der Opferwerdung, dem Anzeigeverhalten, der Täter-Opfer- Beziehungen, der Stellung des Opfers im Strafverfahren sowie mit kriminalitätsbezogenen Unsicherheitsge- fühlen. Ziel der Viktimologie ist es, prophylaktische Maßnahmen zur Verhinderung einer Opferwerdung sowie Mög- lichkeiten der Berücksichtigung von Opferinteressen bei der Wiedergutmachung und Entschädigung aufzu- zeigen. § 14 KK 296
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht II. Das Opfer als primär und sekundär Geschädigter 1. Ursprünge Am Anfang der Viktimologie stand die Frage, warum bestimme Menschen viktimisiert werden, andere hin- gegen (eher) nicht. Zum Teil wurde in der Viktimologie versucht, bestimmte biologische, psychologische oder soziale Merkmale auszumachen, die es zum Opfer werden lassen. Andere Autoren stellten den Prozess der Opferwerdung, u.a. auch die Täter-Opfer-Beziehung, in den Vordergrund und versuchten, hieraus Schlüsse auf die Gründe der Opferwerdung zu ziehen (Neubacher Kriminologie, 12. Kap. Rn. 2). Es entstan- den die sogenannten „Opfertypologien“. Der wissenschaftliche und praktische Nutzen von derartigen Opfertypologien ist indes höchst fraglich (Kaspar in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius [Hrsg.], Handbuch des Strafrechts, Band 1, § 20 Rn. 57). Weiterfüh- rende Erkenntnisse für die Kriminologie bringen die Versuche der deskriptiven Erfassung unterschiedlicher Formen der Viktimisierung nicht. Die Opfertypologien leiden zudem an einem Mangel empirischer Absiche- rung (Kaiser Kriminologie, § 47 Rn. 14). § 14 KK 297
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Beispiele für Opfertypologien: Einteilungskriterium Autor Ausprägungen/Typen Opferrisiko von Hentig ▪ Opfer aufgrund räumlich-zeitlicher Situation (z.B. Heiratsschwindel an Kur- ort) ▪ Opfer aufgrund familiärer Stellung (z.B. Kindesmisshandlung, Inzest, Gatten- mord) ▪ Opfer aufgrund beruflicher Stellung (z.B. Geldbriefträger, Taxifahrer, Prosti- tuierte) ▪ Opfer aufgrund Gewinn- und Lebensgier (z.B. Betrug mit Traum vom schnel- len Geld) ▪ Opfer aufgrund eigenen aggressiven Verhaltens (z.B. Haustyrann) ▪ Opfer aufgrund Minderheitssituation (z.B. Zigeuner, Juden, Farbiger, Ketzer) ▪ Opfer mit reduziertem Widerstand (z.B. Grußbesteller in Nachkriegszeit) ▪ Opfer aufgrund bes. biologischer Konstitution (z.B. Kinder, Greise, Betrun- kene) § 14 KK 298
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Opferverschulden Mendelsohn ▪ vollständig unschuldige Opfer ▪ Opfer mit weniger Schuld als der Täter ▪ genauso schuldiges Opfer ▪ schuldigeres Opfer ▪ überwiegend alleinschuldiges Opfer Tatbeitrag Fattah ▪ nichtteilnehmendes Opfer ▪ latent prädisponiertes Opfer ▪ provozierendes Opfer ▪ teilnehmendes Opfer ▪ falsches Opfer Individualisierung Wolfgang/Sellin ▪ natürliche Person ▪ juristische Person ▪ Allgemeinheit, Staat, öffentliche Ordnung § 14 KK 299
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht 2. Opferrisiken Sind bestimmte Personen oder Personengruppen besonders anfällig für Straftaten? a) Opferrisiko von Frauen/Mädchen ▪ Frauen sind im Vergleich zu ihrem geringen Täteranteil bei den Opfern häufiger vertreten, aber im Vergleich zu männlichen Opfern in der Minderheit (41,2 %). ▪ Besonders häufig sind bei den „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ Frauen Opfer (92,0 %). ▪ Bei Raubdelikten und Körperverletzung werden überwiegend männliche Opfer registriert (73,0 % bzw. 61,1 %). § 14 KK 300
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Quelle: PKS 2020 § 14 KK 301
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht b) Opferrisiko von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden ▪ Sehr hohes Dunkelfeld bei Kindesmisshandlung und sexuellem Missbrauch. ▪ Speziell Jugendliche sind vor allem bei „Sexualdelikten“, aber auch bei „Raubdelikten“ (entspre- chend ihrer hohen Täterbelastung) überdurchschnittlich häufig betroffen. Quelle: PKS 2020 § 14 KK 302
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht c) Opferrisiko alter Menschen ▪ Eher gering: Die über 50-jährigen machen nur 18,1 % der Opfer (bei „Straftaten insgesamt mit Op- fererfassung“) aus, die über 60-jährigen nur 7,2 % (vgl. zu diesen Zahlen die untenstehende Statis- tik). ▪ Opferrisiko besonders gering bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, etwas höher bei den Delikten gegen das Leben und Raubdelikten. ▪ Aber hohe qualitative Bedeutung: Schäden können schwerer kompensiert und verarbeitet werden. Quelle: PKS 2020 § 14 KK 303
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht d) Fazit Insgesamt bleibt es dabei: Das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, ist bei jungen Männern – entspre- chend der höheren Tatverdächtigenbelastung dieser Gruppe – am höchsten. e) Die Bedeutung der Opfer-Täter-Beziehung ▪ Typische Beziehungsdelikte: Mord und Totschlag, Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung. ▪ Tötungsdelikte: Täter und Opfer kennen sich nach Ergebnissen von Aktenuntersuchungen in 70– 90 % der Fälle. ▪ Auch bei Vergewaltigung ist es oft ein Bekannter/Verwandter (selbst nach der PKS sind bei „Strafta- ten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ 42,4 % der Täter Bekannte oder Verwandte [informelle oder formelle soziale Beziehung]). ▪ Raubdelikte sind hingegen Delikte, die typischerweise nicht von Bekannten begangen werden (in 63,4 % der Fälle keine Vorbeziehung). § 14 KK 304
