Spurensuche - 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges

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Spurensuche - 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges
Spurensuche – 75 Jahre nach
   Ende des Zweiten Weltkrieges
                 Eine Pädagogische Handreichung des Landesverbandes Bayern
                        im Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.

„Dieser Krieg war ein historisch beispielloser            kriegstote, Opfer des NS-Terrorregimes, in Folge von
Angriff auf die Menschlichkeit, eine Zerstörung           Flucht und Vertreibung Verstorbene, ebenso wie aus-
                                                          ländische Kriegsgefangene. Zahlreiche dieser außer-
aller kulturellen Ideale, die die Aufklärung              schulischen Lernorte sind in besonderer Weise dazu
hervorgebracht hatte, ein Absturz, wie es ihn             geeignet, fachliche Inhalte der historisch-politischen
bis dahin nicht gegeben hatte.“        (Ian Kershaw)     Bildung über konkrete Anschauung und die dort er-
                                                          fahrbare Authentizität zu vertiefen.
                                                          Auch Berichte von Zeitzeugen haben eine eigene,
Vor 75 Jahren, am 8. Mai 1945, endete der Zweite
                                                          hohe Authentizität. Zugleich stärkt die Erfahrbarkeit
Weltkrieg in Europa. In Asien und auf dem Pazifik
                                                          unterschiedlicher Perspektiven und deren Reflexion
tobte er weiter bis zum 2. September 1945. Minde-
                                                          die politische Urteilsbildung der Schülerinnen und
stens 55 Millionen Tote, mehr als die Hälfte von ih-
                                                          Schüler und fördert Empathie. Die Kriegs- und Er-
nen Zivilisten, waren zu beklagen. 1945 ist zweifel-
                                                          lebnisgeneration hat inzwischen das 90. Lebensjahr
los ein Epochenjahr, das für die zweite ­Hälfte des 20.
                                                          deutlich überschritten und verstummt zusehends.
Jahrhunderts bis zum Fall der Mauer 1989 und dem
                                                          Die Suche nach Zeitzeugen, die in der Lage und bereit
Ende des Kalten Krieges bestimmend war und bis in
                                                          sind, über die Zeit von 1939 bis 1945 zu berichten,
die Gegenwart nachwirkt.
                                                          gestaltet sich mittlerweile außerordentlich schwierig
Für heutige Jugendliche liegt der Zweite Welt-            und unterstreicht die Notwendigkeit der Fokussie-
krieg jenseits ihres zeitgeschichtlichen Horizontes;      rung auf Einzelschicksale und eine intensive Quel-
auch ihre Eltern und Großeltern haben ihn nicht           lenarbeit (Feldpostbriefe u. ä.). Die vorliegende Pu-
mehr miterlebt. Schülerinnen und Schüler wün-             blikation wurde durch ehrenamtliche Mitglieder des
schen sich einen lebendigen Geschichtsunterricht.         Pädagogischen Landesbeirates und hauptamtliche
Der Themenkomplex „Zweiter Weltkrieg und Na-              Mitarbeiter des Landesverbandes Bayern erstellt. Ih-
tionalsozialismus“ stößt in der jetzt vierten Gene-       nen sei für ihr Engagement im Sinne unseres Mottos
ration, Schulart unabhängig und auch bei Schüle-          „Gemeinsam für den Frieden“ herzlich gedankt.
rinnen und Schülern mit Migrationshintergrund,
                                                          Das Autorenteam will die Leserinnen und Leser dazu
auf reges Interesse. Dies belegen aktuelle Studi-
                                                          an­regen, sich auf die Suche nach den Spuren zu be-
en und deckt sich auch mit den Erfahrungen, die
                                                          geben, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hat – im
der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.
                                                          lokalen und ­regionalen Umfeld, in der eigenen Fami-
in seiner Jugend-, Schul- und Bildungsarbeit seit Jah-
                                                          lienbiographie, im kollek­ tiven Gedächtnis unseres
ren macht.
                                                          Landes.
Anschaulichkeit ist der Schlüssel des Zugangs zu der                                                 Jörg Raab
Thematik – sowohl bei Schülerinnen und Schülern,
als auch bei den Lehrkräften. Der Wunsch, das kon-
kret sehen zu können, was im Unterricht gelernt bzw.
gelehrt wurde, ist ein ausschlaggebendes Argument
Kriegsgräber- und Gedenkstätten zu besuchen. In
Bayern ruhen an 350 Orten über 208.000 Tote von
Krieg und Gewaltherrschaft: in den Endkämpfen
gefallene oder in den Heimatlazaretten ihren Ver-
wundungen erlegene deutsche Soldaten, zivile Luft-

Landesverband Bayern 2019                                                                                     1
Spurensuche - 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges
Spurensuche – 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges

Spurensuche und Erzählung –
Historisches Lernen an Kriegs­gräberstätten
Geschichte lernen kann man überall: In der Schule          schämt sich, dass die europäische Menschheit nicht
oder im Seminar, auf der Straße, in Kirche und Thea-       auch ohne die Kenntnis des absoluten Negativums
ter, auf freiem Feld, während eines Besuchs bei den        zu einem Miteinander und Füreinander gefunden
Großeltern, an einem Gedenkort. Die Lebenswelt von         hat. Aber die Lehre der Geschichte anzunehmen,
jungen Menschen ist prall gefüllt mit Zeichen und          kann zumindest frühere Fehler ausgleichen und ei-
Spuren der Vergangenheit, die nur auf Entdeckung           nen Weg in die Zukunft weisen.
warten. Aber Friedhöfe – diesem letzten Ort, wo-
                                                           Junge Menschen in Deutschland indes wissen nach
hin es junge Menschen natürlicherweise zieht? Sol­
                                                           so vielen Jahrzehnten zum Glück nur wenig von Krieg
datenfriedhöfe mit ihrer strengen Gestaltung, den
                                                           und Kampf. Aber einerseits werden aktuelle Konflik-
lastenden Mahnmälern und schweren Sinnsprüchen,
                                                           te in anderen Teilen der Erde mit all ihrem Horror
die allesamt eher von einem unbefreiten Verhältnis
                                                           und ihrer Gewalt unablässig durch die Medien ver-
zum Tod künden?
                                                           mittelt. Und andererseits sitzen in unseren Klassen-
Und doch sind die Gräberstätten, die der Volksbund         zimmern die wohl behüteten Mädchen und Jungen
Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. betreut, Lernorte.      zunehmend mit Gleichaltrigen zusammen, die selbst
Nun gibt es in Europa monumentale zivile Friedhöfe,        bereits anderenorts Einiges von Flucht und Vertrei-
die, manchmal mit großem künstlerischen Aufwand,           bung, Zwang und Bedrängung, Einschüchterung und
mehr vom Leben, von Leistung, Erfolg, Sinnenfreude         Bedrohung erfahren haben oder in deren Familien
erzählen als vom Sterben; man kann sie, getröstet,         man über solche schrecklichen Geschichten spricht.
fast heiter durchstreifen. Kriegsgräberstätten jedoch      Gemeinsam hört man Nachrichten von politischem
sind anders. Die hier liegen werden nicht nur betrau-      Streit in der Welt, Großmachtstreben, Klimawandel,
ert, sie mahnen. Denn ihr Tod kam nicht von Natur          atomarer Gefahr; auch unter Jugendlichen nehmen
aus. Kriegsgräberstätten erzählen von zu früh abge-        dieser Tage Gefühle von Besorgnis, Unsicherheit,
brochenem und beendetem Leben, von Gewalt und              Desorientierung zu. Und dann gibt es da den Ge-
Unrecht, von etwas, das gegen die Natur ist. Genau         schichtsunterricht. In ihm untersucht man den Ma-
deswegen sind die Geschichten, die mit diesen Orten        krokosmos der Vergangenheit, wie die Menschen
verknüpft sind, so hörenswert, lehrreich und voller        zu allen Zeiten nach Frieden und Wohlsein suchten
Bedeutung.                                                 und doch, weil andere es nicht zuließen, in Disput
                                                           und Konflikt miteinander gerieten. Das Schlimmste
Über die einhundert Jahre seines Bestehens hat der
                                                           war immer der Krieg. Er forderte Menschenleben,
Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge so manche
                                                           machte Kultur und Recht zunichte; er zerstörte Fa-
Begründung für sein Tun gefunden: Trauer und Trös­
                                                           milien, Hoffnungen und Planungen. Er tat dies meist
tung, Aufklärung und Mahnung, Abschreckung und
                                                           so gründlich, dass aus dem einen immer schon der
Warnung. Eine Art von Lernen gehörte von Beginn an
                                                           nächste Kampf erwuchs. Nie gab es ein Ende. All die
dazu. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg erschraken
                                                           Gewalt schien so normal, dass man überhaupt erst
ja die Gegner darüber, was sie angerichtet hatten:
                                                           vor wenig mehr als hundert Jahren anfing, die Toten
getötet und gemordet, zerstört und gebrandschatzt,
                                                           der Kriege geordnet und eigens zu begraben. Und da-
gedemütigt und entehrt. Das sollte und durfte sich
                                                           mit begann das Zeitalter des Bedenkens, des Geden-
nicht wiederholen. Ein echter Lerneffekt stellte sich
                                                           kens, des historischen Lernens.
indessen erst nach der abgrundtiefen Erfahrung des
Zweiten Weltkriegs ein. Dieses Lernen hält bis heute       Die 832 Kriegsgräberstätten, die der Volksbund heu-
an. Das friedlich und schiedlich versammelte, zu           te betreut, sollen also nicht mehr, wie womöglich
großen Teilen sogar geeinte und integrierte Europa         ehedem, unpersönlich an „Schlachten“ erinnern,
ist ohne die politischen, materiellen und seelischen       sondern sie sind deswegen moderne Lernorte, weil
Verheerungen der Weltkriege nicht denkbar. Man             sie damalige Menschen im Erleben des Krieges in

