Spurensuche - 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges
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Spurensuche – 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges Eine Pädagogische Handreichung des Landesverbandes Bayern im Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. „Dieser Krieg war ein historisch beispielloser kriegstote, Opfer des NS-Terrorregimes, in Folge von Angriff auf die Menschlichkeit, eine Zerstörung Flucht und Vertreibung Verstorbene, ebenso wie aus- ländische Kriegsgefangene. Zahlreiche dieser außer- aller kulturellen Ideale, die die Aufklärung schulischen Lernorte sind in besonderer Weise dazu hervorgebracht hatte, ein Absturz, wie es ihn geeignet, fachliche Inhalte der historisch-politischen bis dahin nicht gegeben hatte.“ (Ian Kershaw) Bildung über konkrete Anschauung und die dort er- fahrbare Authentizität zu vertiefen. Auch Berichte von Zeitzeugen haben eine eigene, Vor 75 Jahren, am 8. Mai 1945, endete der Zweite hohe Authentizität. Zugleich stärkt die Erfahrbarkeit Weltkrieg in Europa. In Asien und auf dem Pazifik unterschiedlicher Perspektiven und deren Reflexion tobte er weiter bis zum 2. September 1945. Minde- die politische Urteilsbildung der Schülerinnen und stens 55 Millionen Tote, mehr als die Hälfte von ih- Schüler und fördert Empathie. Die Kriegs- und Er- nen Zivilisten, waren zu beklagen. 1945 ist zweifel- lebnisgeneration hat inzwischen das 90. Lebensjahr los ein Epochenjahr, das für die zweite Hälfte des 20. deutlich überschritten und verstummt zusehends. Jahrhunderts bis zum Fall der Mauer 1989 und dem Die Suche nach Zeitzeugen, die in der Lage und bereit Ende des Kalten Krieges bestimmend war und bis in sind, über die Zeit von 1939 bis 1945 zu berichten, die Gegenwart nachwirkt. gestaltet sich mittlerweile außerordentlich schwierig Für heutige Jugendliche liegt der Zweite Welt- und unterstreicht die Notwendigkeit der Fokussie- krieg jenseits ihres zeitgeschichtlichen Horizontes; rung auf Einzelschicksale und eine intensive Quel- auch ihre Eltern und Großeltern haben ihn nicht lenarbeit (Feldpostbriefe u. ä.). Die vorliegende Pu- mehr miterlebt. Schülerinnen und Schüler wün- blikation wurde durch ehrenamtliche Mitglieder des schen sich einen lebendigen Geschichtsunterricht. Pädagogischen Landesbeirates und hauptamtliche Der Themenkomplex „Zweiter Weltkrieg und Na- Mitarbeiter des Landesverbandes Bayern erstellt. Ih- tionalsozialismus“ stößt in der jetzt vierten Gene- nen sei für ihr Engagement im Sinne unseres Mottos ration, Schulart unabhängig und auch bei Schüle- „Gemeinsam für den Frieden“ herzlich gedankt. rinnen und Schülern mit Migrationshintergrund, Das Autorenteam will die Leserinnen und Leser dazu auf reges Interesse. Dies belegen aktuelle Studi- anregen, sich auf die Suche nach den Spuren zu be- en und deckt sich auch mit den Erfahrungen, die geben, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hat – im der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. lokalen und regionalen Umfeld, in der eigenen Fami- in seiner Jugend-, Schul- und Bildungsarbeit seit Jah- lienbiographie, im kollek tiven Gedächtnis unseres ren macht. Landes. Anschaulichkeit ist der Schlüssel des Zugangs zu der Jörg Raab Thematik – sowohl bei Schülerinnen und Schülern, als auch bei den Lehrkräften. Der Wunsch, das kon- kret sehen zu können, was im Unterricht gelernt bzw. gelehrt wurde, ist ein ausschlaggebendes Argument Kriegsgräber- und Gedenkstätten zu besuchen. In Bayern ruhen an 350 Orten über 208.000 Tote von Krieg und Gewaltherrschaft: in den Endkämpfen gefallene oder in den Heimatlazaretten ihren Ver- wundungen erlegene deutsche Soldaten, zivile Luft- Landesverband Bayern 2019 1
Spurensuche – 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges Spurensuche und Erzählung – Historisches Lernen an Kriegsgräberstätten Geschichte lernen kann man überall: In der Schule schämt sich, dass die europäische Menschheit nicht oder im Seminar, auf der Straße, in Kirche und Thea- auch ohne die Kenntnis des absoluten Negativums ter, auf freiem Feld, während eines Besuchs bei den zu einem Miteinander und Füreinander gefunden Großeltern, an einem Gedenkort. Die Lebenswelt von hat. Aber die Lehre der Geschichte anzunehmen, jungen Menschen ist prall gefüllt mit Zeichen und kann zumindest frühere Fehler ausgleichen und ei- Spuren der Vergangenheit, die nur auf Entdeckung nen Weg in die Zukunft weisen. warten. Aber Friedhöfe – diesem letzten Ort, wo- Junge Menschen in Deutschland indes wissen nach hin es junge Menschen natürlicherweise zieht? Sol so vielen Jahrzehnten zum Glück nur wenig von Krieg datenfriedhöfe mit ihrer strengen Gestaltung, den und Kampf. Aber einerseits werden aktuelle Konflik- lastenden Mahnmälern und schweren Sinnsprüchen, te in anderen Teilen der Erde mit all ihrem Horror die allesamt eher von einem unbefreiten Verhältnis und ihrer Gewalt unablässig durch die Medien ver- zum Tod künden? mittelt. Und andererseits sitzen in unseren Klassen- Und doch sind die Gräberstätten, die der Volksbund zimmern die wohl behüteten Mädchen und Jungen Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. betreut, Lernorte. zunehmend mit Gleichaltrigen zusammen, die selbst Nun gibt es in Europa monumentale zivile Friedhöfe, bereits anderenorts Einiges von Flucht und Vertrei- die, manchmal mit großem künstlerischen Aufwand, bung, Zwang und Bedrängung, Einschüchterung und mehr vom Leben, von Leistung, Erfolg, Sinnenfreude Bedrohung erfahren haben oder in deren Familien erzählen als vom Sterben; man kann sie, getröstet, man über solche schrecklichen Geschichten spricht. fast heiter durchstreifen. Kriegsgräberstätten jedoch Gemeinsam hört man Nachrichten von politischem sind anders. Die hier liegen werden nicht nur betrau- Streit in der Welt, Großmachtstreben, Klimawandel, ert, sie mahnen. Denn ihr Tod kam nicht von Natur atomarer Gefahr; auch unter Jugendlichen nehmen aus. Kriegsgräberstätten erzählen von zu früh abge- dieser Tage Gefühle von Besorgnis, Unsicherheit, brochenem und beendetem Leben, von Gewalt und Desorientierung zu. Und dann gibt es da den Ge- Unrecht, von etwas, das gegen die Natur ist. Genau schichtsunterricht. In ihm untersucht man den Ma- deswegen sind die Geschichten, die mit diesen Orten krokosmos der Vergangenheit, wie die Menschen verknüpft sind, so hörenswert, lehrreich und voller zu allen Zeiten nach Frieden und Wohlsein suchten Bedeutung. und doch, weil andere es nicht zuließen, in Disput und Konflikt miteinander gerieten. Das Schlimmste Über die einhundert Jahre seines Bestehens hat der war immer der Krieg. Er forderte Menschenleben, Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge so manche machte Kultur und Recht zunichte; er zerstörte Fa- Begründung für sein Tun gefunden: Trauer und Trös milien, Hoffnungen und Planungen. Er tat dies meist tung, Aufklärung und Mahnung, Abschreckung und so gründlich, dass aus dem einen immer schon der Warnung. Eine Art von Lernen gehörte von Beginn an nächste Kampf erwuchs. Nie gab es ein Ende. All die dazu. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg erschraken Gewalt schien so normal, dass man überhaupt erst ja die Gegner darüber, was sie angerichtet hatten: vor wenig mehr als hundert Jahren anfing, die Toten getötet und gemordet, zerstört und gebrandschatzt, der Kriege geordnet und eigens zu begraben. Und da- gedemütigt und entehrt. Das sollte und durfte sich mit begann das Zeitalter des Bedenkens, des Geden- nicht wiederholen. Ein echter Lerneffekt stellte sich kens, des historischen Lernens. indessen erst nach der abgrundtiefen Erfahrung des Zweiten Weltkriegs ein. Dieses Lernen hält bis heute Die 832 Kriegsgräberstätten, die der Volksbund heu- an. Das friedlich und schiedlich versammelte, zu te betreut, sollen also nicht mehr, wie womöglich großen Teilen sogar geeinte und integrierte Europa ehedem, unpersönlich an „Schlachten“ erinnern, ist ohne die politischen, materiellen und seelischen sondern sie sind deswegen moderne Lernorte, weil Verheerungen der Weltkriege nicht denkbar. Man sie damalige Menschen im Erleben des Krieges in 2 Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.