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Quelle: PKS 2020 § 14 KK 305
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht 3. Sekundäre Viktimisierung = wenn der Verletzte im Rahmen eines Ermittlungs- und Strafverfahrens zum zweiten Mal zum Opfer ge- macht wird. Für eine solche sekundäre Viktimisierung können verschiedene Personen bzw. Instanzen verantwortlich sein. Die Reaktionen des sozialen Umfelds (z.B. emotionale Reaktionen in der Familie) können das Opfer belasten. Es kann aber auch durch die Instanzen der formellen Sozialkontrolle (Polizei, Strafverfolgungsbe- hörden, Gerichte) zu einer sekundären Viktimisierung kommen. Diese kann etwa daraus resultieren, dass sich das Opfer nicht ernst genommen fühlt oder dem Opfer eine Mitschuld an der Tat zugewiesen wird (z.B., wenn dem Opfer einer Sexualstraftat vorgeworfen wird, es hätte den Täter durch seinen Kleidungsstil zur Tat motiviert). Problematisiert wird die sekundäre Viktimisierung vor allem bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestim- mung. Ein Wiederdurchleben der eigentlichen Viktimisierung kann bei diesen Delikten auch dadurch beför- dert werden, dass es hier häufig zu Nachweisschwierigkeiten kommt. Auch eine – dem Opfer meist unan- genehme – Offenlegung des eigenen Sexuallebens kann zu einer sekundären Viktimisierung führen. Das Thema der sekundären Viktimisierung wurde aber auch bei den Straftaten des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) virulent. Hier wurden die Angehörigen der Opfer jahrelang verdächtigt, an den krimi- nellen Machenschaften beteiligt gewesen zu sein bzw. für die Tötung ihrer Familienmitglieder verantwort- lich zu sein. Vgl. hierzu die folgende KK 307 mit dem Schaubild aus einer Studie zur sekundären Viktimisie- rung von Betroffenen rechter Gewalt. § 14 KK 306
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht aus: Geschke/Quent Sekundäre Viktimisierung durch die Polizei? Eine Studie zu den Erfahrungen von Betroffenen rechter Gewalt, in: Frindte et al. (Hrsg.), Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“, 2016, S. 481, 496. § 14 KK 307
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht 4. Theoretische Konzepte a) Theorie der Neutralisierung (Sykes und Matza) ▪ Dehumanisierung des Opfers, Leugnung eines individuellen Schadens. ▪ Verantwortungsübertragung für die Tat auf das Opfer. ▪ Neutralisierung der Viktimisierung auch durch das Opfer selbst. b) Lifestyle-Theorie ▪ Nicht nur sozio-demografische Daten, sondern auch der Lebensstil des Opfers beeinflussen das Viktimisierungsrisiko. c) Lerntheorien ▪ Erlernte Hilflosigkeit mancher Opfer § 14 KK 308
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht 5. Opferbezogene Regelungen im Straf- und Strafprozessrecht a) Opferschutz ▪ Simultane Bild-Ton-Übertragung von Zeugenvernehmungen in der Hauptverhandlung, § 247a StPO. ▪ Täter-Opfer-Ausgleich, § 46a StGB, § 10 I Nr. 7 JGG. b) Stärkung der Beteiligungsrechte im Strafverfahren ▪ Das Opfer hat verstärkt nicht nur eine passive Rolle als Zeuge, sondern ist mit eigenen Verfahrens- rechten ausgestattet. ▪ Nebenklage, das sog. Adhäsionsverfahren, Recht des Opfers zur Akteneinsicht und zur Hinzuziehung eines Rechtsanwalts als Beistand oder Vertreter. c) Opferentschädigungsgesetz von 1976 ▪ Bei schweren Gewalttaten mit Langzeitwirkungen. § 14 KK 309
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht III. Anzeigeverhalten des Opfers „Selektionsmacht des Opfers“: das Anzeigeverhalten des Opfers bestimmt im wesentlichen Maße die straf- rechtliche Sozialkontrolle. → im Bereich der Eigentums- und Vermögenskriminalität bis zu 90 % der Delikte durch Anzeigen. IV. Kriminalitätsfurcht und ihre kriminalpolitische Bedeutung 1. Kriminalpolitische Bedeutung Die Kriminalitätsfurcht ist von ganz erheblicher kriminalpolitischer Bedeutung: ▪ Einschränkung der persönlichen Freiheit und sozialer Kontakte ▪ Entstehen einer Privat- und Selbstjustiz (z.B. durch die Gründung von sog. „Bürgerwehren“) ▪ Radikalisierung der Kriminalpolitik Problem: Was ist die Ursache, was die Wirkung? § 14 KK 310
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht 2. Dimensionen der Kriminalitätsfurcht a) Zunächst ist zwischen der individuellen und der sozialen Kriminalitätsfurcht zu unterscheiden: (1) Die soziale Kriminalitätsfurcht richtet sich auf die Wahrnehmung von Bedrohungen des Gemein- wesens. Hierüber wird erfasst, in welchem Maße sich die Bürgerinnen und Bürger über die Ent- wicklung von Kriminalität im Allgemeinen sorgen. (2) Die individuelle (oder: personale) Kriminalitätsfurcht betrifft die Sorge von Bürgerinnen und Bür- gern, selbst Opfer einer Straftat zu werden. b) Sodann lassen sich drei verschiedene Ebenen der Kriminalitätsfurcht unterscheiden: (1) affektiv (gefühlsbezogen) umfasst das allgemeine Sicherheitsgefühl (soziale Ebene) sowie die Viktimisierungsfurcht (indivi- duelle Ebene). (2) kognitiv (verstandesbezogen) Einschätzung der allgemeinen Kriminalitätsentwicklung (soziale Ebene) sowie die Beurteilung des individuellen Opferrisiko (individuelle Ebene). (3) konativ (verhaltensbezogen) konkrete Abwehrmaßnahmen und Vermeidestrategien. § 14 KK 311
