50 Übertragungsfokussierte Psychotherapie - TFP-Institut Nord

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50 Übertragungsfokussierte Psychotherapie
   (Transference-focused Psychotherapy, TFP) und
   Borderline-Persönlichkeitsstörung1
               Frank E. Yeomans, Diana Diamond2

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543   Der Deutungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550
Primitive Abwehrmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548                        Empirische Befunde zur Übertragungsfokussierten
Die Kernmethode der Übertragungsfokussierten                                                   Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552
Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548         Klinisches Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554
Der Behandlungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549                 Klinische Schlüsselkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557
Der therapeutische Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549

Einleitung12                                                                                   Kerntechniken des Verfahrens in modifizierter Form auch
                                                                                               auf andere Persönlichkeitsstörungen anwendbar (Caligor,
Bei der Übertragungsfokussierten Psychotherapie (Trans-                                        Kernberg u. Clarkin 2007; Diamond 2007; Diamond u.
ference-focused Psychotherapy, TFP; Clarkin, Yeomans u.                                        Yeomans 2008).
Kernberg 2006, dt. 2008) handelt es sich um ein manuali-                                           Es gibt zunehmend empirische Belege dafür, dass die
siertes psychodynamisches Therapieverfahren, welches spe-                                      Übertragungsfokussierte Psychotherapie zu signifikanten
ziell zur Behandlung von Borderline-Störungen entwickelt                                       klinischen Verbesserungen in den Bereichen Symptomato-
wurde. Das spezifische therapeutische Vorgehen orientiert                                      logie und psychosoziales Funktionsniveau führt (Clarkin,
sich dabei an der Prämisse, dass Borderline-Erkrankungen                                       Foelsch et al. 2001; Clarkin, Levy et al. 2007; Levy, Clarkin et
auf Störungen der inneren Objektbeziehungen zurückge-                                          al. 2006). In einer Reihe von früheren Aufsätzen haben wir
hen (Kernberg 1975, 1978; 1984, 1988). Während sich die                                        unsere Forschungsergebnisse aus drei verschiedenen Stu-
folgenden Ausführungen auf die Anwendung der Übertra-                                          dien vorgestellt, die allesamt Veränderungen in mehreren
gungsfokussierten Psychotherapie bei Borderline-Persön-                                        untersuchten Dimensionen belegen. So bewirkte die Über-
lichkeitsstörungen beziehen, sind die Kernprinzipien und                                       tragungsfokussierte Psychotherapie einen signifikanten
                                                                                               Rückgang an suizidalen und parasuizidalen Handlungen
                                                                                               und Phantasien, einen signifikanten Rückgang in den Be-
                                                                                               reichen ›Depression‹ und ›Angst‹ sowie in der Inanspruch-
1   Das folgende Kapitel wurde in seiner Originalfassung aus »Clarkin                          nahme medizinischer Versorgungseinrichtungen (z. B. dem
    JF, Fonagy P, Gabbard GO (eds.). Psychodynamic Psychotherapy for
    Personality Disorders: A Clinical Handbook« entnommen; © 2010
                                                                                               Aufsuchen von Notaufnahmen). Damit verbunden sind
    American Psychiatric Publishing, Inc.; Nachdruck mit freundlicher                          nach einem Jahr Übertragungsfokussierter Psychothera-
    Genehmigung. Es stellt u. a. Ergebnisse des »Cornell Psychotherapy                         pie ein verbessertes psychosoziales Funktionsniveau sowie
    Research Project« vor, das mit Forschungsgeldern des National                              Verbesserungen der narrativen Kohärenz und der Mentali-
    Institute of Mental Health, der Internationalen Psychoanalytischen                         sierungsfähigkeit (d. h. der Fähigkeit, den eigenen psychi-
    Vereinigung sowie der Köhler-Stiftung München unterstützt wurde.                           schen Zustand sowie den anderer Menschen zu verstehen)
    Auch die Borderline Personality Disorder Research Foundation
                                                                                               (Clarkin, Foelsch et al. 2001; Clarkin, Levy et al. 2007; Levy,
    (BRDRF) hat unsere Arbeit mit finanziellen Mitteln unterstützt. Der
    Stiftung und dem Stifter, Herrn Dr. Marco Stoffel, möchten wir an                          Meehan et al. 2006).
    dieser Stelle unseren Dank aussprechen.                                                        Der Fokus des hier vorliegenden Kapitels wird auf das
2   Übersetzung aus dem Englischen: Petra Holler, München.                                     Therapieverfahren selbst gerichtet sein. Neben einem aus-
544   V   Therapie

      führlichen Fallbeispiel, welches die Anwendung der Über-          ierungsphase und entsprechenden Rahmenvereinbarungen,
      tragungsfokussierten Therapie illustriert, werden wir einen       welche eine sichere Grundlage für Therapeut und Patient
      Überblick über folgende Punkte geben:                             bilden, die im Rahmen der Behandlung häufig zutage tre-
      •• das Objektbeziehungsmodell der Borderline-Patholo-             tenden intensiven und stürmischen Affekte zu bearbeiten.
         gie                                                            Diesem ersten Behandlungsabschnitt folgt eine Phase, in
      •• Kernstrategien, taktische Vorgehensweisen und Techni-          der es um die Identifizierung der dominanten Objektbe-
         ken des Verfahrens                                             ziehungsszenarien eines Patienten geht. Mittels Klärung,
      •• entsprechende Veränderungsmechanismen                          Konfrontation und Deutung werden diese mit den fluk-
                                                                        tuierenden affektiven Zuständen des Patienten sowie der
      Bei der Übertragungsfokussierten Psychotherapie handelt           im Rahmen der therapeutischen Beziehung immer wieder
      es sich insofern um ein sehr umfassendes Therapiepro-             auftretenden Rollenumkehr in Bezug gesetzt, wenn die je-
      gramm, da es spezifische therapeutische Interventionen für        weiligen Pole der Selbst-Objekt-Dyade ausgelebt werden.
      eine ganze Reihe von Aspekten der Borderline-Pathologie           Gerade die systematische Bearbeitung dieser Selbst-Objekt-
      – sowohl allgemeiner als auch idiosynkratischer Art – vor-        Dyaden stärkt die Fähigkeit des Patienten, sein affektives
      sieht. Die Behandlungsdauer beträgt dabei mindestens ein          Erleben kognitiv zu repräsentieren und zu »containen«. Das
      Jahr oder länger. Während wir die Übertragungsdeutung             wiederum bedeutet eine Verbesserung des sogenannten
      als zentrales Element sowohl des therapeutischen Vorgehens        »reflective functioning« oder der Mentalisierungsfähig-
      als auch der therapeutischen Veränderung ansehen, handelt         keit, also das Übertragungsgeschehen zu reflektieren und
      es sich dabei doch nur um eines von vielen Behandlungs-           zu symbolisieren (Caligor, Diamond et al. 2009; Kernberg,
      elementen, wie wir sie in Abbildung 50-1 zusammengefasst          Diamond et al. 2008).
      haben (Yeomans, Clarkin et al. 2008). Therapeutische Ver-            Wie bereits erwähnt, richtet sich der Fokus des vorlie-
      änderung im Rahmen der Übertragungsfokussierten Psy-              genden Kapitels auf die Borderline-Persönlichkeitsstörung.
      chotherapie beruht auf einer Reihe behandlungstechnischer         Gleichwohl lassen sich die Prinzipien der Übertragungsfo-
      Interventionen, beginnend mit einer diagnostischen Evalu-         kussierten Psychotherapie auf alle Persönlichkeitsstörungen

                                      Therapeut                                                   Patient

                         legt den Rahmen der Behandlung                  erlebt einen sicheren Ort, an dem er über sich sprechen und
                         mithilfe des Therapievertrages fest                    über aufkommende Affekte nachdenken kann

                                                                          Affektausdruck beinhaltet Handlungen und Interaktionen,
               ●   beobachtet das Verhalten des Patienten,                   die auf impliziten Objektbeziehungsdyaden basieren
                   ohne zu werten oder zu reagieren
               ●   versucht, die dem Verhalten zugrunde liegenden
                   Objektbeziehungen zu verstehen und bedient sich
                   dabei der Techniken der
                   1. Klärung
                   2. Konfrontation                                                Verbesserung der Reflexionsfähigkeit
                   3. Deutung
               (zur Förderung der Reflexion und
               Bearbeitung von Hindernissen, die
               dieser im Wege stehen)                                   zunehmende Integration       verbesserte Affektmodulierung

                                                                                       Verbesserung von Reflexion
                                                                                         und Kontextualisierung