den Mittelpunkt stellen. Sicher begegnen wir auf Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge bemüht den Gräberfeldern mehrheitlich gefallenen Solda- sich heute stärker denn je im Angesicht solch kriti- ten, aber daneben eben auch Zivilisten, Opfern von scher Rückfragen um zivilgesellschaftlich integrative Massakern, von Bombardierungen. Immer jedoch Positionen. Antworten wird er in der konkreten Aus- verweisen die Grabmäler – viele ja namenlos über gestaltung seiner Friedhöfe als Feldern der Erinne- untrennbaren Gebeinen in Gemengelage – auf die rung finden. Die Lokalität des Gedenkens ist dafür erwähnten zu kurz gekommenen Geschichten. Jeder Voraussetzung. Kriegstote übergibt deswegen an die Lebenden die Bayern ist ein Land, das allerorts um Wohlstand und Aufgabe, das Wesen des Krieges und die Möglichkeit Frieden beneidet wird. Aber es ist auch ein Land des Friedens zu ergründen, mithin die abgebroche- mit einer kriegerischen Geschichte. Bayern kämpf- nen Erzählungen weiterzuführen. Kritische Reflexion ten über die letzten Jahrhunderte an vielen Orten aus der zeitlichen Distanz ist für dieses Ziel genau- Europas, und Kriegsgefangene aus der ganzen Welt so vonnöten wie der Versuch von Empathie. Einem mit allen erdenklichen Hautfarben, kulturellen Prä- Flüchtling aus Syrien oder Afghanistan, dem Ur-Enkel gungen, eigenen Einschätzungen und Erinnerungen von ostpreußischen Vertriebenen, der Tochter von saßen in bayerischen Lagern ein. Es gibt Kriegsgrä- ehemaligen „Gastarbeitern“ mag das leichter fallen berstätten mit starker bayerischer Belegung in West- als jemandem, der sich dort meint, wo der friedli- und Osteuropa; und in Bayern ruhen Kriegstote che Alltag zum scheinbar ewigen Grundrecht von aus aller Herren Länder. Sie teilen die gemeinsame jedermann gehört. Aber auf den zweiten Blick wird Menschheitserfahrung von Unrecht und Streit und die Herausforderung auch jenen klar, die sich außer- der Unmöglichkeit des Friedens, wenn machtpoli- halb der Kräfte der Geschichte wähnen. Es ist dies tische Interessen nicht demokratisch kontrolliert, ja der Ausgangspunkt historisch-politischer Bildung verantwortungsbewusst gezügelt, völkerrechtlich überhaupt: einen Sinn dafür zu vermitteln, dass wir legitimiert werden. Ihr aller Andenken wird durch alle zur Übernahme von gesellschaftlicher Verant- den Volksbund gewahrt. Doch scheinen mehr als 100 wortung aufgerufen sind, auch wenn uns ein Dasein Jahre nach dem Ende des Ersten und bald 75 Jahre fernab von Kampf und entfesseltem Streit so viel an- nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Kennt- genehmer scheint. nisse zu verblassen, die Bilder zu verschwimmen und Im Angebot der außerschulischen Lernorte, welche in die Rituale zu erstarren. Wie sonderbar, denn könnte Deutschland ständig an Zahl zunehmen, sind Solda- man nicht schon aus dem Vergleich der Vielfalt der tenfriedhöfe freilich nicht immer im Vorteil: Sicher, sich heute in Europa friedlich begegnenden Kulturen man steht hier auf originalen Schauplätzen, der mit den damals im Konflikt gegeneinander anren- regionale Bezug für das Lernen liegt auf der Hand – nenden Nationen einen willkommenen Lernanlass aber es gibt ja doch viel weniger Überreste zu erkun- ziehen? Die Mittel der Aushandlung können dabei den als beispielsweise in einer Burgruine; Vergan- bewährt oder innovativ sein. genheit wird hier nicht auf eine Weise anschaulich, Da sind zuerst die vom Volksbund organisierten wie das bedingt durch Exponate im Museum der Fall Fahrten, bei denen (nicht wenige bayerische) Ju- ist; die Authentizität des historischen Ortes, obgleich gendliche z.B. Gräber und ganz kleine Gedenkorte theoretisch unbestritten, lässt sich im Gelände oft in Frankreich, Belgien, Tschechien, Italien besuchen. gar nicht leicht erkennen; eine gewisse Einförmig- Dort kommen die Deutschen, die vielmaligen Kriegs- keit der Gestaltung ist nicht von der Hand zu weisen. gegner, welche heute wieder anderen Ländern erklä- Müssen eigentlich, könnte schon die erste Frage der ren oder vorschreiben wollen, wie sie ihre Wirtschaft Jüngeren lauten, Gefallene noch im Tod in Reih und organisieren und Haushalte führen sollen. Man ver- Glied aufmarschieren? Warum entlassen wir sie nicht mutet: Ist ihr Reichtum nicht auch ein Ausfluss aus aus der Uniformität? Wird menschliche Würde hier den Besetzungen, Erpressungen, Nötigungen zumin- etwa nicht individuell gedacht? Wer setzt und be- dest des letzten Krieges mit seinem perfektionierten stimmt all diese Zeichen? Und geht es tatsächlich um System der Zwangsarbeit? Man zweifelt zudem, weil Geschichte und historisches Lernen oder doch „nur“ es immer noch Opfergruppen der NS-Zeit ohne Ent- um ein Zurückrufen alter Schlachtordnungen? Der Landesverband Bayern 2019 3
Spurensuche – 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges schädigungsanspruch, damals ausgeraubte Staaten sere eigenen Maßstäbe gegenüber dem damaligen ohne angemessene Reparationsleistungen, gibt. Die Geschehen keinen Absolutheitsanspruch besitzen. Gastgeber legen sich trotzdem Schärpen um, bestel- Gleichwohl fühlen wir uns gerade an Kriegsgräbern len ein Büffet, lassen noch einmal die Wege zu den und Gedenkstätten von der Vergangenheit betroffen, Gedenksteinen im Wald, auf dem Berg, in weiter Flur was sich, wie man geschichtsdidaktisch sagt, im Akt ebnen. Und die jungen Deutschen, die Bayern, sie der Sinnbildung ausdrückt: Wir sehen uns in einer sind ganz anders als erwartet, nämlich gerade wie langen Tradition, nehmen uns an der Geschichte ein die eigenen Kinder: blond, schwarzhaarig und dun- Beispiel (ggf. auch ein abschreckendes), wollen be- kelhäutig, gläubig in verschiedenen Konfessionen wusst andere Lösungen für Probleme finden als frü- oder fern von Gott, wissend oder ohne Ahnung, ent- her, definieren uns bzw. unsere Umwelt als Produkt gegenkommend, zugewandt, neugierig; lustig und von historischer Entwicklung. Instrumentelle Hilfen feierwütig; zurückhaltend, verlegen, bewegt, schüch- bei dieser Aufgabe von Reflexion und Bewusstseins- tern. Man kommt ins Gespräch – irgendeine Sprache bildung sind eine möglichst reichhaltige Überliefe- findet sich immer. 