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Schaubild: Dimensionen der Kriminalitätsfurcht (nach Reuband in: Lange/Ohly/Reichertz (Hrsg.), Auf der Suche nach neuer Sicherheit, 2. Aufl. 2009, S. 233, 238) Individuelle Kriminalitätsfurcht Soziale Kriminalitätsfurcht Affektiv z.B. wie sehr hat man selbst Angst, Opfer z.B. wie sehr sorgt man sich, dass die Kri- eines Überfalls zu werden. minalität in Deutschland zunimmt. Kognitiv z.B. wie wahrscheinlich ist es, dass man z.B. wie wahrscheinlich ist es, dass je- selbst innerhalb der nächsten 12 Monate mand beim Abheben von Geld an einem Opfer eines Überfalls wird? Bankautomaten überfallen wird? Konativ z.B. verzichtet man aus Angst vor Krimina- z.B. was sollte der Staat unternehmen, lität darauf, abends allein auf die Straße um die Kriminalitätsrate zu reduzieren? zu gehen? § 14 KK 312
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht 3. Empirische Erkenntnisse a) Affektiv: Sicherheitsgefühl und Viktimisierungsfurcht Die Sorge, selbst Opfer von Kriminalität zu werden, nimmt seit einigen Jahren erheblich zu, auch wenn die Ursachen hierin nicht in steigenden (absoluten) Kriminalitätszahlen gesehen werden können und möglich- erweise andere Ursachen haben (vgl. hierzu unten KK 330 ff.). Nach einer Umfrage des Instituts für Demo- skopie Allensbach machten sich 2011 lediglich 26 % der Bevölkerung Sorgen, sie könnten Opfer eines Ver- brechens werden. 2014 lag dieser Anteil bereits bei 45 %, 2016 schon bei 51 %. § 14 KK 313
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Es zeigt sich in der Umfrage außerdem, dass sich nur eine kleine Minderheit „sehr bedroht“ fühlt. Weitaus mehr Menschen fühlen sich bloß „etwas bedroht“. Außerdem zeigt sich in der Umfrage das in der Krimina- litätsfurchtforschung sog. „Kriminalitätsfurcht-Paradox“: Am häufigsten fühlen sich Frauen und alte Men- schen unsicher, obwohl deren Opferrisiko in Wirklichkeit eher gering ist (zu deren Opferrisiko KK 300 f., KK 303). Wirft man jedoch einen genaueren Blick auf die Besonderheiten dieser Personengruppen (dazu die folgende KK 315), so zeigt sich, dass deren erhöhte Kriminalitätsfurcht weitaus weniger paradox ist, als es der Begriff des „Kriminalitätsfurcht-Paradox“ zunächst nahelegt. Siehe zum Kriminalitätsfurcht-Paradox auch Kaspar in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius [Hrsg.], Handbuch des Strafrechts, Band 1, § 20 Rn. 80 ff. sowie Schwind Kriminologie und Kriminalpolitik, § 20 Rn. 24 ff. Manche Menschen haben ja Angst, es könnte ihnen etwas passieren. Wie sehr füh- len Sie sich durch Verbrechen bedroht? Würden Sie sagen, Sie fühlen sich … Bevölkerung insgesamt 60 Jahre und älter 2014 2016 „sehr bedroht“ 3% 9% 12 % „etwas bedroht“ 42 % 42 % 45 % „nicht bedroht“ 49 % 45 % 38 % Unentschieden 6% 4% 5% 100 % 100 % 100 % § 14 KK 314
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Manche Menschen haben ja Angst, es könnte ihnen etwas passieren. Wie sehr fühlen Sie sich durch Verbrechen bedroht? Würden Sie sagen, Sie fühlen sich … Männer Frauen 2011 2014 2016 2011 2014 2016 „sehr bedroht“ 2% 2% 5% 3% 5% 12 % „etwas bedroht“ 21 % 37 % 37 % 30 % 47 % 48 % „nicht bedroht“ 71 % 55 % 54 % 60 % 43 % 37 % Unentschieden 6% 6% 4% 7% 5% 3% 100 % 100 % 100 % 100 % 100 % 100 % Quelle: Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach. Der Grund für die alters- und geschlechtsspezifischen Unterschiede könnte in einer regelmäßig größeren körperlichen Verwundbarkeit von Frauen und älteren Menschen liegen. Diese Personengruppen sind bei möglichen Angriffen häufig weniger wehrhaft und haben mit schwerwiegenderen Konsequenzen zu rech- nen als Männer oder jüngere Personen (vgl. Birkel/Guzy/Hummelsheim/Oberwittler/Pritsch Der Deutsche Viktimisierungssurvey 2012, 2014, S. 67). § 14 KK 315
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht b) Kognitiv: Kriminalitätseinschätzung und Viktimisierungserwartung aa) Objektive Sicherheitslage Objektive Bedrohungslage und subjektive Be- drohungseinschätzung korrelieren nicht zwangsläufig miteinander, sondern fallen häufig auseinander. Zwar steigt seit Jahren der Anteil der Menschen in Deutschland, die die Einschätzung haben, die Zahl der Verbre- chen nehme zu. In Wirklichkeit war jedoch die Zahl der Straftaten (insgesamt) zwischen 2006 und 2014 in der Tendenz eher rückläufig (vgl. KK 213). In den Jahren 2015 und 2016 ist die Zahl der Tatverdachtsfälle zwar wieder ange- stiegen, aber hat „lediglich“ das Niveau des Jahres 2006 erreicht. Dennoch fällt die Einschätzung Quelle: Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach. der objektiven Sicherheitslage deutlich negativer aus. § 14 KK 316
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Quellen: Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach; PKS Zeitreihen (bis 2018). § 14 KK 317