      Abb. 50-1 Ein Objektbeziehungsmodell der Borderline-Pathologie.
50   Übertragungsfokussierte Psychotherapie (Transference-focused Psychotherapy, TFP)        545

anwenden, die auf Borderline-Niveau organisiert sind. Das       lich machen, das, was in ihm selbst und in anderen vorgeht,
Modell der Übertragungsfokussierten Psychotherapie der          adäquat zu erfassen und zu verstehen (Bateman u. Fonagy
Borderline-Pathologie berücksichtigt psychoanalytische          2004a; Fonagy, Leigh et al. 1996; s. Kap. 52).
Konzepte zur strukturellen Organisation der Persönlichkeit         Neurokognitive Untersuchungen wiederum sprechen
(Kernberg 1984, 1988; 2004a), wie sie unter anderem durch       von fehlerhaften Informationsverarbeitungsprozessen bei
neuronale, sozial-kognitive und neurokognitive sowie inter-     Borderline-Patienten, die durch negative Affekte und eine
personelle Forschungsbefunde bestätigt wurden (Adolphs          Beeinträchtigung der sozialen Kognition beeinflusst wür-
2003; Depue u. Lenzenweger 2005; Fertuck, Grinband et           den. Die allgemein als gültig angesehene Beobachtung,
al. 2009; Posner, Rothbart et al. 2002; Zaki u. Ochsner, im     wonach Borderline-Patienten zu vorschnellen negativen
Druck). Es postuliert eine dynamische Interaktion zwi-          oder aber hypervigilanten oder offen paranoiden Übertra-
schen Temperament (im Sinne individueller Unterschiede          gungen in der therapeutischen Situation neigen, wird durch
der Affektaktivierung und -regulierung sowie der motori-        neueste Forschungsbefunde gestützt (Gabbard, Miller u.
schen Reaktivität), Umweltfaktoren (z. B. Missbrauch oder       Martinez 2006; Kernberg 1975, 1978). Die Ergebnisse aus
Vernachlässigung), dem Fehlen von Selbst- oder Objekt-          neurowissenschaftlichen Untersuchungen zur sozialen
kohärenz im Kontext eines unsicheren Arbeitsmodells von         Kognition lassen darauf schließen, dass intensive negative
Bindung (s. Kap. 16), Defiziten der Mentalisierungsfähig-       Emotionen mit kognitiven Kontrollmechanismen in der
keit (s. Kap. 52) sowie einer gering ausgeprägten »effortful    Borderline-Persönlichkeitsstörung interferieren (Fertuck,
control« (Clarkin, Yeomans u. Kernberg 2006; Gabbard,           Lenzenweger et al. 2006; Silbersweig, Clarkin et al. 2007)
Miller u. Martinez 2006; Silbersweig, Clarkin et al. 2007).     und von einer erhöhten Sensitivität für soziale Stimuli aus-
    Während die genannten Aspekte zu den Hauptfaktoren          gegangen werden muss. Im Bereich sozialer Anerkennung
zählen, die im Allgemeinen für das Entstehen einer Bor-         scheint ein »Paradoxon« (Krohn 1974) wirksam zu sein,
derline-Persönlichkeitsstörung verantwortlich gemacht           wonach Menschen mit einer Borderline-Störung auf den
werden, gibt es gegenwärtig eine lebhafte Debatte darü-         emotionalen und psychischen Zustand anderer Menschen
ber, ob bestimmte Kernmerkmale der Störung existieren,          im Moment selbst mit erhöhter Sensitivität reagieren, neu-
die auch im Zentrum der Behandlung stehen sollten. Die          tralen Gesichtern von Fremden jedoch mangelnde Vertrau-
Dialektisch-Behaviorale Therapie sieht eine konstitutio-        enswürdigkeit attribuieren (Donegan, Sanislow et al. 2003;
nell bedingte emotionale Dysregulation sowie Achtsam-           Fertuck, Grinband et al. 2009).
keitsdefizite als Kernmerkmale der Störung an (Linehan             Auf der Ebene neuronaler Systeme haben bildgebende
1993; Wupperman, Neumann u. Axelrod 2008; s. Kap. 56).          Verfahren des sogenannten »Neuroimaging« neuronale
Die Mentalisierungsbasierte Therapie wiederum geht von          Korrelate dieser sozialen und kognitiven Prozesse identifi-
entwicklungspsychologischen Defiziten in der Mentalisie-        ziert, die dem Überwiegen negativer Affekte im Allgemei-
rungsfähigkeit aus (Bateman u. Fonagy 2004a; s. Kap. 52).       nen und der Unfähigkeit zur Regulierung der Aggression
Gunderson und Lyons-Ruth (2008) schließlich sehen eine          im Besonderen zugrunde liegen (Silbersweig, Clarkin et al.
Hypersensitivität im zwischenmenschlichen Bereich sowie         2007). Diese neuronalen Korrelate wurden von Kernberg
unsichere Bindungsmodelle als entscheidend für die Ausbil-      (1975, 1978; 2004a) als zentraler Aspekt der Borderline-
dung einer Borderline-Persönlichkeitsstörung an.                Persönlichkeitsstörung postuliert. Dazu zählen:
    Im Modell der Übertragungsfokussierten Psychothera-         •• eine Hyperaktivität der Amygdala, insbesondere der lin-
pie ist es das Merkmal der Identitätsdiffusion, welches den         ken Hemisphäre, die Borderline-Patienten prädisponie-
Kern einer Borderline-Persönlichkeitsstörung ausmacht               ren kann, einen neutralen Gesichtsausdruck innerhalb
(s. Kap. 27). Identitätsdiffusion bezeichnet ein mangelhaftes       oder außerhalb der Behandlungssituation als böswillig
Kontinuitätsempfinden im Selbst- und Fremderleben, das              zu interpretieren
einer polarisierten Spaltung der inneren Welt entspringt, in    •• ein vermindertes Funktionsniveau und reduziertes Vo-
der andere entweder als Verfolger oder idealisierte Retter          lumen der präfrontalen Regionen, welche die Fähigkeit
wahrgenommen werden (Kernberg 1975, 1978; 1984, 1988).              zur Affektregulierung, Affektmodulierung sowie in der
Diese Sichtweise wird durch neueste Forschungsbefunde aus           Folge zur Mentalisierung beeinträchtigt
verschiedenen Bereichen gestützt. So betonen Bindungsfor-       •• eine Hyperresponsivität der HPA-Achse, welche in einen
scher den Zusammenhang zwischen Borderline-Pathologie               Zustand chronischer Hypervigilanz und affektiver Erre-
und einer Reihe von unsicheren Bindungsmustern, die mal-            gung mündet (Rinne, de Kloet et al. 2002)
adaptive Arbeitsmodelle des Selbst und seiner Bindungs-         •• ein vermindertes Volumen des Hippocampus (s. Kap. 13),
personen implizieren (Diamond, Stovall-McClough et al.              was dazu führt, Schemata der Selbst-Objekt-Affekt-Ver-
2003; Fonagy, Leigh et al. 1996; Main 1999; s. Kap. 16). Un-        knüpfung, die als implizite (unbewusste) prozedurale
tersuchungen zur Mentalisierungsfähigkeit sprechen von              Erinnerungen enkodiert sind, automatisch zu wieder-
entsprechenden Defiziten, die es dem Betreffenden unmög-            holen, wodurch die Ausbildung eines autobiografischen
546   V   Therapie

