50 Übertragungsfokussierte Psychotherapie - TFP-Institut Nord
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50 Übertragungsfokussierte Psychotherapie (Transference-focused Psychotherapy, TFP) und Borderline-Persönlichkeitsstörung1 Frank E. Yeomans, Diana Diamond2 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 Der Deutungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 Primitive Abwehrmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548 Empirische Befunde zur Übertragungsfokussierten Die Kernmethode der Übertragungsfokussierten Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552 Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548 Klinisches Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554 Der Behandlungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 Klinische Schlüsselkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 Der therapeutische Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 Einleitung12 Kerntechniken des Verfahrens in modifizierter Form auch auf andere Persönlichkeitsstörungen anwendbar (Caligor, Bei der Übertragungsfokussierten Psychotherapie (Trans- Kernberg u. Clarkin 2007; Diamond 2007; Diamond u. ference-focused Psychotherapy, TFP; Clarkin, Yeomans u. Yeomans 2008). Kernberg 2006, dt. 2008) handelt es sich um ein manuali- Es gibt zunehmend empirische Belege dafür, dass die siertes psychodynamisches Therapieverfahren, welches spe- Übertragungsfokussierte Psychotherapie zu signifikanten ziell zur Behandlung von Borderline-Störungen entwickelt klinischen Verbesserungen in den Bereichen Symptomato- wurde. Das spezifische therapeutische Vorgehen orientiert logie und psychosoziales Funktionsniveau führt (Clarkin, sich dabei an der Prämisse, dass Borderline-Erkrankungen Foelsch et al. 2001; Clarkin, Levy et al. 2007; Levy, Clarkin et auf Störungen der inneren Objektbeziehungen zurückge- al. 2006). In einer Reihe von früheren Aufsätzen haben wir hen (Kernberg 1975, 1978; 1984, 1988). Während sich die unsere Forschungsergebnisse aus drei verschiedenen Stu- folgenden Ausführungen auf die Anwendung der Übertra- dien vorgestellt, die allesamt Veränderungen in mehreren gungsfokussierten Psychotherapie bei Borderline-Persön- untersuchten Dimensionen belegen. So bewirkte die Über- lichkeitsstörungen beziehen, sind die Kernprinzipien und tragungsfokussierte Psychotherapie einen signifikanten Rückgang an suizidalen und parasuizidalen Handlungen und Phantasien, einen signifikanten Rückgang in den Be- reichen ›Depression‹ und ›Angst‹ sowie in der Inanspruch- 1 Das folgende Kapitel wurde in seiner Originalfassung aus »Clarkin nahme medizinischer Versorgungseinrichtungen (z. B. dem JF, Fonagy P, Gabbard GO (eds.). Psychodynamic Psychotherapy for Personality Disorders: A Clinical Handbook« entnommen; © 2010 Aufsuchen von Notaufnahmen). Damit verbunden sind American Psychiatric Publishing, Inc.; Nachdruck mit freundlicher nach einem Jahr Übertragungsfokussierter Psychothera- Genehmigung. Es stellt u. a. Ergebnisse des »Cornell Psychotherapy pie ein verbessertes psychosoziales Funktionsniveau sowie Research Project« vor, das mit Forschungsgeldern des National Verbesserungen der narrativen Kohärenz und der Mentali- Institute of Mental Health, der Internationalen Psychoanalytischen sierungsfähigkeit (d. h. der Fähigkeit, den eigenen psychi- Vereinigung sowie der Köhler-Stiftung München unterstützt wurde. schen Zustand sowie den anderer Menschen zu verstehen) Auch die Borderline Personality Disorder Research Foundation (Clarkin, Foelsch et al. 2001; Clarkin, Levy et al. 2007; Levy, (BRDRF) hat unsere Arbeit mit finanziellen Mitteln unterstützt. Der Stiftung und dem Stifter, Herrn Dr. Marco Stoffel, möchten wir an Meehan et al. 2006). dieser Stelle unseren Dank aussprechen. Der Fokus des hier vorliegenden Kapitels wird auf das 2 Übersetzung aus dem Englischen: Petra Holler, München. Therapieverfahren selbst gerichtet sein. Neben einem aus-
544 V Therapie führlichen Fallbeispiel, welches die Anwendung der Über- ierungsphase und entsprechenden Rahmenvereinbarungen, tragungsfokussierten Therapie illustriert, werden wir einen welche eine sichere Grundlage für Therapeut und Patient Überblick über folgende Punkte geben: bilden, die im Rahmen der Behandlung häufig zutage tre- •• das Objektbeziehungsmodell der Borderline-Patholo- tenden intensiven und stürmischen Affekte zu bearbeiten. gie Diesem ersten Behandlungsabschnitt folgt eine Phase, in •• Kernstrategien, taktische Vorgehensweisen und Techni- der es um die Identifizierung der dominanten Objektbe- ken des Verfahrens ziehungsszenarien eines Patienten geht. Mittels Klärung, •• entsprechende Veränderungsmechanismen Konfrontation und Deutung werden diese mit den fluk- tuierenden affektiven Zuständen des Patienten sowie der Bei der Übertragungsfokussierten Psychotherapie handelt im Rahmen der therapeutischen Beziehung immer wieder es sich insofern um ein sehr umfassendes Therapiepro- auftretenden Rollenumkehr in Bezug gesetzt, wenn die je- gramm, da es spezifische therapeutische Interventionen für weiligen Pole der Selbst-Objekt-Dyade ausgelebt werden. eine ganze Reihe von Aspekten der Borderline-Pathologie Gerade die systematische Bearbeitung dieser Selbst-Objekt- – sowohl allgemeiner als auch idiosynkratischer Art – vor- Dyaden stärkt die Fähigkeit des Patienten, sein affektives sieht. Die Behandlungsdauer beträgt dabei mindestens ein Erleben kognitiv zu repräsentieren und zu »containen«. Das Jahr oder länger. Während wir die Übertragungsdeutung wiederum bedeutet eine Verbesserung des sogenannten als zentrales Element sowohl des therapeutischen Vorgehens »reflective functioning« oder der Mentalisierungsfähig- als auch der therapeutischen Veränderung ansehen, handelt keit, also das Übertragungsgeschehen zu reflektieren und es sich dabei doch nur um eines von vielen Behandlungs- zu symbolisieren (Caligor, Diamond et al. 2009; Kernberg, elementen, wie wir sie in Abbildung 50-1 zusammengefasst Diamond et al. 2008). haben (Yeomans, Clarkin et al. 2008). Therapeutische Ver- Wie bereits erwähnt, richtet sich der Fokus des vorlie- änderung im Rahmen der Übertragungsfokussierten Psy- genden Kapitels auf die Borderline-Persönlichkeitsstörung. chotherapie beruht auf einer Reihe behandlungstechnischer Gleichwohl lassen sich die Prinzipien der Übertragungsfo- Interventionen, beginnend mit einer diagnostischen Evalu- kussierten Psychotherapie auf alle Persönlichkeitsstörungen Therapeut Patient legt den Rahmen der Behandlung erlebt einen sicheren Ort, an dem er über sich sprechen und mithilfe des Therapievertrages fest über aufkommende Affekte nachdenken kann Affektausdruck beinhaltet Handlungen und Interaktionen, ● beobachtet das Verhalten des Patienten, die auf impliziten Objektbeziehungsdyaden basieren ohne zu werten oder zu reagieren ● versucht, die dem Verhalten zugrunde liegenden Objektbeziehungen zu verstehen und bedient sich dabei der Techniken der 1. Klärung 2. Konfrontation Verbesserung der Reflexionsfähigkeit 3. Deutung (zur Förderung der Reflexion und Bearbeitung von Hindernissen, die dieser im Wege stehen) zunehmende Integration verbesserte Affektmodulierung Verbesserung von Reflexion und Kontextualisierung Abb. 50-1 Ein Objektbeziehungsmodell der Borderline-Pathologie.