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Dies bedeutet nicht, dass objektive und subjektive Sicherheit zwangsläufig auseinanderfallen müssen, je- doch kann ein Zusammenhang zwischen beiden nicht ohne Weiteres angenommen werden. So lag die Kri- minalitätsbelastung in den USA in den 1960er Jahren, insbesondere im Bereich der Gewaltdelikte, deutlich höher als in der Bundesrepublik, während die Kriminalitätsfurcht in der BRD höher als in den USA ausfiel. Ab den siebziger Jahren stieg die Kriminalitätsfurcht in den USA an und lag in den achtziger Jahren über dem Furchtniveau in der BRD (Reuband KZfSS 44 [1992], 341, 345 f.). Zu ähnliche Ergebnissen kamen Studien, die in der Nachwendezeit Ost- und Westdeutschland verglichen. Die Ostdeutschen zeichneten sich durch ein Furchtniveau aus, das über dem der Westdeutschen lag, ob- wohl sich die Kriminalitätsrate in Ostdeutschland zu dieser Zeit auf einem weitaus geringeren Niveau befand (Reuband in: Lange/Ohly/Reichertz, Auf der Suche nach neuer Sicherheit, S. 233, 243). Schließlich ist das sog. „Verbrechen-auf-Distanz Phänomen“ festzustellen. Der Kriminalitätsanstieg im eige- nen Wohnumfeld wird als weitaus geringer eingeschätzt als in übergeordneten Stadt- oder Landesteilen (Kaspar in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius [Hrsg.], Handbuch des Strafrechts, Band 1, § 20 Rn. 78). Die meisten fühlen sich in ihrer persönlichen Umgebung sehr sicher bis sicher, selbst wenn die eigene Umgebung eher eine hohe Belastung aufweist. Denn Verbrechen ist meist ein medial aufgeladenes, aber nur selten selbst erlebtes Ereignis. § 14 KK 318
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Mehr Kriminalität durch Geflüchtete? Der Begriff der „Ausländerkriminali- tät“ und die These, Geflüchtete wür- den Kriminalität nach Deutschland „im- portieren“, wird in der Vorlesung Krimi- nologie II (hierzu die KK zu § 2) im Ein- zelnen problematisiert und kritisiert. In der Bevölkerung hält sich der Glaube an dieses Konstrukt jedoch hartnä- ckig. Quelle: Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach. § 14 KK 319
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht bb) Subjektive Viktimisierungserwartung ▪ Dies beschreibt die subjektive Einschätzung einer Person, selbst Opfer einer Straftat zu werden. ▪ Während die affektive Kriminalitätsfurcht relativ groß ist, ist die subjektive Viktimisierungserwar- tung (Wie wahrscheinlich ist es, selbst Opfer einer Straftat zu werden?) deutlich geringer. In Befra- gungen halten es die Befragten zumeist für recht unwahrscheinlich, in den nächsten 12 Monaten Opfer einer Straftat zu werden. § 14 KK 320
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, innerhalb der nächsten zwölf Monate Opfer spezifischer Straftaten zu werden (in %) 2012 und 2017 (aus: Birkel/Guzy/Hummelsheim/Oberwittler/Pritsch Der Deutsche Viktimisierungs- survey 2017, 2019, S. 56) § 14 KK 321
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Interpretation ▪ Nur 3 % der Menschen halten es für realistisch, innerhalb der nächsten 12 Monate Opfer einer Kör- perverletzung zu werden (im Diagramm auf KK 321: „ziemlich“ und „sehr“). ▪ Knapp 8 % der Menschen halten es für realistisch, innerhalb der nächsten 12 Monate Opfer eines Raubes zu werden. ▪ Das Risiko, Opfer eines terroristischen Anschlags zu werden, sehen sogar 9 % der Menschen. ▪ Am wahrscheinlichsten erscheint den Menschen ein Wohnungseinbruch (10 %). Insgesamt: Die Einschätzung des persönlichen Risikos, Opfer einer Straftat zu werden, bewegt sich weiterhin auf relativ niedrigem Niveau. Zugenommen hat insbesondere die Risikoeinschätzung hinsichtlich eines Wohnungseinbruchsdiebstahls. Während 2012 nur 5 % der Menschen einen solchen für realistisch hielten, waren es 2017 10 %. Die Zu- nahme des Anteils derjenigen, die hier ein Risiko sehen, verläuft parallel zu der Zunahme der affektiven Furcht vor einem Wohnungseinbruchsdiebstahl. Ebenfalls leicht zugenommen hat die Risikoeinschätzung hinsichtlich eines Raubüberfalls. Dies hielten 2012 nur 5 % der Menschen für realistisch, 2017 immerhin schon fast 8 %. Speziell die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, innerhalb der nächsten zwölf Monate Opfer einer sexuel- len Belästigung zu werden, ist insbesondere bei Männern sehr gering (ca. 2 % der Männer halten dies für § 14 KK 322
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht realistisch). Von den Frauen halten immerhin 7 % das Risiko einer sexuellen Belästigung für realistisch (im Diagramm: „ziemlich“ und „sehr“). (aus: Birkel/Guzy/Hummelsheim/Oberwittler/Pritsch Der Deutsche Viktimisierungssurvey 2017, 2019, S. 56) § 14 KK 323
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Tendenziell geht eine geringe affektive Kriminalitätsfurcht auch mit einer geringen Viktimisierungserwar- tung einher. Wer also stärker über ein bestimmtes Deliktsphänomen beunruhigt ist, hält es tendenziell auch für wahrscheinlicher, Opfer dieses Delikts zu werden: (aus: Birkel/Guzy/Hummelsheim/Oberwittler/Pritsch Der Deutsche Viktimisierungssurvey 2012, 2014, S. 81) § 14 KK 324
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Trotz dieses Zusammenhangs wird das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, für eher gering eingeschätzt, obwohl sich viele Menschen vor Straftaten fürchten. Deliktspezifische Risikoeinschätzung (ziemlich und sehr wahrscheinlich, in %) vs. deliktspezifische Furcht (ziemlich oder sehr beunruhigt, in %) (aus: Birkel/Guzy/Hummelsheim/Oberwittler/Pritsch Der Deutsche Viktimisierungssurvey 2017, 2019, S. 57) § 14 KK 325
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Zudem ist die Angst, Opfer einer Straftat zu werden, im Vergleich zu allgemeinen Lebensängsten viel gerin- ger ausgeprägt (Umfrage der R & V Versicherung, www.ruv.de, Stichwort „Ängste der Deutschen 2020“): Die Ängste der Deutschen 2019 Platzierung Angst Prozent 1 Gefährlichere Welt durch Trump-Politik 53 2 Steigende Lebenshaltungskosten 51 3 Kosten für Steuerzahler durch EU-Schuldenkrise 49 4 Schlechtere Wirtschaftslage 48 5 Naturkatastrophen/Wetterextreme 44 6 Spannungen durch den Zuzug von Ausländern 43 7 Überforderung des Staats durch Flüchtlinge 43 8 Schadstoffe in Nahrungsmitteln 42 9 Häufiger Pandemien durch Globalisierung (neu in 2020) 42 10 Pflegefall im Alter 41 11 Klimawandel 40 12 Überforderung der Politiker 40 13 Höhere Arbeitslosigkeit in Deutschland 40 14 Politischer Extremismus 37 § 14 KK 326
