Projekte gesund führen - Dossier Qualitätswerkstatt 2.0 im Bundesprogramm "Demokratie leben!" - gsub mbH

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Projekte gesund führen - Dossier Qualitätswerkstatt 2.0 im Bundesprogramm "Demokratie leben!" - gsub mbH
Dossier
Projekte gesund führen

             Qualitätswerkstatt 2.0
     im Bundesprogramm „Demokratie leben!“
Projekte gesund führen - Dossier Qualitätswerkstatt 2.0 im Bundesprogramm "Demokratie leben!" - gsub mbH
Inhalt
1.    Der Elefant im Raum – Warum ist das Thema Gesundheit so wichtig? .................. 3
2.    Ich kann nicht mehr abschalten – Fünf gesundheitliche Risikofaktoren für
      Führungskräfte ............................................................................................................ 4
3.    Take good care of yourself – Selbstfürsorge von Führungskräften ...................... 11
4.    Teil des Jobs – Gesundheitsfürsorge für das Team ............................................... 19
5.    Gegensteuern! – Sechs Risikofaktoren im Projektalltag ........................................ 21
6.    Wir müssen reden – Wie kann ich als Führungskraft einen Dialog über
      Gesundheit initiieren? .............................................................................................. 30
7.    Ansprechpartner*innen, Quellen.............................................................................. 34

Abstract

Das Dossier richtet sich an Führungskräfte von Organisationen, die im Bundesprogramm „De-
mokratie leben!“ Projekte durchführen. Es bietet ihnen Anregungen, durch gezieltes Handeln
einerseits die eigene Gesundheit zu schützen und zu verbessern und andererseits durch ge-
sundheitsförderndes Management gemeinsam mit ihrem Team gesundheitliche Belastungen
im Arbeitsalltag zu erkennen und zu vermindern. Gesundheitliche Belastung der Akteur*innen
ist einer der großen Stolpersteine auf dem Weg zu einem erfolgreichen Projekt. Gleichzeitig
ist das Thema Gesundheitsfürsorge nach der Erfahrung des Autors in den Organisationen im
Bundesprogramm (und nicht nur dort) stark unterbelichtet.

Doch Gesundheit der Mitarbeiter*innen ist nicht nur unerlässlich für ein erfolgreiches Projekt,
sondern auch für die Qualität des Arbeitsplatzes und die Zufriedenheit im Team. Im gesund-
heitsfördernden Management liegen ungeahnte Möglichkeiten, Zufriedenheit und Motivation
der Mitarbeiter*innen zu erhöhen und ihre Bindung an die Organisation zu stärken. Dadurch
bietet das Thema Gesundheit ein potenziell sehr wirksames Handlungsfeld, um sowohl die
Qualität der Arbeit als auch die Wirksamkeit der Organisation zu verbessern.

Dossier „Projekte gesund führen“
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1.    Der Elefant im Raum – Warum ist das Thema Gesundheit so wich-
      tig?

The elephant in the room ist im Englischen eine beliebte Metapher für ein für alle Anwesenden
deutlich sichtbares Problem, das zwar mitten im Raum steht, aber nicht angesprochen wird.
Diese Metapher beschreibt nach meinem Eindruck sehr gut, wie wir mit dem Thema Gesund-
heit im Arbeitskontext umgehen.

Aber hier ist etwas in Bewegung geraten: Niemals zuvor hat das Thema Gesundheit uns alle
so beschäftigt und den öffentlichen Diskurs bestimmt wie seit Beginn der Corona-Pandemie
im Winter 2019/2020. In den Nachrichten wurden so gut wie alle anderen Themen an den
Rand gedrängt; kaum ein Gespräch unter Freund*innen oder Kolleg*innen, in dem es nicht um
Inzidenzzahlen, Krankheitsgeschichten, geplatzte Urlaubspläne, Einschränkungen der Frei-
heitsrechte oder die Vor- oder Nachteile eines bestimmten Impfstoffs geht. Unfreiwillig werden
wir zu Expert*innen und wissen gleichzeitig sehr wenig.

Dieser plötzliche und unerwartete Abbruch des Alltags, in dem wir uns vorher bewegt haben,
macht schmerzhaft deutlich, wie sehr wir als Einzelne und als Gesellschaft von individueller
und kollektiver Gesundheit abhängen: Wenn die Kita schließt, weil Kinder oder Erzieher*innen
an Corona erkrankt sind, gerät für Familien die gesamte Organisation ihres Alltags ins Rut-
schen. Wenn ich selber schwer an Corona erkranke, kann es gut sein, dass meine ganze
bisherige Selbstgewissheit und Lebensplanung auf der Kippe steht.