         Narrativs, das sowohl auf impliziten als auch expliziten         Der Rolle von Impulsen, Affekten und Phantasien wird
         Erinnerungen basiert, beeinträchtigt wird (Gabbard           im Modell der Übertragungsfokussierten Psychotherapie
         2009)                                                        besondere Bedeutung beigemessen. Sie transformieren un-
      •• ein mit dem Nukleus accumbens verbundener, Dopa-             ser Erleben, sodass es sich bei internalisierten Bildern nicht
         min-gesteuerter Belohnungsschaltkreis, der die Grati-        um eine genaue Reproduktion dessen handelt, was tatsäch-
         fikation maladaptiver Beziehungsmuster und das Be-           lich in der Vergangenheit passiert ist. Affekte stellen die zen-
         streben, sie zu wiederholen, stärkt (Gabbard, Miller u.      tralen Vehikel dar, über die primäre innere Repräsentanzen
         Martinez 2006)                                               entstehen (Kernberg 2004a; Sandler u. Sandler 1987). Kern-
                                                                      bergs Formulierung der Objektbeziehungstheorie versteht
      Obwohl die Mehrzahl dieser Faktoren vor allem bei jenen         Affekte als die primären psycho-physiologischen Dispo-
      Patienten anzutreffen ist, die in der Kindheit Missbrauch       sitionen, die durch frühe Körpererfahrungen im Rahmen
      erfahren haben – was für die meisten, aber nicht alle Bor-      der Entwicklung von Objektbeziehungen aktiviert werden.
      derline-Patienten zutrifft –, weisen Gabbard, Miller und        Affekte verknüpfen in Form elementarer Dyaden Selbst-
      Martinez (2006) auf die interessante Beobachtung hin, dass      und Objektrepräsentanzen, wenn lustvolle und unlustvolle
      Verzerrungen der inneren Welt des Selbst und der Objekte        Erfahrungen im Laufe der Entwicklung zunehmen und in
      für sich genommen bereits eine übermäßige Aktivierung           ihrer übergeordneten Organisation den Grundstein libi-
      der Amygdala auslösen können (s. Kap. 12). Demzufolge           dinöser und aggressiver Triebe bilden. Im Zuge normaler
      sind Interventionen, die auf die Verarbeitung affektiv be-      Entwicklung werden aus Selbst- und Objektrepräsentanzen
      setzter Wahrnehmungen, insbesondere im sozialen und             die integrierten und komplexen Strukturen des Es, Ich und
      zwischenmenschlichen Bereich, abzielen, von zentraler Be-       Über-Ich und bilden das Substrat unseres unbewussten und
      deutung, um auf Symptomebene Veränderungen zu erzie-            bewussten Erlebens gleichermaßen.
      len, das Selbstgefühl des Patienten und die Qualität seiner         Primitive Affekte stellen somit ein primäres motivati-
      zwischenmenschlichen Beziehungen zu verbessern sowie            onales System dar, das die kognitive Einordnung momen-
      Arbeitsfähigkeit und Kreativität zu stärken.                    taner Gratifikation oder Frustration innerhalb der sub-
          Eine objektbeziehungsorientierte Sichtweise unter-          jektiven Wahrnehmung von Lust oder Unlust im Kontext
      streicht, wie die Wahrnehmung von Borderline-Patienten          bestimmter Objektbeziehungen integriert. Wenn also die
      durch innere Selbst- und Objektrepräsentanzen sowie die         inneren Bilder, die in den Reaktionen des Patienten auf den
      heftigen Affekte, die beide verbindet, beeinflusst wird         Therapeuten reaktiviert werden, sehr wohl eine spezifische
      (s. Kap. 26). Internalisierte Interaktionsrepräsentanzen set-   Erfahrung oder Beziehung aus der Vergangenheit zu repro-
      zen sich aus einer spezifischen Repräsentanz des eigenen        duzieren vermögen, so ist doch auch denkbar, dass es sich
      Selbst, des Anderen und des beide verbindenden affekti-         dabei um ein Konstrukt handelt, dessen Ursprung letztend-
      ven Erlebens zusammen. Für die frühe Entwicklung des            lich nicht genau benennbar ist. Unser Fokus richtet sich auf
      Kindes, so die Annahme, ist eine innere Repräsentanzen-         die aktuelle psychische Realität: Wie ist sie strukturiert und
      welt charakteristisch, die aus zahlreichen solcher Dyaden       wie kann sie modifiziert werden?
      besteht – wobei jede einzelne durch eine differente Selbst-         Unilaterale und polarisierte Selbst- und Objektreprä-
      und Objektrepräsentanz sowie einen unterschiedlichen            sentanzen, welche die psychische Struktur eines Patienten
      verbindenden Affekt gekennzeichnet ist. Diese inneren           konstituieren, stehen oft im Widerspruch zueinander und
      Repräsentanzen werden durch Lebensereignisse aktiviert          begründen so die Unfähigkeit des Borderline-Patienten, ein
      und beeinflussen ihrerseits die Art und Weise, wie diese        kohärentes Selbsterleben bzw. eine kohärente Sicht anderer
      Ereignisse wahrgenommen oder »gelesen« werden. Ein-             Menschen zu entwickeln. Dieses fragmentierte, diffuse und
      dimensionale Repräsentanzen beeinträchtigen dabei die           widersprüchliche Selbstgefühl, das wir als Identitätsdiffu-
      genaue Wahrnehmung von Ereignissen. Im Laufe einer              sion bezeichnen, birgt das Risiko, dass die Wahrnehmung
      normalen Entwicklung werden diese eindimensionalen              des Patienten ungenau und überzeichnet ausfällt, begleitet
      Repräsentanzen jedoch in umfassende, vielschichtige und         von überwältigenden Affekten, was wiederum zu Fehlin-
      modulierte Repräsentanzen integriert, die der Komplexität       terpretationen der eigenen Person sowie anderer Menschen
      des Selbst, anderer Menschen und der Welt sehr viel mehr        führen kann, zu Affektdysregulation sowie zu Problemen
      entsprechen. Menschen, deren Persönlichkeit auf Border-         auf Verhaltensebene und im zwischenmenschlichen Be-
      line-Niveau organisiert ist, mangelt es an dieser Integration   reich. Defizite in der Mentalisierung bzw. in der Fähigkeit,
      eindimensionaler, polarisierter und karikaturhafter Selbst-     die Intentionalität psychischer Zustände – im Sinne von
      und Objektrepräsentanzen in ein komplexes Ganzes, das           Überzeugungen, Motiven, Emotionen, Wünschen etc. – zu
      für ein Empfinden von Kohärenz, Kontinuität und Einge-          erfassen, berauben den Borderline-Patienten der kogniti-
      bundensein sorgt (Clarkin, Yeomans u. Kernberg 2006).           ven Fertigkeiten, extreme affektive Erfahrungen, die der
                                                                      Spaltung und Polarisierung seiner inneren Objektwelt ent-
50   Übertragungsfokussierte Psychotherapie (Transference-focused Psychotherapy, TFP)           547