2                                                                     Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.
Spurensuche - 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges
den Mittelpunkt stellen. Sicher begegnen wir auf          Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge bemüht
den Gräberfeldern mehrheitlich gefallenen Solda-          sich heute stärker denn je im Angesicht solch kriti-
ten, aber daneben eben auch Zivilisten, Opfern von        scher Rückfragen um zivilgesellschaftlich integrative
Massakern, von Bombardierungen. Immer jedoch              Positionen. Antworten wird er in der konkreten Aus-
verweisen die Grabmäler – viele ja namenlos über          gestaltung seiner Friedhöfe als Feldern der Erinne-
untrennbaren Gebeinen in Gemengelage – auf die            rung finden. Die Lokalität des Gedenkens ist dafür
erwähnten zu kurz gekommenen Geschichten. Jeder           Voraussetzung.
Kriegstote übergibt deswegen an die Lebenden die
                                                           Bayern ist ein Land, das allerorts um Wohlstand und
Aufgabe, das Wesen des Krieges und die Möglichkeit
                                                           Frieden beneidet wird. Aber es ist auch ein Land
des Friedens zu ergründen, mithin die abgebroche-
                                                           mit einer kriegerischen Geschichte. Bayern kämpf-
nen Erzählungen weiterzuführen. Kritische Reflexion
                                                          ten über die letzten Jahrhunderte an vielen Orten
aus der zeitlichen Distanz ist für dieses Ziel genau-
                                                          Europas, und Kriegsgefangene aus der ganzen Welt
so vonnöten wie der Versuch von Empathie. Einem
                                                          mit allen erdenklichen Hautfarben, kulturellen Prä-
Flüchtling aus Syrien oder Afghanistan, dem Ur-Enkel
                                                          gungen, eigenen Einschätzungen und Erinnerungen
von ostpreußischen Vertriebenen, der Tochter von
                                                          saßen in bayerischen Lagern ein. Es gibt Kriegsgrä-
ehemaligen „Gastarbeitern“ mag das leichter fallen
                                                          berstätten mit starker bayerischer Belegung in West-
als jemandem, der sich dort meint, wo der friedli-
                                                          und Osteuropa; und in Bayern ruhen Kriegstote
che Alltag zum scheinbar ewigen Grundrecht von
                                                          aus aller Herren Länder. Sie teilen die gemeinsame
jedermann gehört. Aber auf den zweiten Blick wird
                                                          Menschheitserfahrung von Unrecht und Streit und
die Herausforderung auch jenen klar, die sich außer-
                                                          der Unmöglichkeit des Friedens, wenn machtpoli-
halb der Kräfte der Geschichte wähnen. Es ist dies
                                                          tische Interessen nicht demokratisch kontrolliert,
ja der Ausgangspunkt historisch-politischer Bildung
                                                          verantwortungsbewusst gezügelt, völkerrechtlich
überhaupt: einen Sinn dafür zu vermitteln, dass wir
                                                          ­legitimiert werden. Ihr aller Andenken wird durch
alle zur Übernahme von gesellschaftlicher Verant-
                                                           den Volksbund gewahrt. Doch scheinen mehr als 100
wortung aufgerufen sind, auch wenn uns ein Dasein
                                                           Jahre nach dem Ende des Ersten und bald 75 Jahre
fernab von Kampf und entfesseltem Streit so viel an-
                                                           nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Kennt-
genehmer scheint.
                                                           nisse zu verblassen, die Bilder zu verschwimmen und
Im Angebot der außerschulischen Lernorte, welche in        die Rituale zu erstarren. Wie sonderbar, denn könnte
Deutschland ständig an Zahl zunehmen, sind Solda-          man nicht schon aus dem Vergleich der Vielfalt der
tenfriedhöfe freilich nicht immer im Vorteil: ­Sicher,     sich heute in Europa friedlich begegnenden Kulturen
man steht hier auf originalen Schauplätzen, der            mit den damals im Konflikt gegeneinander anren-
regio­nale Bezug für das Lernen liegt auf der Hand –       nenden Nationen einen willkommenen Lernanlass
aber es gibt ja doch viel weniger Überreste zu erkun-      ziehen? Die Mittel der Aushandlung können dabei
den als beispielsweise in einer Burgruine; Vergan-         bewährt oder innovativ sein.
genheit wird hier nicht auf eine Weise anschaulich,
                                                          Da sind zuerst die vom Volksbund organisierten
wie das bedingt durch Exponate im Museum der Fall
                                                          Fahrten, bei denen (nicht wenige bayerische) Ju-
ist; die Authentizität des historischen Ortes, obgleich
                                                          gendliche z.B. Gräber und ganz kleine Gedenkorte
theoretisch unbestritten, lässt sich im Gelände oft
                                                          in Frankreich, Belgien, Tschechien, Italien besuchen.
gar nicht leicht erkennen; eine gewisse Einförmig-
                                                          Dort kommen die Deutschen, die vielmaligen Kriegs-
keit der Gestaltung ist nicht von der Hand zu weisen.
                                                          gegner, welche heute wieder anderen Ländern erklä-
Müssen eigentlich, könnte schon die erste Frage der
                                                          ren oder vorschreiben wollen, wie sie ihre Wirtschaft
Jüngeren lauten, Gefallene noch im Tod in Reih und
                                                          organisieren und Haushalte führen sollen. Man ver-
Glied aufmarschieren? Warum entlassen wir sie nicht
                                                          mutet: Ist ihr Reichtum nicht auch ein Ausfluss aus
aus der Uniformität? Wird menschliche Würde hier
                                                          den Besetzungen, Erpressungen, Nötigungen zumin-
etwa nicht individuell gedacht? Wer setzt und be-
                                                          dest des letzten Krieges mit seinem perfektionierten
stimmt all diese Zeichen? Und geht es tatsächlich um
                                                          System der Zwangsarbeit? Man zweifelt zudem, weil
Geschichte und historisches Lernen oder doch „nur“
                                                          es immer noch Opfergruppen der NS-Zeit ohne Ent-
um ein Zurückrufen alter Schlachtordnungen? Der

Landesverband Bayern 2019                                                                                    3
Spurensuche - 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges
Spurensuche – 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges

schädigungsanspruch, damals ausgeraubte Staaten            sere eigenen Maßstäbe gegenüber dem damaligen
ohne angemessene Reparationsleistungen, gibt. Die          Geschehen keinen Absolutheitsanspruch besitzen.
Gastgeber legen sich trotzdem Schärpen um, bestel-         Gleichwohl fühlen wir uns gerade an Kriegsgräbern
len ein Büffet, lassen noch einmal die Wege zu den         und Gedenkstätten von der Vergangenheit betroffen,
Gedenksteinen im Wald, auf dem Berg, in weiter Flur        was sich, wie man geschichtsdidaktisch sagt, im Akt
ebnen. Und die jungen Deutschen, die Bayern, sie           der Sinnbildung ausdrückt: Wir sehen uns in einer
sind ganz anders als erwartet, nämlich gerade wie          langen Tradition, nehmen uns an der Geschichte ein
die eigenen Kinder: blond, schwarzhaarig und dun-          Beispiel (ggf. auch ein abschreckendes), wollen be-
kelhäutig, gläubig in verschiedenen Konfessionen           wusst andere Lösungen für Probleme finden als frü-
oder fern von Gott, wissend oder ohne Ahnung, ent-         her, definieren uns bzw. unsere Umwelt als Produkt
gegenkommend, zugewandt, neugierig; lustig und             von historischer Entwicklung. Instrumentelle Hilfen
feierwütig; zurückhaltend, verlegen, bewegt, schüch-       bei dieser Aufgabe von Reflexion und Bewusstseins-
tern. Man kommt ins Gespräch – irgendeine Sprache          bildung sind eine möglichst reichhaltige Überliefe-
findet sich immer. 1870/71 – mein Gott, wie lange ist      rung, Anreize zur Imagination, die Erfahrung von Ge-
das her, davon besitzt ihr noch ein Heft, einen Knopf,     schichte mit mehreren Sinnen, Motivation durch das
eine gepresste Blüte? Vom Großen Krieg gibt es Bil-        Erlebnis von Fremdheit wie Vertrautheit sowie Anlei-
der und Briefe in Menge. Vom Zweiten spricht man           tung; Zeit und Raum für die mentale Auseinanderset-
nur gedämpft. Das Beste, was passieren wird, ist, dass     zung müssen ebenso gegeben sein. Ein zumindest
alle einfach mehr voneinander wissen, aus den im-          experimentelles Ergebnis der historischen Bewusst-
mer weniger Spuren, die draußen bleiben, eine ge-          seinsbildung ist das Vermögen, über das zur Kennt-
meinsame Geschichte und Erinnerung formen wol-             nis Genommene, Abgewogene und Bewertete eine
len.                                                       eigene Geschichte erzählen zu können, die triftig ist
                                                           insofern, als sie die Quellen achtet, Gründe für ihr Ur-
Doch natürlich kann man, selbst wenn man überall
                                                           teil nennt und angibt, wie sie sich zu den vielen zum
Geschichte lernen kann, dies nicht überall in der
                                                           Gegenstand bereits erzählten Geschichten verhält.
gleichen Weise tun. Die Geschichtsdidaktik hat Um-
                                                           Dies ist im Übrigen der Grund, warum die „narrative
gangsformen für das historische Lernen in den ver-
                                                           Kompetenz“ im Lehrplan PLUS für den Geschichts-
schiedenen Schularten, an außerschulischen Lern-
                                                           unterricht an bayerischen Schulen (oder für histo-
orten, mit Medien aller Art entwickelt. Sie tut das,
                                                           rische Lernanteile in Verbundfächern) eine so gro-
um die Qualität des Lernens zu sichern. Zu diesem
                                                           ße Rolle spielt. Alle diese Ansprüche lassen sich im
Programm gehört die Respektierung von grundle-
                                                           Zuge eines vor- und nachbereiteten Besuches einer
genden Kategorien historischer Erkenntnis wie Mul-
                                                           heimischen oder ausländischen Kriegsgräberstätte
tiperspektivität, Kontroversität, Konstruktivität – was
                                                           in besonderem Maße erfüllen, zumal der Volksbund
untersucht wird, soll dafür aus unterschiedlichen
                                                           für die Arbeit zunehmend pädagogische Hilfsmittel
Perspektiven betrachtet und gewürdigt werden, ab-
                                                           bereitstellt.
weichende Deutungen sind zuzulassen, am Ende
entsteht immer so etwas wie eine augenblicklich            Jede Kriegsgräberstätte ist nämlich zunächst einmal
gültige Vorstellung ehemaliger Vorfälle, deren Re-         genau diese Spur zu vergangenem Geschehen, das,
levanz und Größe. Orientierung bei der Spurensu-           so das Eigenartige, in außergewöhnlicher Weise von
che liefern stets die Gegenwart und Lebenswelt der         den Nachkommen bewertet wird. Selbst wer wenig
nicht nur jungen Lernenden sowie die Frage, wohin          bis kein Vorwissen mitbringt, wird angesichts der,
hinein Geschichte ihre Wirkung entfalten soll. Me-         wie schon kritisiert wurde, oft sehr gleichförmigen
thodisch ausgegangen wird im Lernprozess von der           Gräberreihen sowohl auf massenhaftes Geschehen
Erfahrung einer Zeitdifferenz – früher lagen die Din-      schließen als auch aufgrund der Tatsache, dass diese
ge anders, waren die Verhältnisse anders, dachten,         Art von Friedhof wie keine andere auf Dauer erhal-
urteilten und handelten die Menschen anders als wir        ten und gepflegt wird, schnell annehmen, dass von
heute. Es ist ja tatsächlich hierzulande nicht mehr so     dem Ort Botschaften ausgesandt werden, die gene-
leicht vorstellbar, dass wir morgen Gewehrmündun-          rell, lange Zeit oder für immerdar gültig sein sollen,
gen aufeinander richten würden. Doch dürfen un-            die Menschen jeder Herkunft und Bestimmung glei-

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Spurensuche - 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges
chermaßen angehen – und die womöglich noch nicht        che Lehrenden das sogar wünschten), aber sie eröff-
genügend Gehör gefunden haben.                          nen zeitgemäße Wege in die Vergangenheit, die wir
                                                        alle, auch die Älteren, beschreiten können.
Die didaktische Aufbereitung von Kriegsgräberstät-
ten erfolgt, wie soeben begründet, zunächst orts-       Das Ergebnis aller Mühen ist Erzählung. Ich bin der
spezifisch. Das gebietet schon das Schicksal der        festen Überzeugung, dass, wer eine historisch be-
hier bestatteten Soldaten, die keinen allgemeinen       gründete Familiengeschichte bewusst besitzt (in der
Tod gestorben sind, sondern unter recht konkre-         unter anderem die je „eigene“ Erfahrung des Krieges
ten Umständen um ihr Leben kamen: Es gibt immer         über die Generationen, daneben das Vorwärtsstre-
jene, die den Krieg befahlen und dafür Gründe an-       ben und die Rückschläge der Einzelnen ihren Platz
brachten (welche geprüft werden müssen); jene, die      haben) in besonderer Weise zum Verstehen von Ge-
den Kampf leiteten und sich dabei skrupellos oder       schichte allgemein befähigt ist, in der es dann auch
bedächtig zeigten; jene, die mit den Kämpfenden         um die Empathie mit dem „Gegner“, den Nachvoll-
litten – Familienangehörige ebenso wie Landsleute,      zug fremden Sterbens und die Trauer über den Tod
Verbundene im Geiste, Glaubensbrüder – und ande-        des Unbekannten geht. Von all dem kann es gerade
re, die vom Krieg profitierten. Das ist natürlich der   im Bedenken des Zweiten Weltkrieges nicht genug
Sinn dessen, ein Gräberfeld als „Spur“ zu bezeich-      geben. Aber die Jungen dürfen nicht zum simplen
nen: Die zugehörigen Erklärungen, die Kontexte          Gefäß einer gedanklichen Aufbewahrung dessen,
und Interpretationen liegen außerhalb, nicht in den     was die Alten vor ihnen an Unfassbarem angerichtet
Gruben, nicht auf den Mahnmälern, nicht in den Ver-     haben, degradiert werden. Der Volksbund Deutsche
lustlisten. Das Beschauen einer Kriegsgräberstätte      Kriegsgräberfürsorge, der sich so sehr als Akteur des
erzeugt daher eine hohe Motivation, genau nach den      Friedens versteht, mag das immer besser erkennen
Umständen des Kampfes, des Sterbens und Weiter-         und darauf mit seinen Mitteln der Zugänglichma-
lebens zu fragen; dem kollektiven Erleben soll die      chung von Friedhöfen und damit der Vergangenheit
individuelle Erfahrung hinzugefügt werden; ein lo-      reagieren. Der Glücksmoment von Lehrkräften, Pro-
kales Geschehen an einem kleinen Ort ist den über-      jektleitern, Organisatoren von Begegnungsfahrten,
greifenden geschichtlichen Rahmen einzuordnen.          wenn sie sehen, wie sich junge Menschen einer, ihrer
Aus Biographie wird Historiographie. Nicht immer        Vergangenheit tatkräftig zuwenden, liegt jedenfalls
müssen Schülerinnen und Schüler dafür neue Archi-       nicht in der beiläufigen Gewissheit, dass Erinnerung
ve auftun oder bekannte Quellen gegen den Strich        folglich nicht verloren geht. Vielmehr reift die Ein-
bürsten – das wäre im Übrigen meist sogar zu viel       sicht, dass auf diesem Wege Geschichte für die Ge-
verlangt. Entdeckend-forschendes Lernen, wie es in      genwart aktualisiert wird. Nicht „Was ist geschehen?“
der Erziehungswissenschaft gepriesen wird, heißt        lautet die alles überwölbende Frage, sondern: „Wie
nicht, dass sich junge Leute nach der Decke der pro-    gehen wir mit dem ja durchaus Vielen, das wir wis-
fessionals strecken und deren voraussetzungsvolle       sen, heute um, wie prägt es unser Bewusstsein, wie
Aufgabe übernehmen. Mit ihrer Erinnerungsarbeit,        soll es unser Handeln anleiten?“ Junge Menschen,
um im Fach Geschichte zu bleiben, formulieren sie       die Kriegsgräberstätten aufsuchen, Biographien re-
vielmehr eigene Fragen an sich selbst und andere,       cherchieren, Ausstellungen einrichten, Zeitungen ein
prüfen die Vertrauenswürdigkeit der Tradition und       Interview geben (etwa als Experten dafür, wem ein
beglaubigen gegebenenfalls ein fortbestehendes          Ehrenzeichen, eine Gedenktafel, ein Straßenname zu
Interesse an Aufklärung und Wissen. Und sie vermit-     widmen sei), die also aus alten Spuren eine ganz und
teln Kenntnisse oder Deutungen auf ihre Art – das       gar gegenwärtige Erzählung machen, zwingen uns
heißt meistens unter Zuhilfenahme digitaler Medien,     damit vor allem zu einem: die Zukunft des Friedens
aber ebenso körperverbundener Ausdrucksformen           zu begreifen.
wie Theater und re-enactment – in die gegenwärtige                                  Prof. Dr. Michele Barricelli
Zeit. Etwas pathetisch könnte man sagen, sie geben
damit der Vergangenheit ein heutiges Gesicht. Kei-
neswegs können sie Tote wieder auferstehen lassen
(auch wenn das schrill klingt, vermute ich, dass man-

