Aus Freude am Helfen 150 Jahre Rotes Kreuz in Lübeck 1869-2019

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Aus Freude am Helfen 150 Jahre Rotes Kreuz in Lübeck 1869-2019
Aus Freude am Helfen
150 Jahre Rotes Kreuz in Lübeck
1869 – 2019
Aus Freude am Helfen 150 Jahre Rotes Kreuz in Lübeck 1869-2019
»Zivilisation bedeutet,
sich gegenseitig zu helfen,
       von Mensch zu Mensch,
    von Nation zu Nation.«
				            Henry Dunant
Aus Freude am Helfen 150 Jahre Rotes Kreuz in Lübeck 1869-2019
Inhalt

              10                                    20                               36                                      50                                        64                                      76
Die Wurzeln im Krieg                 Im Kaiserreich                     Erster Weltkrieg                       Weimarer Republik                        Im Dritten Reich                       Zweiter Weltkrieg
1859 –1870                           1871–1914                          1914 –1918                             1919 –1933                               1933 –1939                             1939 –1945
Zehn Jahre nach dem Entstehen d
                              ­ er   Rettungswesen, Fürsorge            Lazarette und Liebesgaben              Das Rettungswesen und die Koopera-       Das Rote Kreuz wird gleichgeschaltet   Krankenhäuser und Lazarette
internationalen Bewegung erreicht    und ­Gesundheitsvorsorge nehmen    prägen die Arbeit des Roten Kreuzes    tion mit dem öffentlichen Gesundheits-   und verliert seine Vielfalt            sind ­gefüllt – und der Luftkrieg trifft
der Rotkreuz­gedanke auch Lübeck     ihren Anfang                       an der Heimatfront                     wesen werden ausgebaut                                                          auch Lübeck

                                                                                                                                                                                               152                     Fotos,
                                                                                                                                                                                                                       Zitate,
                                                                                                                                                                                                                       Literatur,
                                                                                                                                                                                                                       Archive

                                                                                                                                                                                               155                     Impressum

              88                                    92                               102                                    116                                      132
Das Internationale Komitee           Nachkriegszeit                     1950er und 1960er Jahre                Von 1970 bis zur Wende                   1989 – 2019
vom Roten Kreuz in Lübeck           1945 –1949                         Alte und neue Aufgaben für das         Organisation im Wandel: Mit dem Aus-     Der eiserne Vorhang fällt, ein neues
1940 –1945                           Mit dem Kriegsende übernimmt das   Rote Kreuz: Katastrophenschutz Such-   bau von Fürsorge und Rettungswesen       DRK-Zentrum entsteht, die Arbeit
Hilfe für Kriegsgefangene            Rote Kreuz wieder die Fürsorge     dienst, Soziales und Blutspenden       geht die Professionalisierung einher     wird vielfältiger und umfangreicher
Aus Freude am Helfen 150 Jahre Rotes Kreuz in Lübeck 1869-2019
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Aus Freude am Helfen 150 Jahre Rotes Kreuz in Lübeck 1869-2019
Vorwort
    Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

    seit 1869 wird in Lübeck unter dem weltweit bekannten          bei zahlreichen Veranstaltungen innerhalb und außerhalb          sich neu: 1950 in der Bundesrepublik Deutschland und           Kreuzes in Lübeck beschrieben und kritisch beleuchtet hat.
    Symbol des Roten Kreuzes gearbeitet. Entstanden auf            Lübecks, im Betreuungsdienst, in der häuslichen Pflege, im       1952 in der DDR. Lokale Verbände waren bereits zuvor           Unser Dank gilt ebenso den Lübecker Institutionen, die mit
    Initiative von Henry Dunant, als Reaktion auf die Schrecken    Besuchsdienst, in der Hilfe zur Migration und Integration,       neu entstanden, darunter 1947 der Kreisverband Lübeck          Fotos und Informationen zum Entstehen dieser Chronik
    der Schlacht von Solferino in Norditalien (1859), wollte das   bei der Wasserwacht, in der Kindertagesstätte und in den         des DRK e. V. und die DRK-Schwesternschaft Lübeck e. V.        beigetragen haben. Das sind das Archiv der Hansestadt
    Rote Kreuz verwundeten und kranken Soldaten Hilfe leis-        Kleiderläden des Roten Kreuzes sowie auch bei Großscha-                                                                         Lübeck und das Fotoarchiv der Hansestadt Lübeck im
    ten. 1863 gründeten sich erste nationale Verbände. Auch        denseinsätzen.                                                   In diesen beiden Vereinen arbeiten seitdem unsere zahlrei-     St. Annen-Museum sowie insbesondere auch die Lübecker
    in Deutschland, das zu dieser Zeit noch aus vielen unab-                                                                        chen hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen        Nachrichten, die unsere Arbeit schon seit Ende der 1940er
    hängigen Einzelstaaten bestand, wurden erste Vereine ins       Bei alledem gelten die Grundsätze des Roten Kreuzes: Wir         und Mitarbeiter – „Aus Freude am Helfen“. Die Idee der         Jahre in Text und Bild dokumentieren und würdigen.
    Leben gerufen. Es entstanden, oft unter Schirmherrschaft       arbeiten dafür, menschliches Leiden überall und jederzeit        Menschlichkeit und der unparteilichen und neutralen Hilfe
    prominenter Persönlichkeiten aus den regierenden adligen       zu verhüten und zu lindern. Wir sind unparteilich und unter-     bestimmt ihre Tätigkeit, lokal vor Ort und zugleich als Teil   Vor allem aber danken wir unseren Mitarbeiterinnen und
    Häusern, Männer- und Frauenvereine zur Pflege „im Felde        scheiden nicht nach Nationalität, Rasse, Religion, sozialer      der größten humanitären Organisation, die auf der ganzen       Mitarbeitern sowie allen ehrenamtlich Aktiven, ohne die
    erkrankter und verwundeter Krieger“. Während die Männer-       Stellung oder politischer Überzeugung. Wir sind neutral, und     Welt menschliches Leiden abzuwenden und zu lindern             es kein Rotes Kreuz in Lübeck gäbe: Nur mit ihrer Tätig-
    vereine in Friedenszeiten mit ihren Sanitätskolonnen bald      enthalten uns der Teilnahme an Feindseligkeiten wie auch,        sucht. So sind in 189 Ländern der Erde Millionen ehren-        keit wird der Rotkreuzgedanke mit Leben gefüllt und damit
    auch bei größeren Unfällen und Katastrophen zum Einsatz        zu jeder Zeit, an politischen, rassischen, religiösen oder       amtliche Helfer und Mitglieder sowie Hunderttausende           vielen Menschen in schwierigen Lebenssituationen geholfen
    kamen und sogenannte „Unfallwachen“ gründeten – darin          ideologischen Auseinandersetzungen. Wir stehen den Be-           hauptberufliche Mitarbeiter im Einsatz. Manchmal verbin-       – heute und auch in der Zukunft.
    sehen wir den Beginn des heutigen Rettungswesens –,            hörden bei ihrer humanitären Tätigkeit als Hilfsgesellschaften   den sich globale Konflikte und lokale Arbeit: In der Flücht-
    entwickelten die Frauenvereine eine rege Tätigkeit in den      zur Seite, bewahren aber Eigenständigkeit, um jederzeit ge-      lingskrise 2015 haben auch unsere Mitarbeiterinnen und
    Bereichen der Fürsorge und der Gesundheitsvorsorge.            mäß den Grundsätzen der Rotkreuz- und Rothalbmondbe-             Mitarbeiter mit großem persönlichem Einsatz geholfen, die
                                                                   wegung handeln zu können. Diese Grundsätze sind für das          Schutzsuchenden nach ihrer Ankunft in Lübeck unterzu-
    Im Laufe der Zeit haben sich die Schwerpunkte der Rot-         Deutsche Rote Kreuz mit seiner Neugründung nach dem              bringen und zu versorgen. Sie haben dabei Herausragen-
    kreuzarbeit verändert und weiterentwickelt – so auch in        Zweiten Weltkrieg zum Selbstverständnis geworden.                des geleistet. Diese Leistungen der Helferinnen und Helfer
    Lübeck. Heute leisten 120 Frauen und Männer als haupt-                                                                          des Roten Kreuzes in Lübeck in jüngerer Vergangenheit
    amtliche Kräfte und 200 Ehrenamtliche beim Kreisverband        Die Betreuung von Millionen Kriegsgefangenen zählte zu           zeigen, wie wichtig die Arbeit des Roten Kreuzes auch
                                                                                                                                                                                                   Oliver Saggau, Präsident    Stefan Krause, geschäftsführender
    Lübeck eine vielfältige Arbeit – sei es unter anderem im       den größten Aufgaben des Internationalen Roten Kreuzes.          nach 150 Jahren ist. Diese Arbeit ist uns Ansporn und Ver-     des DRK Lübeck              ­Vorstand des DRK Lübeck