springen, zu verstehen und zu halten. Die Spaltung psychi-      ren. Die Enttäuschung eines Patienten kann so zum Gefühl
scher Repräsentanzen, die auch durch geringste Auslöser         werden, einem grausamen Gegenüber zum Opfer zu fallen,
aktiviert werden kann, und die damit einhergehenden Men-        was mit einem feindseligen Gegenschlag beantwortet wer-
talisierungsdefizite sind die Ursache für die Diskontinuität    den muss. In seiner Inszenierung der »Opfer-Täter«-Dyade
im Erleben des Patienten, für seine Unfähigkeit, ein inneres    sieht sich der Patient bewusst als Opfer. Nicht zugänglich ist
Narrativ zu entwerfen, welches die Erfahrungen des Hier-        ihm jedoch die aggressive »Täter-Seite«, die sich in seinem
und-Jetzt adäquat kontextualisiert – und setzen ihn genau       Verhalten widerspiegelt. Unserer Erfahrung nach verber-
jenen massiven Schwankungen aus, die ihn von einem Ex-          gen sich jedoch in solchen negativ besetzten Dyaden nicht
trem ins andere katapultieren. Vor allem in Stresssituatio-     selten starke Wünsche nach Nähe und Verbundenheit mit
nen ist die Affektwahrnehmung unsymbolisiert und un-            dem Therapeuten, der, angesichts der häufigen Defizite
moduliert, im Gegensatz zur »mentalisierten Affektivität«       im Bereich sozialer Wahrnehmung, als nicht vertrauens-
(Jurist 2005), d. h. der Modulation der Affekte über Sprache    würdig oder gar schädlich wahrgenommen wird (Fertuck,
und Symbolisierung. Die Intensität des unmittelbaren Er-        Grinband et al. 2009; Koenigsberg 2009).
lebens, die nicht durch ein stabiles Identitätsempfinden ge-        Die therapeutische Arbeit umfasst somit auch die Be-
erdet oder moduliert wird, führt zu extremen emotionalen        wusstmachung der doppelten Identifizierung (Opfer und
Reaktionen, die (selbst-)zerstörerische Ausmaße annehmen        Täter) innerhalb negativer Dyaden sowie der Spaltung zwi-
können. Der Patient reagiert, als existiere in der Beziehung    schen negativ besetzten Dyaden und den gleichermaßen ex-
nur die eine momentane Emotion.                                 tremen, weil unrealistisch und idealisiert positiven Dyaden.
   Diese Sichtweise korrespondiert mit den jüngsten Ergeb-      Negative Affekte können folglich in ein differenziertes Gan-
nissen neurokognitiver Untersuchungen, wie wir sie oben         zes integriert werden. Ziel ist es, die Fähigkeit des Patienten
zusammengefasst haben. Danach legen Borderline-Patien-          zu stärken, mit seinen aggressiven Impulsen besser fertig zu
ten eine ausgeprägte Hypervigilanz an den Tag und neigen        werden, anstatt sich ihnen ausgeliefert fühlen zu müssen.
dazu, Stimuli im zwischenmenschlichen Bereich negativ zu        Idealisierte positive Affekte sollen auf der anderen Seite in
interpretieren. Dies führt zu einer unmittelbaren und nicht     realistischere Erwartungen moduliert werden. Die Techni-
selten drastischen Aktivierung einer ganzen Reihe negati-       ken der Übertragungsfokussierten Psychotherapie, die wir
ver Affekte – mit den entsprechenden Selbst- und Objektre-      im Folgenden näher ausführen werden, fördern die Inte-
präsentanzen – im zwischenmenschlichen Bereich wie auch         gration und Modulierung abgespaltener Erfahrungen und
in der therapeutischen Beziehung. Während sich der Patient      ermöglichen es, dass extreme Affekte allmählich im Sinne
im Rahmen einer solchen Selbst-Objekt-Dyade typischer-          von Selbst-Objekt-Repräsentanzen bzw. Dyaden verstanden
weise als Opfer eines aggressiven Gegenüber wahrnimmt,          werden, die sich in ihre gegensätzlichen Selbst-Objekt-Af-
ist doch die gesamte negative Objektbeziehungsdyade in          fektkonstellationen integrieren lassen. Dies führt zu einer
ihm existent. Wenn wir die aktuellen therapeutischen Ver-       Modulierung von Affekten, insbesondere der Meisterung
fahren zur Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstö-        und Sublimierung aggressiver Affekte, sowie zur Stärkung
rungen betrachten, so scheint dieser Aspekt allein in der       kognitiver Funktionen, zu denen auch eine beginnende re-
Übertragungsfokussierten Psychotherapie Beachtung zu            flexive Funktion zählt.
finden (s. Kap. 68). Entsprechend der Opfer-Täter-Dyade             Die Integration abgespaltener negativer, insbesondere ag-
kommt es zu einer Kristallisation eigentlich normaler und       gressiver Gefühle stellt im Allgemeinen die größte Schwie-
gesunder aggressiver und auf Selbstbehauptung ausgerich-        rigkeit für einen Patienten dar. Integration bedeutet, nun-
teter Impulse um die starke innere Repräsentanz eines re-       mehr mit Aspekten des eigenen Selbst zurechtkommen zu
alen oder phantasierten Verfolgers. Dies schafft eine innere    müssen, die zuvor verleugnet, d. h. ausagiert und projiziert
Struktur, in der jegliches Wachrufen negativer Affekte (z. B.   wurden. Auch wenn dieser Prozess schmerzlich ist und mit
Wut, Neid, Verzweiflung) ein extremes und als giftig erleb-     Schuldgefühlen angesichts des eigenen, in der Vergangen-
tes Bild schafft, was wiederum zur Entladung des Affekts        heit als gerechtfertigt angesehenen Verhaltens einhergeht,
über Ausagieren und Projektion führt. Die auf Integration       so birgt er doch eine Bereicherung für den Patienten und
ausgerichtete therapeutische Arbeit hilft dem Patienten,        die Tiefe seines emotionalen Erlebens. Er erfährt, dass Wut
negative Affekte dieser Art zu tolerieren und damit fertig      und Aggression, die zuvor nur in karikaturhaft überzogener
zu werden, ohne auf primitive Abwehrbewegungen zurück-          Art und Weise erlebt wurden, sehr wohl kontrolliert und in
greifen zu müssen. Sie hilft, gesunde aggressive Impulse        den Dienst positiver Ziele wie Ehrgeiz, konstruktives Riva-
von extremen inneren Bildern, die jegliche Erfahrung ei-        lisieren und Kreativität gestellt werden können.
nes aggressiven Affekts unerträglich erscheinen lassen, zu          Die grundlegende Spaltung im Borderline-Patienten ist
differenzieren.                                                 somit keine Spaltung zwischen »gutem« Opfer und »bö-
   Wird eine Dyade aktiviert, kann das subjektive Erleben       sem« Täter, sondern zwischen einer Täter-Opfer-Dyade,
des Patienten zwischen beiden Polen der Dyade oszillie-         deren beide Pole affektiv ausschließlich negativ besetzt
548   V   Therapie

      sind, und einer Dyade zwischen geliebtem Selbst und ide-         lebens einem Gegenüber zugeschrieben werden, was zu
      aler Bezugsperson, deren rein positive affektive Besetzung       einer weiteren Verzerrung der zwischenmenschlichen Be-
      gleichermaßen unrealistisch-überzogen ist. Die in diesem         ziehungen führt. Zu diesen typischen Mustern von Insta-
      Sinne polarisierten positiven und negativen Affekte neigen       bilität und Verwirrung im zwischenmenschlichen Bereich
      dazu, sich gegenseitig abzuwehren, d. h., die Erfahrung ei-      kommt es, wenn sich die Projektion negativer Affekte mit
      nes positiven Affekts erlaubt nicht den leisesten Hauch einer    einer Wahrnehmung des Gegenüber als gut und wohlwol-
      negativen Empfindung und umgekehrt. Dieses System dient          lend abwechselt oder wenn im Rahmen stabiler feindseliger
      dazu, jene Angst abzuwehren, die im Patienten aufkommt,          Beziehungen die Projektion negativer Affekte den Anderen
      wenn widerstreitende positive und negative Affekte sowie         als anhaltend schlecht und verfolgend ausweist.
      die damit verbundenen Repräsentanzen gleichzeitig ins Be-           Varianten der Spaltung und Projektion sind:
      wusstsein drängen.                                               •• projektive Identifizierung, in welcher der Patient im
          Jedes Anzeichen in dieser Richtung ruft den altbekann-           Anderen jenen Affekt oder Impuls induziert, den zu to-
      ten inneren Zustand der Spaltung auf den Plan, um die                lerieren er selbst nicht in der Lage ist
      idealen Selbst- und Objektbilder vor dem Hass und der            •• omnipotente Kontrolle, in welcher der Patient feindseli-
      Wut zu schützen, die mit den verfolgenden und aggressiv              ge Affekte auf das Gegenüber projiziert, um sogleich das
      besetzten inneren Bildern assoziiert sind. Dies verhindert,          Bedürfnis zu verspüren, den Anderen zu kontrollieren
      dass der Patient sich seiner inneren Welt in ihrer Gesamt-           und zu verhindern, zum Opfer seiner (vermeintlichen)
      heit und Tragweite bewusst wird, und mündet nicht selten             Feindseligkeit zu werden
      in Gefühle der Leere, Diskontinuität im Selbsterleben und
      affektive Instabilität. Diese dissoziierte (oder abgespaltene)   Gerade das Vorherrschen projektiver Mechanismen ver-
      Abwehrstruktur verzerrt das bewusste Erleben und Denken          langt vom Therapeuten, sehr genau auf seine Gegenüber-
      und löscht es aus – mit anderen Worten: es kommt zu einer        tragung (d. h. sein emotionales Erleben in der Interaktion
      Fragmentierung und Auflösung des Denkens durch Angrif-           mit dem Patienten) zu achten, also darüber zu reflektieren,
      fe auf deren Verbindungsstrukturen (»attacks on linking of       was an den eigenen Reaktionen möglicherweise der Akti-
      thoughts«; Bion 1967). Mächtige Affekte brechen sich dann        vierung eines Affekts im Patienten entsprechen könnte, den
      Bahn in Handlungen ohne kognitives Bewusstsein. In der           dieser nicht zu tolerieren in der Lage ist (projektive Iden-
      Übertragungsfokussierten Psychotherapie geht es darum,           tifizierung). Gelangt der Therapeut zu einem Verständnis
      genau jene Beziehungsdyaden ausfindig zu machen, die die-        dieser Reaktionen, ermöglicht dies in aller Regel wertvolle
      sen primitiven Affekten und impulsiven Verhaltensweisen          Informationen über die innere Welt des Patienten.
      zugrunde liegen, um über ein vertieftes Verständnis der
      inneren Bilder eine Verbesserung der Affekt- und Verhal-
      tenskontrolle zu erreichen.
                                                                       Die Kernmethode der Übertragungs-
                                                                       fokussierten Psychotherapie
      Primitive Abwehrmechanismen
                                                                       Die extremen affektiven Reaktionen von Borderline-Pa-
      Es ist diese dissoziierte (gespaltene) Organisation des in-      tienten und die damit einhergehenden Verhaltensmuster
      neren Erlebens, die den primitiven Abwehrmechanismen             wirken sich auf das Leben und die Therapie der Patienten
      zugrunde liegt, basierend auf der grundlegenden Spaltung         gleichermaßen zerstörerisch aus. Die Art und Weise der af-
      positiver und negativer Affekte und Impulse. Aufgrund            fektiven Entladung umgeht deren bewusste Wahrnehmung
      der Schwierigkeit, negative Affekte zu tolerieren, neigen        und bringt den Patienten somit um die Möglichkeit, darü-
      Borderline-Patienten dazu, sie auszuagieren oder – infolge       ber nachzudenken und sie in der Folge zu integrieren und
      ihrer Hypersensitivität für visuelle und zwischenmenschli-       zu modifizieren. Aus diesem Grund muss die Behandlung
      che Reize – sie via Projektion als vom Gegenüber kommend         so aufgebaut sein, dass (aus-)agierendes Verhalten begrenzt
      zu erleben. So kann sich ein Patient angesichts einer not-       und dem Patienten ein therapeutischer Rahmen zur Verfü-
      wendigen Stundenabsage oder -verschiebung tief getroffen         gung gestellt wird, der die Aktivierung, Beobachtung und
      oder verletzt zeigen und mit Abbruch der Behandlung dro-         Reflexion seiner Selbst- und Objektrepräsentanzen ermög-
      hen, ohne sich darüber bewusst zu sein, dass Feindseligkeit      licht.
      und Zurückweisung, die er im Therapeuten auszumachen                Übertragungsfokussierte Psychotherapie basiert auf der
      glaubt, in Wirklichkeit sein eigenes Verhalten kennzeich-        Überzeugung, dass sich die Objektbeziehungsdyaden, wel-
      nen. Wir haben es hier mit projektiven Mechanismen zu            che die innere Welt des Patienten strukturieren, auch in
      tun, die dafür sorgen, dass Teile des eigenen inneren Er-        der Übertragung zum Therapeuten zeigen werden und es
50   Übertragungsfokussierte Psychotherapie (Transference-focused Psychotherapy, TFP)       549