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Spurensuche – 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges

Das Kriegsende in einem bayerisch-schwäbischen Dorf
Das Dorf Binswangen, am südlichen Rand des Do-             Anwesen Quartier beziehen. Mit Hilfe meines Vaters
nautales im Landkreis Dillingen a. d. Donau gelegen,       konnten sie Ross und Wagen wieder einigermaßen
machte zu Beginn der 1950er Jahre einen idyllischen        instand setzen, bevor sie unweigerlich mit unbe-
Eindruck. Doch in den Köpfen der älteren Dorfbe-           kanntem Ziel weiterziehen mussten. Zum Dank für
wohner steckte noch das Trauma der Todesangst vor          Aufnahme und Verpflegung hatten die Kameraden
den im April 1945 von Dillingen her anrückenden            meinem Vater eine hufkranke junge Fuchsstute mit
US-amerikanischen Streitkräften. Geschützdonner            komplettem Brustgeschirr überlassen. Dieses Tier
und immer näher kommende Artillerieeinschläge              wurde von ihm gesund gepflegt und einem Binswan-
versetzten die Menschen in Angst und Schrecken.            ger Landwirt zum Einsatz überlassen. Es tat noch vie-
Viele Gehöfte wurden in Brand geschossen, einige           le Jahre seinen Dienst.
Dorfbewohner wurden verletzt oder fielen dem Ku-
gel- und Splitterhagel zum Opfer.
                                                           Die Front rückt näher…
Der damals zwölfeinhalbjährige Augenzeuge Theo
                                                           Granatfeuer und Schüsse waren immer deutlicher
Sendlinger schildert seine persönlichen Erlebnisse:
                                                           zu hören. Im Dorf verbreitete sich das Gerücht, dass
                                                           in Lauingen die Donaubrücke gesprengt wurde. Die
„Erste Anzeichen für ein nahendes Ende…                    Brücke in Dillingen blieb dank der ‚Sabotage‘ eines
                                                           deutschen Offiziers erhalten. Am Ende war bekannt,
In den ersten Tagen des April 1945 waren die
                                                           dass alle Donaubrücken bis Regensburg, mit Ausnah-
­Schüsse und Einschläge von Artilleriegranaten der
                                                           me der in Dillingen, gesprengt worden waren. Von
 an­rückenden amerikanischen Panzereinheiten aus
                                                           Dillingen rollten nun die Panzerkolonnen in Richtung
 ­weiter Ferne schon deutlich zu hören.
                                                           Binswangen.
Kolonnenweise wurden abgemagerte russische
                                                           ‚Man weiß nie, was kommen wird‘, meinte mein Va-
Gefangene, deutsche und ausländische Zivilisten,
                                                           ter als erfahrener Frontsoldat. Wir packten Kleider,
alte Leute und junge Frauen mit Kleinkindern und
                                                           Decken, dauerhafte Lebensmittel und einiges mehr
Säuglingen an der Brust, vermutlich Häftlinge und
                                                           auf einen Handleiterwagen. Weitere Nahrungs- und
Zwangsarbeiter, vielleicht auf Todesmärschen, durch
                                                           andere Gebrauchsgüter versteckten wir in der Erde
das Dorf geführt. Nur das Nötigste mit sich führend,
                                                           unter dem Hofpflaster.
die wenige Habe in Lumpen oder Decken eingepackt,
auf dem Rücken tragend oder auf alten Handkarren
mitziehend, bewegte sich der Elendszug durch das           Letzte Verteidigungsversuche …
Dorf. Nur mit ausdrücklicher Erlaubnis der begleiten-
                                                           Der Höhenzug entlang des südlichen Ortsrands wur-
den Bewacher, ausnahmslos älterer deutscher Solda-
                                                           de auf Befehl der Waffen-SS in Richtung West und
ten, durften die Dorfbewohner den hungernden und
                                                           Ost zum neuen Stützpunkt zur Verteidigung erklärt,
bettelnden Leuten etwas Essbares zustecken.
                                                           wie ältere Dorfbewohner mitbekamen. Die Panzer-
Desgleichen war zu beobachten, wie sich die ersten         sperren, hergestellt aus starken Baumstämmen – ein
aufgeriebenen deutschen Kompanien mit Pferde-              Durchgang war für die Breite landwirtschaftlicher
gespannen vor den aus dem Raum Ulm, Günzburg,              Gespanne eingerichtet – wurden vom Volkssturm er-
Lauingen und Dillingen nachrückenden ,feindlichen’         richtet. Von diesen Sperren befand sich eine vor dem
Panzereinheiten zurückziehen mussten und sich da-          Landgraben in Richtung Dillingen, eine weitere am
bei auch durch Binswangen bewegten.                        Ortseingang im Westen und eine dritte mitten im Ort
                                                           auf der Hauptstraße beim Anwesen Steidle.
Einer dieser versprengten Kompanien gehörte wäh-
rend des Krieges auch mein Vater als Hufschmied an.        Bis Samstag, 21. April, zogen sich deutsche Truppen,
Die Kameraden kannten seine Heimatadresse und              angeblich unter Führung der Waffen-SS, zu einem
lenkten daher ihren Rückmarsch über Binswangen.            Verteidigungsblock über den südlichen Höhen und
Sie führten sogar noch einige seiner damals betreu-        den Wäldern zusammen. Ich sah junge Soldaten im
ten Pferde mit und konnten einige Tage in unserem          Alter von ca. 16 Jahren, vermutlich Freiwillige aus

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sich über unseren Hof spannte. Ich sah noch, wie die
                                                         Drähte funkensprühend herunter fielen. Unser Nach-
                                                         bar wurde lebensgefährlich verletzt.
                                                         Nun folgte ein ca. zwei Stunden dauernder Artillerie-
                                                         beschuss auf das Dorf. Nach Beginn einer Feuerpause
                                                         rannte mein Vater mit uns allen in den nahegelege-
                                                         nen ,Kohlenkeller’, wie im Dorf der einstige Schloss-
                                                         keller genannt wurde. Plötzlich drang die Kunde
                                                         durch den Keller, dass sich in den eingelagerten Fäs-
                                                         sern und Eimern, auf denen die Leute saßen, Farben,
                                                         gefährliche Nitroverdünnung und Fette befanden.
                                                         Brennende Kerzen wurden sogleich gelöscht. Wir
                                                         saßen völlig im Dunkeln, quasi auf einem Pulverfass.