    Rettungsdienst und Krankentransport, im Sanitätsdienst         Nach 1945 hat sich die Rotkreuzbewegung grenzüber-               pflichtung zugleich, um auch in Zukunft für die Menschen
                                                                   greifend weiterentwickelt – mit den Einsätzen bei zahllosen      da zu sein, Leid zu verhüten und zu lindern.
                                                                   Kriegen, Konflikten und Katastrophen. In Deutschland, wo
                                                                   das Rote Kreuz wegen seiner Einbindung in den national-          Wir danken dem Historiker Dr. Jan Zimmermann, der in
                                                                   sozialistischen Staat 1945 aufgelöst wurde, gründete es          der hier vorliegenden Chronik den langen Weg des Roten

8                                                                                                                                                                                                                                                                  9
Aus Freude am Helfen 150 Jahre Rotes Kreuz in Lübeck 1869-2019
Die Wurzeln im Krieg
     Mit den Einigungskriegen des 19. Jahrhunderts entsteht das Rote Kreuz als                                               des Norddeutschen Bundes, dem auch die Hansestädte
                                                                                                                             und damit auch Lübeck beitraten. Im folgenden Jahr ver-
     ­internationale Bewegung. Fünf Jahre nach der Gründung in Genf erreicht sie
                                                                                                                             einbarten die Stadtstaaten Lübeck, Hamburg und Bremen
      auch Lübeck, und nur ein Jahr später kommt es mit dem Deutsch-Franzö­                                                  mit Preußen eine Militärkonvention, auf deren Grundlage
      sischen Krieg von 1870/71 auch an der Trave zum Ernstfall.                                                             auch das Lübeckische Militär aufgelöst wurde. Gegen
                                                                                                                             einen finanziellen Ausgleich übernahm Preußen Lübecks
                                                                                                                             militärische Verpflichtungen im Bund. Damit einher ging
                                                                                                                             auch der Bau einer großen Kaserne an der Fackenburger
     Wie anderswo war auch in Lübeck die Gründung des Roten     tums Oldenburg eine Brigade bildete, kam in den späteren     Allee (1868 –70). Preußisches Militär war ab 1867 in Lübeck
     Kreuzes nicht von Krieg und Militär zu trennen. Schon in   Kriegen gegen Dänemark um Schleswig-Holstein (1848–51)       stationiert.
     den Befreiungskriegen der napoleonischen Zeit hatte sich   und im Krieg Preußens gegen Österreichs (1866) zum Ein-
     der „Frauenverein von 1813“ gegründet, der sich um ver-    satz, hatte dabei aber kaum Feindberührung.                  Im benachbarten Schleswig-Holstein, das mit dem Sieg
     wundete Soldaten kümmern sollte und sich später der all-                                                                Preußens gegen Österreich vollständig zu einer preußischen
     gemeinen Armen- und Krankenpflege widmete. Das Lübe-       Die Hansestädte hatten sich während des Krieges von          Provinz wurde, gingen die Wurzeln des Roten Kreuzes bis
     cker Militär, das nach der Gründung des Deutschen Bundes   1866, um ihre Eigenständigkeit nicht zu gefährden, auf die   1864 zurück. Die Genfer Gemeinnützige Gesellschaft hatte
     (1815) ein Teil der Bundesarmee wurde und zusammen mit     Seite Preußens gestellt. Auf dem Weg zum deutschen Na-       im März 1864 zwei Gesandte in den Norden geschickt: Sie
     Kontingenten Hamburgs, Bremens und des Großherzog-         tionalstaat erfolgte nach dem Sieg Preußens die Gründung     waren – mehrere Monate vor der Unterzeichnung der ersten                                                                              [1]

                                                                                                                             Genfer Konvention im August 1864 – die ersten Rotkreuz­
                                                                                                                             delegierten der Geschichte und sollten die militärische Aus-
     „Schwestern! Die französische Kriegserklärung ist erfolgt; der Kampf und                                                einandersetzung um Schleswig und Holstein beobachten.                                                       [1] Lazarett in

        dessen traurige Folgen unvermeidlich. Der Augenblick ist gekommen, wo                                                                                                                                                            Flensburg, 1864
                                                                                                                             Das erste Mal war das Zeichen Rotes Kreuz im Einsatz zu
      der beabsichtigten Thätigkeit der Unterzeichneten im Einvernehmen mit
                                                                                                                             sehen: als Armbinde der beiden Gesandten. Schon einige
        dem hiesigen Verein zur Pflege im Felde verwundeter und erkrankter Krieger                                           Wochen bevor sich diese auf den weiten Weg in den Nor-          rief die preußische Königin Augusta im November 1866
     sofort eine praktische Richtung gegeben werden muss. Sie sind daher ­gerne                                              den machten, hatten Kieler Bürger mit Beginn des Krieges        den „Deutschen Frauenverein zur Pflege und Hilfe für Ver-
                                                                                                                             gegen Dänemark den „Central-Hülfsverein für Lazarette zu        wundete im Kriege“ ins Leben. Er kam für den Krieg gegen
       bereit, Charpie, alte Leinwand, Bänder, Bandagen, u. s. w. in Empfang zu ­
                                                                                                                             Kiel“ gegründet. Aus ihm wurde später der Kreisverband Kiel     Österreich und seine süddeutschen Alliierten zu spät, sollte
     nehmen. Es bedarf gewiss bei der stehts bewiesenen Opferwilligkeit der Frauen                                           des DRK. Nach der Schlacht bei Solferino (24.06.1859) und       aber unter dem Kurznamen „Vaterländischer Frauenverein“
      und Jungfrauen Lübecks und der Umgegend zur Erfüllung unseres Wunsches                                                 dem Krimkrieg (1853–1856) gab es jetzt das erste Mal eine       als Vorbild und Mutterverein für viele regionale Frauenvereine
     kaum noch einer dringenden Bitte. Nähere Angaben über die nothwendigsten                                                Versorgung von Verwundeten durch zivile Kräfte, die aber        dienen und bildete die weibliche Wurzel des Roten Kreuzes.
                                                                                                                             der Autorität der Militärs unterstellt waren und vor allem in   Die Eigenständigkeit der Frauenvereine endete vollständig
       Gegenstände werden die Unterzeichneten sich erlauben, in den nächsten ­
                                                                                                                             den Feldlazaretten wirkten. Bald nach dem nächsten Krieg,       erst 1937 mit dem DRK-Gesetz, durch das alle regional
     Tagen bekannt zu machen.“				                    Lübeckische Blätter, 20.7.1870                                         der 1866 zwischen Preußen und Österreich entbrannt war,         selbstständigen Rotkreuzvereine aufgelöst wurden.

10                                                                                                                                                                                                                                                            11
Aus Freude am Helfen 150 Jahre Rotes Kreuz in Lübeck 1869-2019
hatte sich eine Verflechtung mit der Lübecker Gesellschaft       Die vom „provisorischen Comité“ bereits formulierten Sta-              [1] Lübeckische       [2] Lübecker
                                                                      ergeben. Die Namen der Unterzeichner geben das Mitein-           tuten verwiesen ebenso wie der Name der lübeckischen                      Blätter, 1869      Bürgerinnen
                                                                      ander anschaulich wieder – im Wechsel stehen preußische          Gründung auf den fünf Jahre zuvor aktiv gewordenen                                            und Bürger
                                                                      Militärs und Angehörige des Lübecker Bürgertums nebenei-         „Preußischen Centralverein zur Pflege im Felde verwunde-                                   verabschieden
                                                                      nander und rufen als „provisorisches Comité“ zur Mitwirkung      ter und erkrankter Krieger“. Den Vertrag von Genf – später                                    ­preußische
                                                                      in dem neu zu gründenden Verein auf. Einige Bürger hatten        „Erste Genfer Konvention“ genannt – hatte am 22. August                                   Soldaten in den
                                                                      bereits 1864 und 1866 per Aufruf Gelder und Gaben für            1864 auch Preußen unterzeichnet. Damit war die inter-                                        Krieg gegen
                                                                      Kranke und Verwundete gesammelt: „Während der Kriege,            nationale Richtlinie geschaffen, verwundete Soldaten zu                                   ­ änemark, 1864
                                                                                                                                                                                                                                 D
                                                                      welche in den letzten Jahrzehnten in Deutschland geführt         versorgen und medizinisches Personal in militärischen Aus-
                                                                      wurden, sind, wie in allen Gegenden Deutschlands, so auch        einandersetzungen zu schützen.
                                                                      in unserer Vaterstadt, Männer zusammengetreten, die sich
                                                                      angelegen sein lassen, milde Gaben zu sammeln, um die            Durch die Anlehnung an den preußischen Centralverein
                                                                      Entbehrungen der Soldaten zu verringern und die Lage             passten die Lübecker Initiatoren sich 1869 den internatio-       [2]