deshalb besonders wirksam ist, sich in der therapeutischen      Selzer u. Clarkin 1992). Mithilfe des Behandlungsrahmens
Arbeit auf genau diesen Bereich zu konzentrieren. Das Ar-       soll eine Struktur geschaffen werden, die nicht nur mög-
beiten innerhalb der Übertragung hilft zu bestimmen, ob         lichen Störungen der Therapie vorbeugt und das Risiko
die affektiven Reaktionen des Patienten auf einer objektiver    eines Therapieabbruchs mindert, sondern auch die für das
Realität basieren (z. B. einem Ehemann, der verantwortlich      therapeutische Feld notwendige Sicherheit und Stabilität
für das Unglück der Patientin ist) oder aufgrund eines in-      garantiert, um die reaktivierten Objektbeziehungsdyaden
neren Bildes erfolgen (z. B. einem inneren Verfolger, der auf   oder bindungsspezifischen Arbeitsmodelle adäquat, d. h.
den Therapeuten projiziert wird, sobald dieser eine Stunde      mit dem nötigen Maß an Containment, zu reflektieren und
verschieben oder absagen muss) oder ob beides die Ursache       zu bearbeiten. Der Therapievertrag stellt für Therapeut und
ist. Die behandlungstechnische Fokussierung von Affekten,       Patient gleichermaßen einen sicheren Hafen dar, wenn der
wie sie sich in der Beziehung zwischen Therapeut und Pa-        Patient unter heftigsten Affektstürmen leidet oder ein Man-
tient unmittelbar manifestieren, beugt zudem der Gefahr         gel an Affekten und Gedanken vorliegt, welcher wiederum
intellektualisierender Deutungen vor.                           aus systematischen Angriffen auf die Verknüpfungen des
    Grundlage der Therapie ist die unter kontrollierten Be-     Denkens (Bion 1967) resultiert, den Patienten innerlich ab-
dingungen stattfindende Reaktivierung dissoziierter (ab-        tötet und als Roboter erscheinen lässt. Dieser Angriff auf
gespaltener) oder projizierter internalisierter Objektbezie-    das Denken kann sich bereits in der Anfangsphase einer Be-
hungen, wie sie das Übertragungsgeschehen bestimmen,            handlung manifestieren, wenn die innere Welt des Patien-
mit dem Ziel, die inneren Repräsentanzen des Patienten          ten durch tief greifende Spaltungen und scheinbar irrever-
bewusst zu machen und sie in ein differenzierteres Iden-        sible Projektionen nachhaltig geschädigt wurde, was nicht
titätsempfinden zu integrieren. Wenn wir diesen Prozess         nur die Gefahr selbstdestruktiven Ausagierens, sondern das
im Lichte der Bindungstheorie und Bindungsforschung be-         Risiko der Zerstörung der Therapie selbst erhöht.
trachten, so aktiviert die Behandlungssituation der Über-
tragungsfokussierten Psychotherapie mit ihrer dyadischen
Nähe und Intensität die primären inneren bindungsspezifi-
schen Arbeitsmodelle, welche im Fall schwerer gestörter Pa-     Der therapeutische Prozess
tienten unsicherer und konflikthafter Natur sind und sich
durch Widersprüchlichkeit und Uneindeutigkeit auszeich-         Die dyadische Nähe des Behandlungssettings in Verbin-
nen (Diamond, Stovall-McClough et al. 2003; Fonagy u.           dung mit der ungleichen Rollenverteilung zwischen Pati-
Bateman 2005; Main 1999). In diesem Sinne ist das Ziel der      ent und Therapeut führt rasch zur Aktivierung der inneren
Behandlung die Schaffung von mehr Bindungssicherheit.           Objektbeziehungsmuster des Patienten. Mithilfe kognitiver
                                                                Klärung versucht der Therapeut hier zunächst zu klären,
                                                                was der Patient wahrnimmt und wie dieses Erleben zu sei-
                                                                nen Gefühlen in Verbindung zu setzen ist. Eine Klärung in
Der Behandlungsvertrag                                          diesem Sinne orientiert sich an den folgenden drei Kom-
                                                                munikationskanälen:
Um die genannten Ziele zu erreichen und das Reflexions-         •• Inhalt des verbalen Diskurses
niveau des Patienten zu verbessern, gilt es Rahmenbedin-        •• nonverbale Kommunikation und nonverbales Verhal-
gungen in der Therapie zu schaffen, die ein Agieren und            ten
heftige Affektstürme begrenzen. Nach einer eingehenden          •• Gegenübertragungsreaktionen, die im Therapeuten
diagnostischen Evaluierung folgt die sogenannte »Vertrags-         wachgerufen werden
phase«, in welcher die Rahmenbedingungen der Behand-
lung festgelegt werden. Ausgangspunkt ist hierbei die Über-     Jeder dieser drei Kanäle wird unterschiedliche, voneinander
legung, dass es sich bei den Schwierigkeiten des Patienten      abgespaltene Aspekte der inneren Welt des Patienten zum
um psychische Probleme handelt, die auch entsprechend           Ausdruck bringen.
definiert werden – d. h. um eine Störung der Kernidentität,        Die Übertragungsfokussierte Psychotherapie beginnt mit
die sich auf vielfältigste Weise manifestiert, unter anderem    der intendierten Reaktivierung primitiver Objektbeziehun-
als heftige und rasch wechselnde Affektstürme sowie damit       gen in einem Rahmen, der dem Therapeuten ermöglichen
einhergehend agierendes Verhalten. Die Richtlinien und          soll, über das therapeutische Geschehen zu reflektieren,
Rahmenbedingungen umfassen auch eine Beschreibung der           anstatt unmittelbar auf die Erwartungen und Ängste des
Verantwortlichkeiten aufseiten des Patienten und des The-       Patienten zu reagieren. Seine Haltung ist die der Neutrali-
rapeuten. Dazu zählen unter anderem Empfehlungen zum            tät (nicht zu verwechseln mit Kälte oder Gleichgültigkeit)
Umgang mit agierendem Verhalten (Clarkin, Yeomans u.            gegenüber den Kräften, die in den – intrapsychischen oder
Kernberg 2006; Levy, Yeomans u. Diamond 2007; Yeomans,          interpersonellen – Konflikten des Patienten zum Tragen
550   V   Therapie