50 Übertragungsfokussierte Psychotherapie (Transference-focused Psychotherapy, TFP) 545 anwenden, die auf Borderline-Niveau organisiert sind. Das lich machen, das, was in ihm selbst und in anderen vorgeht, Modell der Übertragungsfokussierten Psychotherapie der adäquat zu erfassen und zu verstehen (Bateman u. Fonagy Borderline-Pathologie berücksichtigt psychoanalytische 2004a; Fonagy, Leigh et al. 1996; s. Kap. 52). Konzepte zur strukturellen Organisation der Persönlichkeit Neurokognitive Untersuchungen wiederum sprechen (Kernberg 1984, 1988; 2004a), wie sie unter anderem durch von fehlerhaften Informationsverarbeitungsprozessen bei neuronale, sozial-kognitive und neurokognitive sowie inter- Borderline-Patienten, die durch negative Affekte und eine personelle Forschungsbefunde bestätigt wurden (Adolphs Beeinträchtigung der sozialen Kognition beeinflusst wür- 2003; Depue u. Lenzenweger 2005; Fertuck, Grinband et den. Die allgemein als gültig angesehene Beobachtung, al. 2009; Posner, Rothbart et al. 2002; Zaki u. Ochsner, im wonach Borderline-Patienten zu vorschnellen negativen Druck). Es postuliert eine dynamische Interaktion zwi- oder aber hypervigilanten oder offen paranoiden Übertra- schen Temperament (im Sinne individueller Unterschiede gungen in der therapeutischen Situation neigen, wird durch der Affektaktivierung und -regulierung sowie der motori- neueste Forschungsbefunde gestützt (Gabbard, Miller u. schen Reaktivität), Umweltfaktoren (z. B. Missbrauch oder Martinez 2006; Kernberg 1975, 1978). Die Ergebnisse aus Vernachlässigung), dem Fehlen von Selbst- oder Objekt- neurowissenschaftlichen Untersuchungen zur sozialen kohärenz im Kontext eines unsicheren Arbeitsmodells von Kognition lassen darauf schließen, dass intensive negative Bindung (s. Kap. 16), Defiziten der Mentalisierungsfähig- Emotionen mit kognitiven Kontrollmechanismen in der keit (s. Kap. 52) sowie einer gering ausgeprägten »effortful Borderline-Persönlichkeitsstörung interferieren (Fertuck, control« (Clarkin, Yeomans u. Kernberg 2006; Gabbard, Lenzenweger et al. 2006; Silbersweig, Clarkin et al. 2007) Miller u. Martinez 2006; Silbersweig, Clarkin et al. 2007). und von einer erhöhten Sensitivität für soziale Stimuli aus- Während die genannten Aspekte zu den Hauptfaktoren gegangen werden muss. Im Bereich sozialer Anerkennung zählen, die im Allgemeinen für das Entstehen einer Bor- scheint ein »Paradoxon« (Krohn 1974) wirksam zu sein, derline-Persönlichkeitsstörung verantwortlich gemacht wonach Menschen mit einer Borderline-Störung auf den werden, gibt es gegenwärtig eine lebhafte Debatte darü- emotionalen und psychischen Zustand anderer Menschen ber, ob bestimmte Kernmerkmale der Störung existieren, im Moment selbst mit erhöhter Sensitivität reagieren, neu- die auch im Zentrum der Behandlung stehen sollten. Die tralen Gesichtern von Fremden jedoch mangelnde Vertrau- Dialektisch-Behaviorale Therapie sieht eine konstitutio- enswürdigkeit attribuieren (Donegan, Sanislow et al. 2003; nell bedingte emotionale Dysregulation sowie Achtsam- Fertuck, Grinband et al. 2009). keitsdefizite als Kernmerkmale der Störung an (Linehan Auf der Ebene neuronaler Systeme haben bildgebende 1993; Wupperman, Neumann u. Axelrod 2008; s. Kap. 56). Verfahren des sogenannten »Neuroimaging« neuronale Die Mentalisierungsbasierte Therapie wiederum geht von Korrelate dieser sozialen und kognitiven Prozesse identifi- entwicklungspsychologischen Defiziten in der Mentalisie- ziert, die dem Überwiegen negativer Affekte im Allgemei- rungsfähigkeit aus (Bateman u. Fonagy 2004a; s. Kap. 52). nen und der Unfähigkeit zur Regulierung der Aggression Gunderson und Lyons-Ruth (2008) schließlich sehen eine im Besonderen zugrunde liegen (Silbersweig, Clarkin et al. Hypersensitivität im zwischenmenschlichen Bereich sowie 2007). Diese neuronalen Korrelate wurden von Kernberg unsichere Bindungsmodelle als entscheidend für die Ausbil- (1975, 1978; 2004a) als zentraler Aspekt der Borderline- dung einer Borderline-Persönlichkeitsstörung an. Persönlichkeitsstörung postuliert. Dazu zählen: Im Modell der Übertragungsfokussierten Psychothera- •• eine Hyperaktivität der Amygdala, insbesondere der lin- pie ist es das Merkmal der Identitätsdiffusion, welches den ken Hemisphäre, die Borderline-Patienten prädisponie- Kern einer Borderline-Persönlichkeitsstörung ausmacht ren kann, einen neutralen Gesichtsausdruck innerhalb (s. Kap. 27). Identitätsdiffusion bezeichnet ein mangelhaftes oder außerhalb der Behandlungssituation als böswillig Kontinuitätsempfinden im Selbst- und Fremderleben, das zu interpretieren einer polarisierten Spaltung der inneren Welt entspringt, in •• ein vermindertes Funktionsniveau und reduziertes Vo- der andere entweder als Verfolger oder idealisierte Retter lumen der präfrontalen Regionen, welche die Fähigkeit wahrgenommen werden (Kernberg 1975, 1978; 1984, 1988). zur Affektregulierung, Affektmodulierung sowie in der Diese Sichtweise wird durch neueste Forschungsbefunde aus Folge zur Mentalisierung beeinträchtigt verschiedenen Bereichen gestützt. So betonen Bindungsfor- •• eine Hyperresponsivität der HPA-Achse, welche in einen scher den Zusammenhang zwischen Borderline-Pathologie Zustand chronischer Hypervigilanz und affektiver Erre- und einer Reihe von unsicheren Bindungsmustern, die mal- gung mündet (Rinne, de Kloet et al. 2002) adaptive Arbeitsmodelle des Selbst und seiner Bindungs- •• ein vermindertes Volumen des Hippocampus (s. Kap. 13), personen implizieren (Diamond, Stovall-McClough et al. was dazu führt, Schemata der Selbst-Objekt-Affekt-Ver- 2003; Fonagy, Leigh et al. 1996; Main 1999; s. Kap. 16). Un- knüpfung, die als implizite (unbewusste) prozedurale tersuchungen zur Mentalisierungsfähigkeit sprechen von Erinnerungen enkodiert sind, automatisch zu wieder- entsprechenden Defiziten, die es dem Betreffenden unmög- holen, wodurch die Ausbildung eines autobiografischen
546 V Therapie Narrativs, das sowohl auf impliziten als auch expliziten Der Rolle von Impulsen, Affekten und Phantasien wird Erinnerungen basiert, beeinträchtigt wird (Gabbard im Modell der Übertragungsfokussierten Psychotherapie 2009) besondere Bedeutung beigemessen. Sie transformieren un- •• ein mit dem Nukleus accumbens verbundener, Dopa- ser Erleben, sodass es sich bei internalisierten Bildern nicht min-gesteuerter Belohnungsschaltkreis, der die Grati- um eine genaue Reproduktion dessen handelt, was tatsäch- fikation maladaptiver Beziehungsmuster und das Be- lich in der Vergangenheit passiert ist. Affekte stellen die zen- streben, sie zu wiederholen, stärkt (Gabbard, Miller u. tralen Vehikel dar, über die primäre innere Repräsentanzen Martinez 2006) entstehen (Kernberg 2004a; Sandler u. Sandler 1987). Kern- bergs Formulierung der Objektbeziehungstheorie versteht Obwohl die Mehrzahl dieser Faktoren vor allem bei jenen Affekte als die primären psycho-physiologischen Dispo- Patienten anzutreffen ist, die in der Kindheit Missbrauch sitionen, die durch frühe Körpererfahrungen im Rahmen erfahren haben – was für die meisten, aber nicht alle Bor- der Entwicklung von Objektbeziehungen aktiviert werden. derline-Patienten zutrifft –, weisen Gabbard, Miller und Affekte verknüpfen in Form elementarer Dyaden Selbst- Martinez (2006) auf die interessante Beobachtung hin, dass und