1870/71 – mein Gott, wie lange ist rung, Anreize zur Imagination, die Erfahrung von Ge- das her, davon besitzt ihr noch ein Heft, einen Knopf, schichte mit mehreren Sinnen, Motivation durch das eine gepresste Blüte? Vom Großen Krieg gibt es Bil- Erlebnis von Fremdheit wie Vertrautheit sowie Anlei- der und Briefe in Menge. Vom Zweiten spricht man tung; Zeit und Raum für die mentale Auseinanderset- nur gedämpft. Das Beste, was passieren wird, ist, dass zung müssen ebenso gegeben sein. Ein zumindest alle einfach mehr voneinander wissen, aus den im- experimentelles Ergebnis der historischen Bewusst- mer weniger Spuren, die draußen bleiben, eine ge- seinsbildung ist das Vermögen, über das zur Kennt- meinsame Geschichte und Erinnerung formen wol- nis Genommene, Abgewogene und Bewertete eine len. eigene Geschichte erzählen zu können, die triftig ist insofern, als sie die Quellen achtet, Gründe für ihr Ur- Doch natürlich kann man, selbst wenn man überall teil nennt und angibt, wie sie sich zu den vielen zum Geschichte lernen kann, dies nicht überall in der Gegenstand bereits erzählten Geschichten verhält. gleichen Weise tun. Die Geschichtsdidaktik hat Um- Dies ist im Übrigen der Grund, warum die „narrative gangsformen für das historische Lernen in den ver- Kompetenz“ im Lehrplan PLUS für den Geschichts- schiedenen Schularten, an außerschulischen Lern- unterricht an bayerischen Schulen (oder für histo- orten, mit Medien aller Art entwickelt. Sie tut das, rische Lernanteile in Verbundfächern) eine so gro- um die Qualität des Lernens zu sichern. Zu diesem ße Rolle spielt. Alle diese Ansprüche lassen sich im Programm gehört die Respektierung von grundle- Zuge eines vor- und nachbereiteten Besuches einer genden Kategorien historischer Erkenntnis wie Mul- heimischen oder ausländischen Kriegsgräberstätte tiperspektivität, Kontroversität, Konstruktivität – was in besonderem Maße erfüllen, zumal der Volksbund untersucht wird, soll dafür aus unterschiedlichen für die Arbeit zunehmend pädagogische Hilfsmittel Perspektiven betrachtet und gewürdigt werden, ab- bereitstellt. weichende Deutungen sind zuzulassen, am Ende entsteht immer so etwas wie eine augenblicklich Jede Kriegsgräberstätte ist nämlich zunächst einmal gültige Vorstellung ehemaliger Vorfälle, deren Re- genau diese Spur zu vergangenem Geschehen, das, levanz und Größe. Orientierung bei der Spurensu- so das Eigenartige, in außergewöhnlicher Weise von che liefern stets die Gegenwart und Lebenswelt der den Nachkommen bewertet wird. Selbst wer wenig nicht nur jungen Lernenden sowie die Frage, wohin bis kein Vorwissen mitbringt, wird angesichts der, hinein Geschichte ihre Wirkung entfalten soll. Me- wie schon kritisiert wurde, oft sehr gleichförmigen thodisch ausgegangen wird im Lernprozess von der Gräberreihen sowohl auf massenhaftes Geschehen Erfahrung einer Zeitdifferenz – früher lagen die Din- schließen als auch aufgrund der Tatsache, dass diese ge anders, waren die Verhältnisse anders, dachten, Art von Friedhof wie keine andere auf Dauer erhal- urteilten und handelten die Menschen anders als wir ten und gepflegt wird, schnell annehmen, dass von heute. Es ist ja tatsächlich hierzulande nicht mehr so dem Ort Botschaften ausgesandt werden, die gene- leicht vorstellbar, dass wir morgen Gewehrmündun- rell, lange Zeit oder für immerdar gültig sein sollen, gen aufeinander richten würden. Doch dürfen un- die Menschen jeder Herkunft und Bestimmung glei- 4 Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.
chermaßen angehen – und die womöglich noch nicht che Lehrenden das sogar wünschten), aber sie eröff- genügend Gehör gefunden haben. nen zeitgemäße Wege in die Vergangenheit, die wir alle, auch die Älteren, beschreiten können. Die didaktische Aufbereitung von Kriegsgräberstät- ten erfolgt, wie soeben begründet, zunächst orts- Das Ergebnis aller Mühen ist Erzählung. Ich bin der spezifisch. Das gebietet schon das Schicksal der festen Überzeugung, dass, wer eine historisch be- hier bestatteten Soldaten, die keinen allgemeinen gründete Familiengeschichte bewusst besitzt (in der Tod gestorben sind, sondern unter recht konkre- unter anderem die je „eigene“ Erfahrung des Krieges ten Umständen um ihr Leben kamen: Es gibt immer über die Generationen, daneben das Vorwärtsstre- jene, die den Krieg befahlen und dafür Gründe an- ben und die Rückschläge der Einzelnen ihren Platz brachten (welche geprüft werden müssen); jene, die haben) in besonderer Weise zum Verstehen von Ge- den Kampf leiteten und sich dabei skrupellos oder schichte allgemein befähigt ist, in der es dann auch bedächtig zeigten; jene, die mit den Kämpfenden um die Empathie mit dem „Gegner“, den Nachvoll- litten – Familienangehörige ebenso wie Landsleute, zug fremden Sterbens und die Trauer über den Tod Verbundene im Geiste, Glaubensbrüder – und ande- des Unbekannten geht. Von all dem kann es gerade re, die vom Krieg profitierten. Das ist natürlich der im Bedenken des Zweiten Weltkrieges nicht genug Sinn dessen, ein Gräberfeld als „Spur“ zu bezeich- geben. Aber die Jungen dürfen nicht zum simplen nen: Die zugehörigen Erklärungen, die Kontexte Gefäß einer gedanklichen Aufbewahrung dessen, und Interpretationen liegen außerhalb, nicht in den was die Alten vor ihnen an Unfassbarem angerichtet Gruben, nicht auf den Mahnmälern, nicht in den Ver- haben, degradiert werden. Der Volksbund Deutsche lustlisten. Das Beschauen einer Kriegsgräberstätte Kriegsgräberfürsorge, der sich so sehr als Akteur des erzeugt daher eine hohe Motivation, genau nach den Friedens versteht, mag das immer besser erkennen Umständen des Kampfes, des Sterbens und Weiter- und darauf mit seinen Mitteln der Zugänglichma- lebens zu fragen; dem kollektiven Erleben soll die chung von Friedhöfen und damit der Vergangenheit individuelle Erfahrung hinzugefügt werden; ein lo- reagieren. Der Glücksmoment von Lehrkräften, Pro- kales Geschehen an einem kleinen Ort ist den über- jektleitern, Organisatoren von Begegnungsfahrten, greifenden geschichtlichen Rahmen einzuordnen. wenn sie sehen, wie sich junge Menschen einer, ihrer Aus Biographie wird Historiographie. Nicht immer Vergangenheit tatkräftig zuwenden, liegt jedenfalls müssen Schülerinnen und Schüler dafür neue Archi- nicht in der beiläufigen Gewissheit, dass Erinnerung ve auftun oder bekannte Quellen gegen den Strich folglich nicht verloren geht. Vielmehr reift die Ein- bürsten – das wäre im Übrigen meist sogar zu viel sicht, dass auf diesem Wege Geschichte für die Ge- verlangt. Entdeckend-forschendes Lernen, wie es in genwart aktualisiert wird. Nicht „Was ist geschehen?