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht 15 Terrorismus 35 16 Sinkender Lebensstandard im Alter 32 17 Schwere Erkrankung/Coronainfektion 32 18 Eigene Arbeitslosigkeit 25 19 Drogensucht der eigenen Kinder 24 20 Krieg mit deutscher Beteiligung 19 21 Straftaten 18 22 Zerbrechen der Partnerschaft 10 § 14 KK 327
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht c) Konativ: Abwehr- und Vermeideverhalten Je unsicherer sich eine Person fühlt, desto häufiger zeigt sie auch individuelles Schutz- und Vermeidever- halten. (aus: Birkel/Guzy/Hummelsheim/Oberwittler/Pritsch Der Deutsche Viktimisierungs- survey 2017, 2019, S. 59) § 14 KK 328
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Beispiel: Nach der Silvesternacht 2015/16 und den Ereignissen am Kölner Hauptbahnhof kam es zu einem extremen Anstieg des Interesses an Pfefferspray in Deutschland: vgl. hierzu https://de.statista.com/infografik/4212/google-suchen-nach-pfefferspray/ § 14 KK 329
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht 4. Die Ursachen von Kriminalitätsfurcht Nach der sog. „Viktimisierungsthese“ ist Kriminalitätsfurcht das Ergebnis persönlicher Opfererlebnisse. Menschen, die Opfer von Straftaten wurden, zeigen danach eine erhöhte Kriminalitätsfurcht. So einleuch- tend diese These auch sein mag: Durch Opfererlebnisse lassen sich allenfalls moderat furchterhöhende Ef- fekte feststellen (v.a. dann, wenn die Vik- timisierung weniger als ein Jahr zurück- liegt). Eine Ausnahme bilden Einbruchsde- likte, die sich auf die Kriminalitätsfurcht besonders stark auswirken können. Das Einbruchserlebnis erhöht nicht nur die Furcht vor einem weiteren Einbruch sig- nifikant, sondern kann sich auf die Krimi- nalitätsfurcht im Allgemeinen (also auch auf die Furcht von anderen Delikten) aus- wirken (zum Wohnungseinbruch als trau- matisches Ereignis Wollinger MSchrKrim 98 2015, 365 ff.). (aus: Birkel/Guzy/Hummelsheim/Oberwittler/Pritsch Der Deutsche Viktimisie- rungssurvey 2012, 2014, S. 74) § 14 KK 330
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Es besteht aber dahingehend Einigkeit, dass der Viktimisierungshintergrund kein zentraler Faktor für die Erklärung kriminalitätsbezogener Unsicherheitsgefühle ist (vgl. Hirtenlehner JRP 17 2009, 13, 14; Reuband in: Lange/Ohly/Reichertz, Auf der Suche nach neuer Sicherheit, S. 233, 239; Kaspar in: Hilgendorf/Kud- lich/Valerius [Hrsg.], Handbuch des Strafrechts, Band 1, § 20 Rn. 87). Im Gegenteil zeigen deutlich mehr Personen Angst vor Verbrechen, als tatsächlich von Straftaten betroffen sind. Zu dem gleichen Ergebnis gelangt man, wenn man Opfererfahrungen im sozialen Nahbereich einbezieht. Opfererfahrungen haben hingegen einen stärkeren Einfluss auf die (kognitive) Risikoeinschätzung. Das bedeutet: Eine erlebte Kör- perverletzung steigert die Erwartung einer weiteren Körperverletzung. Sie hat allerdings nur einen geringe- ren Einfluss auf affektive kriminalitätsbezogene Unsicherheitsgefühle (vgl. Birkel/Guzy/Hummels- heim/Oberwittler/Pritsch Der Deutsche Viktimisierungssurvey 2012, 2014, S. 87). In der Kriminologie prominent vertreten wird die sogenannte „Generalisierungsthese“, nach der Kriminali- tätsfurcht als Ausdruck einer allgemeinen diffusen Verunsicherung angesehen wird. Diese Verunsicherung hat ihre Ursachen in gesamtgesellschaftlichen und strukturellen Entwicklungen wie der Globalisierung und weltweiten Migration, finanzwirtschaftlichen Risiken oder Umweltproblemen. Kriminalitätsfurcht ist also nicht von anderen Formen der Verunsicherung zu trennen, sondern stark mit Letzteren verknüpft. Nach der Generalisierungsthese wird Kriminalität als eine Art Projektionsfläche betrachtet, in der allgemeine Lebens- und Zukunftsängste greifbarer werden. Für diese These sprechen die Befunde zur regional ungleichen Ver- teilung der Kriminalitätsfurcht in Deutschland nach der Wiedervereinigung. Ältere empirische Studien gehen von einer engen Beziehung von Kriminalitätsfurcht und der Wahrnehmung von „disorder“ aus. „Disorder“ kann mit sozialer Desorganisation übersetzt werden, die in vielen Studien über das Vorkommen von „incivilities“ (Graffiti, Verwahrlosung etc.; „broken windows“) gemessen wird. § 14 KK 331