Objektrepräsentanzen, wenn lustvolle und unlustvolle Verzerrungen der inneren Welt des Selbst und der Objekte Erfahrungen im Laufe der Entwicklung zunehmen und in für sich genommen bereits eine übermäßige Aktivierung ihrer übergeordneten Organisation den Grundstein libi- der Amygdala auslösen können (s. Kap. 12). Demzufolge dinöser und aggressiver Triebe bilden. Im Zuge normaler sind Interventionen, die auf die Verarbeitung affektiv be- Entwicklung werden aus Selbst- und Objektrepräsentanzen setzter Wahrnehmungen, insbesondere im sozialen und die integrierten und komplexen Strukturen des Es, Ich und zwischenmenschlichen Bereich, abzielen, von zentraler Be- Über-Ich und bilden das Substrat unseres unbewussten und deutung, um auf Symptomebene Veränderungen zu erzie- bewussten Erlebens gleichermaßen. len, das Selbstgefühl des Patienten und die Qualität seiner Primitive Affekte stellen somit ein primäres motivati- zwischenmenschlichen Beziehungen zu verbessern sowie onales System dar, das die kognitive Einordnung momen- Arbeitsfähigkeit und Kreativität zu stärken. taner Gratifikation oder Frustration innerhalb der sub- Eine objektbeziehungsorientierte Sichtweise unter- jektiven Wahrnehmung von Lust oder Unlust im Kontext streicht, wie die Wahrnehmung von Borderline-Patienten bestimmter Objektbeziehungen integriert. Wenn also die durch innere Selbst- und Objektrepräsentanzen sowie die inneren Bilder, die in den Reaktionen des Patienten auf den heftigen Affekte, die beide verbindet, beeinflusst wird Therapeuten reaktiviert werden, sehr wohl eine spezifische (s. Kap. 26). Internalisierte Interaktionsrepräsentanzen set- Erfahrung oder Beziehung aus der Vergangenheit zu repro- zen sich aus einer spezifischen Repräsentanz des eigenen duzieren vermögen, so ist doch auch denkbar, dass es sich Selbst, des Anderen und des beide verbindenden affekti- dabei um ein Konstrukt handelt, dessen Ursprung letztend- ven Erlebens zusammen. Für die frühe Entwicklung des lich nicht genau benennbar ist. Unser Fokus richtet sich auf Kindes, so die Annahme, ist eine innere Repräsentanzen- die aktuelle psychische Realität: Wie ist sie strukturiert und welt charakteristisch, die aus zahlreichen solcher Dyaden wie kann sie modifiziert werden? besteht – wobei jede einzelne durch eine differente Selbst- Unilaterale und polarisierte Selbst- und Objektreprä- und Objektrepräsentanz sowie einen unterschiedlichen sentanzen, welche die psychische Struktur eines Patienten verbindenden Affekt gekennzeichnet ist. Diese inneren konstituieren, stehen oft im Widerspruch zueinander und Repräsentanzen werden durch Lebensereignisse aktiviert begründen so die Unfähigkeit des Borderline-Patienten, ein und beeinflussen ihrerseits die Art und Weise, wie diese kohärentes Selbsterleben bzw. eine kohärente Sicht anderer Ereignisse wahrgenommen oder »gelesen« werden. Ein- Menschen zu entwickeln. Dieses fragmentierte, diffuse und dimensionale Repräsentanzen beeinträchtigen dabei die widersprüchliche Selbstgefühl, das wir als Identitätsdiffu- genaue Wahrnehmung von Ereignissen. Im Laufe einer sion bezeichnen, birgt das Risiko, dass die Wahrnehmung normalen Entwicklung werden diese eindimensionalen des Patienten ungenau und überzeichnet ausfällt, begleitet Repräsentanzen jedoch in umfassende, vielschichtige und von überwältigenden Affekten, was wiederum zu Fehlin- modulierte Repräsentanzen integriert, die der Komplexität terpretationen der eigenen Person sowie anderer Menschen des Selbst, anderer Menschen und der Welt sehr viel mehr führen kann, zu Affektdysregulation sowie zu Problemen entsprechen. Menschen, deren Persönlichkeit auf Border- auf Verhaltensebene und im zwischenmenschlichen Be- line-Niveau organisiert ist, mangelt es an dieser Integration reich. Defizite in der Mentalisierung bzw. in der Fähigkeit, eindimensionaler, polarisierter und karikaturhafter Selbst- die Intentionalität psychischer Zustände – im Sinne von und Objektrepräsentanzen in ein komplexes Ganzes, das Überzeugungen, Motiven, Emotionen, Wünschen etc. – zu für ein Empfinden von Kohärenz, Kontinuität und Einge- erfassen, berauben den Borderline-Patienten der kogniti- bundensein sorgt (Clarkin, Yeomans u. Kernberg 2006). ven Fertigkeiten, extreme affektive Erfahrungen, die der Spaltung und Polarisierung seiner inneren Objektwelt ent-
50 Übertragungsfokussierte Psychotherapie (Transference-focused Psychotherapy, TFP) 547 springen, zu verstehen und zu halten. Die Spaltung psychi- ren. Die Enttäuschung eines Patienten kann so zum Gefühl scher Repräsentanzen, die auch durch geringste Auslöser werden, einem grausamen Gegenüber zum Opfer zu fallen, aktiviert werden kann, und die damit einhergehenden Men- was mit einem feindseligen Gegenschlag beantwortet wer- talisierungsdefizite sind die Ursache für die Diskontinuität den muss. In seiner Inszenierung der »Opfer-Täter«-Dyade im Erleben des Patienten, für seine Unfähigkeit, ein inneres sieht sich der Patient bewusst als Opfer. Nicht zugänglich ist Narrativ zu entwerfen, welches die Erfahrungen des Hier- ihm jedoch die aggressive »Täter-Seite«, die sich in seinem und-Jetzt adäquat kontextualisiert – und setzen ihn genau Verhalten widerspiegelt. Unserer Erfahrung nach verber- jenen massiven Schwankungen aus, die ihn von einem Ex- gen sich jedoch in solchen negativ besetzten Dyaden nicht trem ins andere katapultieren. Vor allem in Stresssituatio- selten starke Wünsche nach Nähe und Verbundenheit mit nen ist die Affektwahrnehmung unsymbolisiert und un- dem Therapeuten, der, angesichts der häufigen Defizite moduliert, im Gegensatz zur »mentalisierten Affektivität« im Bereich sozialer Wahrnehmung, als nicht vertrauens- (Jurist 2005), d. h. der Modulation der Affekte über Sprache würdig oder gar schädlich wahrgenommen wird (Fertuck, und Symbolisierung. Die Intensität des unmittelbaren Er- Grinband et al. 2009; Koenigsberg 2009). lebens, die nicht durch ein stabiles Identitätsempfinden ge- Die therapeutische Arbeit umfasst somit auch die Be- erdet oder moduliert wird, führt zu extremen emotionalen wusstmachung der doppelten Identifizierung (Opfer und Reaktionen, die (selbst-)zerstörerische Ausmaße annehmen Täter) innerhalb negativer Dyaden sowie der Spaltung zwi- können. Der Patient reagiert, als existiere in der Beziehung schen negativ besetzten Dyaden und den gleichermaßen ex- nur die eine momentane Emotion. tremen, weil unrealistisch und idealisiert positiven Dyaden. Diese Sichtweise korrespondiert mit den jüngsten Ergeb- Negative Affekte können folglich in ein differenziertes Gan- nissen neurokognitiver Untersuchungen, wie wir sie oben zes integriert werden. Ziel ist es, die Fähigkeit des Patienten zusammengefasst haben. Danach legen Borderline-Patien- zu stärken, mit seinen aggressiven Impulsen besser fertig zu ten eine ausgeprägte Hypervigilanz an den Tag und neigen werden, anstatt sich ihnen ausgeliefert fühlen zu müssen. dazu, Stimuli im zwischenmenschlichen Bereich negativ zu Idealisierte positive Affekte sollen auf der anderen Seite in interpretieren. Dies führt zu einer unmittelbaren und nicht realistischere Erwartungen moduliert werden. Die Techni- selten drastischen Aktivierung einer ganzen Reihe negati- ken der Übertragungsfokussierten Psychotherapie, die wir ver Affekte – mit den entsprechenden Selbst- und