Positiv gewendet könnte man sagen, dass Corona uns dazu veranlasst, einen genaueren Blick
auf unsere Gesundheit zu Hause und am Arbeitsplatz zu richten: Was verstehen wir unter
guter Gesundheit? Was macht uns krank? Was hält oder macht uns gesund? Ist es individu-
elles Glück oder Pech, ob wir uns bis ans Ende unseres Arbeitslebens guter Gesundheit er-
freuen und „alles funktioniert“ oder ist Gesundheit so etwas wie eine soziale Ressource, die
höchst ungleich verteilt wird, abhängig von unserer Ausbildung, unserer Arbeit, unserem Ein-
kommen und unserem Wohnort/unserer Wohnung?

Dafür ist es hilfreich, sich zunächst darüber klar zu werden, was wir unter „Gesundheit“ über-
haupt verstehen. Denn die Bedeutung des Begriffs hat sich stark verändert: Ging es bei „Ge-
sundheit“ früher fast ausschließlich um das Funktionieren des Körpers, verstehen wir darunter
heute mehr und mehr ein umfassendes Wohlbefinden von Körper und Psyche, aber auch die
Qualität der sozialen Beziehungen.

Dieses Dossier möchte Führungskräfte - aber auch alle anderen Beschäftigen in Projekten im
Bundesprogramm „Demokratie leben!“ - dafür interessieren, über die eigene Gesundheit und

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die Gesundheit der Mitarbeiter*innen neu nachzudenken. In meiner Beratungsarbeit in „De-
mokratie leben!“ und für andere zivilgesellschaftliche Organisationen erlebe ich, dass es immer
wieder jobbedingt zu spezifischen gesundheitlichen Belastungen - nicht nur, aber verstärkt -
bei Führungskräften kommt, die im schlimmsten Fall zu körperlicher oder psychischer Schädi-
gung oder dem Verlust des Arbeitsplatzes führen können.

Vielen Kolleg*innen in den Projekten ist das bewusst - dennoch thematisieren sie Gesundheit
und Krankheit auf der Arbeit nicht: Weil sie das nicht für ihre Aufgabe halten, weil sie sich
angesichts des Themas schlecht ausgebildet und verunsichert fühlen oder weil sie verständli-
cherweise Persönlichkeitsrechte respektieren wollen. Ganz unterschiedliche Gründe führen
also dazu, dass sie das Thema lieber unter der Decke das vermeintlich Privaten halten.

Könnte es sein, dass die Zäsur durch Corona uns die Gelegenheit bietet, hier etwas anders
und besser zu machen?

2.    Ich kann nicht mehr abschalten – Fünf gesundheitliche Risikofakto-
      ren für Führungskräfte

Führungskräfte sind Personen, die Verantwortung für (viele oder wenige) Mitarbeiter*innen
tragen, diesen Mitarbeiter*innen Vorgaben in Bezug auf die Arbeit machen können und in der
Regel über ein (kleines oder großes) Budget verfügen. Eine Führungskraft kann also die Ge-
schäftsführerin eines großen Sozialverbands mit Dutzenden von Einrichtungen in einer Groß-
stadt wie Leipzig sein oder der Projektleiter eines kleinen, aus „Demokratie leben!“ finanzierten
Jugendbildungsprojekts mit zwei weiteren Mitarbeiter*innen in einer ländlichen Region Nieder-
sachsens, der unter einer Geschäftsführung arbeitet.

Wenn ich an dieser Stelle von Risikofaktoren spreche, interessieren mich weniger die mate-
riellen und physikalischen Bedingungen am Arbeitsplatz, wie beispielsweise das Licht der
Leuchte über meinem Schreibtisch, die Qualität meines Bürostuhls oder die Lärmbelastung
durch die Straße vor dem Gebäude oder laut telefonierende Kolleg*innen – auch wenn diese
materiellen und physikalischen Rahmenbedingungen wichtig sind und es sich jedenfalls lohnt,
hier genauer hinzuschauen.

Mir geht es in diesem Dossier vielmehr um „weiche“ Faktoren wie Rollenerwartungen, Kom-
munikation, Arbeitsdichte, Zeitmanagement, Organisationskultur, die erhebliche Auswirkun-
gen auf die Qualität des Arbeitsplatzes und seine potenzielle gesundheitliche Belastung ha-
ben. Anders als beispielsweise die krankmachende Belastung von Bergleuten durch den
Staub, den sie unter Tage einatmen, können wir diese Risikofaktoren schwer bis gar nicht

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messen. Wir können uns ihnen jedoch annähern, indem wir sie auf der Grundlage von Erfah-
rung beschreiben und analysieren.