“ der Erziehungswissenschaft gepriesen wird, heißt lautet die alles überwölbende Frage, sondern: „Wie nicht, dass sich junge Leute nach der Decke der pro- gehen wir mit dem ja durchaus Vielen, das wir wis- fessionals strecken und deren voraussetzungsvolle sen, heute um, wie prägt es unser Bewusstsein, wie Aufgabe übernehmen. Mit ihrer Erinnerungsarbeit, soll es unser Handeln anleiten?“ Junge Menschen, um im Fach Geschichte zu bleiben, formulieren sie die Kriegsgräberstätten aufsuchen, Biographien re- vielmehr eigene Fragen an sich selbst und andere, cherchieren, Ausstellungen einrichten, Zeitungen ein prüfen die Vertrauenswürdigkeit der Tradition und Interview geben (etwa als Experten dafür, wem ein beglaubigen gegebenenfalls ein fortbestehendes Ehrenzeichen, eine Gedenktafel, ein Straßenname zu Interesse an Aufklärung und Wissen. Und sie vermit- widmen sei), die also aus alten Spuren eine ganz und teln Kenntnisse oder Deutungen auf ihre Art – das gar gegenwärtige Erzählung machen, zwingen uns heißt meistens unter Zuhilfenahme digitaler Medien, damit vor allem zu einem: die Zukunft des Friedens aber ebenso körperverbundener Ausdrucksformen zu begreifen. wie Theater und re-enactment – in die gegenwärtige Prof. Dr. Michele Barricelli Zeit. Etwas pathetisch könnte man sagen, sie geben damit der Vergangenheit ein heutiges Gesicht. Kei- neswegs können sie Tote wieder auferstehen lassen (auch wenn das schrill klingt, vermute ich, dass man- Landesverband Bayern 2019 5
Spurensuche – 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges Das Kriegsende in einem bayerisch-schwäbischen Dorf Das Dorf Binswangen, am südlichen Rand des Do- Anwesen Quartier beziehen. Mit Hilfe meines Vaters nautales im Landkreis Dillingen a. d. Donau gelegen, konnten sie Ross und Wagen wieder einigermaßen machte zu Beginn der 1950er Jahre einen idyllischen instand setzen, bevor sie unweigerlich mit unbe- Eindruck. Doch in den Köpfen der älteren Dorfbe- kanntem Ziel weiterziehen mussten. Zum Dank für wohner steckte noch das Trauma der Todesangst vor Aufnahme und Verpflegung hatten die Kameraden den im April 1945 von Dillingen her anrückenden meinem Vater eine hufkranke junge Fuchsstute mit US-amerikanischen Streitkräften. Geschützdonner komplettem Brustgeschirr überlassen. Dieses Tier und immer näher kommende Artillerieeinschläge wurde von ihm gesund gepflegt und einem Binswan- versetzten die Menschen in Angst und Schrecken. ger Landwirt zum Einsatz überlassen. Es tat noch vie- Viele Gehöfte wurden in Brand geschossen, einige le Jahre seinen Dienst. Dorfbewohner wurden verletzt oder fielen dem Ku- gel- und Splitterhagel zum Opfer. Die Front rückt näher… Der damals zwölfeinhalbjährige Augenzeuge Theo Granatfeuer und Schüsse waren immer deutlicher Sendlinger schildert seine persönlichen Erlebnisse: zu hören. Im Dorf verbreitete sich das Gerücht, dass in Lauingen die Donaubrücke gesprengt wurde. Die „Erste Anzeichen für ein nahendes Ende… Brücke in Dillingen blieb dank der ‚Sabotage‘ eines deutschen Offiziers erhalten. Am Ende war bekannt, In den ersten Tagen des April 1945 waren die dass alle Donaubrücken bis Regensburg, mit Ausnah- Schüsse und Einschläge von Artilleriegranaten der me der in Dillingen, gesprengt worden waren. Von anrückenden amerikanischen Panzereinheiten aus Dillingen rollten nun die Panzerkolonnen in Richtung weiter Ferne schon deutlich zu hören. Binswangen. Kolonnenweise wurden abgemagerte russische ‚Man weiß nie, was kommen wird‘, meinte mein Va- Gefangene, deutsche und ausländische Zivilisten, ter als erfahrener Frontsoldat. Wir packten Kleider, alte Leute und junge Frauen mit Kleinkindern und Decken, dauerhafte Lebensmittel und einiges mehr Säuglingen an der Brust, vermutlich Häftlinge und auf einen Handleiterwagen. Weitere Nahrungs- und Zwangsarbeiter, vielleicht auf Todesmärschen, durch andere Gebrauchsgüter versteckten wir in der Erde das Dorf geführt. Nur das Nötigste mit sich führend, unter dem Hofpflaster. die wenige Habe in Lumpen oder Decken eingepackt, auf dem Rücken tragend oder auf alten Handkarren mitziehend, bewegte sich der Elendszug durch das Letzte Verteidigungsversuche … Dorf. Nur mit ausdrücklicher Erlaubnis der begleiten- Der Höhenzug entlang des südlichen Ortsrands wur- den Bewacher, ausnahmslos älterer deutscher Solda- de auf Befehl der Waffen-SS in Richtung West und ten, durften die Dorfbewohner den hungernden und Ost zum neuen Stützpunkt zur Verteidigung erklärt, bettelnden Leuten etwas Essbares zustecken. wie ältere Dorfbewohner mitbekamen. Die Panzer- Desgleichen war zu beobachten, wie sich die ersten sperren, hergestellt aus starken Baumstämmen – ein aufgeriebenen deutschen Kompanien mit Pferde- Durchgang war für die Breite landwirtschaftlicher gespannen vor den aus dem Raum Ulm, Günzburg, Gespanne eingerichtet – wurden vom Volkssturm er- Lauingen und Dillingen nachrückenden ,feindlichen’ richtet. Von diesen Sperren befand sich eine vor dem Panzereinheiten zurückziehen mussten und sich da- Landgraben in Richtung Dillingen, eine weitere am bei auch durch Binswangen bewegten. Ortseingang im Westen und eine dritte mitten im Ort auf der Hauptstraße beim Anwesen Steidle. Einer dieser versprengten Kompanien gehörte wäh- rend des Krieges auch mein Vater als Hufschmied an. Bis Samstag, 21. April, zogen sich deutsche Truppen, Die Kameraden kannten seine Heimatadresse und angeblich unter Führung der Waffen-SS, zu einem lenkten daher ihren Rückmarsch über Binswangen. Verteidigungsblock über den südlichen Höhen und Sie führten sogar noch einige seiner damals betreu- den Wäldern zusammen. Ich sah junge Soldaten im ten Pferde mit und konnten einige Tage in unserem Alter von ca. 16 Jahren, vermutlich Freiwillige aus 6 Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.