                                                                      der Verwundeten und Erkrankten zu erleichtern. Das letzte        nalen Bestrebungen an, auch ohne dass der Staat Lübeck
                                                                      Kriegsjahr [1866] hat jedoch gezeigt, daß mit allen Gaben        den Genfer Vertrag unterzeichnet hatte. Als nur wenige
                                                                      der Mildthätigkeit auch nicht annähernd ein Resultat erzielt     Wochen später, im April 1869, in Berlin die II. Internationale
                                                                      ist, welches der Opferwilligkeit der Einzelnen entsprochen       Rotkreuz-Konferenz in Berlin stattfand, nahm auch der
                                                                      hätte. Man ist zur Erkenntnis gelangt, daß mit viel geringeren   Hanseatische Gesandte Friedrich Krüger als Vertreter der
                                                                      Mitteln weit Größeres hätte erreicht werden können, wenn         Hansestädte Lübeck, Hamburg und Bremen teil. Mit der
                                                                      es nicht an rechtzeitiger Vorbereitung und an organischer        Gründung des Lübecker Vereins war die organisatorische
                                                            [1]       Gliederung der Hilfsvereine gefehlt hätte. Diese durch das       Grundlage für zivile medizinische Hilfeleistungen gelegt.
                                                                      über einstimmende Urtheil der bewährtesten Sachverstän-          Weil Kriege nach wie vor als nicht zu vermeidender Teil der
                                                                      digen bestätigte Erfahrung hat dahin geführt, daß durch          Politik galten, wurden weitere militärische Auseinanderset-
     Im März 1869 erschien in den Lübeckischen Blättern ein           Aufrechterhaltung der bestehenden und Wiederbelebung             zungen erwartet. In der Satzung des Vereins hieß es: „Der
     Artikel, der zur Gründung des „Vereins zur Pflege im Felde       der außer Wirksamkeit getretenen Vereine in allen Teilen des     Verein bezweckt, im Anschluss an das Centralkomitee des
     verwundeter und erkrankter Krieger“ aufrief. Der letzte Krieg    norddeutschen Bundes eine vollständig gegliederte Orga-          Preußischen Vereins in Berlin, in Kriegszeiten für Heilung
     lag drei Jahre zurück, die Hilfsvereine im Norddeutschen         nisation von Vereinen geschaffen und solchergestalt überall      und Pflege der im Felde verwundeten und erkrankten Krie-
     Bund hatten mangels Aufgaben ihre Arbeit weitestgehend           schon in Friedenszeiten eine volle Bereitschaft der Hilfsver-    ger mitzuwirken und in Friedenszeiten die dazu geeigneten
     eingestellt. Aber durch die Stationierung preußischen Militärs   eine für die Lösung ihrer Aufgabe im Kriege hergestellt ist.“    Vorbereitungen zu treffen.“

12                                                                                                                                                                                                                                                 13
Aus Freude am Helfen 150 Jahre Rotes Kreuz in Lübeck 1869-2019
[1]

                                                           [3]

                                                                                [3] Visitenkarte        [4] Bataillons-
                                                                                 von Carl Türk,            arzt (später
                                                                                 im Einsatz vor        Stadtphysikus)
                                                                                    Paris, 1870           Dr. Carl Türk
                                                                                                          (1838–1890)        [4]

                                                        Ein Jahr später war es bereits soweit: „Der Krieg ist erklärt“,   Während Carl Türk hinter der Front in Frankreich als Arzt
                                                        titelten die Lübeckischen Blätter am 20. Juli 1870. Einen         arbeitete, wurde seine Frau Emmy in der Heimatstadt aktiv.
                                                        Monat zuvor hatte Dr. Carl Türk, der Lübecker Stabs- und          Emmy Türk, schon einmal geschieden und erneut verheira-
                                                        Bataillonsarzt und Mitgründer des Lübecker Zweigvereins,          tet, war eine emanzipierte Persönlichkeit, die schriftstelle-
                                                        an der Jahresversammlung des Berliner Zentralvereins              risch tätig war und in der Wohnung in der Hüxstraße einen
                                                        teilgenommen. Anschließend hatte er vor dem Lübecker              Salon führte. Zusammen mit anderen bürgerlichen Frauen
                                                        Verein von der Konferenz berichtet, um die Aufmerksam-            hatten sie bereits am 17. Juli, bald nach dem Vortrag ihres
                                                        keit auf die „hohen und edlen Ziele zu lenken, welche die         Mannes und nur zwei Tage vor der französischen Kriegs-
                                                        Humanität der modernen Civilisation im Kampf gegen die            erklärung, zur Gründung eines Damenkomitees aufgerufen.
                                                        Schrecken des Krieges verfolgt“. Türk erläuterte die von          Wie der Männerverein lehnte sich das Komitee an das
           [1] Plan für die   [2] Brief mit der         Genf ausgegangenen Bemühungen und die Einführung des              preußische Vorbild an und sollte schon vor einem Krieg
           Lazarettbara-      Vignette des Lü-          roten Kreuzes in weißem Felde als Zeichen der Neutralität.        tätig werden.
           cken an der        becker Vereins            Und im Sinne Dunants schilderte Türk bildhaft die Schre-
           Waisenhofallee/    zur Pflege im             cken von Solferino, wo das „ganze große Schlachtfeld ein
           Falkenburger       Felde verwunde-           einziger Herd der Zersetzung und Pestilenz“ gewesen sei.
           Allee, 1870        ter und erkrank-          Wenige Wochen später zog Carl Türk mit dem Lübecker
                              ter Krieger, 1870   [2]   Bataillon nach Frankreich, wo es nun zum ersten großen
                                                        Einsatz für die Rotkreuz-Vereine kam.

      14                                                                                                                                                                                  15
Aus Freude am Helfen 150 Jahre Rotes Kreuz in Lübeck 1869-2019
[1] Emmy Türk          [2] Armbinde                                                                                             [3] Emmy Türks
            (1834-1900) mit        von Emmy Türk                                                                                              Urkunde zum
            Rotkreuz-Orden         aus der Zeit des                                                                                         Verdienstkreuz
                                   deutsch-franzö-                                                                                           für Frauen und
                                   sischen Krieges                                                                                              Jungfrauen,
                                   1870/71                                                                                                   verliehen vom
                                                                                                                                               preußischen
                                                                                                                                                ­König, 1871
            Emmy Türks Aufruf in den Lübeckischen Blättern zeugte          Die Lübecker „Privathülfe“ erfolgte im deutsch-französi-
            wie schon der Vortrag ihres Mannes deutlich von Henry          schen Krieg sowohl im Kriegsgebiet als auch in der Stadt.
            Dunants Erinnerung an das blutgetränkte Schlachtfeld von       Von Lübeck aus gingen zehnmal sogenannte „Expeditio-
            Solferino: „An die Frauen Lübecks! Wenn der Krieg ver-         nen“ mit Ausstattungen und Material für die Lazarette nach
            heerend durch die Lande zieht, wenn er die blutige Fackel      Frankreich, teils an das Lübecker Bataillon, teils an andere
            in Stadt und Dorf wirft, aus Haus und Hütte die Bewohner       militärische Empfänger. In der Stadt selbst wurden zahl-
            scheucht, die Saaten zertritt, die Hoffnungen und das          reiche Verwundete aufgenommen, zunächst in Kranken-
            Glück rücksichtslos zerstört, so ist der Schrecken groß        häusern und in Privathäusern (50 davon allein im Palais
            und unendlich der Jammer; aber nichts gleicht dem furcht-      Rantzau an der Parade), dann auch in eigens errichteten
            baren, hoffnungslosen todatmenden Elend der verlassenen        Lazaretten in St. Lorenz. Die ersten Verwundeten waren
[1]         Schlachtfelder. Hier, wo oft tagelang die verwesenden          Ende August 1870 am Bahnhof vor dem Holstentor ange-
            Leichname der Gefallenen neben den hülflosen Körpern           kommen: „Ihre Reise hatte 3 Tage und 2 Nächte gewährt.
            der Verwundeten liegen, hier conzentriert sich die Noth        Auf dem Bahnhof, der zu diesem Zwecke abgesperrt und
            des Krieges in ganzer Furchtbarkeit; denn weitaus ungenü-      militairisch besetzt war, wurden sie zunächst mit Erfrischun-                                                                       [3]
      [2]   gend sind die Mittel der Aerzte und Lazarette, unerquicket,    gen versehen und neu verbunden. Dann wurden sie auf
            unverbunden verbluten und sterben zahllos die Unglück-         Bahren in die Quartiere getragen, welches Geschäft die
            lichen, die rechtzeitige Hülfe den Ihren und dem Leben         ­Träger freiwillig ausführten, während die Turner als Weg­
            erhalten könnte. Kein Wort, keine Feder kann ein Bild dieser   weiser fungirten für die, welche gehen konnten.“
            Gräuel und Jammerscenen geben, und die letzten Kriege
            mit ihrer großartigen, todbringenden Schnelligkeit in der      Aus den Depots des Männervereins kamen „Erfrischungen,          Kranker während des siegreichen Feldzugs“. In den folgen-
            Kriegführung haben Schäden bloßgelegt, denen der Staat         Fruchtsaft, Selterwasser, Wein, Taback und Zigarren“. Das       den Jahren kümmerte sich der Vaterländische Frauenverein,
            alleine nicht mehr abhelfen kann; hier muss Privathülfe ihm    Damenkomitee lieferte während des ganzen Krieges Ver-           der 1871 aus dem Damenkomitee hervorging, um einige
            zur Seite stehen und seine Leistung unterstützen.“ Mit der     bandsmaterial, half in den Krankenquartieren und versorgte      Soldatenwitwen und half den bei der schweren Ostsee­
            „Sammlung von Handarbeiten, Schmuck und Hausgeräten            die aus den Lazaretten entlassenen Soldaten mit Kleidung.       sturmflut von 1872 Geschädigten. Ansonsten aber ruhte die
            und anderen persönlichen Opfern“, die dann verlost und         Emmy Türk erhielt als maßgebliche Organisatorin der Hilfe       Arbeit des Vereins bald wieder, der zunächst ja auch nur im
            verkauft wurden, erzielte das Damenkomitee notwendige          später eine Auszeichnung des preußischen Königs „in An-         Fall eines Krieges tätig werden sollte und keine allgemeine-
            Mittel für seine Tätigkeit.                                    erkennung der Leistungen bei der Pflege Verwundeter und         ren karitativen Zwecke verfolgte.