      kommen. Er ergreift also weder Partei mit den drängenden       •• Dem folgen die Identifizierung der Selbst- und Objektre-
      Impulsen des Patienten, zu handeln, noch mit dessen drän-         präsentanzen, die sich aus dem Zustand extremer affek-
      gendem Impuls, ein bestimmtes Verhalten zu vermeiden              tiver Aufladung oder aber affektiver Leere destillieren
      (beides Tendenzen, die für die Störung im Rahmen einer            lassen, sowie, daran anschließend, die genaue Explora-
      Borderline-Pathologie typisch sind). Ausgenommen hier-            tion der Rollenumkehr in der Übertragung, wenn der
      von sind Situationen, in denen das Verhalten des Patienten        Patient zwischen Selbst- und Objektpol der dyadischen
      ein nicht zu verantwortendes Maß an Destruktivität oder           Konstellation hin und her wechselt.
      Selbstdestruktivität annimmt. Der Therapeut nimmt eine         •• In einer fortgeschritteneren Phase der Behandlung geht
      Beobachterposition ein, aus der heraus er den Patienten           es darum, zu untersuchen, auf welche Art und Weise
      auffordert, mit ihm gemeinsam die sich manifestierenden           eine spezifische Objektbeziehungsdyade durch eine an-
      Konflikte zu beobachten, zu reflektieren. Diese können            dere abgewehrt werden soll. Die in der Übertragung mit
      sich zwischen Liebeswünschen und aggressiven Kräften,             ihren vielen verschiedenen Schichten und dissoziierten
      Handlungsimpuls versus innerer Hemmung oder zwischen              (abgespaltenen) Aspekten in Szene gesetzten Dyaden
      Handlungsimpuls versus der Sorge um die damit verbun-             werden zur Integration und Modulierung der inneren
      denen Konsequenzen entspinnen. Die Fokussierung von               Welt des Patienten systematisch gedeutet. Von der Deu-
      Konflikten im Sinne eines intrapsychischen Geschehens             tung aufgegriffen werden auch die unbewussten Motive
      im Patienten – und nicht als Ausdruck eines Konflikts             und Konflikte, welche die Spaltungsmechanismen sti-
      zwischen Patient und Therapeut – ist von zentraler Bedeu-         mulieren.
      tung. Patienten sind häufig von intensiver Angst getrieben,
      was diese Konflikte angeht, ohne sich jedoch bewusst zu        Sobald diese Aspekte im Rahmen der Übertragungsbezie-
      sein, dass es sich im Grunde um einen innerpsychischen         hung bearbeitet sind, beginnen Patienten auch außerhalb
      Konflikt handelt, was wiederum auf ihre starke Projekti-       der Therapie, komplexere und realistischere Beziehungen
      onsneigung zurückzuführen ist, d. h. die Tendenz, Teile        zu entwickeln. Abschließend sei jedoch darauf hingewiesen,
      eines Konflikts anderen Personen zuzuschreiben. Indem          dass dieser kurze Abriss einzelner Therapiephasen den pro-
      wir als Therapeuten vermeiden, uns mit bestimmten Seiten       totypischen Verlauf einer Übertragungsfokussierten Psy-
      eines Konflikts zu verbünden, helfen wir dem Patienten, das    chotherapie darstellt, eine genaue lineare Abfolge jedoch
      Konfliktgeschehen in seiner Gänze wahrzunehmen und zu          nicht erwartet werden darf.
      reflektieren und letztlich erfolgreich mit Konflikten umzu-
      gehen, anstatt sich ihnen hilflos ausgeliefert zu fühlen.
         Die Neutralität des Therapeuten befördert einerseits die
      Reaktivierung der charakteristischen Objektbeziehungs-         Der Deutungsprozess
      dyaden im Patienten, hilft diesem jedoch in einem zweiten
      Schritt, jene Selbstanteile wahrzunehmen, zu akzeptieren       Der Übergang von einer Therapiephase in die nächste
      und zu integrieren, welche er zuvor nicht bewusst tolerieren   vollzieht sich zum Teil auch durch die verschiedenen Deu-
      konnte, sondern agieren oder projizieren musste. Über die      tungsschritte, die sich zwar mit den einzelnen Therapie-
      Identifizierung der Selbst-Objekt-Dyaden, ihre Reflexion       abschnitten überlappen, jedoch nicht synonym mit ihnen
      und ihr Containment wird ihre repetitive automatische In-      sind. Klärung, Konfrontation und Deutung der Selbst- und
      szenierung kurzgeschlossen. Stattdessen kommt es zu einer      Objektdyaden, wie sie in der Beziehung zum Therapeuten,
      allmählichen kognitiven Strukturierung dessen, was zuvor       aber auch in den Beziehungen außerhalb der Therapie
      rigide und chaotisch anmutete.                                 wahrgenommen werden, stärken die Reflexionsfähigkeit
         Obwohl es schwierig ist, psychodynamische Psychothe-        des Patienten als Instrument zum Aufbau einer integrierten
      rapie im Sinne einzelner Phasen zu definieren – jede Pati-     Identität. Indem der Therapeut den Patienten auffordert,
      ent-Therapeut-Dyade wird einen sehr individuellen Verlauf      diese Szenarien, wie sie sich im therapeutischen Setting ma-
      nehmen –, lassen sich doch bestimmte Behandlungslinien         nifestieren, zu beobachten und zu reflektieren, appelliert
      ausmachen, denen eine Übertragungsfokussierte Psycho-          er an dessen Fähigkeit, sie als Konstrukte und weniger als
      therapie im Allgemeinen folgt:                                 tatsächliche Selbst- und Objektbilder zu betrachten – stets
      •• In der Anfangsphase der Therapie besteht die Haupt-         mit dem Ziel, die kognitive Repräsentierung des affektiven
         aufgabe darin, das affektive Chaos und Durcheinander        Geschehens zu stärken. Der Therapeut hilft dem Patienten
         auszuhalten, mit denen Borderline-Patienten häufig in       dabei, jene Ängste zu verstehen, die es ihm so schwer ma-
         die Therapie kommen und die nicht selten die Gestalt        chen, primitive positive (libidinöse) und negative (aggres-
         kaleidoskopartiger Wechsel zwischen Affektstürmen,          sive) Affekte zu integrieren.
         verbalisierten primitiven Phantasien oder primitiven           Aufgrund von Spaltung und projektiven Mechanismen
         Inszenierungen annehmen.                                    tun sich Borderline-Patienten schwer, zwischen sich und
50   Übertragungsfokussierte Psychotherapie (Transference-focused Psychotherapy, TFP)          551