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Jedoch ist zu berücksichtigen, dass „disorder“ in diesen Studien üblicherweise als Ursache der Verunsiche- rung modelliert wurde. In neueren Studien (Hirtenlehner Disorder, Social Anxieties and Fear of Crime, in: Kury (Hrsg.), Fear of Crime – Punitivity, 2008, S. 127, 150; ders. KZfSS 2006, 307, 318), die die Generalisie- rungsthese untersuchten, konnte ein exakt umgekehrter Wirkungszusammenhang aufgezeigt werden, also: Menschen, die sich vor Kriminalität fürchten, sind schlicht empfänglicher für die Wahrnehmung von Zeichen sozialer Destabilisierung. Genauso, wie Kriminalität eine Projektionsfläche für eine allgemeine Verunsiche- rung darstellt, ist auch „disorder“ eine solche Projektionsfläche. Empirisch belegen ließ sich zudem die sogenannte „Prekarisierungsthese“, nach der Kriminalitätsfurcht Ausdruck von sozialen Abstiegsängsten und der Wahrnehmung existenzieller Risiken ist. Stärker von sozialer Prekarität betroffene Bevölkerungsgruppen artikulieren hiernach verstärkt Kriminalitätsfurcht als diesbe- züglich privilegiertere Kreise. Stimmte diese These tatsächlich, dann müsste sozialstaatliche Sicherungspolitik als Schutzschild gegen Furcht vor Straftaten wirken (Hirtenlehner JRP 17 2009, 13, 20). In einer Studie von Arooma/Heiskanen, die das Ausmaß kriminalitätsbezogener Unsicherheit in zwölf europäischen Ländern verglichen, konnte nachgewiesen werden, dass Verbrechensangst am häufigsten in südeuropäischen Mittelmeerländern und in Großbritannien anzutreffen ist, während die geringste Kriminalitätsfurcht von den Bewohnern Skandina- viens sowie mitteleuropäischen Wohlfahrtsstaaten (v.a. Österreich) angegeben wurde (vgl. zu dieser Studie Hummelsheim-Doss/Hirtenlehner/Jackson/Oberwittler European sociological review, 27 3, 327). Nicht nur im Länder-, sondern auch im Städtevergleich konnte dieses Muster bestätigt werden. Sessar/Herr- mann/Keller/Weinrich/Breckner verglichen die fünf europäischen Großstädte Wien, Hamburg, Amsterdam, § 14 KK 332
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Budapest und Krakau. Sie konnten zeigen, dass in Wien – im Gegensatz zu den anderen Städten – sehr geringe Sicherheitszweifel existieren. Krakau setzte sich in die entgegengesetzte Richtung ab. Die Ergebnisse zeigen: Eine institutionelle Absicherung sozialer und ökonomischer Risikolagen kann vor Ver- brechensangst schützen. So erweisen sich etwa ein höherer Bildungsabschluss und eine bessere finanzielle Situation als Schutzfaktoren vor kriminalitätsbezogenen Unsicherheitsgefühlen. Dies gilt sowohl für die af- fektive als auch für die kognitive Kriminalitätsfurcht (Birkel/Guzy/Hummelsheim/Oberwittler/Pritsch Der Deutsche Viktimisierungssurvey 2012, 2014, S. 69). § 14 KK 333
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht V. Gründe für den Aufschwung der Viktimologie 1. Das moderne, rechtsstaatlich geprägte und spezialpräventiv orientierte Strafrecht tendiert dazu, die Interessen des Opfers nicht hinreichend zu berücksichtigen. 2. Stärkere Sensibilisierung gegenüber bestimmten Opfergruppen (Frauen, Kinder). 3. Mittel der Opferbefragung gab Einblick in das Ausmaß der Viktimisierung. 4. Eintreten für die Belange des Opfers ist ein allgemein anerkanntes und zustimmungsfähiges krimi- nalpolitischen Anliegen. aber: Berücksichtigung von Opferbelangen und die Karriere der Kriminalitätsfurcht können nicht allein dadurch erklärt werden. Zu berücksichtigen ist das sich verstärkende gesellschaftliche Klima, in dessen Rah- men sich ein repressiver Sicherheitsdiskurs ausbreitet, in dessen Mittelpunkt oft das Opfer steht. → Das Opfer gewinnt eine symbolische, repräsentative Funktion, dessen Erfahrung als Allgemeingut ange- sehen wird. außerdem: Kriminalpolitische Maßnahmen im Namen des Opfers führen nicht unbedingt zu mehr Opfer- schutz, ein Pochen auf ein rechtsstaatliches Strafrecht mit Verteidiger- und Beschuldigtenrechten ist nicht notwendigerweise eine Verschlechterung der Stellung des Opfers. § 14 KK 334
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht VI. Exkurs: Straferwartungen und Punitivität Straferwartungen werden in der Kriminologie häufig in Zusammenhang mit der Kriminalitätsfurcht disku- tiert. Denn in beiden Fällen geht es um subjektive Risikowahrnehmungen in der Bevölkerung. Straferwar- tungen bestehen hinsichtlich der Fragen, „welche Wirkungen man sich von strafrechtlichen Maßnahmen verspricht, welche Art von Sanktionen oder Reaktionen man für zielführend hält, ob man andere gesetzliche Strafdrohungen und/oder eine andere Strafverhängungspraxis bevorzugen würde und ob man hinsichtlich bestimmter Verhaltensweisen für eine Neuregelung (Ent-/Kriminalisierung) eintritt.“ (Eisenberg/Kölbel Kri- minologie, § 24 Rn. 35) Haltungen in der Bevölkerung, die für ein Mehr an Strafrecht bzw. ein strengeres Strafrecht eintreten, kann man als punitiv bezeichnen. 1. Definition Punitivität beschreibt die Strenge eines Kriminaljustizsystems und die Strafneigung der Bevölkerung zu har- ten Strafen (Harrendorf Methodische Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen vergleichender Puniti- vitätsmessung auf der Grundlage internationaler Kriminalitätssurveys, in: Dölling/Jehle (Hrsg.), Täter – Ta- ten – Opfer: Grundlagenfragen und aktuelle Probleme der Kriminalität und ihrer Kontrolle, 2013, S. 785 [786]). § 14 KK 335
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht 2. Erkenntnisse der Punitivitätsforschung in Deutschland Zur Untersuchung eines möglichen Wandels von Punitivität ist zwischen der Einstellung der Bevölkerung, der Praxis der Justiz und der Praxis der Legislative zu unterscheiden. a) Bevölkerung Einen eindeutigen punitiven Wandel in der Bevölkerung lässt sich nicht feststellen. Das liegt zum einen da- ran, dass aussagekräftige Langzeitstudien nicht vorhanden sind. Der Vergleich von Studien aus verschiede- nen Jahren führt aufgrund unterschiedlich angelegter Maßstäbe und verschiedenen Befragungsgruppen zu verzerrten Ergebnissen (Kury/Obergfell-Fuchs Soziale Probleme 2006, 119 [128 f.]). Teilweise wird von ei- nem leichten Anstieg, teilweise von einem Rückgang der Straflust ausgegangen. Zu beachten ist, dass die Punitivität der Bevölkerung die Strafphilosophie, die abstrakte Forderung und die konkrete Forderung nach härteren Strafen enthält (Reuband Soziale Probleme 2010, 97 [102]). Von großer Bedeutung für das Ergebnis einer Studie ist somit der Umfang an Informationen, die den Befragten zur Ver- fügung gestellt werden. Eine Untersuchung über die derzeitige Strafeinstellung zeigt, dass bei Befragungen zur allgemeinen Kriminalität strengere Sanktionen gefordert werden. Bei hinreichender Schilderung des Sachverhalts, des Täters und seiner Vergangenheit hingegen lassen sich gemäßigte, abwägende Sanktionen feststellen (Drenkhahn et al. KriPoZ 2020, 104 [105 f.]). § 14 KK 336