16                                                                                                                                                                                                        17
Aus Freude am Helfen 150 Jahre Rotes Kreuz in Lübeck 1869-2019
»… wir sind bereit, mit frischen
                              Kräften uns wieder zu erheben
      Lazarett an der
      Waisenhofallee
                         und mit Gut und Blut für
     in Lübeck, 1870
                            das Vaterland einzustehen.«
      Detail: Der läs-
      sig posierende
                         				 Lübeckische Blätter, 1.3.1871
     Junge trägt eine
       Armbinde mit
     dem roten Kreuz

18
[2]

     Im Kaiserreich
     1871–1914
                                                                                                                                                                                    [3]
     In den Friedensjahrzehnten des Kaiserreiches entstehen neben der militärisch
     ausgerichteten Hilfe auch erste Einrichtungen des Roten Kreuzes zur sozialen
     und medizinischen Fürsorge: Erholungsstätten im Grünen, Arbeitergärten und
     die erste eigene Klinik.

                                                                                          Nach dem Ende des Krieges gegen
                                                                                    [1]   Frankreich übertrug der Lübecker
                                                                                          Verein zur Pflege im Kriege ver-
                                                                                          wundeter und erkrankter Krieger sein
                                                                                          Vermögen an den lokalen Ableger der                              [4]
                                                                                          Kaiser-Wilhelm-Stiftung für Deutsche Inva-
                                                                                          liden, der damit in Lübeck lebende Kriegsversehrte unter-
                                                                                          stützen sollte. Vereinzelt wurden nach Unglücken Spenden
                                                                                          zur Versorgung Hinterbliebener gesammelt und verteilt,
                                                                                          ansonsten aber ruhte die Arbeit des Vereins bis 1897. Erst
                                                                                          nach der Ernennung eines „Kaiserlichen Kommissars und
                                                                                          Militärinspekteurs der freiwilligen Krankenpflege“ durch         [1] Rückkehr aus
                                                                                                                                                           Frankreich: Sie-
                                                                                          Kaiser Wilhelm II., dem dann die Berufung von Landes-
                                                                                                                                                           gesparade auf
                                                                                          delegierten folgte, setzte sich die Arbeit fort, aber in einem   dem Markt am
                                                                                          neuen Verein: 1898 wurde der „Lübeckische Landesverein           18. Juni 1871
                                                                                          vom Roten Kreuz“ gegründet. Der nur Männern zugängli-            [2] Vignette des
                                                                                          che Verein sollte schon im Frieden „geeignete Einrichtungen      Lübeckischen
                                                                                          zur Aufnahme, Heilung und Pflege“ von verwundeten und            Landesvereins,
                                                                                                                                                           1903
                                                                                          erkrankten Soldaten schaffen und – das war neu – „für die
                                                                                                                                                           [3] [4] Vignetten
                                                                                          Heranbildung des dazu erforderlichen Personals Sorge             des Vaterländi-
                                                                                          tragen und zwar tunlichst Hand in Hand mit der Genossen-         schen Frauen-
                                                                                          schaft freiwilliger Krankenpfleger im Kriege“.                   vereins, 1903

20                                                                                                                                                                             21
In den Kriegen von 1864, 1866 und 1870/71 waren Diako-             [1] Sanitäts­
     ne des „Rauhen Hauses“ in Hamburg mit der Armbinde des                 kolonne
     Roten Kreuzes tätig geworden. In gedanklicher Fortführung       Lübeck-Schlu-
     dieses Einsatzes erfolgte seit 1886 auf Initiative von Dr.            tup, 1910
     Johannes Wichern, dem Sohn des Gründers des „Rauhen               [2] Luftreifen
     Hauses“, der Aufbau lokaler, freiwillig und genossenschaft-        und Federn:
     lich organisierter Sanitätskolonnen, die im Krieg den Trans-     Krankentrans-
     port von Verunglückten und Kranken übernehmen sollten.           port in Lübeck
     Zugleich aber konnten sie im Frieden bei Seuchen, Unfällen             um 1905
     und Unglücken zum Einsatz kommen. In Lübeck war die
     erste Kolonne durch den Kreisverband der Genossenschaft
     1892 aufgestellt worden, eine zweite, aufgestellt durch den
     Landeskriegerverband, folgte 1898. Die dritte Kolonne ent-                            [1]

     stand 1907 als „Krieger-Sanitätskolonne vom Roten Kreuz
     in Schlutup“.

     1910 hatten die drei Kolonnen, von deren Mitgliedern viele                                                       [2]                         [3]   [4]
     als Soldat aktiv gewesen waren, zusammen 109 Mitglieder.
     Seit diesem Jahr diente ihnen das Haus Schildstraße 10
     für Verwaltung und Lager, und noch heute ist der aufge-
     malte Schriftzug über dem Hauseingang zu sehen. Durch
     die einheitliche Kleidung waren die Kolonnen als Einsatz-
     kräfte zu erkennen. Die Nähe zum Militär war sichtbar, da                                                                 [3] Schildstraße
     die Rotkreuz-Kleidung auf preußischen Uniformen basierte.                                                                     10, Verwal-
     Die Kolonnen führten jährliche Übungen im Gelände durch                                                                     tungssitz der
     und probten den Einsatz von Eisenbahnwagen und Was-                                                                        Sanitätskolon-
     serfahrzeugen für den Verwundetentransport. Daneben                                                                         nen seit 1910
     wurden „größere Unglücksfälle des bürgerlichen Lebens,                                                                      [4] Übung der
     Explosion im Hochofenwerk, Eisenbahnunglück auf der Lü-        Sportveranstaltungen und bei Aufführungen des Stadtthea-   Lübecker Sani-
     beck-Schlutuper Strecke“ simuliert. Echte Hilfe gab es bei     ters. Auch beim Ostseehochwasser von 1904 half das Rote      tätskolonnen
     Großveranstaltungen in Lübeck und Travemünde: bei der          Kreuz in Lübeck und Travemünde, indem es Heizmaterialien    in der Palinger
     Einweihung des Elbe-Lübeck-Kanals, beim Volksfest, bei         und Kleidung ausgab.                                          Heide, 1907

22                                                                                                                                                            23
[1]