anderen zu unterscheiden. Die Fähigkeit, die Motive ande-       Konflikt zwischen innerpsychischen Kräften/Affekten als
rer Menschen unbeeinflusst von den eigenen wahrzuneh-           grundlegendes Kennzeichen der Borderline-Pathologie an-
men (derer sich der Patient womöglich auch nicht bewusst        sieht, glauben wir nicht, dass die Fähigkeit, Selbstzustände
ist), ist tief greifend gestört. Deutungen im Hier-und-Jetzt    akkurat zu lesen, für sich genommen schon ausreicht, um
beginnen mit dem Versuch, einen Affekt oder eine an ei-         diese Konflikte zu lösen. Die Untersuchungen von Høgland,
nen Affekt geknüpfte Handlung zu verstehen und mit den          Bøgwald et al. (2008) könnten in diesem Zusammenhang
zugrunde liegenden Selbst- und Objektrepräsentanzen,            von Relevanz sein: Sie haben festgestellt, dass sich der Ein-
welche wiederum den Affekt oder die Handlung bedingen,          satz von Übertragungsdeutungen bei Patienten mit gerin-
in Bezug zu setzen. Dies bedeutet nicht selten, den Auf-        ger Objektbeziehungsqualität als effektiver erwiesen hat als
merksamkeitsfokus auf innere Repräsentanzen zu legen,           deren Vermeiden. Da es sich allerdings bei nur 22 % der
die durch »unannehmbare« Affekte und Impulse charak-            Studienteilnehmer um Patienten mit einer diagnostizierten
terisiert sind, seien sie aggressiver oder libidinöser Natur.   Borderline-Störung oder einer Multiplen Persönlichkeits-
Die zugrunde liegenden Repräsentanzen bewusst zu ma-            störung handelte, bedarf es weiterer Untersuchungen mit
chen, hilft dem Patienten, das Motiv zu klären, welches sich    rein Borderline-spezifischen Stichproben.
hinter seinem Gefühl oder seiner Handlung verbirgt, was            Konfrontation stellt den zweiten Schritt des Deutungs-
wiederum eine weitere Klärung der Genauigkeit der Re-           prozesses in der Übertragungsfokussierten Psychothera-
präsentanz ermöglicht. Wenn es gelingt, im Moment des           pie dar. In der Konfrontation geht es darum, den Patienten
Geschehens dem Patienten ein besseres Verständnis seiner        aufzufordern, über die Widersprüche nachzudenken, wie
selbst und des anderen zu vermitteln – was häufig mit der       sie sich als unvereinbar anmutende Aspekte seiner inneren
Erkenntnis verbunden ist, dass die Interaktion wohlwollen-      Welt in der Therapie manifestieren. Auch wenn die Gefühle
der ist als anfänglich gedacht –, so wächst seine Fähigkeit,    des Patienten gegenüber dem Therapeuten oder anderen
Affekte auszuhalten, ohne sie verleugnen oder ausagieren        Personen in manchen Momenten klar und eindeutig sind
zu müssen und ohne sich für ihre Existenz verurteilen zu        und auch als solche zum Ausdruck gebracht werden, so gibt
müssen. Dies eröffnet den Weg für die Integration wider-        es doch andere Momente, in denen das, was ein Patient sagt,
sprüchlicher Selbst- und Objektwahrnehmungen über die           in deutlichem Widerspruch steht zu dem, was er anderweitig
Zeit hinweg.                                                    geäußert hat oder wie er sich verhält. Darauf aufmerksam
    Der Deutungsprozess beginnt mit einer Klärung. Klären       zu machen, konfrontiert den Patienten mit Widersprüchen,
heißt jedoch nicht er-klären, sondern den Patienten aufzu-      deren er sich häufig nicht bewusst ist.
fordern, darüber zu sprechen, was er im Moment fühlt. Klä-         In einem dritten Schritt des Deutungsprozesses soll dem
ren ist mit dem Bemühen verbunden, das aktuelle Erleben         Patienten vermittelt werden, wie das Verständnis eines be-
besser zu verstehen und zum Ausdruck zu bringen. Klärung        stimmten Affekts gegenüber einem Objekt in Bezug gesetzt
kann sich auf ein äußeres Ereignis beziehen, das der Patient    werden könnte zu anderen, damit in Konflikt stehenden
beschreibt, oder aber auf die unmittelbare Interaktion mit      Affekten. Eine Deutung in diesem Sinne ließe sich folgen-
dem Therapeuten. Letzteres ist insofern von großem Nut-         dermaßen formulieren: »Es könnte sein, dass Sie nach jeder
zen, da Therapeut und Patient das Geschehen gemeinsam           Stunde, in der wir einen guten Kontakt hatten, äußern, die
explorieren können und somit Zugang zum unmittelba-             Therapie abbrechen zu wollen, weil ein Teil in Ihnen da-
ren Affekt haben. In diesem Sinne ähnelt Klärung einem          von überzeugt ist, dass dieses positive Gefühl nicht echt ist,
Grundsatz in der Mentalisierungsgestützten Therapie, wel-       sondern nur ein Trick, und dass es letztlich nur dazu führt,
cher die therapeutische Unterstützung des Patienten, den        dass ich Ihnen wehtun werde. Wenn das der Fall wäre, dann
eigenen inneren Zustand und den des Gegenüber akkurat           hätten Sie gute Gründe, die Therapie abbrechen zu wollen.
wahrzunehmen, als Kernmerkmal der Therapie definiert.           Es würde zudem erklären, warum Sie sich in feindlichen
    Bateman und Fonagy (2004a) und andere Autoren               Beziehungen mehr ›zu Hause‹ fühlen.«
vertreten die Auffassung, dass konventionelle Übertra-             In einem späteren Schritt könnte die abgespaltene und
gungsdeutungen bei Borderline-Patienten nicht immer             projizierte Identifizierung mit einem aggressiven Anteil
wirksam seien und in diesen Fällen der Deutungsprozess          im Patienten, der es unmöglich macht, sich aus negativen
auf die jeweiligen klinischen Bedürfnisse des Patienten         Beziehungen zu lösen, deutend aufgegriffen werden. Die
zugeschnitten werden müsse. Gleichwohl möchten wir in           Bewusstmachung dieses aggressiven Anteils eröffnet zum
unserem psychodynamischen Ansatz die zentrale Rolle             einen die Möglichkeit, in libidinöser Hinsicht mehr Erfül-
des Deutungsprozesses betonen. Unserer Auffassung nach          lung zu erfahren, zum anderen können aggressive Affekte
kommt es nur dann zu einer Verbesserung der Borderline-         stärker in den Dienst der Anpassung und Leistungsfähig-
Pathologie, wenn der Patient die Möglichkeit erhält, über       keit gestellt werden.
die Mentalisierung des aktuellen Augenblicks hinauszuge-           Deutungen im Rahmen der Übertragungsfokussierten
hen. Da die Übertragungsfokussierte Psychotherapie den          Psychotherapie beziehen sich zum größten Teil auf die psy-
552   V   Therapie

      chische Struktur des Patienten und nicht primär auf das         Übertragungsfokussierten Psychotherapie zu veranschau-
      Deuten historischer Vorläufer, wie es zuweilen als tradi-       lichen. Mithilfe von Forschungsgeldern des »National Insti-
      tionelles Vorgehen in der Psychoanalyse betrachtet wird.        tute of Mental Health« (John F. Clarkin, PI) generierten wir
      Natürlich ist es nicht falsch, eine Deutung wie die Folgende    anfängliche Effektstärken der Behandlung über einen Zeit-
      anzubieten: »Ihre Angst, sich mir nahe zu fühlen, ist ver-      raum von einem Jahr. Die untersuchte Stichprobe der ersten
      ständlich angesichts der Tatsache, dass Sie schon früh die      Studie bestand aus Borderline-Patientinnen mit mindestens
      Erfahrung machen mussten, von denen, die Sie liebten, ge-       zwei Episoden suizidalen oder selbstverletzenden Verhaltens
      demütigt zu werden.« Gleichwohl lässt sich das Erleben ei-      in den zwölf Monaten vor Therapiebeginn. Die Behand-
      nes Patienten nachhaltiger verändern, wenn in die Deutung       lung mit Übertragungsfokussierter Psychotherapie führte
      mit einfließt, wie seine Erwartungen größtenteils von seiner    bei den 20 Patientinnen zu signifikanten Veränderungen in
      eigenen psychischen Verfasstheit bestimmt sind: »Vielleicht     einer Reihe zentraler Problembereiche. Das durchschnitt-
      fürchten Sie deshalb, sich mir nahe zu fühlen, weil Sie davon   liche Risiko parasuizidaler Handlungen ging signifikant
      ausgehen, ich könnte mich genauso verhalten, wie Sie sich       zurück, der allgemeine medizinische Status verbesserte sich
      anderen Menschen gegenüber verhalten: Ein falsches Wort         signifikant. Nach zwölf Monaten Übertragungsfokussierter
      und der andere ist raus aus Ihrem Leben …!«                     Psychotherapie erfüllten 52,9 % der Studienteilnehmerin-
         Das bewusste Verständnis für aktuelle innere Selbst- und     nen nicht mehr die Kriterien einer Borderline-Persönlich-
      Objektzustände und ihre Verknüpfung mit bestimmten Af-          keitsstörung. Die Anzahl von Notaufnahmen, stationären
      fekten hat zur Folge, dass die entsprechenden Selbst- und       Aufnahmen und Krankenhaustagen ging ebenfalls signi-
      Objektrepräsentanzen in einen größeren zeitlichen und           fikant zurück (Clarkin, Foelsch et al. 2001). Signifikante
      situativen Kontext gestellt werden – und sich so zu einer       Veränderungen zeigten sich auch in den Bereichen des
      integrierten Selbst- und Objektwahrnehmung verbinden            »reflective functioning«, einem bindungsbasierten Maß zur
      können. Mit anderen Worten: Momentane Empfindungen              Untersuchung der Mentalisierungsfähigkeit (Fonagy, Steele
      gegenüber einer bestimmten Person können nunmehr im             et al. 1997), während sich der Bindungsmodus der meisten
      Licht und als Teil der Gesamtbeziehung gesehen werden.          Studienteilnehmerinnen von »desorganisiert« in Richtung
      Wie wir bereits erwähnt haben, überschneiden sich Deu-          »sicher« oder »unsicher gebunden« entwickelte (Diamond,
      tungsprozess und Behandlungsphasen der Übertragungsfo-          Stovall-McClough et al. 2003).
      kussierten Psychotherapie, sind jedoch nicht synonym. Der          In einer nachfolgenden Vergleichsstudie untersuchten
      gesamte Deutungsprozess kann an nahezu jedem Punkt in           wir zwei Gruppen von Patienten mit Borderline-Persönlich-
      der Therapie in einer einzigen Sitzung durchlaufen werden       keitsstörungen: eine Gruppe war ein Jahr lang mit Über-
      oder sich über viele Sitzungen auf einen einzigen Deutungs-     tragungsfokussierter Psychotherapie behandelt worden, die
      schritt konzentrieren, je nach individueller Störung und in-    andere Gruppe im Rahmen unseres klinischen Settings mit
      dividuellem Therapieverlauf.                                    herkömmlichen Therapieverfahren (»treatment as usual«,
                                                                      TAU). Die Anzahl psychiatrischer Notaufnahmen und sta-
                                                                      tionärer Aufenthalte erwies sich in der Gruppe mit Übertra-
                                                                      gungsfokussierter Psychotherapie als signifikant niedriger
                                                                      als in der TAU-Gruppe. Patienten, welche die Behandlung
      Empirische Befunde zur Übertra-                                 mit Übertragungsfokussierter Psychotherapie abgeschlos-
      gungsfokussierten Psychotherapie                                sen hatten, zeigten im Vergleich zur TAU-Gruppe ein all-
                                                                      gemein verbessertes Funktionsniveau (»Global Assessment
      Am »Personality Disorders Institute« wurden bislang drei        of Functioning Scale«, GAF). Alle »within-subject«- und
      Therapiestudien durchgeführt, um die Wirkung der Über-          »between-subject«-Effektstärken der Stichprobe wiesen
      tragungsfokussierten Psychotherapie auf Symptomatologie,        signifikante Veränderungen auf, während es in der TAU-
      soziale Anpassung, Inanspruchnahme psychiatrischer und          Gruppe entweder zu Verschlechterungen oder zu geringen
      allgemeinmedizinischer Dienste, Bindungsorganisation            Effektstärken kam (Levy, im Druck).
      und Mentalisierung bei Patienten mit Borderline-Persön-            Um die Wirksamkeit von Übertragungsfokussierter
      lichkeitsstörung oder Borderline-Persönlichkeitsorganisa-       Psychotherapie im Vergleich mit anderen manualisierten
      tion zu untersuchen. Wir haben diese Studien in früheren        Verfahren zu untersuchen, führten wir schließlich eine
      Veröffentlichungen detailliert beschrieben (s. Clarkin,         randomisierte Vergleichsstudie durch (Clarkin, Levy et al.
      Foelsch et al. 2001; Clarkin, Levy et al. 2007; Levy, Clarkin   2004; Levy, Meehan et al. 2006; Levy, Yeomans u. Diamond
      et al. 2006; Levy, Meehan et al. 2006; Levy, im Druck).         2007), in der wir drei Therapieverfahren in ambulanten
         Im Folgenden möchten wir eine Zusammenfassung un-            Stichproben über einen Zeitraum von einem Jahr gegen-
      serer Ergebnisse geben, um die empirische Entwicklung           überstellten: Übertragungsfokussierte Psychotherapie,
      unserer Konzeptualisierung des Deutungsprozesses in der         Dialektisch-Behaviorale Therapie (s. Kap. 56) und psycho-
50   Übertragungsfokussierte Psychotherapie (Transference-focused Psychotherapy, TFP)        553