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht b) Justiz Zur Ermittlung einer justiziellen Punitivität zählen Höhe der Freiheitsstrafe, Aussetzungen zur Bewährung und vor allem die Art der Sanktion. (Kury/Obergfell-Fuchs Soziale Probleme 2006, 119 [142 f.]; Drenkhahn et al. KriPoZ 2020, 104 [105]). Es lässt sich besonders eine Zunahme der Geldstrafe, eine erhöhte Einstellungsquote und ein Rückgang an unbe- dingten Freiheitsstrafen feststellen (Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, 2006, S. 541, 556). Allerdings werden heute deutlich mehr mittel- und langfristige Freiheitsstra- fen verhängt als noch zu Beginn der 70er Jahren. Ob das jedoch auf einer härteren Sanktionierungspraxis beruht o- der eine Reaktion auf eine schwerer werdende Kriminali- tät ist, lässt sich allein anhand dieser Daten nicht feststellen (Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, 2006, S. 617). In der Gesamtschau ist die Strafeinstellung der Judikative als rückläufig einzustufen. § 14 KK 337
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht c) Legislative Unter der legislativen Punitivität werden die Ausweitung von Strafrahmen, die Kriminalisierung von Verhal- tensweisen, die Vorverlagerung von Strafbarkeiten und auch neue präventive Kontrollmaßnahmen verstan- den. Während es ab den 1970ern zunächst zu einer Abschaffung des Ehebruchs (§ 172 StGB) und der Ho- mosexualität (§ 175 StGB) kam und sich somit eine Entkriminalisierung feststellen ließ, wurde seit den 1990ern das Sexualstrafrecht etwa durch die Einführung der Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe (Änderung des § 177 StGB) oder die Strafbarkeit des Besitzes von Kinderpornographie verschärft (§ 184 Abs. 5 StGB a.F.) (Kury/Obergfell-Fuchs Soziale Probleme 2006, 119 [138]). 2016 kam es zu einer Verschär- fung des § 177 StGB. Somit spricht die Verschärfung des Sexualstrafrechts für eine Erhöhung der legislativen Punitivität (Drenkhahn et al. KriPoZ 2020, 104 [105]). § 14 KK 338
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht 3. Erkenntnisse der Punitivitätsforschung in den USA a) Justiz In der USA und England hingegen spricht man seit den 1990ern von einem „punitive turn“ oder „get-tough movement“, besonders in Bezug auf das Sanktionierungsverhalten (Kury/Obergfell-Fuchs Soziale Probleme 2006, 119 [120]). Als Reaktion auf einen Höhepunkt der Kriminalitätsentwicklung wurde die sog. „zero-to- lerance“-Regel eingeführt. Danach wird bereits gegen prä-kriminelles Verhalten (wie z.B. Bettelei) vorge- gangen und schon leichte Kriminalität (wie z.B. Fahren ohne Fahrschein) mit Gefängnisstrafen geahndet (Meier Kriminologie, 4. Aufl. 2010, § 3 Rn. 54 ff.). Das wird als Erklärung für den Puntivitätsanstieg innerhalb der Justiz gesehen und spiegelt sich in der Anzahl der Gefangenen wieder. § 14 KK 339
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Daten stammen von https://www.albany.edu/sourcebook/pdf/section6.pdf, und sind auf Wikipedia (https://en.wikipedia.org/wiki/United_States_incarceration_rate) zu dieser Grafik zusammengefügt. § 14 KK 340
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht b) Bevölkerung Bzgl. der Punitivität der Bevölkerung lässt sich jedoch kein deutlicher Anstieg fest- stellen. Eine Befürwortung der Todesstrafe nimmt seit den 90ern weiterhin ab. An- hand der Zahlen der Inhaftierungsrate in den USA könnte sich ergeben, dass die Pu- nitivität der Bevölkerung von einem Tätig- werden des Staates abhängt. Während seit den 90ern die Inhaftierungsrate steigt, sinkt die Befürwortung der Todesstrafe. § 14 KK 341
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht 4. Maßgebende Faktoren a) Strafrechtliches Tätigwerden des Staates Die Grafiken zur Inhaftierungsrate und Unterstützung der Todesstrafe in der USA sprechen für einen mög- lichen Zusammenhang der Punitivität der Bevölkerung und dem strafrechtlichen Tätigwerden des Staates. In einem Bundesstaatenvergleich in der USA ging ein härterer Umgang mit Drogendelikten jedoch nicht mit einer repressiven Einstellung einher (Reuband Soziale Probleme 2010, 97 [102]). Ein solcher Zusammenhang ist daher nicht ersichtlich, geschweige denn gesichert. b) Sicherheitsgefühl Von den 1970ern bis 2005 wurden jährlich Jurastudierenden zu Beginn ihres Studiums u.a. zur Todesstrafe und lebenslangen Freiheitsstrafe befragt (Streng Soziale Probleme 2006, 210). Grund der Untersuchung war eine mögliche spätere Ausstrahlung in der Praxis. Die Untersuchung fand zu einem Zeitpunkt im ersten Se- mester statt, in dem eine Behandlung strafrechtlicher Sanktionen noch nicht erfolgte. Es ließ sich eine Zu- nahme der Einstellung, die Lebenslage Freiheitsstrafe sei zu mild, sowie eine Abnahme der Einstellung, die lebenslange Freiheitsstrafe abzuschaffen, feststellen (Streng Soziale Probleme 2006, 210 [215 f.]). Gleich- zeitig ließ sich eine Zunahme des Sicherheitsgefühls erkennen (Streng Soziale Probleme 2006, 210 [222]). Dieses Auseinanderdriften von Kriminalitätswahrnehmung und Strafhaltung zeige, dass es bei Punitivität nicht um eine Reaktion auf Kriminalität gehe, sondern möglicherweise um eine Vergewisserung oder Be- stätigung der derzeitigen Kriminalitätseinschätzung. Die soziale Verunsicherung insgesamt durch die stei- gende Globalisierung könne zudem auch von Bedeutung sein (Streng Soziale Probleme 2006, 210 [225]). § 14 KK 342