           1901 hielt der in Lübeck im Ruhestand lebende Konterad-         Kühne pries das Rote Kreuz „als eines der größten Kultur-            [1] Nach der
           miral Heinrich Kühne, der den Aufbau der Sanitätskolonnen       werke des 19. Jahrhunderts“ und erinnerte an den neuen              Übung in der
           förderte, einen Vortrag über „Das Rothe Kreuz, sein Wesen       Friedensnobelpreis, mit dem Henry Dunant gerade aus-             Umgebung von
           und Wirken“. Die Abschaffung von Kriegen, wie es die            gezeichnet worden war. Seinen Vortrag schloss Kühne mit          Schlutup gibt es
           Pazifistin Bertha Suttner forderte, sah er als Utopie. Kriege   dem Aufruf, es sollten sich im Kriegsfall mehr junge Männer              ein Bier
           dagegen würden „die höchsten Menschen- und Bürgertu-            für den Rotkreuz-Verein melden. Denn „durch Betätigung             [2] Übung am
           genden zur Entfaltung bringen“, der Egoismus des Einzelnen      der Liebespflicht freiwilliger Hilfe bei den auf den Schlacht-    Hochofenwerk,
           verschwände im Kriegsfall hinter der Sorge für „das große       feldern blutenden Brüdern“ könne jeder „von blühender                       1908
           Ganze“ und „Heldenmuth, Aufopferung, die reinste, selbst-       Vaterlands- und Menschenliebe beseelte deutsche Jüngling         [3] Liebesgaben
           lose, schmerzlindernde Menschenliebe“ träten dann hervor.       oder Mann“ seine Ehrenpflicht voll und ganz erfüllen.              des Lübecker
           Kühne erläuterte die Bedeutung der Vereine und der Sani-                                                                          Roten Kreuzes
           tätskolonnen vom Roten Kreuz im Kriegsfall, ging aber auch      Zur Vielfalt der zivilen Tätigkeit um 1900 gehörten das Sam-        für die Kolo-
           auf ihre Bedeutung im Frieden und im zivilen Alltag ein – auf   meln von Geldern nach auswärtigen Unglücken, wie es zuvor          nialtruppen in
           die Hilfe bei Unglücken, beim Krankentransport, aber auch       von den Kirchen getätigt wurde. So sammelte das Rote Kreuz         Deutsch-Süd-
           bei der „Bekämpfung des socialen Elends“.                       in Lübeck 1899 für Hochwasser-Geschädigte in Bayern und              west-Afrika,
                                                                           1908 für Hinterbliebene eines Grubenunglücks in Hamm.                 1904 – ein-
                                                                           Gesammelt wurde aber auch aus Anlass militärischer Aus-               schließlich
                                                                           einandersetzungen in den deutschen Kolonien: Umfangreiche              Marzipan
                                                                           „Liebesgaben“ gingen 1900 an das Ostasiatische Expedi-
                                                                           tionskorps, das zur Niederschlagung des Boxeraufstandes
                                                                           nach China gesandt wurde. Noch umfangreicher waren die
                                                                           Sendungen, die 1904/05 an die deutschen Kolonialtruppen
                                                                           in Deutsch-Südwest-Afrika (Namibia) gingen: Diese Spenden
                                                                           aus Lübeck sind mit dem Völkermord an den Stämmen der
                                                                   [2]     Herero und Nama verbunden, deren Angehörige in Kämpfen,                             [3]
                                                                           Konzentrationslagern oder der Wüste umkamen.

      24                                                                                                                                                             25
Bei den genannten Sammlungen, aber auch vielen ande-          Kreuz“. Bis 1905 wurden 65 freiwillige Krankenpflegerinnen
                        ren, war auch der Vaterländische Frauenverein aktiv, von      ausgebildet, die in der Gemeindepflege und als Aushilfen im
                        1872 bis zu ihrem Tod im Jahr 1900 unter dem Vorsitz von      Allgemeinen tätig oder als private Pflegerinnen eingesetzt
                        Emmy Türk. Auf ihre Initiative wurde nach der Hilfe für die   wurden. Zuvor war die Krankenpflege hauptsächlich von
                        Hochwasseropfer (1872) zunächst 1885 die Frauengewer-         evangelischen Diakonissen und den katholischen „grauen
                        beschule in der Wahmstraße 57 als Einrichtung des Frau-       Schwestern“ ausgeführt worden.
                        envereins gegründet und getragen, bis deren Verwaltung
                        1894 auf die Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger      Hinter dem erhöhten Einsatz bei der Ausbildung durch den
                        Tätigkeit überging.                                           Frauenverein stand der staatliche Wunsch, im Kriegsfall

                        „Frauengewerbeschule – Zweck dieser Schule ist, Schülerinnen, die ihre ­
                              allgemeine Schulpflicht gelöst, für das Wirken in der Familie, wie für einen
                         selbstständigen Erwerb mit den erforderlichen Kenntnissen und Fertigkeiten
                          auszurüsten. Gegenstände des Unterrichts sind vorläufig folgende: ­
                        Handarbeit, Maschinennähen, Kleidermachen, Confektion, und praktisches ­
                         Zuschneiden, Putzmachen, Kunststickerei, Kunstgewerbliches, ­
                           Gewerbliches-Zeichnen, Malen auf Holz und Porzellan, Buchführung.“
                              								                                                            Lübeckisches Adressbuch 1886

                        Zudem unterstützte der Frauenverein Opfer von Feuer-,         genügend ausgebildete Pflegekräfte einsetzen zu können.
                        Flut- und Erdbebenunglücken. 1877 gingen aber auch            Die Ausbildung hauptberuflicher Krankenschwestern,
                        Geld- und Sachspenden an die russische Armee, die sich        die in Zusammenarbeit mit dem großen Vereins-Hospi-
                        im Krieg gegen das Osmanische Reich befand. Seit Mitte        tal vom Roten Kreuz in Hamburg erfolgte, begann nur
                        der 1880er Jahre förderte der Frauenverein Samariter-         zögerlich, denn noch fehlte es an einer Möglichkeit zur
     Schwestern-        kurse an der Navigationsschule, bevor dann im Jahr 1900       Unterbringung der Schwestern. Zwar erhielten 1901 drei
     heim und           die Ausbildung von hauptberuflichen Krankenschwestern         Rotkreuz-Schwestern eine Unterkunft in der Fleischhauer-
     erste Klinik des   begann, die im Allgemeinen Krankenhaus (später „Kranken-      straße 75, aber in der Folge war die private Unterbringung
     Lübecker Roten     haus Süd“) und als Gemeindeschwestern tätig wurden.           der Schwestern oft nicht möglich, weil die Vermieter
     Kreuzes in der     1901 gab sich der Frauenverein eine neue Satzung, die         ansteckende Krankheiten befürchteten. 1908 mietete der
     Moltkestraße       mit einer Umbenennung verbunden war: Seitdem erfolgte         Frauenverein daher eine Etage im Haus Moltkestraße 13a,
     13a, 1909          seine Tätigkeit als „Vaterländischer Frauenverein vom Roten   um hier Schwestern unterzubringen.

26                                                                                                                                                  27
Zugleich entstand hier aber auch eine durch die Lübecker       Flickstube ein, in der um die zehn Frauen an mehreren Ta-     aber im Freien. Aufgrund der nach wenigen Wochen er-           [1] Die Wald-
     Ärzte belegte Privatklinik des Vereins, in der Schwestern      gen der Woche Handarbeiten ausführten, „vielfach Witwen,      kennbaren Erfolge bei den ersten Erholung Suchenden           erholungsstät-
     nach der Ausbildung dauerhaft tätig werden konnten. Denn       alte Mütterchen oder Frauen, meist schwächlich, unfähig,      entstand im Jahr darauf eine zweite Walderholungsstätte       ten des Roten
     im Allgemeinen Krankenhaus wurde neben den Diakonissen         schwere körperliche Arbeiten zu verrichten oder durch ihren   für Frauen und zugleich eine Waldschule für Jungen und            Kreuzes in
     zunächst nur eine einzige Schwester vom Roten Kreuz ein-       Hausstand verhindert, ganze Tage auf Arbeit zu gehen“. Die    Mädchen aus armen und kinderreichen Familien. Die             Wesloe, Karte
     gesetzt, und nur in der Badesaison stellte der Frauenverein    Näh- und Flickstube wurde mit Geld- und Sachspenden           Lübeck-Büchener Eisenbahn unterstützte das Vorhaben,               von 1925
     eine Schwester zur Betreuung der Badegäste in Travemün-        unterstützt und bestand mit bescheidenem Erfolg zunächst      ­indem sie vergünstigte Fahrkarten anbot und auf der Stre-      [2] Personal
     de. Die Privatklinik mit den 16 Betten und einem Operations-   bis 1911, wurde aber im Ersten Weltkrieg unter anderen        cke nach Schlutup einen Extrahalt einlegte.                    und Kinder in
     saal brachte einen deutlichen Schub bei der Professiona-       Bedingungen reaktiviert, um Kleidung und Lazarettwäsche                                                                    der Waldschule,
     lisierung der Krankenpflege durch Angehörige des Roten         zu nähen und zu reparieren.                                                                                                          1912    [1]
     Kreuzes; schon im Jahr darauf mietete der Verein auch den
     Rest des Hauses. Der wiederholte Versuch, ein eigenes grö-     Im Bereich der Gesundheitspflege wurde der Vaterländische
     ßeres Rotkreuz-Krankenhaus zu errichten, gelang erst unter     Frauenverein nach 1900 vor allem bei der Tuberkulose-
     anderen Rahmenbedingungen in den späten 1930er Jahren.         vorsorge und -bekämpfung tätig. Auf Anregung des Ver-                                                                                              [2]
                                                                    waltungsdirektors der Berliner Charité Ernst Pütter und des
     Nach 1900 wurde der Frauenverein zunehmend auch                preußischen Medizinalrates Rudolph Lennhoff entstand mit
     bei der Bekämpfung des „socialen Elends“ in Lübeck             Unterstützung der Landesversicherungsanstalt der Hanse-
     tätig, statt Gelder nur für auswärtige Unglücksopfer und       städte, der Ortskrankenkasse und des Armenkollegiums im
     einige Soldatenwitwen aufzuwenden. Anfang 1903 rich-           Sommer 1907 eine Walderholungsstätte für Männer. Sie lag
     tete der Frauenverein im Evangelischen Vereinsheim             im Wesloer Forst, unweit der Försterei und bot eine ein-
     (Fischstraße 17) mit Unterstützung der Gesellschaft zur        fache, aber schnell wirkende Hilfe durch Besuche bei Tag;
     Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit eine Näh- und             eine Baracke diente zur Versorgung, der Aufenthalt erfolgte