Objektre- im Folgenden näher ausführen werden, fördern die Inte- präsentanzen – im zwischenmenschlichen Bereich wie auch gration und Modulierung abgespaltener Erfahrungen und in der therapeutischen Beziehung. Während sich der Patient ermöglichen es, dass extreme Affekte allmählich im Sinne im Rahmen einer solchen Selbst-Objekt-Dyade typischer- von Selbst-Objekt-Repräsentanzen bzw. Dyaden verstanden weise als Opfer eines aggressiven Gegenüber wahrnimmt, werden, die sich in ihre gegensätzlichen Selbst-Objekt-Af- ist doch die gesamte negative Objektbeziehungsdyade in fektkonstellationen integrieren lassen. Dies führt zu einer ihm existent. Wenn wir die aktuellen therapeutischen Ver- Modulierung von Affekten, insbesondere der Meisterung fahren zur Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstö- und Sublimierung aggressiver Affekte, sowie zur Stärkung rungen betrachten, so scheint dieser Aspekt allein in der kognitiver Funktionen, zu denen auch eine beginnende re- Übertragungsfokussierten Psychotherapie Beachtung zu flexive Funktion zählt. finden (s. Kap. 68). Entsprechend der Opfer-Täter-Dyade Die Integration abgespaltener negativer, insbesondere ag- kommt es zu einer Kristallisation eigentlich normaler und gressiver Gefühle stellt im Allgemeinen die größte Schwie- gesunder aggressiver und auf Selbstbehauptung ausgerich- rigkeit für einen Patienten dar. Integration bedeutet, nun- teter Impulse um die starke innere Repräsentanz eines re- mehr mit Aspekten des eigenen Selbst zurechtkommen zu alen oder phantasierten Verfolgers. Dies schafft eine innere müssen, die zuvor verleugnet, d. h. ausagiert und projiziert Struktur, in der jegliches Wachrufen negativer Affekte (z. B. wurden. Auch wenn dieser Prozess schmerzlich ist und mit Wut, Neid, Verzweiflung) ein extremes und als giftig erleb- Schuldgefühlen angesichts des eigenen, in der Vergangen- tes Bild schafft, was wiederum zur Entladung des Affekts heit als gerechtfertigt angesehenen Verhaltens einhergeht, über Ausagieren und Projektion führt. Die auf Integration so birgt er doch eine Bereicherung für den Patienten und ausgerichtete therapeutische Arbeit hilft dem Patienten, die Tiefe seines emotionalen Erlebens. Er erfährt, dass Wut negative Affekte dieser Art zu tolerieren und damit fertig und Aggression, die zuvor nur in karikaturhaft überzogener zu werden, ohne auf primitive Abwehrbewegungen zurück- Art und Weise erlebt wurden, sehr wohl kontrolliert und in greifen zu müssen. Sie hilft, gesunde aggressive Impulse den Dienst positiver Ziele wie Ehrgeiz, konstruktives Riva- von extremen inneren Bildern, die jegliche Erfahrung ei- lisieren und Kreativität gestellt werden können. nes aggressiven Affekts unerträglich erscheinen lassen, zu Die grundlegende Spaltung im Borderline-Patienten ist differenzieren. somit keine Spaltung zwischen »gutem« Opfer und »bö- Wird eine Dyade aktiviert, kann das subjektive Erleben sem« Täter, sondern zwischen einer Täter-Opfer-Dyade, des Patienten zwischen beiden Polen der Dyade oszillie- deren beide Pole affektiv ausschließlich negativ besetzt
548 V Therapie sind, und einer Dyade zwischen geliebtem Selbst und ide- lebens einem Gegenüber zugeschrieben werden, was zu aler Bezugsperson, deren rein positive affektive Besetzung einer weiteren Verzerrung der zwischenmenschlichen Be- gleichermaßen unrealistisch-überzogen ist. Die in diesem ziehungen führt. Zu diesen typischen Mustern von Insta- Sinne polarisierten positiven und negativen Affekte neigen bilität und Verwirrung im zwischenmenschlichen Bereich dazu, sich gegenseitig abzuwehren, d. h., die Erfahrung ei- kommt es, wenn sich die Projektion negativer Affekte mit nes positiven Affekts erlaubt nicht den leisesten Hauch einer einer Wahrnehmung des Gegenüber als gut und wohlwol- negativen Empfindung und umgekehrt. Dieses System dient lend abwechselt oder wenn im Rahmen stabiler feindseliger dazu, jene Angst abzuwehren, die im Patienten aufkommt, Beziehungen die Projektion negativer Affekte den Anderen wenn widerstreitende positive und negative Affekte sowie als anhaltend schlecht und verfolgend ausweist. die damit verbundenen Repräsentanzen gleichzeitig ins Be- Varianten der Spaltung und Projektion sind: wusstsein drängen. •• projektive Identifizierung, in welcher der Patient im Jedes Anzeichen in dieser Richtung ruft den altbekann- Anderen jenen Affekt oder Impuls induziert, den zu to- ten inneren Zustand der Spaltung auf den Plan, um die lerieren er selbst nicht in der Lage ist idealen Selbst- und Objektbilder vor dem Hass und der •• omnipotente Kontrolle, in welcher der Patient feindseli- Wut zu schützen, die mit den verfolgenden und aggressiv ge Affekte auf das Gegenüber projiziert, um sogleich das besetzten inneren Bildern assoziiert sind. Dies verhindert, Bedürfnis zu verspüren, den Anderen zu kontrollieren dass der Patient sich seiner inneren Welt in ihrer Gesamt- und zu verhindern, zum Opfer seiner (vermeintlichen) heit und Tragweite bewusst wird, und mündet nicht selten Feindseligkeit zu werden in Gefühle der Leere, Diskontinuität im Selbsterleben und affektive Instabilität. Diese dissoziierte (oder abgespaltene) Gerade das Vorherrschen projektiver Mechanismen ver- Abwehrstruktur verzerrt das bewusste Erleben und Denken langt vom Therapeuten, sehr genau auf seine Gegenüber- und löscht es aus – mit anderen Worten: es kommt zu einer tragung (d. h. sein emotionales Erleben in der Interaktion Fragmentierung und Auflösung des Denkens durch Angrif- mit dem Patienten) zu achten, also darüber zu reflektieren, fe auf deren Verbindungsstrukturen (»attacks on linking of was an den eigenen Reaktionen möglicherweise der Akti- thoughts«; Bion 1967). Mächtige Affekte brechen sich dann vierung eines Affekts im Patienten entsprechen könnte, den Bahn in Handlungen ohne kognitives Bewusstsein. In der dieser nicht zu tolerieren in der Lage ist (projektive Iden- Übertragungsfokussierten Psychotherapie geht es darum, tifizierung). Gelangt der Therapeut zu einem Verständnis genau jene Beziehungsdyaden ausfindig zu machen, die die- dieser Reaktionen, ermöglicht dies in aller Regel wertvolle sen primitiven Affekten und impulsiven Verhaltensweisen Informationen über die innere Welt des Patienten. zugrunde liegen, um über ein vertieftes Verständnis der inneren Bilder eine Verbesserung der Affekt- und Verhal- tenskontrolle zu erreichen. Die Kernmethode der Übertragungs- fokussierten Psychotherapie Primitive Abwehrmechanismen Die extremen affektiven Reaktionen von Borderline-Pa- Es ist diese dissoziierte (gespaltene) Organisation des in- tienten und die damit einhergehenden Verhaltensmuster neren Erlebens, die den primitiven Abwehrmechanismen wirken sich auf das Leben und die Therapie der Patienten zugrunde liegt, basierend auf der grundlegenden Spaltung gleichermaßen zerstörerisch aus. Die Art und Weise der af- positiver und negativer Affekte und Impulse. Aufgrund fektiven Entladung umgeht deren bewusste Wahrnehmung der Schwierigkeit, negative Affekte zu tolerieren, neigen und bringt den Patienten somit um die Möglichkeit, darü- Borderline-Patienten dazu, sie auszuagieren oder – infolge ber nachzudenken und sie in der Folge zu integrieren und ihrer Hypersensitivität für visuelle und zwischenmenschli- zu modifizieren. Aus diesem Grund muss die Behandlung che Reize – sie via Projektion als vom Gegenüber kommend so aufgebaut sein, dass (aus-)agierendes Verhalten begrenzt zu erleben. So kann sich ein Patient angesichts einer not- und dem Patienten ein therapeutischer Rahmen zur Verfü- wendigen Stundenabsage oder -verschiebung tief getroffen gung gestellt wird, der die Aktivierung, Beobachtung und oder verletzt zeigen und mit Abbruch der Behandlung dro- Reflexion seiner Selbst- und Objektrepräsentanzen ermög- hen, ohne sich darüber bewusst zu sein, dass Feindseligkeit licht. und Zurückweisung, die er im Therapeuten auszumachen Übertragungsfokussierte Psychotherapie basiert auf der glaubt, in Wirklichkeit sein eigenes Verhalten kennzeich- Überzeugung, dass sich die Objektbeziehungsdyaden, wel- nen. Wir haben es hier mit projektiven Mechanismen zu che die innere Welt des Patienten strukturieren, auch in tun, die dafür sorgen, dass Teile des eigenen inneren Er- der Übertragung zum Therapeuten zeigen werden und es