sich über unseren Hof spannte. Ich sah noch, wie die Drähte funkensprühend herunter fielen. Unser Nach- bar wurde lebensgefährlich verletzt. Nun folgte ein ca. zwei Stunden dauernder Artillerie- beschuss auf das Dorf. Nach Beginn einer Feuerpause rannte mein Vater mit uns allen in den nahegelege- nen ,Kohlenkeller’, wie im Dorf der einstige Schloss- keller genannt wurde. Plötzlich drang die Kunde durch den Keller, dass sich in den eingelagerten Fäs- sern und Eimern, auf denen die Leute saßen, Farben, gefährliche Nitroverdünnung und Fette befanden. Brennende Kerzen wurden sogleich gelöscht. Wir saßen völlig im Dunkeln, quasi auf einem Pulverfass. Der nächste Tag: Dienstag, 24. April … Frühmorgens hörte der Beschuss schlagartig auf. Einige Leute öffneten ganz vorsichtig das Tor. Von unserem Lager aus an der hinteren Wand war Ta- geslicht zu sehen. Ganz Mutige wagten sich hinaus Theo Sendlinger 1945 (Bild: Privat) und erblickten die ersten amerikanischen Soldaten. Ein tiefes Durchatmen ging durch die ca. 200 ‚Keller- flüchtlinge‘, da man hoffen konnte, dass der Krieg für HJ und Werwolf, an unserem Haus vorbeiziehen. Die das Dorf zu Ende war. Uniformen waren ihnen viel zu groß, den Stahlhelm mussten sie mit der Hand festhalten. Mein Vater Auf Befehl der Amerikaner durfte den Keller vorerst sprach diese mit Karabinern und Panzerfäusten be- niemand verlassen. Die Befreier führten Kontrollen waffneten ,Buben’ an und bot ihnen Kleidung von durch und suchten nach Nazis sowie Wehrmachtsan- seinem Sohn und ein sicheres Versteck für die nächs- gehörigen. Tatsächlich hatten sich einige Soldaten ten Tage an. Die Antwort klang ziemlich deprimie- unter uns gemischt. Auch ein 18-jähriger ehemaliger rend: ,Wir haben Befehl und müssen Amis und Panzer Soldat aus Binswangen, der sogar schon Zivilklei- abschießen’. dung trug und nachweisen konnte, dass er im Rah- men eines Austausches von Verwundeten entlassen worden war, wurde abgeführt. Der Schicksalstag: Montag, 23. April … Nachdem wir schließlich unseren Schutzraum verlas- Man hörte längere Zeit kaum noch Schüsse. Mein Va- sen durften, schauten zuerst die Älteren nach ihren ter als ehemaliger Soldat erzählte uns Kindern, dass Häusern und Gehöften, so auch mein Vater. Er konnte Granaten, die man ‚pfeifen‘ hört, nicht mehr gefähr- berichten, dass an unserem Anwesen außer Glasbrü- lich sind. Er erklärte uns auch, dass die momentane chen keine besonderen Schäden festzustellen waren. Feuerpause in der Ferne zum Nachschub und Nach- Viele Bauern hatten zu Beginn der Offensive ihre Tie- rüsten von Kriegsgerät diene. re losgebunden und aus zum Teil brennenden Ställen Es dauerte nicht lange. Vater stand mit mir als klei- ins Freie getrieben. Sie durften jetzt auf ihren Höfen nem Jungen, 12 ½ Jahre alt, und meiner jüngeren bleiben, um das Vieh zu versorgen und die Bevölke- Schwester in der Nische am Hauseingang. Wir hörten rung mit Milch und sonstigen Lebensmitteln zu belie- plötzlich einen Abschuss. Ich fühle heute noch, wie fern. Verendete Tiere mussten weggeräumt werden. sich mein Vater mit mir zum Glück in die richtige Ecke Viele Helfer, auch ehemalige Zwangsarbeiter, waren drückte. Von diesem Abschuss war kein Pfeifen mehr trotz der dürftigen Ausrüstung der Feuerwehr mit zu hören. Diese Granate flog genau über unseren Hof, Löscharbeiten an ca. 40 Bränden beschäftigt.“ schlug im Dachstuhl des Nachbarn ein und traf genau Anton Kapfer den Dachständer der elektrischen Oberleitung, die Landesverband Bayern 2019 7
Spurensuche – 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges Kriegsende und Nachkriegszeit und ihre Spuren im Tölzer Land Das bayerische Oberland ist abseits des Bilderbuch- gen – der Glaube an den propagierten „Endsieg“ und Panoramas des Alpenvorlandes ein vielfacher Lernort die reine Verblendung ließen kein Einsehen zu. Erst der Geschichte, insbesondere des Zweiten Weltkrie- im Tegernseer Tal konnte die Division endgültig von ges und der Nachkriegszeit. So wenig die Kreisstadt US-Truppen zur Aufgabe gezwungen werden. Bad Tölz und ihr Umland den Anschein auch erwe- Schlendert man heute durch die Tölzer Altstadt, so cken mögen, so sehr ist doch der Fußabdruck aus der wird man, egal ob man von der Isar die Marktstraße Zeit des Zweiten Weltkrieges noch präsent, wenn herauf oder von der Mühlfeldkirche hinunter kommt, man nur ein wenig genauer hinsieht. Einige Beispiele mit der NS-Vergangenheit konfrontiert. Wie bereits sollen im Folgenden aufgezeigt werden. im Ersten Weltkrieg mit dem 30. Infanterieregiment Im Jahr 2014 gab es einen medialen Aufschrei – stellte Bad Tölz auch im Zweiten Weltkrieg eine eige- Google Maps hatte den Berg Heiglkopf, der sich auf ne militärische Einheit. Oberhalb der Isarauen am so- dem Gebiet der Gemeinde Wackersberg befindet, genannten „Studentenbühl“, einem Berghang über bereits seit 2007 als „Hitler-Berg“ gelistet. Hinter- Bad Tölz, thront das Denkmal für die 97. Jägerdivisi- grund war, dass der Heiglkopf 1933 tatsächlich in on, genannt „Spielhahnjäger“. Flankiert von Fahnen Hitlerberg umbenannt worden war. Auf seinem Gip- in den Stadtfarben Schwarz-Gelb und dem bayri- fel prangte ein 12 Meter hohes eisernes Hakenkreuz, schen Weiß-Blau erinnert dieses Denk- und Mahn- das weithin sichtbar war. Nach dem entschiedenen mal an die rund 10.000 Soldaten dieser Division, die Einschreiten der Gemeinde und vieler Nutzer gab am 10. Dezember 1940 in Bad Tölz aufgestellt wur- Google nach und änderte den Namen. de. Die Division war während des gesamten Krieges ausschließlich an der Ostfront eingesetzt. Nach Be- Der Name eines der berühmtesten Werke der Anti- kanntgabe des Kriegsendes verweigerte die Division Kriegsliteratur aus dem deutschsprachigen Raum die Kapitulation gegenüber der Roten Armee und ist wohl „Die Brücke“ von Gregor Dorfmeister alias versuchte sich aus dem Raum südlich Prag kämpfend „Manfred Gregor“. Er schildert das Schicksal von sie- in das von den US-Truppen besetzte Gebiet durchzu- ben Jungen, die nach kurzer Ausbildung beim soge- schlagen, wohl um der sowjetischen Kriegsgefangen- nannten „Volkssturm“ eine Brücke gegen die heran- schaft und tschechischen Freischärlern zu entgehen. rollenden US-amerikanischen Truppen verteidigen Die Truppen splitterten sich auf, um als einzelne Teil sollten. Die Geschichte ist wahr, und sie spielte sich einheiten einfacher voran zu kommen, doch nicht so an einer unbedeutenden Brücke bei Bad Heilbrunn alle schafften es, der sowjetischen Kriegsgefangen- ab, die über die Loisach führte. Von den sieben Jun- schaft zu entgehen. Viele gelten seitdem als vermisst gen überlebten drei, unter Ihnen Dorfmeister, und und ihre Schicksale sind bis heute ungeklärt. wichen nach Bad Tölz aus. Dorfmeister widersetzte sich dem Befehl eines Polizisten, auch in Bad Tölz die Geht man in Bad Tölz die Marktstraße hinauf, passiert Brücke über die Isar zu verteidigen und desertierte man einen Brunnen mit einer Mariensäule in der Mit- – am nächsten Morgen fand er seine beiden Kamera- te. Die dort stehende Figur wurde aus einem Reichs- den tot auf eben jener Brücke. Dorfmeister war spä- adler mit Hakenkreuz gegossen, der bis Kriegsende ter Chefredakteur des Tölzer Kuriers und starb 2018 auf der Ostseite der Isarbrücke stand. Nach dem im Alter von 88 Jahren. Krieg wurde dieser abgerissen, eingeschmolzen und seinem heutigen friedlichen Zweck zugeführt. Gerade in den letzten Kriegstagen (die US-Armee nahm Bad Tölz am 1. Mai 1945 ein) leisteten Rest- Auf Höhe des Stadtmuseums wurden Stolpersteine in teile der 17. SS-Panzergrenadier-Division „Götz von den Boden eingelassen, die auf Schicksale von Tölzer Berlichingen“, die SS-Einheit „Werwolf Bayern“ und Juden und weiterer Opfer der NS-Gewaltherrschaft flugs ausgebildete Hitlerjungen noch Widerstand ge- hinweisen. Eine dieser jüdischen Familien waren die gen die alliierten Truppen. Aber auch an den eigenen Sandbanks. Der Vater, Samuel, war Schneider und Bürgern wurden noch Verbrechen und Morde began- Kaufmann und hatte ein Trachtenmodengeschäft. Er 8 Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.