         „Der vaterländische Frauenverein unternimmt ein gemeinnütziges Werk,
           daß wir der besonderen Beachtung und Unterstützung empfehlen möchten.
          Um der drohenden Arbeitslosigkeit vorzubeugen, soll eine Flick- und N     ­ ähstube
           eingerichtet werden, in der bedürftige Frauen und Jungfrauen Gelegenheit
          zu Nebenverdienst finden können. Um sein Vorhaben durchführen zu können,
         bedarf der Verein der thätigen Mitwirkung der Bevölkerung. Wir wünschen
            dem Unternehmen den besten Erfolg.“		          Lübeckische Blätter, 30.11.1902

28                                                                                                                                                                                                                           29
»Es ging zur
     Walderholungsstätte,
dieser neuesten, ­
   hoffentlich recht segens-
reich ­wirkenden Schöpfung
  des Lübecker
        Roten Kreuzes«
 Vaterstädtische Blätter, 28.7.1907

                                      Eröffnung der
                                      Walderholungs­
                                      stätte für
                                      ­Männer, 1907

                                                       31
Die Eröffnung der beiden Einrichtungen im Mai 1908 erzielte        Stunde schwedische Gymnastik in drei Abteilungen geübt.                                       Sommerfest in
     hohe Aufmerksamkeit: „Welch gewaltigen Widerhall diese             Die Anschauungs- und Naturgeschichtsstunden wurden                                            der Arbeitergar-
     Art der Fürsorge bei unserer Bevölkerung gefunden hat, da-         durch Ausflüge ergänzt, der Geographieunterricht durch                                        ten-Anlage am
     von gab der Verlauf des Sonntags einen Beweis. Eine nach           Herstellung von Reliefs veranschaulicht. Für die Geschichts-                                 Steinrader Weg,
     mehreren Tausenden zählende Volksmenge, bei der man                stunde dienten die Übungen der Ludwigsluster Dragoner                                                    1911
     ohne Einschränkung sagen konnte, daß sie sich aus allen            [berittene Soldaten] und die Ausführung der Schlacht von
     Kreisen der Bevölkerung zusammensetzte, durchflutete die           Sedan [von den Deutschen gewonnene Schlacht bei Sedan
     Waldpartien, in denen die Bauten ihre Ausstellung gefunden         in Frankreich, 2.9.1870] durch alle Kinder zur Belebung.
     haben. Es war für Verpflegung durch die Damen vom, ’Ro-           Für Handarbeiten ließ das herrliche Wetter weniger Zeit. Die
     ten Kreuz‘ gesorgt, man hatte sich auf die Darreichung von         glühende Hitze verhinderte zwar weitere Ferienausflüge,
     Kaffee an 1.000 Personen gerichtet, aber mindestens 3.000          schadete aber den täglichen Luftbädern keineswegs. Auch         „Wer auf einem Spaziergange vom alten Eisenbahndamm aus die junge ­
     kamen und wollten Einblick nehmen und möglichst unter              die neue Bibliothek kam gelegentlich zu ihrem Rechte. Der          Gartenkolonie mit ihren vielen schmucken Gartenhäuschen, roten Dächern,
     dem Blätterdache den Nachmittags-Kaffee trinken.“ Und              fleißige Gartenbau litt unter der Dürre des Sandbodens und
                                                                                                                                          den vom Hauptvorstande geschenkten Rote-Kreuz-Fähnchen, den
     zufrieden stellte der Redakteur der Vaterstädtischen Blätter       dem allabendlichen Versiegen des Brunnens. Trotzdem gab
     fest: „Wir schreiten vorwärts in der sozialen Fürsorge für        es in diesem Jahr zum erstenmal Wurzeln und reife Tomaten.“         wohlgepflegten Beeten und der munteren Kinderschar – unser Neu-Lübeck
     unsere Mitmenschen.“ Der sozialen Vorsorge diente auch                                                                             – überblickt, der wird sich der Überzeugung nicht verschließen, daß hier eine
     die „Auskunfts- und Fürsorgestelle für Lungenkranke“ des           Wurzeln und Tomaten konnten auch in den Arbeitergär-
                                                                                                                                           Schöpfung ins Leben getreten ist, die für die Volkswohlfahrt in ­wirtschaftlicher,
     Frauenvereins. Sie führte kostenfreie Untersuchungen durch         ten vom Roten Kreuz geerntet werden. Erste Kleingär-
     und prüfte die hygienischen Verhältnisse in Wohnungen,             ten waren bereits 1903 am Heiligen-Geist-Kamp durch              gesundheitlicher und erziehlicher Hinsicht von großer Bedeutung ist. Gelingt
     wobei man auch an die damaligen Verhältnisse in vielen             das Heiligen-Geist-Hospital an eher bürgerliche Pächter            es doch mit Hilfe der Gärten, die Schäden mangelhafter, vielfach schwer zu
     Gängen der Lübecker Altstadt denken muss. Bei Bedarf               vergeben worden, die Selbstversorgung war hier nicht er-          beseitigender Wohnverhältnisse zu mildern und auszugleichen, kranke,
     führte die Fürsorgestelle Desinfektionen durch, unterstützte       laubt. Die erste Anlage des Vaterländischen Frauenvereins
                                                                                                                                            schwächliche und erholungsbedürftige Personen zu kräftigen und wieder
     mit Nahrung und Kleidung und half bei der Vermittlung einer        entstand 1908 auf Initiative des Leiters der Landesver-
     gesünderen Wohnung.                                                sicherungsanstalt Alwin Bielefeldt (von dem später noch         erwerbsfähig zu machen, sowie die wirtschaftliche Lebenshaltung breiter
                                                                        zu berichten ist) an der heutigen Possehlstraße, die bis          Volksschichten so zu verbessern, daß selbst kinderreiche, bedürftige Familien
     Die Waldschule, die mit Unterbrechungen bis Ende der               dahin als Bahndamm gedient hatte. Mit der Eröffnung des
                                                                                                                                        der Armenverwaltung nicht zur Last fallen. Dazu kommt, daß durch den
     1930er Jahre in den Sommermonaten betrieben wurde,                 neuen Bahnhofs wurde aus dem Bahndamm eine Straße,
     hatte mit ihrer Tätigkeit in der freien Natur ein ganzheitliches   über die das neue Gartengelände zwischen Kanal und                Gartenaufenthalt die Männer von Wirtshausbesuch abgelenkt, die Kinder dem
     und für damalige Verhältnisse modernes Konzept: „Außer             Geniner Straße erschlossen werden konnte. Unter Vorsitz          verderblichen Einfluss der Straßen und Hilfe entzogen und den Eltern näher
     den Elementarunterrichtsgegenständen wurde täglich eine            von Wilhelmine Possehl, der Frau des Kaufmanns und                      gebracht, der Sinn für eigene Betätigung bei jung und alt geweckt und
                                                                        Senators Emil Possehl, konnte der Frauenverein das acht
                                                                                                                                           überhaupt die Lebensgewohnheiten der weniger bemittelten Volkskreise
                                                                        Hektar große Grundstück auf zehn Jahre pachten und
                                                                        dort 231 je 300 Quadratmeter große Gärten einrichten.                veredelt werden.“ 				                  Vaterländischer Frauenverein, Bericht 1908

32                                                                                                                                                                                                                                33
Die Gärten wurden verlost, an erster Stelle aber erhielten         Die Arbeiter-
     „kranke, erholungsbedürftige und kinderreiche Arbeiterfami-     gärten zwischen
     lien“ einen der Gärten – die erstnutzenden Familien hatten        dem Elbe-Lü-
     zusammen rund 700 Kinder.                                          beck-Kanal,
                                                                        der heutigen
     Ein Garteninspektor stand den Neugärtnern mit seinem             Possehlstraße
     Wissen zur Verfügung, zahlreiche Personen und Firmen            und der Geniner
     unterstützen die Einrichtung der Anlage. Aus Berlin kamen        Straße. Frühes
     erhebliche Mittel vom „Zentralverband deutscher Arbeiter-          Luftbild, auf-
     und Schrebergärten“, die Gesellschaft zur Beförderung           genommen aus
     gemeinnütziger Tätigkeit und die Landesversicherungsan-          dem Luftschiff
     stalt halfen. Gartentonnen wurden gestiftet, und die „Herren     „Hansa“, 1912
     Bäckermeister Junge und Maurermeister Wandke erfreuten
     den Vorstand durch Stiftung eines geschmackvollen Vor-
     standspavillons“. Für die Spielplätze kamen Turngeräte als
     Geschenk, eine Sanitätskolonne half beim Zaun- und We-
     gebau, der Verein gegen den Missbrauch geistiger Geträn-
     ke errichtete eine Milch- und Kaffeehalle. Es war ein Projekt
     mit gesamtstädtischer Teilnahme, denn es hatte einen
     Zweck, der über frische Luft und etwas Selbstversorgung
     hinausging – obwohl gerade der letzte Aspekt im wenige
     Jahre später beginnenden Ersten Weltkrieg natürlich von
     besonderer Bedeutung für die Pächterfamilien werden soll-
     te. Die Arbeiter-Gartenanlage zwischen Kanal und Geniner
     Straße war die erste des Roten Kreuzes, eine zweite ent-
     stand 1910 am Steinrader Weg, weitere nach 1918.