Etwas macht dabei Hoffnung: Führungskräfte zivilgesellschaftlicher Organisationen haben
weit mehr Ressourcen in der Hand, Risikofaktoren zu lindern oder auszuschalten, als viele
andere Berufs- oder Statusgruppen. So sind sie zum Beispiel deutlich besser in der Lage,
Einfluss auf die Arbeitsorganisation und das Arbeitsumfeld zu nehmen als beispielsweise Pfle-
gekräfte in der ambulanten Pflege, Beschäftigte eines Callcenters, Grundschullehrer*innen o-
der die schon erwähnten Bergleute.

Auf was für Menschen treffen wir in diesen Jobs? Was zeichnet sie aus? Ohne generalisieren
zu wollen, sind Führungskräfte in zivilgesellschaftlichen Organisationen häufig hoch motivierte
Akademiker*innen, die von einer fachlichen Tätigkeit (beispielsweise Jugendbildungsrefe-
rent*in, Journalist*in oder Sozialwissenschaftler*in) in die Führungsrolle wechseln; sehr häufig,
ohne das als Karriereziel angestrebt zu haben.

Sie sind der Organisation, für die sie arbeiten, häufig seit vielen Jahren verbunden, sind mit
ihr „gewachsen“, wenn sie die Organisation nicht sogar (mit) gegründet haben. Sie sind eher
„Überzeugungstäter*innen“ als „Karrierist*innen“. Sie haben in der Regel keine spezifische
Ausbildung für die Führungsrolle, also z. B. ein Studium in NGO-Management, Personalwesen
oder Betriebswirtschaft.

Häufig, und damit sind wir schon mitten im Thema „Risikofaktoren“ (s. u.), ist ihre Führungs-
rolle unklar definiert – wenn es dazu überhaupt etwas Schriftliches gibt. Wie sie ihre Rolle
ausfüllen, hat sich oft im Laufe der Jahre on the go herausgebildet: Durch individuelle Vorlie-
ben und Talente, persönliche Konstellationen in der Organisation oder in Reaktion auf aktuelle
Anforderungen und Krisen.

Vor diesem Hintergrund lassen sich die folgenden fünf Risikofaktoren für Führungskräfte be-
schreiben:

    a) Unklare oder nicht existente Rollenbeschreibung

Viele der Organisationen in „Demokratie leben!“ wachsen rasch – nicht zuletzt aufgrund der
Förderung durch das Bundesprogramm. Sie müssen dieses rasante personelle und finanzielle
Wachstum in vergleichsweise kurzer Zeit „verdauen“. Das birgt die Gefahr, dass die Organi-
sation nicht hinterher kommt mit dem Aufbau eines Halt und Sicherheit gebenden Gerüsts aus
verbindlichen Rollenerwartungen (z. B. in Form von Stellenbeschreibungen), Abläufen und
Strukturen, die die Zusammenarbeit regeln.

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Als Resultat herrscht in der Organisation, in der es wie überall die unterschiedlichsten Interes-
senlagen und reichlich Anlässe für Konflikte gibt, im schlimmsten Fall völlige Unklarheit dar-
über, was die Geschäftsführerin tun darf oder soll. Wie soll sie die Organisation führen? Soll
sie sie überhaupt führen? Mit wem soll sie sie führen – also wer soll sie dabei wie unterstützen?

Analog zur Rolle der Geschäftsführung hat in dieser Organisation möglicherweise noch nie
jemand systematisch darüber nachgedacht, was Projektleitungen ausmacht bzw. was das Pro-
fil der Projektleiter*in in dieser Organisation ist: Sind alle Projektleiter*innen gleich gestellt oder
sind manche wichtiger als andere? Werden sie gleich bezahlt? Sind sie in die Leitung der
Organisation eingebunden und falls ja, wie? Können sie ihrem Team Vorgaben machen oder
agieren sie eher als dessen Interessenvertreter*innen gegenüber der Geschäftsführung? Tra-
gen sie persönliche Verantwortung für den Projekterfolg? Falls ja, wie wird das kommuniziert
und überprüft? Sollen sie Entscheidungen stets gemeinsam mit dem Team oder mit der Ge-
schäftsführung treffen? Oder ganz alleine? Welche Informationen sollen sie weitergeben und
welche nicht?