                                                         Der nächste Tag: Dienstag, 24. April …
                                                         Frühmorgens hörte der Beschuss schlagartig auf.
                                                         Einige Leute öffneten ganz vorsichtig das Tor. Von
                                                         unserem Lager aus an der hinteren Wand war Ta-
                                                         geslicht zu sehen. Ganz Mutige wagten sich hinaus
           Theo Sendlinger 1945 (Bild: Privat)           und erblickten die ersten amerikanischen Soldaten.
                                                         Ein tiefes Durchatmen ging durch die ca. 200 ‚Keller-
                                                         flüchtlinge‘, da man hoffen konnte, dass der Krieg für
HJ und Werwolf, an unserem Haus vorbeiziehen. Die
                                                         das Dorf zu Ende war.
Uniformen waren ihnen viel zu groß, den Stahlhelm
mussten sie mit der Hand festhalten. Mein Vater          Auf Befehl der Amerikaner durfte den Keller vorerst
sprach diese mit Karabinern und Panzerfäusten be-        niemand verlassen. Die Befreier führten Kontrollen
waffneten ,Buben’ an und bot ihnen Kleidung von          durch und suchten nach Nazis sowie Wehrmachtsan-
seinem Sohn und ein sicheres Versteck für die nächs-     gehörigen. Tatsächlich hatten sich einige Soldaten
ten Tage an. Die Antwort klang ziemlich deprimie-        unter uns gemischt. Auch ein 18-jähriger ehemaliger
rend: ,Wir haben Befehl und müssen Amis und Panzer       Soldat aus Binswangen, der sogar schon Zivilklei-
abschießen’.                                             dung trug und nachweisen konnte, dass er im Rah-
                                                         men eines Austausches von Verwundeten entlassen
                                                         worden war, wurde abgeführt.
Der Schicksalstag: Montag, 23. April …
                                                         Nachdem wir schließlich unseren Schutzraum verlas-
Man hörte längere Zeit kaum noch Schüsse. Mein Va-
                                                         sen durften, schauten zuerst die Älteren nach ihren
ter als ehemaliger Soldat erzählte uns Kindern, dass
                                                         Häusern und Gehöften, so auch mein Vater. Er konnte
Granaten, die man ‚pfeifen‘ hört, nicht mehr gefähr-
                                                         berichten, dass an unserem Anwesen außer Glasbrü-
lich sind. Er erklärte uns auch, dass die momentane
                                                         chen keine besonderen Schäden festzustellen waren.
Feuerpause in der Ferne zum Nachschub und Nach-
                                                         Viele Bauern hatten zu Beginn der Offensive ihre Tie-
rüsten von Kriegsgerät diene.
                                                         re losgebunden und aus zum Teil brennenden Ställen
Es dauerte nicht lange. Vater stand mit mir als klei-    ins Freie getrieben. Sie durften jetzt auf ihren Höfen
nem Jungen, 12 ½ Jahre alt, und meiner jüngeren          bleiben, um das Vieh zu versorgen und die Bevölke-
Schwester in der Nische am Hauseingang. Wir hörten       rung mit Milch und sonstigen Lebensmitteln zu belie-
plötzlich einen Abschuss. Ich fühle heute noch, wie      fern. Verendete Tiere mussten weggeräumt werden.
sich mein Vater mit mir zum Glück in die richtige Ecke   Viele Helfer, auch ehemalige Zwangsarbeiter, waren
drückte. Von diesem Abschuss war kein Pfeifen mehr       trotz der dürftigen Ausrüstung der Feuerwehr mit
zu hören. Diese Granate flog genau über unseren Hof,     Löscharbeiten an ca. 40 Bränden beschäftigt.“
schlug im Dachstuhl des Nachbarn ein und traf genau
                                                                                                 Anton Kapfer
den Dachständer der elektrischen Oberleitung, die

Landesverband Bayern 2019                                                                                    7
Spurensuche – 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges

Kriegsende und Nachkriegszeit und ihre Spuren
im Tölzer Land
Das bayerische Oberland ist abseits des Bilderbuch-        gen – der Glaube an den propagierten „Endsieg“ und
Panoramas des Alpenvorlandes ein vielfacher Lernort        die reine Verblendung ließen kein Einsehen zu. Erst
der Geschichte, insbesondere des Zweiten Weltkrie-         im Tegernseer Tal konnte die Division endgültig von
ges und der Nachkriegszeit. So wenig die Kreisstadt        US-Truppen zur Aufgabe gezwungen werden.
Bad Tölz und ihr Umland den Anschein auch erwe-
                                                           Schlendert man heute durch die Tölzer Altstadt, so
cken mögen, so sehr ist doch der Fußabdruck aus der
                                                           wird man, egal ob man von der Isar die Marktstraße
Zeit des Zweiten Weltkrieges noch präsent, wenn
                                                           herauf oder von der Mühlfeldkirche hinunter kommt,
man nur ein wenig genauer hinsieht. Einige Beispiele
                                                           mit der NS-Vergangenheit konfrontiert. Wie bereits
sollen im Folgenden aufgezeigt werden.
                                                           im Ersten Weltkrieg mit dem 30. Infanterieregiment
Im Jahr 2014 gab es einen medialen Aufschrei –             stellte Bad Tölz auch im Zweiten Weltkrieg eine eige-
Google Maps hatte den Berg Heiglkopf, der sich auf         ne militärische Einheit. Oberhalb der Isarauen am so-
dem Gebiet der Gemeinde Wackersberg befindet,              genannten „Studentenbühl“, einem Berghang über
bereits seit 2007 als „Hitler-Berg“ gelistet. Hinter-      Bad Tölz, thront das Denkmal für die 97. Jägerdivisi-
grund war, dass der Heiglkopf 1933 tatsächlich in          on, genannt „Spielhahnjäger“. Flankiert von Fahnen
Hitlerberg umbenannt worden war. Auf seinem Gip-           in den Stadtfarben Schwarz-Gelb und dem bayri-
fel prangte ein 12 Meter hohes eisernes Hakenkreuz,        schen Weiß-Blau erinnert dieses Denk- und Mahn-
das weithin sichtbar war. Nach dem entschiedenen           mal an die rund 10.000 Soldaten dieser Division, die
Einschreiten der Gemeinde und vieler Nutzer gab            am 10. Dezember 1940 in Bad Tölz aufgestellt wur-
Google nach und änderte den Namen.                         de. Die Division war während des gesamten Krieges
                                                           ausschließlich an der Ostfront eingesetzt. Nach Be-
Der Name eines der berühmtesten Werke der Anti-
                                                           kanntgabe des Kriegsendes verweigerte die Division
Kriegsliteratur aus dem deutschsprachigen Raum
                                                           die Kapitulation gegenüber der Roten Armee und
ist wohl „Die Brücke“ von Gregor Dorfmeister alias
                                                           versuchte sich aus dem Raum südlich Prag kämpfend
„Manfred Gregor“. Er schildert das Schicksal von sie-
                                                           in das von den US-Truppen besetzte Gebiet durchzu-
ben Jungen, die nach kurzer Ausbildung beim soge-
                                                           schlagen, wohl um der sowjetischen Kriegsgefangen-
nannten „Volkssturm“ eine Brücke gegen die heran-
                                                           schaft und tschechischen Freischärlern zu entgehen.
rollenden US-amerikanischen Truppen verteidigen
                                                           Die Truppen splitterten sich auf, um als einzelne Teil­
sollten. Die Geschichte ist wahr, und sie spielte sich
                                                           einheiten einfacher voran zu kommen, doch nicht
so an einer unbedeutenden Brücke bei Bad Heilbrunn
                                                           alle schafften es, der sowjetischen Kriegsgefangen-
ab, die über die Loisach führte. Von den sieben Jun-
                                                           schaft zu entgehen. Viele gelten seitdem als vermisst
gen überlebten drei, unter Ihnen Dorfmeister, und
                                                           und ihre Schicksale sind bis heute ungeklärt.
wichen nach Bad Tölz aus. Dorfmeister widersetzte
sich dem Befehl eines Polizisten, auch in Bad Tölz die     Geht man in Bad Tölz die Marktstraße hinauf, passiert
Brücke über die Isar zu verteidigen und desertierte        man einen Brunnen mit einer Mariensäule in der Mit-
– am nächsten Morgen fand er seine beiden Kamera-          te. Die dort stehende Figur wurde aus einem Reichs-
den tot auf eben jener Brücke. Dorfmeister war spä-        adler mit Hakenkreuz gegossen, der bis Kriegsende
ter Chefredakteur des Tölzer Kuriers und starb 2018        auf der Ostseite der Isarbrücke stand. Nach dem
im Alter von 88 Jahren.                                    Krieg wurde dieser abgerissen, eingeschmolzen und
                                                           seinem heutigen friedlichen Zweck zugeführt.
Gerade in den letzten Kriegstagen (die US-Armee
nahm Bad Tölz am 1. Mai 1945 ein) leisteten Rest-          Auf Höhe des Stadtmuseums wurden Stolpersteine in
teile der 17. SS-Panzergrenadier-Division „Götz von        den Boden eingelassen, die auf Schicksale von Tölzer
Berlichingen“, die SS-Einheit „Werwolf Bayern“ und         Juden und weiterer Opfer der NS-Gewaltherrschaft
flugs ausgebildete Hitlerjungen noch Widerstand ge-        hinweisen. Eine dieser jüdischen Familien waren die
gen die alliierten Truppen. Aber auch an den eigenen       Sandbanks. Der Vater, Samuel, war Schneider und
Bürgern wurden noch Verbrechen und Morde began-            Kaufmann und hatte ein Trachtenmodengeschäft. Er