34                                                                                       35
Erster Weltkrieg
     1914 –1918                                                                                                                     Mit der Mobilmachung des Deutschen Reiches am 1. August
                                                                                                                                    1914 löste sich „wie ein elektrischer Schlag die angstvolle
                                                                                                                                    Spannung der letzten Wochen“ – die diplomatische Krise

     Als im Sommer 1914 der Krieg beginnt, der bald halb Europa erfasst, ist das   „Bei der gewaltig gesteigerten Zahl der Streiter und der hoch entwickelten ­
     Rote Kreuz in Lübeck nach langen Jahren des Übens bereit. Es kann geholfen        Technik der Feuerwaffen werden in diesem Kampfe die Verluste schwerer
     werden – deutschen Soldaten und deutschen Flüchtlingen.                         sein als je zuvor“ 		                 Die Kriegsarbeit des Roten Kreuzes in Lübeck, 1916

                                                                                                                                    seit dem Attentat in Sarajevo ging über in den Krieg. Für das
                                                                                                                                    Rote Kreuz, auch in Lübeck, bedeutete das die Inkraftset-
                                                                                                                                    zung der „Kriegsverfassung“, die schon 1902 auf Reichsebe-
                                                                                                                                    ne für alle Rotkreuz-Vereine beschlossen worden war.
                            [1]                                                                           [2]
                                                                                                                                    Der Lübecker Mobilmachungsplan bezog die beiden loka-
                                                                                                                                    len Vereine ein, deren Kriegsarbeit dem Territorialdelegierten
                                                                                                                                    Senator Arthur Kulenkamp als Vertreter des kaiserlichen
                                                                                                                                    Kommissars für die freiwillige Krankenpflege unterstellt
                                                                                                                                    war. Die Bildung eines Finanzausschusses war die erste
                                                                                                                                    Handlung, die Einrichtung einer Geschäftsstelle für die
                                                                                                                                    Rotkreuz-Arbeit im Krieg die zweite. Und sofort „nach der
                                                                                                                                    Mobilmachung wurde die Schwesternschaft durch die Frau
                                                                                                                                    Oberin kriegsmäßig organisiert“ hielt der Tätigkeitsbericht
                     [1] Das Rote                                                                                                   des Lübecker Roten Kreuzes für 1914 / 15 fest.
                   Kreuz war jetzt
                 auch telefonisch                                                                                                   Der am 3. August gebildete Finanzausschuss richtete
                     zu erreichen:                                                                                                  Konten ein, auf denen die zahlreichen und andauernden
                    Briefkopf der                                                                                                   Geldspenden verbucht werden konnten – zur Unterstüt-
                      Zentrale im                                                                                                   zung „der todesmutigen Krieger, der Gatten, Söhne und
                      Logenhaus                                                                                   [2] Lübecker      Brüder“ aus Lübeck. Schon wenige Tage nach dem ersten
                                                                                                                  Militär auf dem   Aufruf des Senates, der Bürgerschaft, des Roten Kreuzes
                                                                                                                  Weg zum Bahn-     und der Kriegervereine waren 100.000 Mark eingegangen,
                                                                                                                  hof, August       bis Ende 1914 rund 300.000 Mark und Ende 1915 etwas
                                                                                                                  1914              über 517.000 Mark.

36                                                                                                                                                                                                   37
Nicht alle Spenden kamen auf dem Bankweg: Die Stra-
                       ßensammlungen durch die Rotkreuz-Vereine, denen sich
                       die Kriegervereines anschlossen, brachten regelmäßig
     [1] Eiserner      Gelder ein. Neben den Tagessammlungen bildete die
     Adler, Spenden-   Vervollständigung eines Lübecker Adlers als „Nagelbild“
     postkarte, 1915   eine wichtige Spendenquelle: Unter den Arkaden des Rat-
                       hauses war ab 1915 ein gezeichneter, dreieinhalb Meter
                       hoher Adler auf einer Holzplatte zu sehen, dessen Umrisse
        [1]            und Fläche gegen Spenden benagelt werden durften.
                       Vorbild für die Aktion, die mit unterschiedlichen Motiven
                       in Deutschland und Österreich-Ungarn umgesetzt wurde,
                       war die hölzerne Skulptur eines Ritters in Wien. Sie war
                       bereits wenige Tage nach Beginn des Krieges im August
                       1914 aufgestellt worden.

                       Der Lübecker Adler durfte in Schwarz, Rot, Weiß und Gold
                       benagelt werden – je nach der Spende: Schon Schüler
                       konnten schwarze Nägel für 50 Pfennig einschlagen, die
                       goldgefärbten dagegen kosteten 10 Mark das Stück.                                                                                                [2]
                       Noch teurer waren goldene Nägel mit dem Namen des
                       Stifters – und davon gab es viele, denn die Begeisterung
                       zog sich durch den Großteil der Bevölkerung, die sich in     Wie schon in den Einigungs- und Kolonialkriegen gehörte     [2] Eine ­Gruppe
                       dem Gemeinschaftswerk verewigen wollte: „Wenn der            die Versorgung der Soldaten an der Front mit zusätzlichen    Soldaten nach
                       Doppeladler ganz in einen eisernen verwandelt ist, wird      Lebensmitteln und mit Genussmitteln, mit Kleidung und             der Bena-
                       er späteren Geschlechtern von den von uns durchlebten        Lektüre zu den wichtigen und öffentlichkeitsstarken Auf-         gelung des
                       Zeiten künden, so wie uns die eisernen Schmucksachen        gaben des Roten Kreuzes: als Beitrag der „Heimatfront“      Eisernen Adlers,
                       von 1813 erzählen.“                                          zur Ergänzung der Grundversorgung durch den militäri-             21.9.1915
                                                                                    schen Apparat. Die Freimaurerloge „Zum Füllhorn“ stellte
                       Vor dem Krieg hatte den Vereinen des Roten Kreuzes           für die Arbeit des Roten Kreuzes deshalb zwei Räume im
                       das Haus in der Schildstraße 10, wo die Sanitätskolonne      Logenhaus an der Ecke St. Annen-Straße / Schildstraße zur
                       Material lagerte, zur Erfüllung der Aufgaben genügt. Jetzt   Verfügung. Außer der Geschäftsstelle kamen im Logenhaus
                       aber kamen neue Aufgaben hinzu, Schriftverkehr musste        auch die Abteilungen Hauspflege und die Nähstube unter.
                       erledigt werden, und die zahlreichen Liebesgaben mussten     Mit den wachsenden Aufgaben erhielt das Rote Kreuz nach
                       angenommen, sortiert, verpackt und versendet werden.         und nach das gesamte Logenhaus zur Verfügung gestellt.