die Alliierten verschont, wohl auch deshalb, weil die US-Armee die SS-Junkerschule als strategisch wichti- gen Punkt erachtete und für die Zeit nach dem Krieg auch als Stützpunkt des bayerischen Militärkom- mandanten, General Patton, nutzen wollte. Bis in die frühen 90er Jahre waren hier Spezialkräfte der Ame- rikaner stationiert. Heute ist die „Flintkaserne“ ein Behördenzentrum und ein neuer Stadtteil. Doch auch die Jugend der Region konnte dem Ein- fluss des NS-Regimes nicht entgehen. So hielt man im sogenannten „Hochlandlager“ zuerst in Weg- scheid bei Lenggries mit rund 4.000 Mitgliedern der Hitlerjugend ein großes Zeltlager ab. Anschließend wurde dieses „Hochlandlager“ für weitere Veran- staltungen der Hitlerjugend ein fester Bestandteil. Hierzu erwarben die Nazis ein großes Gelände in der Nähe des Ortes Königsdorf. Heute befindet sich dort Stolperstein für Samuel A. Sandbank in Bad Tölz eine Jugendsiedlung, die außer Freizeitaktivitäten (Bild: Florian Völler) auch die Begegnung Jugendlicher verschiedener Na- tionen fördert. wurde, wie auch weitere Mitglieder seiner Familie, von den Nazis ermordet. Er starb 1942 im KZ There- sienstadt. Eines der bekannteren Mahnmale für die Opfer des NS-Regimes findet sich direkt an der Mühlfeldkirche – nämlich jenes zur Erinnerung an die Todesmärsche aus dem KZ Dachau, welche den Zug der dem Tode Geweihten auch durch Tölz führten. Sie sollten in den letzten Kriegstagen noch nach Tirol in die ominöse „Alpenfestung“ getrieben werden. Entlang der Stre- cke dieser Todesmärsche wurden mindestens 1.000 Häftlinge, die zu schwach zum Weitergehen waren, hingerichtet oder sie starben aufgrund Erschöpfung oder erlagen ihren Verletzungen. Die KZ-Häftlinge wurden bei Waakirchen durch die anrückende US-Ar- mee befreit und viele entgingen dem sicheren Tod. Sie wurden dann größtenteils in den Kasernengebäu- den der ehemaligen SS-Junkerschule in Bad Tölz un- tergebracht und erstversorgt. Diese am Ortsrand von Tölz befindliche SS-Junker- schule war eine der Kaderschmieden der Nationalso- zialisten, wo der Führernachwuchs aus zwölf Ländern auf die Ideologie der Nazis und den Einsatz im Feld getrimmt wurde. Hier waren von 1940 bis 1945 auch rund 200 Häftlinge des KZ Dachau interniert, denn Tölz war eine Außenstelle des Konzentrationslagers. Denkmal für die Opfer des Dachauer Todesmarsches, der im Die Tölzer blieben von den Bombardierungen durch April 1945 durch Bad Tölz führte (Bild: Florian Völler) Landesverband Bayern 2019 9
Spurensuche – 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges Als erste Kriegsgräberstätte in Bayern wurde nach Der Volksbund ist in den Landkreisen Bad Tölz- dem Zweiten Weltkrieg in Gmund am Tegernsee Wolfratshausen und Miesbach mit allen Veteranen-, für 369 Tote und Gefallene aus 13 Gemeinden der Reservisten- und Soldatenvereinen und im Rahmen Umgebung eine letzte Ruhestätte geschaffen. Un- von Bildungsprojekten mit Schulklassen und Ju- ter ihnen waren Soldaten, Wehrmachtshelferinnen, gendgruppen darum bemüht, an diesen Kriegsgrä- Verwundete aus den Lazaretten und viele mehr. Auf berstätten, den örtlichen Kriegerdenkmälern und an diesem Friedhof findet jährlich im November das den oben genannten „Lernorten der Geschichte“ die traditionelle Internationale Totengedenken statt. In schrecklichen Folgen von Krieg und Gewaltherrschaft Zusammenarbeit mit der Commonwealth War Graves für heutige Generationen greifbar und begreifbar zu Commission findet im Anschluss an dieses Gedenken machen. So soll insbesondere jungen Menschen vor der Remembrance Day auf der britischen Kriegsgrä- Augen geführt werden, was sich niemals wiederho- berstätte in Dürnbach statt. Zusammen gedenken len darf und welcher Preis für das Leben in Frieden in Deutsche, Briten, US-Amerikaner und Angehörige Europa bezahlt werden musste. vieler weiterer Nationen derer, die durch Krieg, Terror Florian Völler und Verfolgung ums Leben kamen. Das Kriegsende in Augsburg und die Kriegsgräberstätten auf dem Augsburger Westfriedhof Auf Spurensuche in Augsburg le 116“ im Stadtteil Pfersee, die als Außenlager des Konzentrationslagers Dachau diente, oder die Ge- Wer heute durch die Maximilianstraße in der Augs- denktafel am Gebäude der Stadtwerke, die seit 2011 burger Innenstadt schlendert, der wird sowohl eine an die kampflose Übergabe der Stadt erinnert. junge und pulsierende Studentenstadt erleben als auch beeindruckt sein von den imposanten histori- schen Bauwerken, wie zum Beispiel dem Rathaus mit seinem Goldenen Saal, die von der Geschichte und dem Wohlstand der einstigen Fugger-Stadt zeugen. Man kann sich kaum vorstellen, dass diese Innenstadt vor 75 Jahren eine Trümmerwüste war. Als der Zwei- te Weltkrieg für Augsburg Ende April 1945 schließ- lich ein Ende fand, wohnten nur noch 107.000 von ursprünglich (1939) 185.000 Menschen in der Stadt. Etwa 15.000 von ihnen waren Ausländer, die meisten davon Zwangsarbeiter. Durch Bombardierungen wa- ren etwa 40 % der Augsburger obdachlos geworden und 44.000 Wohnungen waren zerstört oder beschä- digt. Anlass der schweren Luftangriffe auf die Stadt, die im Februar 1944 ihren Höhepunkt erreichten, war die Bedeutung Augsburgs als Rüstungsstandort für Firmen wie MAN und Messerschmitt. Der aufmerksame Beobachter findet bis heute zahl- reiche Spuren und Erinnerungen an die Zeit des Zweiten Weltkrieges und des Nationalsozialismus in Gedenktafel am Haus der Stadtwerke in Augsburg Augsburg. Sei es der Eingang zum Luftschutzbunker (Bild: Mailtosap – Wikipedia Commons) im Norden des Wittelsbacher Parks, sei es die „Hal- 10 Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.