8                                                                      Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.
die Alliierten verschont, wohl auch deshalb, weil die
                                                        US-Armee die SS-Junkerschule als strategisch wichti-
                                                        gen Punkt erachtete und für die Zeit nach dem Krieg
                                                        auch als Stützpunkt des bayerischen Militärkom-
                                                        mandanten, General Patton, nutzen wollte. Bis in die
                                                        frühen 90er Jahre waren hier Spezialkräfte der Ame-
                                                        rikaner stationiert. Heute ist die „Flintkaserne“ ein
                                                        Behördenzentrum und ein neuer Stadtteil.
                                                        Doch auch die Jugend der Region konnte dem Ein-
                                                        fluss des NS-Regimes nicht entgehen. So hielt man
                                                        im sogenannten „Hochlandlager“ zuerst in Weg-
                                                        scheid bei Lenggries mit rund 4.000 Mitgliedern der
                                                        Hitlerjugend ein großes Zeltlager ab. Anschließend
                                                        wurde dieses „Hochlandlager“ für weitere Veran-
                                                        staltungen der Hitlerjugend ein fester Bestandteil.
                                                        Hierzu erwarben die Nazis ein großes Gelände in der
                                                        Nähe des Ortes Königsdorf. Heute befindet sich dort
     Stolperstein für Samuel A. Sandbank in Bad Tölz    eine Jugendsiedlung, die außer Freizeitaktivitäten
                   (Bild: Florian Völler)               auch die Begegnung Jugendlicher verschiedener Na-
                                                        tionen fördert.

wurde, wie auch weitere Mitglieder seiner Familie,
von den Nazis ermordet. Er starb 1942 im KZ There-
sienstadt.
Eines der bekannteren Mahnmale für die Opfer des
NS-Regimes findet sich direkt an der Mühlfeldkirche
– nämlich jenes zur Erinnerung an die Todesmärsche
aus dem KZ Dachau, welche den Zug der dem Tode
Geweihten auch durch Tölz führten. Sie sollten in den
letzten Kriegstagen noch nach Tirol in die ominöse
„Alpenfestung“ getrieben werden. Entlang der Stre-
cke dieser Todesmärsche wurden mindestens 1.000
Häftlinge, die zu schwach zum Weitergehen waren,
hingerichtet oder sie starben aufgrund Erschöpfung
oder erlagen ihren Verletzungen. Die KZ-Häftlinge
wurden bei Waakirchen durch die anrückende US-Ar-
mee befreit und viele entgingen dem sicheren Tod.
Sie wurden dann größtenteils in den Kasernengebäu-
den der ehemaligen SS-Junkerschule in Bad Tölz un-
tergebracht und erstversorgt.
Diese am Ortsrand von Tölz befindliche SS-Junker-
schule war eine der Kaderschmieden der Nationalso-
zialisten, wo der Führernachwuchs aus zwölf Ländern
auf die Ideologie der Nazis und den Einsatz im Feld
getrimmt wurde. Hier waren von 1940 bis 1945 auch
rund 200 Häftlinge des KZ Dachau interniert, denn
Tölz war eine Außenstelle des Konzentrationslagers.     Denkmal für die Opfer des Dachauer Todesmarsches, der im
Die Tölzer blieben von den Bombardierungen durch          April 1945 durch Bad Tölz führte (Bild: Florian Völler)

Landesverband Bayern 2019                                                                                      9
Spurensuche – 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges

Als erste Kriegsgräberstätte in Bayern wurde nach          Der Volksbund ist in den Landkreisen Bad Tölz-
dem Zweiten Weltkrieg in Gmund am Tegernsee                Wolfratshausen und Miesbach mit allen Veteranen-,
für 369 Tote und Gefallene aus 13 Gemeinden der            Reservisten- und Soldatenvereinen und im Rahmen
Umgebung eine letzte Ruhestätte geschaffen. Un-            von Bildungsprojekten mit Schulklassen und Ju-
ter ihnen waren Soldaten, Wehrmachtshelferinnen,           gendgruppen darum bemüht, an diesen Kriegsgrä-
Verwundete aus den Lazaretten und viele mehr. Auf          berstätten, den örtlichen Kriegerdenkmälern und an
diesem Friedhof findet jährlich im November das            den oben genannten „Lernorten der Geschichte“ die
traditionelle Internationale Totengedenken statt. In       schrecklichen Folgen von Krieg und Gewaltherrschaft
Zusammenarbeit mit der Commonwealth War Graves             für heutige Generationen greifbar und begreifbar zu
Commission findet im Anschluss an dieses Gedenken          machen. So soll insbesondere jungen Menschen vor
der Remembrance Day auf der britischen Kriegsgrä-          Augen geführt werden, was sich niemals wiederho-
berstätte in Dürnbach statt. Zusammen gedenken             len darf und welcher Preis für das Leben in Frieden in
Deutsche, Briten, US-Amerikaner und Angehörige             Europa bezahlt werden musste.
vieler weiterer Nationen derer, die durch Krieg, ­Terror
                                                                                                    Florian Völler
und Verfolgung ums Leben kamen.

Das Kriegsende in Augsburg und die Kriegsgräberstätten
auf dem Augsburger Westfriedhof

Auf Spurensuche in Augsburg                                le 116“ im Stadtteil Pfersee, die als Außenlager des
                                                           Konzentrationslagers Dachau diente, oder die Ge-
Wer heute durch die Maximilianstraße in der Augs-
                                                           denktafel am Gebäude der Stadtwerke, die seit 2011
burger Innenstadt schlendert, der wird sowohl eine
                                                           an die kampflose Übergabe der Stadt erinnert.
junge und pulsierende Studentenstadt erleben als
auch beeindruckt sein von den imposanten histori-
schen Bauwerken, wie zum Beispiel dem Rathaus mit
seinem Goldenen Saal, die von der Geschichte und
dem Wohlstand der einstigen Fugger-Stadt zeugen.
Man kann sich kaum vorstellen, dass diese Innenstadt
vor 75 Jahren eine Trümmerwüste war. Als der Zwei-
te Weltkrieg für Augsburg Ende April 1945 schließ-
lich ein Ende fand, wohnten nur noch 107.000 von
ursprünglich (1939) 185.000 Menschen in der Stadt.
Etwa 15.000 von ihnen waren Ausländer, die meisten
davon Zwangsarbeiter. Durch Bombardierungen wa-
ren etwa 40 % der Augsburger obdachlos geworden
und 44.000 Wohnungen waren zerstört oder beschä-
digt. Anlass der schweren Luftangriffe auf die Stadt,
die im Februar 1944 ihren Höhepunkt erreichten,
war die Bedeutung Augsburgs als Rüstungsstandort
für Firmen wie MAN und Messerschmitt.
Der aufmerksame Beobachter findet bis heute zahl-
reiche Spuren und Erinnerungen an die Zeit des
Zweiten Weltkrieges und des Nationalsozialismus in
                                                                Gedenktafel am Haus der Stadtwerke in Augsburg
Augsburg. Sei es der Eingang zum Luftschutzbunker
                                                                    (Bild: Mailtosap – Wikipedia Commons)
im Norden des Wittelsbacher Parks, sei es die „Hal-