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[2]

           Ein kleinerer Teil der gesammelten Liebesgaben ging an        Übernachtungen betreuten. Soldaten, die in den Lübecker              [1] Sortieren und
           die Lazarette in Lübeck, der größere ging mit der Bahn an     Lazaretten versorgt werden sollten, wurden von den Sani-              Verpacken von
           die Fronten im Osten und Westen. Der Bahnhof bildete          tätskolonnen betreut, die sich fast zwei Jahrzehnte lang auf            Liebesgaben
           auch sonst einen zentralen Ort der Rotkreuz-Arbeit. Der       diesen Ernstfall vorbereitet hatten. Für den Transport vom             im Börsensaal
           Transport von Soldaten erfolgte weitgehend mit der Bahn.      Bahnhof aus dienten einige privat zur Verfügung gestellte             des Rathauses,
           Dementsprechend häufig trafen Truppentransporte, Grup-        Autos. Wichtigstes Transportmittel aber wurden einige Wa-                        1914
           pen und einzelne Soldaten auf dem Weg zur Front oder in       gen der Lübecker Straßenbahn, denn die großen Lazarette              [2] Straßenbahn
           die Heimat am Bahnhof ein.                                    waren alle entlang ihrer Strecken zu erreichen.                        zwischen den
                                                                                                                                                 Lazarettbara-
           Während des ganzen Krieges gab es deshalb am neuen            Auf dem Burgfeld, wo ein großes Barackenlager entstand,                 cken auf dem
           Bahnhof (der 1909 eröffnet worden war) den Bahnhofs-          führte ein eigenes Gleis von der Travemünder Allee in das               Burgfeld, um
           dienst, der für die Versorgung der Soldaten sorgte. Für den   Lager hinein. Die Sitzbänke waren aus den Wagen der                          1914/15
           Sanitätsdienst wurden Rotkreuz-Helferinnen am Bahnhof         Straßenbahn entfernt und dafür Gestelle für Tragen einge-
           stationiert, die bei leicht verwundeten Soldaten auf der      baut worden.
           Durchreise die Verbände wechselten sowie die Räume für

[1]                                                                                                                                     [3]                                        [4]

                                                                                                                                               [3] Das Logen-      [4] Sanitäts-
                                                                                                                                                  haus an der     kolonne und
                                                                                                                                                    St. Annen-­   umgerüstete
                                                                                                                                                  Straße, 1915    Straßenbahn,
                                                                                                                                                                          1914

      40                                                                                                                                                                                 41
[1] Posieren für
                               den Fotografen
                               – Schwestern,
                               Arzt und Patient
                               [2] Helferinnen
                               beim Küchen-
                               dienst – Aus-
                         [1]   nehmen von
                               Fischen

     [2]

              [3]                                                                                                                                                                  [4]

           [3] Die St.         [4] Auch die       Die Lazarette selbst waren alle militärische Einrichtungen,   des Vaterländischen Frauenvereins stellte Pflegekräfte,
           Lorenz-Schule       Privatklinik des   für die der Vaterländische Frauenverein hauptberufliche       Wäsche wurde vom Verein geliefert und gereinigt. Auch die
           in der Schwar-      Roten Kreuzes      Schwestern und freiwillige Hilfsschwestern abordnete.         Küchen wurden vom Roten Kreuz bewirtschaftet. Bezahlt
           tauer Allee als     in der Moltke-     Außer dem Burgfeldlazarett waren das vor allem die Volks-     wurde der Lazarettbetrieb vollständig aus Mitteln der Mili-
           Lazarett, 1916      straße wurde       schule an der Schwartauer Allee und die Mittelschule am       tärbehörde, so dass das Rote Kreuz keine eigenen Mittel
                               zum Reserve-       Marquardplatz. Diese Reservelazarette (im Gegensatz zu        aufwenden musste.
                               lazarett           den Etappenlazaretten hinter den Fronten) wurden per
                                                  Vertrag vom Roten Kreuz mitbetreut: Die Schwesternschaft

42                                                                                                                                                                            43
[2]

     Anders sah es beim „rollenden“ Lazarett aus, dem „Vereins-   te dort besser versorgt werden – um nach der Genesung             [1] Erste Abfahrt
     lazarettzug N 1“, der vom Lübecker Roten Kreuz aus Spen-     wieder an die Front geschickt zu werden: „die schnelle,             des Lübecker
     den finanziert wurde. Nach Vorgaben der Medizinischen        unter günstigen Bedingungen erfolgende Überführung der             Lazarettzuges,
     Abteilung des Kriegsministeriums finanzierten Vereine und    Verwundeten in die Heimat trägt neben der Geschicklich-               27. Oktober
     vermögende Privatpersonen „Verwundetentransportzüge“,        keit und der Erfahrung unserer vorzüglichsten Chirurgen           1914, 12.12 Uhr
     die später auch mit Operationsabteilen versehen wurden.      das Beste dazu bei, daß der größte Teil von ihnen zur vollen        [2] Schwester
     258 Soldaten, betreut vom 46-köpfigen Stammpersonal,         Wiederherstellung gelangt und von neuem dem Vaterlande              und Patienten
     sollten nach der Norm transportiert werden können. Den       seine Kräfte widmen kann.“                                            im Lazarett-
     Ausbau der beschafften Wagen nahmen in Lübeck die                                                                                   schiff, 1916
     Angehörigen der Sanitätskolonnen vor, das Drägerwerk         Außer dem „rollenden“ Lazarett gab es in Lübeck auch
     und die Lübeck-Büchener Eisenbahn halfen. Der Lübecker       noch ein schwimmendes: der Kaiserliche Motoryacht-Club
     Zug unternahm zwischen Oktober 1914 und Januar 1919          richtete im Mai 1916 mit Spenden einen alten Elbraddamp-
     insgesamt 93 Fahrten in die Etappen im Westen und im         fer zur Verwundetenversorgung ein und übergab ihn als
     Osten, um von dort 16.831 Verwundete nach Lübeck und         Lazarettschiff „Stuttgart“ an die Militärverwaltung. Das Schiff
     in andere deutsche Städte zu bringen. Wer als Verwundeter    wurde nahe der Wipperbrücke festgemacht und konnte
     mit dem Zug in ein Reservelazarett gebracht wurde, konn-     76 Patienten aufnehmen.

                                                                                                                                                              [3]

                                                                                                                                                                    [3] Lazarett-
                                                                                                                                                                    schiff an der
        [1]                                                                                                                                                         Wipperbrücke,
                                                                                                                                                                    1916

44                                                                                                                                                                                  45
[1] Bearbeitung                                                                                                                                                                 [3]
        der Kriegsge-
       fangenenpost
      im Logenhaus,
             1914 / 15

                              [1]                                                                                                     [2]

     Von der Schwesternschaft des Vaterländischen Frauenver-       Während das Soldatenheim in Kurland noch kämpfende             [2] Alliierte    das Interna-        [3] [4] Sze-
     eins wurden noch im August 1914 fünf Krankenschwes-           Soldaten betreute, kümmerte sich die Kriegsschreibstu-         Kriegsgefan-     tionale Komitee   nen aus dem
     tern aus Lübeck in die Etappe im Westen gesandt; an der       be im Logenhaus in Lübeck um die Verbindung auch zu            genenpost von    vom Roten         Soldatenheim
     Fronst selbst kam nur militärisches Sanitätspersonal zum      gefangenen Soldaten. Zu Beginn des Krieges hatte die           1915, gesendet   Kreuz in Genf       in Berghof,
     Einsatz. Weitere Schwestern folgten im Oktober. Zwei von      Schreibstube vor allem dabei geholfen, die Feldpost auf die    aus Lübeck an                          1916/17
     ihnen wurden hinter der Westfront eingesetzt, zwei andere     richtigen Wege zu bringen. Nach den ersten Monaten ent-
     im Lazarettzug. Die meisten Lübecker Schwestern aber          wickelte sich daraus eine Auskunfts- und Beratungsstelle
     blieben vor Ort und arbeiteten im Allgemeinen Kranken-        für Verwundete und Vermisste und schließlich die Anlauf-
     haus, in den Lazaretten und in der Klinik in der Moltke-      stelle für die Gefangenenpost, die über das Internationale         [4]
     straße. Insgesamt betreuten die 30 Schwestern, 6 Hilfs-       Komitee des Roten Kreuzes in Genf, das Prisoners of War
     schwestern und 55 Helferinnen rund 1.800 Betten (1915).       Information Bureau in London, das Dänische und das Rus-
     Die Ausbildung weiterer Schwestern wurde während des          sische Rote Kreuz abgewickelt wurde. Das Rote Kreuz in
     Krieges weitergeführt und ausgebaut.                          Lübeck kümmerte sich aber nur um deutsche Gefangene,
                                                                   mit den Kriegsgefangenen der Gegnerstaaten gab es keine
     In dem kleinen Ort Berghof (heute Lacplesis in Lettland)      Berührungspunkte. Über die Kriegsschreibstube gingen
     richtete der Vaterländische Frauenverein Anfang 1916 ein      außer privaten Briefen und Paketen auch Liebesgaben des
     Soldatenheim ein, das der Betreuung von Soldaten in der       Roten Kreuzes in die Gefangenenlager. Die Zahl der von
     Etappe gewidmet und von Schwestern aus Lübeck betreut         Lübeck aus betreuten Soldaten war überschaubar: Bis
     wurde. Vorrangige Aufgabe war die Versorgung von durch-       Ende 1915 waren es 354, aber ihre Verteilung auf Lager in
     reisenden Soldaten, aber auch Vortrags- und Musikabende       Europa, Sibirien, in Afrika und Japan zeigt die globale Aus-
     wurden hier abgehalten, dazu Gottesdienste mit Feldgeistli-   dehnung des ursprünglich europäischen Krieges.
     chen: evangelische, katholische und jüdische.

46                                                                                                                                                                                          47
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