Das Kriegsende in Augsburg Als die 3. US-Infanterie-Division am Abend des 27. April 1945 von Westen her den Stadtrand von Augs- burg erreichte, waren große Teile Deutschlands be- reits besetzt und die Sinnlosigkeit jeder weiteren Gegenwehr offensichtlich. Dennoch wurden für zahlreiche Orte und Städte noch sogenannte Kampfkommandanten eingesetzt, die bei ihrem Leben darauf verpflichtet wurden ihre Stadt „bis zum Äußersten“, „bis zum Tode“ und „bis zum letzten Mann“ zu verteidigen. In Augsburg war Generalmajor Franz Fehn als Kampfkommandant für die Stadtverteidigung verantwortlich. Dass Fehn, der bisher als Stadtkommandant von Augsburg vor allem repräsentative und organisatorische Aufgaben wahr- genommen hatte, zum Kampfkommandant bestimmt wurde, zeigt, wie verzweifelt die Personalsituation 1945 innerhalb der Wehrmacht war. Fehn hatte mit 62 Jahren sein Pensionierungsalter bereits über- schritten, war herzkrank und von seinen Vorgesetz- Der Kampfkommandant von Augsburg: ten als ungeeignet für die Führung einer kämpfenden Generalmajor Franz Fehn Einheit befunden worden. Ihm standen zudem nur (Bild: BArch-MA, PERS 6/299627) 750 schlecht ausgerüstete Soldaten zur Verfügung, von denen zwei Drittel dem Volkssturm angehörten, am Abend des 27. März im Haus des NS-Gauleiters der aus mangelhaft ausgebildeten zu alten oder zu zu einer Krisensitzung. Hierbei wirkten die meisten jungen Männern bestand. Dennoch bereitete Fehn Anwesenden auf Fehn ein, die Stadt zu übergeben. sich auf eine Verteidigung am Westrand der Stadt Dieser versuchte die Verantwortung auf Gauleiter vor und ließ die Wertachübergänge, die Lechbrücken Wahl abzuschieben, der sich jedoch weigerte, diese und die Bahnunterführungen durch Barrikaden sper- zu übernehmen. Fehn lehnte jede Form der Kapitula- ren. tion unter Hinweis auf seine soldatische Pflicht strikt Neben der Personalnot war ein weiterer Grund für ab und beendete nach zwei Stunden die Diskussion Fehns Berufung zum Kampfkommandanten, dass mit dem Argument, dass er Soldat sei und daher sei- der Augsburger Bürgermeister Josef Mayr, der eine ne Befehle auszuführen habe. Seinen Gefechtsstand kampflose Übergabe der Stadt erreichen wollte, sich verlegte er in den Riedingerbunker, der sich an der dafür eingesetzt hatte. Er hoffte Fehn, den er durch Stelle des heutigen Verwaltungsgebäudes der Stadt- dessen Arbeit als Stadtkommandant seit fast drei werke befand. Von dort aus hatte Fehn jedoch wenig Jahren kannte, eher von einer Kapitulation überzeu- Einfluss auf die Gesamtlage. Ausgesandte Ordon- gen zu können, als einen fremden Kommandanten. nanzoffiziere berichteten, dass sich in der Nacht vom Als die Amerikaner am 27. April von Mayr telefo- 27. auf den 28. April der Volkssturm weitestgehend nisch eine Kapitulation der Stadt forderten, weigerte aufgelöst habe und die restlichen Truppen ohne Be- Fehn sich jedoch und berief sich auf die Pflicht zur fehl auf die Wertach, die als zweite Widerstandslinie Einhaltung seiner Befehle. Ebenfalls an einer kampf- gedacht gewesen war, ausgewichen seien. Manche losen Übergabe Augsburgs arbeitete die sogenann- Alarmeinheiten hatten sich bereits am Vorabend te ‚Deutsche Freiheitsbewegung‘, die sich aus dem aufgelöst. Die unbesetzten Barrikaden und Sperren Arzt Rudolf Lang und zahlreichen anderen Bürgern wurden dann teilweise von der Zivilbevölkerung ge- der Stadt zusammensetzte. Als Folge des ergebnislo- öffnet und die amerikanischen Panzer drangen, ohne sen Telefonanrufes trafen sich Fehn, Lang, Mayr und auf Widerstand zu stoßen, in die westlichen Stadttei- weitere lokale Entscheidungs- und Würdenträger le ein. Landesverband Bayern 2019 11
Spurensuche – 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges Die weiteren Vorgänge im Riedingerbunker sind um- Weltkriege, davon 453 Ausländer und 235 KZ-Opfer. stritten. Mayr gab nach dem Krieg an, dass am 28. Weitere Kriegsgräber befinden sich auf dem Evange- April gegen 5:00 Uhr die Amerikaner erneut bei ihm lischen Friedhof an der Haunstetterstraße, in Göggin- anriefen, um Fehn die Möglichkeit zur Kapitulation gen, auf dem Alten Friedhof Haunstetten sowie auf zu geben. Da Fehn wiederum abgelehnt hätte, ließ den Israelitischen Friedhöfen Haunstetterstraße und Mayr ihn in einem Nebenzimmer in ein Gespräch ver- an der Hummelstraße. wickeln, gab sich am Telefon selbst als Fehn aus und Heute sind diese Kriegsgräberstätten nicht mehr nur bestätigte die Kapitulation. Bereits vorher hatten Orte der Trauer und des Gedenkens für die Angehöri- Mayr und seine Mitstreiter die Waffen der im Bunker gen, sondern sie nehmen darüber hinaus eine wich- Dienst tuenden Wehrmachtsangehörigen verschwin- tige Funktion als Lernorte der Geschichte ein. Hier den lassen. Um 6:20 Uhr erschienen dann die Ame- können insbesondere jungen Menschen die schreck- rikaner im Riedingerbunker. Dorthin waren sie von lichen Folgen von Krieg und Gewaltherrschaft vor Mitgliedern der ‚Deutschen Freiheitsbewegung‘ ge- Augen geführt werden, die für die meisten Menschen führt worden. Diese hatten angeblich auch den Rie- in Deutschland zum Glück in weiter Ferne liegen. dingerbunker bereits zuvor bewaffnet umstellt, um Zwar tragen heutige Generationen nicht die Schuld ein Entkommen Fehns zu verhindern. Nachdem die für das damals Geschehene, doch die Verantwortung Amerikaner den Bunker gestürmt hatten, gaben sie an die Schrecken der NS-Gewaltherrschaft und des Fehn fünf Minuten Bedenkzeit, um sich zu einer Kapi- Krieges zu erinnern und damit ein Wiederaufleben tulation zu entschließen. Dieser bat darum, noch ein- von Radikalismus, Nationalismus, Antisemitismus mal mit seiner vorgesetzten Dienststelle sprechen und Fremdenhass zu unterbinden, liegt zweifelsohne zu dürfen. Ob Fehn im Anschluss noch einmal seine bei uns allen. Insbesondere in der heutigen Zeit, in Pistole zog, sei es, um sich selbst zu erschießen, oder der die Stimmen der letzten Zeitzeugen des Zweiten um sich zur Wehr zu setzen, ist umstritten. Fehn, der, Weltkrieges nach und nach verstummen, müssen wir obwohl er zuletzt nur noch 80 Mann zu seiner Verfü- lernen, Gedenk- und Erinnerungsorte wie die Augs- gung gehabt hatte, zu einer Verteidigung entschlos- burger Kriegsgräberstätten als Mahnmale für den sen gewesen war, wurde daraufhin von den Ameri- Frieden zu verstehen und zu uns sprechen zu lassen. kanern in Gewahrsam genommen. So konnten die Dies gelingt aber nur, wenn wir uns dem Schicksal US-Truppen Augsburg am 28. April nahezu kampflos Einzelner zuwenden. Nur so lassen sich die Tragik einnehmen, wodurch die Stadt von weiterer Zerstö- und das unermessliche Leid der Toten und ihrer An- rung verschont blieb. gehörigen begreifen, welche hinter jedem der Kreu- ze und Grabzeichen stehen. Stellvertretend für Viele sollen hier vier Beispiele genannt werden. Die Kriegsgräberstätten auf dem Augsburger Westfriedhof Einzelschicksale Wenngleich die Besetzung Augsburgs durch die Ame- rikaner vergleichsweise glimpflich vonstatten ging, Am 26. Februar 1944 kam es zum verheerendsten hatten die vorausgegangenen Jahre des Krieges und Luftangriff auf Augsburg. Die Kölner Opernsänge- der NS-Gewaltherrschaft doch zahlreiche Menschen rin Maria Krollmann versuchte sich mit ihrer vier in der Region das Leben gekostet. Auch in den April- Jahre alten Tochter Ursula in einen Luftschutzkeller und Maitagen des Jahres 1945 forderten Kämpfe und zu retten. Dort traf sie auf Maria Neubauer mit Verbrechen in der Endphase des Krieges noch zahl- ihren vier- und zweijährigen Töchtern Hannelore und reiche Opfer im Großraum Augsburg. Viele von ihnen Gerda. Doch der Schutzraum wurde für alle zu einer fanden ihre letzte Ruhestätte auf den Kriegsgräber- tödlichen Falle. Ein Volltreffer zerstörte das darüber stätten auf dem Augsburger Westfriedhof. Hier wurde befindliche Haus. Am nächsten Tag konnten die drei bereits während des Zweiten Weltkrieges eine Grab- Mädchen und ihre beiden Mütter nur noch tot aus stätte für ca. 400 Soldaten und eine große Anzahl den Trümmern geborgen werden. Unter einem Dop- von Opfern der Luftangriffe angelegt. Nach Kriegsen- pelkreuz befindet sich heute das gemeinsame Grab de wurden zusätzlich 500 Opfer aus Behelfsgräbern auf einer der Kriegsgräberstätten auf dem Augs zugebettet. Aktuell ruhen hier 2.263 Tote der beiden burger Westfriedhof, Reihe 5, Grab 133. 12 Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.