50 Übertragungsfokussierte Psychotherapie (Transference-focused Psychotherapy, TFP) 549 deshalb besonders wirksam ist, sich in der therapeutischen Selzer u. Clarkin 1992). Mithilfe des Behandlungsrahmens Arbeit auf genau diesen Bereich zu konzentrieren. Das Ar- soll eine Struktur geschaffen werden, die nicht nur mög- beiten innerhalb der Übertragung hilft zu bestimmen, ob lichen Störungen der Therapie vorbeugt und das Risiko die affektiven Reaktionen des Patienten auf einer objektiver eines Therapieabbruchs mindert, sondern auch die für das Realität basieren (z. B. einem Ehemann, der verantwortlich therapeutische Feld notwendige Sicherheit und Stabilität für das Unglück der Patientin ist) oder aufgrund eines in- garantiert, um die reaktivierten Objektbeziehungsdyaden neren Bildes erfolgen (z. B. einem inneren Verfolger, der auf oder bindungsspezifischen Arbeitsmodelle adäquat, d. h. den Therapeuten projiziert wird, sobald dieser eine Stunde mit dem nötigen Maß an Containment, zu reflektieren und verschieben oder absagen muss) oder ob beides die Ursache zu bearbeiten. Der Therapievertrag stellt für Therapeut und ist. Die behandlungstechnische Fokussierung von Affekten, Patient gleichermaßen einen sicheren Hafen dar, wenn der wie sie sich in der Beziehung zwischen Therapeut und Pa- Patient unter heftigsten Affektstürmen leidet oder ein Man- tient unmittelbar manifestieren, beugt zudem der Gefahr gel an Affekten und Gedanken vorliegt, welcher wiederum intellektualisierender Deutungen vor. aus systematischen Angriffen auf die Verknüpfungen des Grundlage der Therapie ist die unter kontrollierten Be- Denkens (Bion 1967) resultiert, den Patienten innerlich ab- dingungen stattfindende Reaktivierung dissoziierter (ab- tötet und als Roboter erscheinen lässt. Dieser Angriff auf gespaltener) oder projizierter internalisierter Objektbezie- das Denken kann sich bereits in der Anfangsphase einer Be- hungen, wie sie das Übertragungsgeschehen bestimmen, handlung manifestieren, wenn die innere Welt des Patien- mit dem Ziel, die inneren Repräsentanzen des Patienten ten durch tief greifende Spaltungen und scheinbar irrever- bewusst zu machen und sie in ein differenzierteres Iden- sible Projektionen nachhaltig geschädigt wurde, was nicht titätsempfinden zu integrieren. Wenn wir diesen Prozess nur die Gefahr selbstdestruktiven Ausagierens, sondern das im Lichte der Bindungstheorie und Bindungsforschung be- Risiko der Zerstörung der Therapie selbst erhöht. trachten, so aktiviert die Behandlungssituation der Über- tragungsfokussierten Psychotherapie mit ihrer dyadischen Nähe und Intensität die primären inneren bindungsspezifi- schen Arbeitsmodelle, welche im Fall schwerer gestörter Pa- Der therapeutische Prozess tienten unsicherer und konflikthafter Natur sind und sich durch Widersprüchlichkeit und Uneindeutigkeit auszeich- Die dyadische Nähe des Behandlungssettings in Verbin- nen (Diamond, Stovall-McClough et al. 2003; Fonagy u. dung mit der ungleichen Rollenverteilung zwischen Pati- Bateman 2005; Main 1999). In diesem Sinne ist das Ziel der ent und Therapeut führt rasch zur Aktivierung der inneren Behandlung die Schaffung von mehr Bindungssicherheit. Objektbeziehungsmuster des Patienten. Mithilfe kognitiver Klärung versucht der Therapeut hier zunächst zu klären, was der Patient wahrnimmt und wie dieses Erleben zu sei- nen Gefühlen in Verbindung zu setzen ist. Eine Klärung in Der Behandlungsvertrag diesem Sinne orientiert sich an den folgenden drei Kom- munikationskanälen: Um die genannten Ziele zu erreichen und das Reflexions- •• Inhalt des verbalen Diskurses niveau des Patienten zu verbessern, gilt es Rahmenbedin- •• nonverbale Kommunikation und nonverbales Verhal- gungen in der Therapie zu schaffen, die ein Agieren und ten heftige Affektstürme begrenzen. Nach einer eingehenden •• Gegenübertragungsreaktionen, die im Therapeuten diagnostischen Evaluierung folgt die sogenannte »Vertrags- wachgerufen werden phase«, in welcher die Rahmenbedingungen der Behand- lung festgelegt werden. Ausgangspunkt ist hierbei die Über- Jeder dieser drei Kanäle wird unterschiedliche, voneinander legung, dass es sich bei den Schwierigkeiten des Patienten abgespaltene Aspekte der inneren Welt des Patienten zum um psychische Probleme handelt, die auch entsprechend Ausdruck bringen. definiert werden – d. h. um eine Störung der Kernidentität, Die Übertragungsfokussierte Psychotherapie beginnt mit die sich auf vielfältigste Weise manifestiert, unter anderem der intendierten Reaktivierung primitiver Objektbeziehun- als heftige und rasch wechselnde Affektstürme sowie damit gen in einem Rahmen, der dem Therapeuten ermöglichen einhergehend agierendes Verhalten. Die Richtlinien und soll, über das therapeutische Geschehen zu reflektieren, Rahmenbedingungen umfassen auch eine Beschreibung der anstatt unmittelbar auf die Erwartungen und Ängste des Verantwortlichkeiten aufseiten des Patienten und des The- Patienten zu reagieren. Seine Haltung ist die der Neutrali- rapeuten. Dazu zählen unter anderem Empfehlungen zum tät (nicht zu verwechseln mit Kälte oder Gleichgültigkeit) Umgang mit agierendem Verhalten (Clarkin, Yeomans u. gegenüber den Kräften, die in den – intrapsychischen oder Kernberg 2006; Levy, Yeomans u. Diamond 2007; Yeomans, interpersonellen – Konflikten des Patienten zum Tragen