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Eine andere Studie hingegen erkennt ein Zusammenhang zwischen dem subjektiven Risiko, selbst Opfer zu werden, und einer Befürwortung härtere Strafen bei Befragten unter 41 Jahren, während bei den über 60- Jährigen kein Zusammenhang festzustellen ist (Armborst Soziale Probleme 2014, 105 [131]). Die Strafeinstellung der Bevölkerung ist demnach nicht eindeutig abhängig vom Sicherheitsgefühl. c) Einfluss der Medien Als häufiger Einfluss auf die Strafeinstellung der Bürger wird die Berichterstattung der Medien angeführt. Einigkeit besteht darüber, dass besonders die Boulevard-Presse und unseriöse Berichterstattungen kein neutrales Abbild der Kriminalität im Land liefern (Hirtenlehner Soziale Probleme 2010, 192 [195]). Überwie- gend wird angenommen, dass diese zu der erhöhten allgemeinen Forderung der Bürger für eine allgemein härtere Sanktionierung führt (Drenkhahn et al. KriPoZ 2020, 104 [107]). Eine empirische Nachweisbarkeit ist jedoch schwierig. Zum Teil wird die Kausalität zwischen Medienkonsum und Strafeinstellung auch gerade andersherum gesehen: Die allgemeine Forderung nach härteren Strafen der Bürger sei ursächlich für die verzerrte Berichterstattung (Sack, Soziale Problem 2006, 155, 163 ff.). Außerdem wird häufig eine Korrelation zwischen der Häufigkeit der Berichterstattung und anschließenden Gesetzesänderungen gesehen (Kury/Obergfell-Fuchs Soziale Probleme 2006, 119 [138]). Bei öffentlich- rechtlichen Sendern und der seriösen Presse lässt sich hingegen kein Einfluss auf die Punitivität der Bevöl- kerung feststellen (Drenkhahn et al. KriPoZ 2020, 104 [107]). Eine Studie zeigte außerdem, dass die Punitiviät von der Einschätzung der gesellschaftlichen Kriminalitäts- belastung abhängt. Leser einer seriösen Tages- oder Wochenzeitung schätzen die Kriminalitätsbelastung § 14 KK 343
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht zutreffender ein und fordern dadurch mildere Strafen als solche, die die Kriminalitätsbelastung irrigerweise höher einstufen (Windzio/Simonson/Pfeiffer/Kleimann Kriminalitätswahrnehmung und Punitivität in der Bevölkerung: Welche Rolle spielen die Massenmedien?, 2007, S. 65). d) Schulabschluss / Straftatbegehungen im Umfeld In einer Studie wurde festgestellt, dass ein Zusammenhang zwischen Punitivität und dem erlangten Schul- abschluss besteht. Personen mit einem Hauptschulabschluss befürworteten härtere Strafen als Personen mit Abitur. Das wird dadurch begründet, dass Personen mit einem Abitur weniger mit Delikten, die die All- gemeinheit betreffen, konfrontiert werden (Armborst Soziale Probleme 2014, 105 [133]). Der Zusammen- hang hängt jedoch nicht allein von dem Abschlussgrad ab, sondern ist eher als Einordnung in das soziale Umfeld zu verstehen. e) Fazit Die genauen Ursachen für die Punitivitätsentwicklung in der Bevölkerung sind weder einheitlich noch ab- schließend geklärt. § 14 KK 344
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Literatur: Boers Kriminalität und Kriminalitätsfurcht im sozialen Umbruch, NK 2/1994, 27 ff. Boers/Kurz Kriminalitätseinstellungen, soziale Milieus und sozialer Umbruch, in: Boers/Gutsche/Sessar (Hrsg.) Sozialer Umbruch und Kriminalität in Deutschland, 1997, S. 187 ff. Boers Kriminalprävention und Kriminalpolitik mit der Kriminalitätsfurcht, NK 2/2001, 10 ff. P.-A. Albrecht Kriminologie, §§ 40, 45. Heinz Anzeigeverhalten, in: Kaiser/Kerner/Sack/Schellhoss (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch, S. 27 ff. Hefendehl Wie steht es mit der Kriminalitätsfurcht und was hat der Staat damit zu tun? – zugleich ein Beitrag zur Tauglichkeit der Sicherheitswacht –, KJ 2000, 174 ff. Hirtenlehner/Hummelsheim-Doss/Sessar Kriminalitätsfurcht. Über die Angst der Bürger vor dem Verbre- chen, in: Hermann/Pöge (Hrsg.), Kriminalsoziologie, 2018, S. 459 ff. Jung Viktimologie, in: Kaiser/Kerner/Sack/Schellhoss (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3. Aufl. 1993, S. 582 ff. Jasch/Hefendehl Kriminalgeographie und Furcht in ostdeutschen Städten, MSchrKrim 2001, 67 ff. Reuband Stabilität und Wandel, NK 2/1999, 15 ff. Reuband Von der Kriminalitätshysterie zur Normalität?, NK 4/1999, 16 ff. § 14 KK 345
Vorlesung Kriminologie I Sommersemester 2021 Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Reuband Kriminalitätsfurcht. Erscheinungsformen, Trends und soziale Determinanten, in: Lange/Ohly/Rei- chertz (Hrsg.), Auf der Suche nach neuer Sicherheit, S. 233 ff. Schwind Kriminologie und Kriminalpolitik, §§ 19, 20. Treibel Opferforschung, in: Hermann/Pöge (Hrsg.), Kriminalsoziologie, 2018, S. 441 ff. § 14 KK 346
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