10                                                                     Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.
Das Kriegsende in Augsburg
Als die 3. US-Infanterie-Division am Abend des 27.
April 1945 von Westen her den Stadtrand von Augs-
burg erreichte, waren große Teile Deutschlands be-
reits besetzt und die Sinnlosigkeit jeder weiteren
Gegenwehr offensichtlich.
Dennoch wurden für zahlreiche Orte und Städte
noch sogenannte Kampfkommandanten eingesetzt,
die bei ihrem Leben darauf verpflichtet wurden ihre
Stadt „bis zum Äußersten“, „bis zum Tode“ und „bis
zum letzten Mann“ zu verteidigen. In Augsburg war
Generalmajor Franz Fehn als Kampfkommandant für
die Stadtverteidigung verantwortlich. Dass Fehn, der
bisher als Stadtkommandant von Augsburg vor allem
repräsentative und organisatorische Aufgaben wahr-
genommen hatte, zum Kampfkommandant bestimmt
wurde, zeigt, wie verzweifelt die Personalsituation
1945 innerhalb der Wehrmacht war. Fehn hatte mit
62 Jahren sein Pensionierungsalter bereits über-
schritten, war herzkrank und von seinen Vorgesetz-               Der Kampfkommandant von Augsburg:
ten als ungeeignet für die Führung einer kämpfenden                     Generalmajor Franz Fehn
Einheit befunden worden. Ihm standen zudem nur                     (Bild: BArch-MA, PERS 6/299627)
750 schlecht ausgerüstete Soldaten zur Verfügung,
von denen zwei Drittel dem Volkssturm angehörten,
                                                        am Abend des 27. März im Haus des NS-Gauleiters
der aus mangelhaft ausgebildeten zu alten oder zu
                                                        zu einer Krisensitzung. Hierbei wirkten die meisten
jungen Männern bestand. Dennoch bereitete Fehn
                                                        Anwesenden auf Fehn ein, die Stadt zu übergeben.
sich auf eine Verteidigung am Westrand der Stadt
                                                        Dieser versuchte die Verantwortung auf Gauleiter
vor und ließ die Wertachübergänge, die Lechbrücken
                                                        Wahl abzuschieben, der sich jedoch weigerte, diese
und die Bahnunterführungen durch Barrikaden sper-
                                                        zu übernehmen. Fehn lehnte jede Form der Kapitula-
ren.
                                                        tion unter Hinweis auf seine soldatische Pflicht strikt
Neben der Personalnot war ein weiterer Grund für        ab und beendete nach zwei Stunden die Diskussion
Fehns Berufung zum Kampfkommandanten, dass              mit dem Argument, dass er Soldat sei und daher sei-
der Augsburger Bürgermeister Josef Mayr, der eine       ne Befehle auszuführen habe. Seinen Gefechtsstand
kampflose Übergabe der Stadt erreichen wollte, sich     verlegte er in den Riedingerbunker, der sich an der
dafür eingesetzt hatte. Er hoffte Fehn, den er durch    Stelle des heutigen Verwaltungsgebäudes der Stadt-
dessen Arbeit als Stadtkommandant seit fast drei        werke befand. Von dort aus hatte Fehn jedoch wenig
Jahren kannte, eher von einer Kapitulation überzeu-     Einfluss auf die Gesamtlage. Ausgesandte Ordon-
gen zu können, als einen fremden Kommandanten.          nanzoffiziere berichteten, dass sich in der Nacht vom
Als die Amerikaner am 27. April von Mayr telefo-        27. auf den 28. April der Volkssturm weitestgehend
nisch eine Kapitulation der Stadt forderten, weigerte   aufgelöst habe und die restlichen Truppen ohne Be-
Fehn sich jedoch und berief sich auf die Pflicht zur    fehl auf die Wertach, die als zweite Widerstandslinie
Einhaltung seiner Befehle. Ebenfalls an einer kampf-    gedacht gewesen war, ausgewichen seien. Manche
losen Übergabe Augsburgs arbeitete die sogenann-        Alarmeinheiten hatten sich bereits am Vorabend
te ‚Deutsche Freiheitsbewegung‘, die sich aus dem       aufgelöst. Die unbesetzten Barrikaden und Sperren
Arzt Rudolf Lang und zahlreichen anderen Bürgern        wurden dann teilweise von der Zivilbevölkerung ge-
der Stadt zusammensetzte. Als Folge des ergebnislo-     öffnet und die amerikanischen Panzer drangen, ohne
sen Telefonanrufes trafen sich Fehn, Lang, Mayr und     auf Widerstand zu stoßen, in die westlichen Stadttei-
weitere lokale Entscheidungs- und Würdenträger          le ein.

Landesverband Bayern 2019                                                                                   11
Spurensuche – 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges

Die weiteren Vorgänge im Riedingerbunker sind um-          Weltkriege, davon 453 Ausländer und 235 KZ-Opfer.
stritten. Mayr gab nach dem Krieg an, dass am 28.          Weitere Kriegsgräber befinden sich auf dem Evange-
April gegen 5:00 Uhr die Amerikaner erneut bei ihm         lischen Friedhof an der Haunstetterstraße, in Göggin-
anriefen, um Fehn die Möglichkeit zur Kapitulation         gen, auf dem Alten Friedhof Haunstetten sowie auf
zu geben. Da Fehn wiederum abgelehnt hätte, ließ           den Israelitischen Friedhöfen Haunstetterstraße und
Mayr ihn in einem Nebenzimmer in ein Gespräch ver-         an der Hummelstraße.
wickeln, gab sich am Telefon selbst als Fehn aus und
                                                           Heute sind diese Kriegsgräberstätten nicht mehr nur
bestätigte die Kapitulation. Bereits vorher hatten
                                                           Orte der Trauer und des Gedenkens für die Angehöri-
Mayr und seine Mitstreiter die Waffen der im Bunker
                                                           gen, sondern sie nehmen darüber hinaus eine wich-
Dienst tuenden Wehrmachtsangehörigen verschwin-
                                                           tige Funktion als Lernorte der Geschichte ein. Hier
den lassen. Um 6:20 Uhr erschienen dann die Ame-
                                                           können insbesondere jungen Menschen die schreck-
rikaner im Riedingerbunker. Dorthin waren sie von
                                                           lichen Folgen von Krieg und Gewaltherrschaft vor
Mitgliedern der ‚Deutschen Freiheitsbewegung‘ ge-
                                                           Augen geführt werden, die für die meisten Menschen
führt worden. Diese hatten angeblich auch den Rie-
                                                           in Deutschland zum Glück in weiter Ferne liegen.
dingerbunker bereits zuvor bewaffnet umstellt, um
                                                           Zwar tragen heutige Generationen nicht die Schuld
ein Entkommen Fehns zu verhindern. Nachdem die
                                                           für das damals Geschehene, doch die Verantwortung
Amerikaner den Bunker gestürmt hatten, gaben sie
                                                           an die Schrecken der NS-Gewaltherrschaft und des
Fehn fünf Minuten Bedenkzeit, um sich zu einer Kapi-
                                                           Krieges zu erinnern und damit ein Wiederaufleben
tulation zu entschließen. Dieser bat darum, noch ein-
                                                           von Radikalismus, Nationalismus, Antisemitismus
mal mit seiner vorgesetzten Dienststelle sprechen
                                                           und Fremdenhass zu unterbinden, liegt zweifelsohne
zu dürfen. Ob Fehn im Anschluss noch einmal seine
                                                           bei uns allen. Insbesondere in der heutigen Zeit, in
Pistole zog, sei es, um sich selbst zu erschießen, oder
                                                           der die Stimmen der letzten Zeitzeugen des Zweiten
um sich zur Wehr zu setzen, ist umstritten. Fehn, der,
                                                           Weltkrieges nach und nach verstummen, müssen wir
obwohl er zuletzt nur noch 80 Mann zu seiner Verfü-
                                                           lernen, Gedenk- und Erinnerungsorte wie die Augs-
gung gehabt hatte, zu einer Verteidigung entschlos-
                                                           burger Kriegsgräberstätten als Mahnmale für den
sen gewesen war, wurde daraufhin von den Ameri-
                                                           Frieden zu verstehen und zu uns sprechen zu lassen.
kanern in Gewahrsam genommen. So konnten die
                                                           Dies gelingt aber nur, wenn wir uns dem Schicksal
US-Truppen Augsburg am 28. April nahezu kampflos
                                                           Einzelner zuwenden. Nur so lassen sich die Tragik
einnehmen, wodurch die Stadt von weiterer Zerstö-
                                                           und das unermessliche Leid der Toten und ihrer An-
rung verschont blieb.
                                                           gehörigen begreifen, welche hinter jedem der Kreu-
                                                           ze und Grabzeichen stehen. Stellvertretend für Viele
                                                           sollen hier vier Beispiele genannt werden.
Die Kriegsgräberstätten auf dem
Augsburger Westfriedhof
                                                           Einzelschicksale
Wenngleich die Besetzung Augsburgs durch die Ame-
rikaner vergleichsweise glimpflich vonstatten ging,        Am 26. Februar 1944 kam es zum verheerendsten
hatten die vorausgegangenen Jahre des Krieges und          Luftangriff auf Augsburg. Die Kölner Opernsänge-
der NS-Gewaltherrschaft doch zahlreiche Menschen           rin Maria Krollmann versuchte sich mit ihrer vier
in der Region das Leben gekostet. Auch in den April-       Jahre alten Tochter Ursula in einen Luftschutz­keller
und Maitagen des Jahres 1945 forderten Kämpfe und          zu retten. Dort traf sie auf Maria Neubauer mit
Verbrechen in der Endphase des Krieges noch zahl-          ihren vier- und zweijährigen Töchtern Hannelore und
reiche Opfer im Großraum Augsburg. Viele von ihnen         Gerda. Doch der Schutzraum wurde für alle zu einer
fanden ihre letzte Ruhestätte auf den Kriegsgräber-        tödlichen Falle. Ein Volltreffer zerstörte das darüber
stätten auf dem Augsburger Westfriedhof. Hier wurde        befindliche Haus. Am nächsten Tag konnten die drei
bereits während des Zweiten Weltkrieges eine Grab-         Mädchen und ihre beiden Mütter nur noch tot aus
stätte für ca. 400 Soldaten und eine große Anzahl          den Trümmern geborgen werden. Unter einem Dop-
von Opfern der Luftangriffe angelegt. Nach Kriegsen-       pelkreuz befindet sich heute das gemeinsame Grab
de wurden zusätzlich 500 Opfer aus Behelfsgräbern          auf einer der Kriegsgräberstätten auf dem Augs­
zugebettet. Aktuell ruhen hier 2.263 Tote der beiden       burger Westfriedhof, Reihe 5, Grab 133.