550 V Therapie kommen. Er ergreift also weder Partei mit den drängenden •• Dem folgen die Identifizierung der Selbst- und Objektre- Impulsen des Patienten, zu handeln, noch mit dessen drän- präsentanzen, die sich aus dem Zustand extremer affek- gendem Impuls, ein bestimmtes Verhalten zu vermeiden tiver Aufladung oder aber affektiver Leere destillieren (beides Tendenzen, die für die Störung im Rahmen einer lassen, sowie, daran anschließend, die genaue Explora- Borderline-Pathologie typisch sind). Ausgenommen hier- tion der Rollenumkehr in der Übertragung, wenn der von sind Situationen, in denen das Verhalten des Patienten Patient zwischen Selbst- und Objektpol der dyadischen ein nicht zu verantwortendes Maß an Destruktivität oder Konstellation hin und her wechselt. Selbstdestruktivität annimmt. Der Therapeut nimmt eine •• In einer fortgeschritteneren Phase der Behandlung geht Beobachterposition ein, aus der heraus er den Patienten es darum, zu untersuchen, auf welche Art und Weise auffordert, mit ihm gemeinsam die sich manifestierenden eine spezifische Objektbeziehungsdyade durch eine an- Konflikte zu beobachten, zu reflektieren. Diese können dere abgewehrt werden soll. Die in der Übertragung mit sich zwischen Liebeswünschen und aggressiven Kräften, ihren vielen verschiedenen Schichten und dissoziierten Handlungsimpuls versus innerer Hemmung oder zwischen (abgespaltenen) Aspekten in Szene gesetzten Dyaden Handlungsimpuls versus der Sorge um die damit verbun- werden zur Integration und Modulierung der inneren denen Konsequenzen entspinnen. Die Fokussierung von Welt des Patienten systematisch gedeutet. Von der Deu- Konflikten im Sinne eines intrapsychischen Geschehens tung aufgegriffen werden auch die unbewussten Motive im Patienten – und nicht als Ausdruck eines Konflikts und Konflikte, welche die Spaltungsmechanismen sti- zwischen Patient und Therapeut – ist von zentraler Bedeu- mulieren. tung. Patienten sind häufig von intensiver Angst getrieben, was diese Konflikte angeht, ohne sich jedoch bewusst zu Sobald diese Aspekte im Rahmen der Übertragungsbezie- sein, dass es sich im Grunde um einen innerpsychischen hung bearbeitet sind, beginnen Patienten auch außerhalb Konflikt handelt, was wiederum auf ihre starke Projekti- der Therapie, komplexere und realistischere Beziehungen onsneigung zurückzuführen ist, d. h. die Tendenz, Teile zu entwickeln. Abschließend sei jedoch darauf hingewiesen, eines Konflikts anderen Personen zuzuschreiben. Indem dass dieser kurze Abriss einzelner Therapiephasen den pro- wir als Therapeuten vermeiden, uns mit bestimmten Seiten totypischen Verlauf einer Übertragungsfokussierten Psy- eines Konflikts zu verbünden, helfen wir dem Patienten, das chotherapie darstellt, eine genaue lineare Abfolge jedoch Konfliktgeschehen in seiner Gänze wahrzunehmen und zu nicht erwartet werden darf. reflektieren und letztlich erfolgreich mit Konflikten umzu- gehen, anstatt sich ihnen hilflos ausgeliefert zu fühlen. Die Neutralität des Therapeuten befördert einerseits die Reaktivierung der charakteristischen Objektbeziehungs- Der Deutungsprozess dyaden im Patienten, hilft diesem jedoch in einem zweiten Schritt, jene Selbstanteile wahrzunehmen, zu akzeptieren Der Übergang von einer Therapiephase in die nächste und zu integrieren, welche er zuvor nicht bewusst tolerieren vollzieht sich zum Teil auch durch die verschiedenen Deu- konnte, sondern agieren oder projizieren musste. Über die tungsschritte, die sich zwar mit den einzelnen Therapie- Identifizierung der Selbst-Objekt-Dyaden, ihre Reflexion abschnitten überlappen, jedoch nicht synonym mit ihnen und ihr Containment wird ihre repetitive automatische In- sind. Klärung, Konfrontation und Deutung der Selbst- und szenierung kurzgeschlossen. Stattdessen kommt es zu einer Objektdyaden, wie sie in der Beziehung zum Therapeuten, allmählichen kognitiven Strukturierung dessen, was zuvor aber auch in den Beziehungen außerhalb der Therapie rigide und chaotisch anmutete. wahrgenommen werden, stärken die Reflexionsfähigkeit Obwohl es schwierig ist, psychodynamische Psychothe- des Patienten als Instrument zum Aufbau einer integrierten rapie im Sinne einzelner Phasen zu definieren – jede Pati- Identität. Indem der Therapeut den Patienten auffordert, ent-Therapeut-Dyade wird einen sehr individuellen Verlauf diese Szenarien, wie sie sich im therapeutischen Setting ma- nehmen –, lassen sich doch bestimmte Behandlungslinien nifestieren, zu beobachten und zu reflektieren, appelliert ausmachen, denen eine Übertragungsfokussierte Psycho- er an dessen Fähigkeit, sie als Konstrukte und weniger als therapie im Allgemeinen folgt: tatsächliche Selbst- und Objektbilder zu betrachten – stets •• In der Anfangsphase der Therapie besteht die Haupt- mit dem Ziel, die kognitive Repräsentierung des affektiven aufgabe darin, das affektive Chaos und Durcheinander Geschehens zu stärken. Der Therapeut hilft dem Patienten auszuhalten, mit denen Borderline-Patienten häufig in dabei, jene Ängste zu verstehen, die es ihm so schwer ma- die Therapie kommen und die nicht selten die Gestalt chen, primitive positive (libidinöse) und negative (aggres- kaleidoskopartiger Wechsel zwischen Affektstürmen, sive) Affekte zu integrieren. verbalisierten primitiven Phantasien oder primitiven Aufgrund von Spaltung und projektiven Mechanismen Inszenierungen annehmen. tun sich Borderline-Patienten schwer, zwischen sich und
50 Übertragungsfokussierte Psychotherapie (Transference-focused Psychotherapy, TFP) 551 anderen zu unterscheiden. Die Fähigkeit, die Motive ande- Konflikt zwischen innerpsychischen Kräften/Affekten als rer Menschen unbeeinflusst von den eigenen wahrzuneh- grundlegendes Kennzeichen der Borderline-Pathologie an- men (derer sich der Patient womöglich auch nicht bewusst sieht, glauben wir nicht, dass die Fähigkeit, Selbstzustände ist), ist tief greifend gestört. Deutungen im Hier-und-Jetzt akkurat zu lesen, für sich genommen schon ausreicht, um beginnen mit dem Versuch, einen Affekt oder eine an ei- diese Konflikte zu lösen. Die Untersuchungen von Høgland, nen Affekt geknüpfte Handlung zu verstehen und mit den Bøgwald et al. (2008) könnten in diesem Zusammenhang zugrunde liegenden Selbst- und Objektrepräsentanzen, von Relevanz sein: Sie haben festgestellt, dass sich der Ein- welche wiederum den Affekt oder die Handlung bedingen, satz von Übertragungsdeutungen bei Patienten mit gerin- in Bezug zu setzen. Dies bedeutet nicht selten, den Auf- ger Objektbeziehungsqualität als effektiver erwiesen hat als merksamkeitsfokus auf innere Repräsentanzen zu legen, deren Vermeiden. Da es sich allerdings bei nur 22 % der die durch »unannehmbare« Affekte und Impulse charak- Studienteilnehmer um Patienten mit einer diagnostizierten terisiert sind, seien sie aggressiver oder libidinöser Natur. Borderline-Störung oder einer Multiplen Persönlichkeits- Die zugrunde liegenden Repräsentanzen bewusst zu ma- störung handelte, bedarf es weiterer Untersuchungen mit chen, hilft dem Patienten, das Motiv zu klären, welches sich rein Borderline-spezifischen Stichproben. hinter seinem Gefühl oder seiner Handlung verbirgt, was Konfrontation stellt den zweiten Schritt des Deutungs- wiederum eine weitere Klärung der Genauigkeit der Re- prozesses in der Übertragungsfokussierten Psychothera- präsentanz ermöglicht. Wenn es gelingt, im Moment des pie dar. In der Konfrontation geht es darum, den Patienten Geschehens dem Patienten ein besseres Verständnis seiner aufzufordern, über die Widersprüche nachzudenken, wie selbst und des anderen zu vermitteln – was häufig mit der sie sich als unvereinbar anmutende Aspekte seiner inneren Erkenntnis verbunden ist, dass die Interaktion wohlwollen- Welt in der Therapie manifestieren. Auch wenn die Gefühle der ist als anfänglich gedacht –, so wächst seine Fähigkeit, des Patienten gegenüber dem Therapeuten oder anderen Affekte auszuhalten, ohne sie verleugnen oder ausagieren Personen in manchen Momenten klar und eindeutig sind zu müssen und ohne sich für ihre Existenz verurteilen zu und auch als solche zum Ausdruck gebracht werden, so gibt müssen. Dies eröffnet den Weg für die Integration wider- es doch andere Momente, in denen das, was ein Patient sagt, sprüchlicher Selbst- und Objektwahrnehmungen über die in deutlichem Widerspruch steht zu dem, was