Zu den 453 ausländischen Kriegstoten auf der Kriegsgräberstätte zählt der Brite Herbert Percival Smith, der ein Opfer der NS-Gewaltherrschaft wurde. Er wurde am 15. Februar 1904 in Neath (Süd-Wales) geboren. Während des Zweiten Weltkrieges arbeite- te der Vater von drei Kindern als Polizeibeamter auf der britischen Kanalinsel Guernsey. Die Kanalinseln waren der einzige Teil der britischen Inseln, den die Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges beset- zen konnte. Herbert Smith gehörte einer aus Polizis- ten bestehenden Gruppe von Widerstandskämpfern Doppelgrab Krollmann/Neubauer auf einer der an, die im Winter 1941/42 deutsche Lebensmittella- Kriegsgräberstätten auf dem Augsburger Westfriedhof ger plünderten und die Konserven an die Zivilbevöl- (Bild: Gerd Krause) kerung verteilten. Im März 1942 wurden Angehörige dieser Widerstandsgruppe gefasst und daraufhin die gesamte Gruppe verhaftet, mitunter brutal verhört Ebenfalls bei einem Luftangriff kam am 16. Juli 1944 und vor ein deutsches Militärgericht gestellt, das der nur 18-jährige Michael Silber aus Fernhag (Pfaf- Smith zu vier Jahren Zwangsarbeit verurteilte. Seine fenhofen a.d. Ilm) ums Leben. Als Grenadier in einem Frau und seine Kinder wurden in ein Lager in Frank- Panzer-Regiment befand er sich zum Zeitpunkt der reich und später in das Internierungslager Biberach Bombardierung in Augsburg. Auf seinem Sterbebild deportiert. Herbert Smith selbst durchlief verschie- hieß es, unter Verwendung der NS-Diktion, er sei dene Gefängnisse und Lager in Granville, Caen, Paris, „gefallen in Folge (eines) Terrorangriffes in Augs- Karlsruhe, Landsberg, Augsburg und kam schließlich burg“. Michael Silbers Grab befindet sich in der im Sommer 1942 in das Zwangsarbeiterlager Neu- Reihe 1, Grab 177. offingen. Das Lager bestand aus nur zwei Baracken am Wald- rand und beherbergte etwa 80-100 Gefangene unter- schiedlicher Nationalitäten, von denen die meisten Franzosen waren. Mit Smith waren noch fünf weite- re von den Kanalinseln stammende Männer dort in- terniert. Die Gefangenen mussten die Gleisanlagen der Eisenbahn reparieren. Während dieser schwe- ren, täglich zwölfstündigen Zwangsarbeit waren sie zudem den brutalen Übergriffen einzelner Wachen ausgesetzt. Schläge und Strafmaßnahmen gehörten im Lager zur Tagesordnung und in den Wintermona- ten litten die Gefangenen unter Erfrierungen, da die Baracken über keine Öfen verfügten. Herbert Smith befand sich im Frühjahr 1943 in einem schlechten gesundheitlichen Zustand. Sein Körper war gezeichnet vom Schleppen der Schienen, von den Schlägen, vom Nahrungsmangel und dem Feh- len von Kältebekleidung. Nachdem er durch Schläge in die Magengegend mit einer Schaufel misshandelt Michael Silber (1926 – 1944) worden war, erholte Herbert Smith sich nicht mehr. Er (Bild: BLF Sterbebildarchiv) verblieb bettlägerig im Lager, erhielt kaum noch Nah- rung, die er durch seine Verletzungen ohnehin kaum bei sich behalten konnte und wurde schließlich, ge- stützt von zwei Kameraden, zu einem Arzt gebracht. Landesverband Bayern 2019 13
Spurensuche – 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges Zeitgleich war er den ständigen Misshandlungen Flucht. 1959 erhielt Anna Stadler für ihre Taten den durch den Lagerkommandanten ausgesetzt. Mitge- Orden der Französischen Ehrenlegion verliehen. So fangene, die versuchten Smith und anderen, denen brachten der Krieg und das NS-Regime in manchen die Nahrung vorenthalten wurde, etwas von ihren Ra- Menschen ihre schlimmste, in anderen aber ihre bes- tionen abzugeben, wurden brutal bestraft. Schließ- te Seite zum Vorschein. lich wurde Herbert Smith, der in seinen letzten Tagen völlig apathisch geworden war, in das Augsburger Gefängnis verlegt, wo er am 5. April 1943 in einer Zelle ohne jede ärztliche Behandlung starb. Herbert Smith ruht auf einer der Kriegsgräberstätten auf dem Augsburger Westfriedhof, Feld 9, Block 11, Reihe 1, Grab 3. Der restaurierte Gedenkstein für Benedikt Mayr am Reichersbeurer Vorberg (Bild: Werner Männer) Zu den Opfern des Krieges im Raum Augsburg ge- hörte der Luftwaffenhelfer Benedikt Mayr, der noch am 27. April 1945, dem Tag vor der Besetzung Augs- burgs, auf dem Sandberg bei Westheim fiel. Nur zwei Monate vorher hatte der aus Greiling (Bad Tölz) Herbert Percival Smith – Ein Opfer der NS-Gewaltherrschaft Stammende seinen 17. Geburtstag gefeiert. Benedikt (Bild: Island Archives States of Guernsey) Mayr wurde zunächst in einem Feldgrab neben dem Kobelkreuz beigesetzt. Der damals bei Westheim an- sässige Oberlehrer Ludwig Hummel hatte den Eltern An das Zwangsarbeiterlager Neuoffingen erinnert des „letzten Gefallenen“ nach dem Krieg verspro- seit 1989 ein dort errichtetes Friedens- und Versöh- chen, ihm dort ein schönes Denkmal zu errichten. nungskreuz. Zusätzlich wurde hier 2014 durch die 1950 wurde Benedikt Mayr auf eine der Kriegsgrä- ‚Zunkunftswerkstatt Offingen‘ ein Versöhnungsweg berstätten auf dem Augsburger Westfriedhof umge- mit sieben Stelen errichtet, die von dem Leid der bettet. Hier ruht er in der Reihe 5, Grab 246. Der Ge- Gefangenen aber auch von der Hilfe couragierter denkstein für ihn stand lange Zeit verwittert an eine Bürger berichten. Diese ließen den Gefangenen un- Hütte gelehnt am Reichersbeurer Vorberg und wurde ter großem persönlichen Risiko Nahrungsmittel und inzwischen durch einen im Ruhestand befindlichen sogar medizinische Versorgung zukommen. Zu ihnen Tölzer Steinmetz restauriert und wieder aufgestellt. gehörte auch die Gundelfingerin Anna Paule, die die Spuren wie die oben genannten und wie dieser Ge- Gefangenen zusammen mit ihrer Tante Anna Stadler denkstein lassen sich überall in Bayern, in jeder Ge- mit Essen versorgte. Anna Stadler rief die Gefange- meinde, in jeder Stadt entdecken. Es gilt sie zu fin- nen bei Kriegsende sogar zur Flucht auf, da sie er- den, ihre historischen Hintergründe zu erforschen fahren hatte, dass diese in das Konzentrationslager und ihre Botschaft an uns alle verstehen zu lernen. Dachau verlegt werden sollten. Die Hälfte der Gefan- genen ergriff Dank dieser Information rechtzeitig die Maximilian Fügen 14 Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.
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