12                                                                     Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.
Zu den 453 ausländischen Kriegstoten auf der
                                                        Kriegsgräberstätte zählt der Brite Herbert Percival
                                                        Smith, der ein Opfer der NS-Gewaltherrschaft wurde.
                                                        Er wurde am 15. Februar 1904 in Neath (Süd-Wales)
                                                        geboren. Während des Zweiten Weltkrieges arbeite-
                                                        te der Vater von drei Kindern als Polizeibeamter auf
                                                        der britischen Kanalinsel Guernsey. Die Kanalinseln
                                                        waren der einzige Teil der britischen Inseln, den die
                                                        Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges beset-
                                                        zen konnte. Herbert Smith gehörte einer aus Polizis-
                                                        ten bestehenden Gruppe von Widerstandskämpfern
      Doppelgrab Krollmann/Neubauer auf einer der
                                                        an, die im Winter 1941/42 deutsche Lebensmittella-
  Kriegsgräberstätten auf dem Augsburger Westfriedhof
                                                        ger plünderten und die Konserven an die Zivilbevöl-
                   (Bild: Gerd Krause)
                                                        kerung verteilten. Im März 1942 wurden Angehörige
                                                        dieser Widerstandsgruppe gefasst und daraufhin die
                                                        gesamte Gruppe verhaftet, mitunter brutal verhört
Ebenfalls bei einem Luftangriff kam am 16. Juli 1944
                                                        und vor ein deutsches Militärgericht gestellt, das
der nur 18-jährige Michael Silber aus Fernhag (Pfaf-
                                                        Smith zu vier Jahren Zwangsarbeit verurteilte. Seine
fenhofen a.d. Ilm) ums Leben. Als Grenadier in einem
                                                        Frau und seine Kinder wurden in ein Lager in Frank-
Panzer-Regiment befand er sich zum Zeitpunkt der
                                                        reich und später in das Internierungslager Biberach
Bombardierung in Augsburg. Auf seinem Sterbebild
                                                        deportiert. Herbert Smith selbst durchlief verschie-
hieß es, unter Verwendung der NS-Diktion, er sei
                                                        dene Gefängnisse und Lager in Granville, Caen, Paris,
„gefallen in Folge (eines) Terrorangriffes in Augs-
                                                        Karlsruhe, Landsberg, Augsburg und kam schließlich
burg“. Michael Silbers Grab befindet sich in der
                                                        im Sommer 1942 in das Zwangsarbeiterlager Neu-
Reihe 1, Grab 177.
                                                        offingen.
                                                        Das Lager bestand aus nur zwei Baracken am Wald-
                                                        rand und beherbergte etwa 80-100 Gefangene unter-
                                                        schiedlicher Nationalitäten, von denen die meisten
                                                        Franzosen waren. Mit Smith waren noch fünf weite-
                                                        re von den Kanalinseln stammende Männer dort in-
                                                        terniert. Die Gefangenen mussten die Gleisanlagen
                                                        der Eisenbahn reparieren. Während dieser schwe-
                                                        ren, täglich zwölfstündigen Zwangsarbeit waren sie
                                                        zudem den brutalen Übergriffen einzelner Wachen
                                                        ausgesetzt. Schläge und Strafmaßnahmen gehörten
                                                        im Lager zur Tagesordnung und in den Wintermona-
                                                        ten litten die Gefangenen unter Erfrierungen, da die
                                                        Baracken über keine Öfen verfügten.
                                                        Herbert Smith befand sich im Frühjahr 1943 in einem
                                                        schlechten gesundheitlichen Zustand. Sein Körper
                                                        war gezeichnet vom Schleppen der Schienen, von
                                                        den Schlägen, vom Nahrungsmangel und dem Feh-
                                                        len von Kältebekleidung. Nachdem er durch Schläge
                                                        in die Magengegend mit einer Schaufel misshandelt
             Michael Silber (1926 – 1944)
                                                        worden war, erholte Herbert Smith sich nicht mehr. Er
              (Bild: BLF Sterbebildarchiv)
                                                        verblieb bettlägerig im Lager, erhielt kaum noch Nah-
                                                        rung, die er durch seine Verletzungen ohnehin kaum
                                                        bei sich behalten konnte und wurde schließlich, ge-
                                                        stützt von zwei Kameraden, zu einem Arzt gebracht.

Landesverband Bayern 2019                                                                                 13
Spurensuche – 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges

Zeitgleich war er den ständigen Misshandlungen               Flucht. 1959 erhielt Anna Stadler für ihre Taten den
durch den Lagerkommandanten ausgesetzt. Mitge-               Orden der Französischen Ehrenlegion verliehen. So
fangene, die versuchten Smith und anderen, denen             brachten der Krieg und das NS-Regime in manchen
die Nahrung vorenthalten wurde, etwas von ihren Ra-          Menschen ihre schlimmste, in anderen aber ihre bes-
tionen abzugeben, wurden brutal bestraft. Schließ-           te Seite zum Vorschein.
lich wurde Herbert Smith, der in seinen letzten Tagen
völlig apathisch geworden war, in das Augsburger
Gefängnis verlegt, wo er am 5. April 1943 in einer
Zelle ohne jede ärztliche Behandlung starb. Herbert
Smith ruht auf einer der Kriegsgräberstätten auf dem
Augsburger Westfriedhof, Feld 9, Block 11, Reihe 1,
Grab 3.

                                                                 Der restaurierte Gedenkstein für Benedikt Mayr am
                                                                   ­Reichersbeurer Vorberg (Bild: Werner Männer)

                                                             Zu den Opfern des Krieges im Raum Augsburg ge-
                                                             hörte der Luftwaffenhelfer Benedikt Mayr, der noch
                                                             am 27. April 1945, dem Tag vor der Besetzung Augs-
                                                             burgs, auf dem Sandberg bei Westheim fiel. Nur
                                                             zwei Monate vorher hatte der aus Greiling (Bad Tölz)
Herbert Percival Smith – Ein Opfer der NS-Gewaltherrschaft   Stammende seinen 17. Geburtstag gefeiert. Benedikt
         (Bild: Island Archives States of Guernsey)          Mayr wurde zunächst in einem Feldgrab neben dem
                                                             Kobelkreuz beigesetzt. Der damals bei Westheim an-
                                                             sässige Oberlehrer Ludwig Hummel hatte den Eltern
An das Zwangsarbeiterlager Neuoffingen erinnert
                                                             des „letzten Gefallenen“ nach dem Krieg verspro-
seit 1989 ein dort errichtetes Friedens- und Versöh-
                                                             chen, ihm dort ein schönes Denkmal zu errichten.
nungskreuz. Zusätzlich wurde hier 2014 durch die
                                                             1950 wurde Benedikt Mayr auf eine der Kriegsgrä-
‚Zunkunftswerkstatt Offingen‘ ein Versöhnungsweg
                                                             berstätten auf dem Augsburger Westfriedhof umge-
mit sieben Stelen errichtet, die von dem Leid der
                                                             bettet. Hier ruht er in der Reihe 5, Grab 246. Der Ge-
Gefangenen aber auch von der Hilfe couragierter
                                                             denkstein für ihn stand lange Zeit verwittert an eine
Bürger berichten. Diese ließen den Gefangenen un-
                                                             Hütte gelehnt am Reichersbeurer Vorberg und wurde
ter großem persönlichen Risiko Nahrungsmittel und
                                                             inzwischen durch einen im Ruhestand befindlichen
sogar medizinische Versorgung zukommen. Zu ihnen
                                                             Tölzer Steinmetz restauriert und wieder aufgestellt.
gehörte auch die Gundelfingerin Anna Paule, die die
                                                             Spuren wie die oben genannten und wie dieser Ge-
Gefangenen zusammen mit ihrer Tante Anna Stadler
                                                             denkstein lassen sich überall in Bayern, in jeder Ge-
mit Essen versorgte. Anna Stadler rief die Gefange-
                                                             meinde, in jeder Stadt entdecken. Es gilt sie zu fin-
nen bei Kriegsende sogar zur Flucht auf, da sie er-
                                                             den, ihre historischen Hintergründe zu erforschen
fahren hatte, dass diese in das Konzentrationslager
                                                             und ihre Botschaft an uns alle verstehen zu lernen.
Dachau verlegt werden sollten. Die Hälfte der Gefan-
genen ergriff Dank dieser Information rechtzeitig die                                              Maximilian Fügen

14                                                                       Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.
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