er anderweitig Zeit hinweg. geäußert hat oder wie er sich verhält. Darauf aufmerksam Der Deutungsprozess beginnt mit einer Klärung. Klären zu machen, konfrontiert den Patienten mit Widersprüchen, heißt jedoch nicht er-klären, sondern den Patienten aufzu- deren er sich häufig nicht bewusst ist. fordern, darüber zu sprechen, was er im Moment fühlt. Klä- In einem dritten Schritt des Deutungsprozesses soll dem ren ist mit dem Bemühen verbunden, das aktuelle Erleben Patienten vermittelt werden, wie das Verständnis eines be- besser zu verstehen und zum Ausdruck zu bringen. Klärung stimmten Affekts gegenüber einem Objekt in Bezug gesetzt kann sich auf ein äußeres Ereignis beziehen, das der Patient werden könnte zu anderen, damit in Konflikt stehenden beschreibt, oder aber auf die unmittelbare Interaktion mit Affekten. Eine Deutung in diesem Sinne ließe sich folgen- dem Therapeuten. Letzteres ist insofern von großem Nut- dermaßen formulieren: »Es könnte sein, dass Sie nach jeder zen, da Therapeut und Patient das Geschehen gemeinsam Stunde, in der wir einen guten Kontakt hatten, äußern, die explorieren können und somit Zugang zum unmittelba- Therapie abbrechen zu wollen, weil ein Teil in Ihnen da- ren Affekt haben. In diesem Sinne ähnelt Klärung einem von überzeugt ist, dass dieses positive Gefühl nicht echt ist, Grundsatz in der Mentalisierungsgestützten Therapie, wel- sondern nur ein Trick, und dass es letztlich nur dazu führt, cher die therapeutische Unterstützung des Patienten, den dass ich Ihnen wehtun werde. Wenn das der Fall wäre, dann eigenen inneren Zustand und den des Gegenüber akkurat hätten Sie gute Gründe, die Therapie abbrechen zu wollen. wahrzunehmen, als Kernmerkmal der Therapie definiert. Es würde zudem erklären, warum Sie sich in feindlichen Bateman und Fonagy (2004a) und andere Autoren Beziehungen mehr ›zu Hause‹ fühlen.« vertreten die Auffassung, dass konventionelle Übertra- In einem späteren Schritt könnte die abgespaltene und gungsdeutungen bei Borderline-Patienten nicht immer projizierte Identifizierung mit einem aggressiven Anteil wirksam seien und in diesen Fällen der Deutungsprozess im Patienten, der es unmöglich macht, sich aus negativen auf die jeweiligen klinischen Bedürfnisse des Patienten Beziehungen zu lösen, deutend aufgegriffen werden. Die zugeschnitten werden müsse. Gleichwohl möchten wir in Bewusstmachung dieses aggressiven Anteils eröffnet zum unserem psychodynamischen Ansatz die zentrale Rolle einen die Möglichkeit, in libidinöser Hinsicht mehr Erfül- des Deutungsprozesses betonen. Unserer Auffassung nach lung zu erfahren, zum anderen können aggressive Affekte kommt es nur dann zu einer Verbesserung der Borderline- stärker in den Dienst der Anpassung und Leistungsfähig- Pathologie, wenn der Patient die Möglichkeit erhält, über keit gestellt werden. die Mentalisierung des aktuellen Augenblicks hinauszuge- Deutungen im Rahmen der Übertragungsfokussierten hen. Da die Übertragungsfokussierte Psychotherapie den Psychotherapie beziehen sich zum größten Teil auf die psy-
552 V Therapie chische Struktur des Patienten und nicht primär auf das Übertragungsfokussierten Psychotherapie zu veranschau- Deuten historischer Vorläufer, wie es zuweilen als tradi- lichen. Mithilfe von Forschungsgeldern des »National Insti- tionelles Vorgehen in der Psychoanalyse betrachtet wird. tute of Mental Health« (John F. Clarkin, PI) generierten wir Natürlich ist es nicht falsch, eine Deutung wie die Folgende anfängliche Effektstärken der Behandlung über einen Zeit- anzubieten: »Ihre Angst, sich mir nahe zu fühlen, ist ver- raum von einem Jahr. Die untersuchte Stichprobe der ersten ständlich angesichts der Tatsache, dass Sie schon früh die Studie bestand aus Borderline-Patientinnen mit mindestens Erfahrung machen mussten, von denen, die Sie liebten, ge- zwei Episoden suizidalen oder selbstverletzenden Verhaltens demütigt zu werden.« Gleichwohl lässt sich das Erleben ei- in den zwölf Monaten vor Therapiebeginn. Die Behand- nes Patienten nachhaltiger verändern, wenn in die Deutung lung mit Übertragungsfokussierter Psychotherapie führte mit einfließt, wie seine Erwartungen größtenteils von seiner bei den 20 Patientinnen zu signifikanten Veränderungen in eigenen psychischen Verfasstheit bestimmt sind: »Vielleicht einer Reihe zentraler Problembereiche. Das durchschnitt- fürchten Sie deshalb, sich mir nahe zu fühlen, weil Sie davon liche Risiko parasuizidaler Handlungen ging signifikant ausgehen, ich könnte mich genauso verhalten, wie Sie sich zurück, der allgemeine medizinische Status verbesserte sich anderen Menschen gegenüber verhalten: Ein falsches Wort signifikant. Nach zwölf Monaten Übertragungsfokussierter und der andere ist raus aus Ihrem Leben …!« Psychotherapie erfüllten 52,9 % der Studienteilnehmerin- Das bewusste Verständnis für aktuelle innere Selbst- und nen nicht mehr die Kriterien einer Borderline-Persönlich- Objektzustände und ihre Verknüpfung mit bestimmten Af- keitsstörung. Die Anzahl von Notaufnahmen, stationären fekten hat zur Folge, dass die entsprechenden Selbst- und Aufnahmen und Krankenhaustagen ging ebenfalls signi- Objektrepräsentanzen in einen größeren zeitlichen und fikant zurück (Clarkin, Foelsch et al. 2001). Signifikante situativen Kontext gestellt werden – und sich so zu einer Veränderungen zeigten sich auch in den Bereichen des integrierten Selbst- und Objektwahrnehmung verbinden »reflective functioning«, einem bindungsbasierten Maß zur können. Mit anderen Worten: Momentane Empfindungen Untersuchung der Mentalisierungsfähigkeit (Fonagy, Steele gegenüber einer bestimmten Person können nunmehr im et al. 1997), während sich der Bindungsmodus der meisten Licht und als Teil der Gesamtbeziehung gesehen werden. Studienteilnehmerinnen von »desorganisiert« in Richtung Wie wir bereits erwähnt haben, überschneiden sich Deu- »sicher« oder »unsicher gebunden« entwickelte (Diamond, tungsprozess und Behandlungsphasen der Übertragungsfo- Stovall-McClough et al. 2003). kussierten Psychotherapie, sind jedoch nicht synonym. Der In einer nachfolgenden Vergleichsstudie untersuchten gesamte Deutungsprozess kann an nahezu jedem Punkt in wir zwei Gruppen von Patienten mit Borderline-Persönlich- der Therapie in einer einzigen Sitzung durchlaufen werden keitsstörungen: eine Gruppe war ein Jahr lang mit Über- oder sich über viele Sitzungen auf einen einzigen Deutungs- tragungsfokussierter Psychotherapie behandelt worden, die schritt konzentrieren, je nach individueller Störung und in- andere Gruppe im Rahmen unseres klinischen Settings mit dividuellem Therapieverlauf. herkömmlichen Therapieverfahren (»treatment as usual«, TAU). Die Anzahl psychiatrischer Notaufnahmen und sta- tionärer Aufenthalte erwies sich in der Gruppe mit Übertra- gungsfokussierter Psychotherapie als signifikant niedriger als in der TAU-Gruppe. Patienten, welche die Behandlung Empirische Befunde zur Übertra- mit Übertragungsfokussierter Psychotherapie abgeschlos- gungsfokussierten Psychotherapie sen hatten, zeigten im Vergleich zur TAU-Gruppe ein all- gemein verbessertes Funktionsniveau (»Global Assessment Am »Personality Disorders Institute« wurden bislang drei of Functioning Scale«, GAF). Alle »within-subject«- und Therapiestudien durchgeführt, um die Wirkung der Über- »between-subject«-Effektstärken der Stichprobe wiesen tragungsfokussierten Psychotherapie auf Symptomatologie, signifikante Veränderungen auf, während es in der TAU- soziale Anpassung, Inanspruchnahme psychiatrischer und Gruppe entweder zu Verschlechterungen oder zu geringen allgemeinmedizinischer Dienste, Bindungsorganisation Effektstärken kam (Levy, im Druck). und Mentalisierung bei Patienten mit Borderline-Persön- Um die Wirksamkeit von Übertragungsfokussierter lichkeitsstörung oder Borderline-Persönlichkeitsorganisa- Psychotherapie im Vergleich mit anderen manualisierten tion zu untersuchen. Wir haben diese Studien in früheren Verfahren zu untersuchen, führten wir schließlich eine Veröffentlichungen detailliert beschrieben (s. Clarkin, randomisierte Vergleichsstudie durch (Clarkin, Levy et al. Foelsch et al. 2001; Clarkin, Levy et al. 2007; Levy, Clarkin 2004; Levy, Meehan et al. 2006; Levy, Yeomans u. Diamond et al. 2006; Levy, Meehan et al. 2006; Levy, im Druck). 