dynamisch orientierte supportive Therapie (Appelbaum,         Übertragungsfokussierter Psychotherapie eine signifikan-
unveröffentlichtes Manuskript). Alle Studienteilnehmer        te Verbesserung der narrativen Kohärenz nach einem Jahr
wurden vor und nach der Behandlung anhand des »Adult          Behandlung, was in den beiden anderen Untersuchungs-
Attachment Interview« (AAI; George, Kaplan u. Main            gruppen nicht der Fall war. Die Verbesserung der Werte
1998) untersucht. Im Hinblick auf Symptomatologie und         im Bereich narrative Kohärenz bei Borderline-Patienten
»Global Assessment of Functioning Scale« erwiesen sich        erreichte nahezu das Niveau von Bindungssicherheit. In
alle drei Therapieverfahren als wirksam: In jeder Untersu-    der randomisierten Kontrollstudie waren 31,7 % als »un-
chungsgruppe zeigten sich signifikante Verbesserungen in      gelöst-verstrickt« eingeordnet worden gegenüber 18 %,
den Bereichen »Depression«, »Angst«, »allgemeines Funk-       die nicht klassifizierbar waren (Levy, Meehan et al. 2006).
tionsniveau« und »soziale Anpassung«. Zu signifikanten        Nach einem Jahr Behandlung hatte sich die Anzahl an Pa-
Verbesserungen im Bereich »Suizidalität« kam es nur in        tienten, die als »sicher gebunden« eingeordnet wurden, in
den Gruppen unter Übertragungsfokussierter Psychothe-         der Gruppe unter Übertragungsfokussierter Psychothera-
rapie und Dialektisch-Behavioraler Therapie, während die      pie signifikant erhöht, nicht jedoch in der Gruppe unter
Bereiche »Wut« und »Impulsivität« sich nur in den Unter-      Dialektisch-Behavioraler Therapie oder in der supportiven
suchungsgruppen Übertragungsfokussierte Psychotherapie        Therapiegruppe.
und supportive Therapie verbesserten. Interessanterweise         Welche klinische Relevanz haben nun derartige Ver-
erwies sich nur die Übertragungsfokussierte Psychothera-      besserungen der Reflexionsfähigkeit und der narrativen
pie als signifikanter Prädiktor für Veränderungen in den      Kohärenz? Und was bedeuten diese Ergebnisse für unser
Bereichen »Reizbarkeit« und »verbale/körperliche Übergrif-    behandlungstechnisches Vorgehen? Als Erstes lässt sich
fe« (Clarkin, Levy et al. 2007).                              festhalten, dass eine größere Fähigkeit, über sich und an-
   Was die Entwicklung der Reflexionsfähigkeit betrifft       dere nachzudenken, zu weniger inadäquaten negativen
(»Reflective-Functioning«, RF), die für den vorliegenden      Zuschreibungen führen sollte, was die Motive anderer
Aufsatz von besonderer Bedeutung war, so konzeptualisier-     Menschen angeht, wie es so charakteristisch für Patienten
ten wir diese als Veränderungsmaß in der Behandlung von       mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen ist. Mit anderen
Borderline-Patienten und stellten die Hypothese auf, dass     Worten: Die Neigung, das Wohlwollen anderer und positive
sich aufgrund des spezifischen Behandlungscharakters von      Ereignisse als böswillig zu interpretieren, wird nachlassen
Übertragungsfokussierter Psychotherapie die Reflexionsfä-     und so die bekannte Abwärtsspirale von Fehlinterpretati-
higkeit nur in dieser Gruppe verbessern würde, nicht jedoch   onen und daraus resultierenden negativen Reaktionen aus
in der Gruppe mit Dialektisch-Behavioraler Therapie oder      der Umwelt durchbrechen.
in der supportiven Stichprobe. Beim »Reflective-Function-        Hinsichtlich der Relevanz signifikanter Veränderungen
ing« handelt es sich um einen bindungsspezifischen Index      in Richtung Bindungssicherheit, wie wir sie bei Patienten
zur Einschätzung der Mentalisierungsfähigkeit, abgeleitet     unter Übertragungsfokussierter Psychotherapie beobach-
aus dem »Adult Attachment Interview« (George, Kaplan u.       ten können, ist es wichtig festzuhalten, dass eine Reihe von
Main 1998), der vor und nach der Behandlung bei allen Stu-    empirischen Untersuchungen Bindungssicherheit mittler-
dienteilnehmern erhoben wurde. Die »Adult Attachment          weile mit einem optimalen persönlichen, psychosozialen
Interviews« wurden anhand des von Main und Goldwyn            und kognitiven Funktionsniveau in Verbindung bringen
(1998) entwickelten Klassifikationssystems für die Berei-     (was auch die Qualität der Beziehungen zur jeweiligen Peer-
che »allgemeine Bindungsklassifikation« und »Reflective-      group sowie das kognitive Funktionsniveau in der Kind-
Functioning« geratet. Die mithilfe der Übertragungsfokus-     heit einschließt; Suess, Grossmann u. Sroufe 1992): mit
sierten Psychotherapie behandelten Borderline-Patienten       Aufmerksamkeitskontrolle (Harman, Rothbart u. Posner
wiesen im Ergebnis einen höheren Durchschnittswert auf        1997), einem komplexeren Verständnis gemischter Emoti-
der »Reflective-Functioning«-Skala auf, während sich der      onen im Alter von sechs Jahren (Steele, Steele et al. 1999),
»Reflective-Functioning«-Wert in den beiden anderen The-      der Qualität von Liebesbeziehungen in der Adoleszenz so-
rapiegruppen nicht signifikant veränderte (Levy, Meehan       wie dem Grad an innerer Sicherheit in Liebesbeziehungen
et al. 2006).                                                 des frühen Erwachsenenalters (Grossmann u. Grossmann
   Untersucht wurde auch das Niveau der narrativen Ko-        2003; Sroufe, Edgeland et al. 2005). Im Erwachsenenalter
härenz, d. h. der Fähigkeit, die eigene frühe Bindungs-       gehen innerpsychische Arbeitsmodelle einer sicheren Bin-
geschichte plastisch, glaubhaft und in sich konsistent zu     dung mit dem Gefühl einher, der Hilfe und Unterstützung
berichten. Die Subskala »narrative Kohärenz« im »Adult        anderer wert zu sein, mit der Fähigkeit, in Krisenzeiten oder
Attachment Interview« erwies sich als bester Prädiktor        bei Verlust andere um Unterstützung zu bitten sowie sozi-
für den Modus einer sicheren Bindung (r = 96; p = 0,001;      al und emotional schwierige Situationen, die den eigenen
Waters, Merrick et al. 2001). Ähnlich den Ergebnissen zum     Partner betreffen, adäquat einzuschätzen (Grossmann u.
»Reflective-Functioning« zeigte sich in der Gruppe unter      Grossmann 2003). Die signifikant erhöhten Werte in der
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