2007), in der wir drei Therapieverfahren in ambulanten Im Folgenden möchten wir eine Zusammenfassung un- Stichproben über einen Zeitraum von einem Jahr gegen- serer Ergebnisse geben, um die empirische Entwicklung überstellten: Übertragungsfokussierte Psychotherapie, unserer Konzeptualisierung des Deutungsprozesses in der Dialektisch-Behaviorale Therapie (s. Kap. 56) und psycho-
50 Übertragungsfokussierte Psychotherapie (Transference-focused Psychotherapy, TFP) 553 dynamisch orientierte supportive Therapie (Appelbaum, Übertragungsfokussierter Psychotherapie eine signifikan- unveröffentlichtes Manuskript). Alle Studienteilnehmer te Verbesserung der narrativen Kohärenz nach einem Jahr wurden vor und nach der Behandlung anhand des »Adult Behandlung, was in den beiden anderen Untersuchungs- Attachment Interview« (AAI; George, Kaplan u. Main gruppen nicht der Fall war. Die Verbesserung der Werte 1998) untersucht. Im Hinblick auf Symptomatologie und im Bereich narrative Kohärenz bei Borderline-Patienten »Global Assessment of Functioning Scale« erwiesen sich erreichte nahezu das Niveau von Bindungssicherheit. In alle drei Therapieverfahren als wirksam: In jeder Untersu- der randomisierten Kontrollstudie waren 31,7 % als »un- chungsgruppe zeigten sich signifikante Verbesserungen in gelöst-verstrickt« eingeordnet worden gegenüber 18 %, den Bereichen »Depression«, »Angst«, »allgemeines Funk- die nicht klassifizierbar waren (Levy, Meehan et al. 2006). tionsniveau« und »soziale Anpassung«. Zu signifikanten Nach einem Jahr Behandlung hatte sich die Anzahl an Pa- Verbesserungen im Bereich »Suizidalität« kam es nur in tienten, die als »sicher gebunden« eingeordnet wurden, in den Gruppen unter Übertragungsfokussierter Psychothe- der Gruppe unter Übertragungsfokussierter Psychothera- rapie und Dialektisch-Behavioraler Therapie, während die pie signifikant erhöht, nicht jedoch in der Gruppe unter Bereiche »Wut« und »Impulsivität« sich nur in den Unter- Dialektisch-Behavioraler Therapie oder in der supportiven suchungsgruppen Übertragungsfokussierte Psychotherapie Therapiegruppe. und supportive Therapie verbesserten. Interessanterweise Welche klinische Relevanz haben nun derartige Ver- erwies sich nur die Übertragungsfokussierte Psychothera- besserungen der Reflexionsfähigkeit und der narrativen pie als signifikanter Prädiktor für Veränderungen in den Kohärenz? Und was bedeuten diese Ergebnisse für unser Bereichen »Reizbarkeit« und »verbale/körperliche Übergrif- behandlungstechnisches Vorgehen? Als Erstes lässt sich fe« (Clarkin, Levy et al. 2007). festhalten, dass eine größere Fähigkeit, über sich und an- Was die Entwicklung der Reflexionsfähigkeit betrifft dere nachzudenken, zu weniger inadäquaten negativen (»Reflective-Functioning«, RF), die für den vorliegenden Zuschreibungen führen sollte, was die Motive anderer Aufsatz von besonderer Bedeutung war, so konzeptualisier- Menschen angeht, wie es so charakteristisch für Patienten ten wir diese als Veränderungsmaß in der Behandlung von mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen ist. Mit anderen Borderline-Patienten und stellten die Hypothese auf, dass Worten: Die Neigung, das Wohlwollen anderer und positive sich aufgrund des spezifischen Behandlungscharakters von Ereignisse als böswillig zu interpretieren, wird nachlassen Übertragungsfokussierter Psychotherapie die Reflexionsfä- und so die bekannte Abwärtsspirale von Fehlinterpretati- higkeit nur in dieser Gruppe verbessern würde, nicht jedoch onen und daraus resultierenden negativen Reaktionen aus in der Gruppe mit Dialektisch-Behavioraler Therapie oder der Umwelt durchbrechen. in der supportiven Stichprobe. Beim »Reflective-Function- Hinsichtlich der Relevanz signifikanter Veränderungen ing« handelt es sich um einen bindungsspezifischen Index in Richtung Bindungssicherheit, wie wir sie bei Patienten zur Einschätzung der Mentalisierungsfähigkeit, abgeleitet unter Übertragungsfokussierter Psychotherapie beobach- aus dem »Adult Attachment Interview« (George, Kaplan u. ten können, ist es wichtig festzuhalten, dass eine Reihe von Main 1998), der vor und nach der Behandlung bei allen Stu- empirischen Untersuchungen Bindungssicherheit mittler- dienteilnehmern erhoben wurde. Die »Adult Attachment weile mit einem optimalen persönlichen, psychosozialen Interviews« wurden anhand des von Main und Goldwyn und kognitiven Funktionsniveau in Verbindung bringen (1998) entwickelten Klassifikationssystems für die Berei- (was auch die Qualität der Beziehungen zur jeweiligen Peer- che »allgemeine Bindungsklassifikation« und »Reflective- group sowie das kognitive Funktionsniveau in der Kind- Functioning« geratet. Die mithilfe der Übertragungsfokus- heit einschließt; Suess, Grossmann u. Sroufe 1992): mit sierten Psychotherapie behandelten Borderline-Patienten Aufmerksamkeitskontrolle (Harman, Rothbart u. Posner wiesen im Ergebnis einen höheren Durchschnittswert auf 1997), einem komplexeren Verständnis gemischter Emoti- der »Reflective-Functioning«-Skala auf, während sich der onen im Alter von sechs Jahren (Steele, Steele et al. 1999), »Reflective-Functioning«-Wert in den beiden anderen The- der Qualität von Liebesbeziehungen in der Adoleszenz so- rapiegruppen nicht signifikant veränderte (Levy, Meehan wie dem Grad an innerer Sicherheit in Liebesbeziehungen et al. 2006). des frühen Erwachsenenalters (Grossmann u. Grossmann Untersucht wurde auch das Niveau der narrativen Ko- 2003; Sroufe, Edgeland et al. 2005). Im Erwachsenenalter härenz, d. h. der Fähigkeit, die eigene frühe Bindungs- gehen innerpsychische Arbeitsmodelle einer sicheren Bin- geschichte plastisch, glaubhaft und in sich konsistent zu dung mit dem Gefühl einher, der Hilfe und Unterstützung berichten. Die Subskala »narrative Kohärenz« im »Adult anderer wert zu sein, mit der Fähigkeit, in Krisenzeiten oder Attachment Interview« erwies sich als bester Prädiktor bei Verlust andere um Unterstützung zu bitten sowie sozi- für den Modus einer sicheren Bindung (r = 96; p = 0,001; al und emotional schwierige Situationen, die den eigenen Waters, Merrick et al. 2001). Ähnlich den Ergebnissen zum Partner betreffen, adäquat einzuschätzen (Grossmann u. »Reflective-Functioning« zeigte sich in der Gruppe unter Grossmann 2003). Die signifikant erhöhten Werte in der
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