Je unklarer die Rolle einer Geschäftsführerin oder Projektleitung ist, desto größer wird die
Gefahr, in dem komplizierten Geflecht von Fäden, die aus allen Richtungen an ihr ziehen, zu
scheitern. Doch auch für die Organisation ist es höchst nachteilig, wenn es kein etabliertes,
mehr oder weniger von allen geteiltes Verständnis davon gibt, wie die Funktionen Geschäfts-
führung und Projektleitung ausgefüllt werden sollen: Es entsteht ein ständiger Reibungsverlust
dadurch, dass diese Fragen ständig mit verhandelt werden (müssen) – auch dann, wenn es
auf den ersten Blick um ganz andere Dinge geht, beispielsweise um die Urlaubsplanung oder
die Besetzung einer Stelle. Diese Rollenunklarheit verunsichert, belastet und kann in der Kon-
sequenz krankmachen.

    b) Mangelnder Rückhalt durch Leitungsgremium und Vorgesetzte

Es gibt in den zivilgesellschaftlichen Organisationen häufig kein arbeitsfähiges Leitungsgre-
mium (etwa einen Vorstand), das für die Führungskraft – auch persönliche – Verantwortung
übernimmt und ihr bei Problemen oder Konflikten helfend zur Seite steht, beispielsweise durch
regelmäßige Monitoringgespräche, juristische Ratschläge, Fortbildungsangebote etc. Daher
agieren Führungskräfte häufig „ohne Netz und doppelten Boden“, also weitgehend auf sich
alleine gestellt, ohne ausreichend systemischen Rückhalt in der Organisation und unter hohem
Erfolgsdruck.

In kleineren Vereinen ist es beispielsweise häufig so, dass der Vorstand nur auf dem Papier
existiert oder (teilweise) identisch ist mit der Geschäftsführung oder aber sich (teilweise) aus
Mitarbeiter*innen zusammensetzt (denn alle sind ja der gleichen „Mission“ verpflichtet, dazu

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sind sie in den Verein eingetreten). In allen diesen Fällen ist ein Vorstand nach meiner Ein-
schätzung nicht in der Lage, adäquat als Leitungsgremium zu fungieren und eine Führungs-
kraft so zu stützen, wie es notwendig ist.

Wenn die Führungskraft ein*e Projektleiter*in ist, der*die unter einer Geschäftsführung agiert,
so ist es häufig so, dass die Geschäftsführung zu wenig Sorgfalt und Ressourcen darauf ver-
wendet, den*die Projektleiter*in zu unterstützen (Mentoring, regelmäßige Mitarbeiter*innenge-
spräche, Fortbildungen für die Führungsrolle, Beratung und Rückendeckung im Konfliktfall
etc.). Gründe dafür gibt es viele: Die Geschäftsführung hat zu viel zu tun bzw. steht selbst stark
unter Druck, sie möchte der Projektleitung möglichst viel Freiraum lassen oder sie sieht deren
Unterstützung und Weiterentwicklung nicht als Teil ihrer Aufgaben an.

    c) Mangelnder Support

Das rasche Wachstum zivilgesellschaftlicher Organisationen, das wir beispielhaft bei vielen
Trägern in „Demokratie leben!“ sehen, führt häufig dazu, dass die Organisationsstruktur nicht
schnell genug mitwächst. Beispielsweise konnten neue Stellen, die in der Verwaltung ge-
braucht werden, noch nicht geschaffen werden. Die Organisation ist dann von den Rollen und
Strukturen her noch auf einer Entwicklungsstufe, über die sie von der Menge und Vielfalt ihrer
Aufgaben, von der Anzahl und dem Umfang ihrer Projekte her längst hinaus gewachsen sein
müsste.

Dieses Missverhältnis wird oft besonders deutlich an den übergreifenden Aufgaben: Finanz-
verwaltung, Personal- und Vertragswesen, Öffentlichkeitsarbeit, Office Management und As-
sistenz der Geschäftsführung. Hier fehlt es sehr häufig an Personal, Wissen und Struktur.
Dadurch haben insbesondere Geschäftsführungen oft nicht den Support, den sie brauchen,
um ihre Arbeit gut zu machen – z. B., weil sie zu stark in administrativen Aufgaben gefangen
sind.

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Beispiel: Auf einmal den Rücken frei haben…
 Bettina, Geschäftsführerin einer schnell gewachsenen Organisation mit 25 Beschäftigten,
 verbringt sehr viel Zeit damit, sich Zahlen zum finanziellen Soll und Ist der vier großen
 Projekte der Organisation mühsam zusammen zu suchen. Aus diesem Grund kommt sie
 nicht dazu, regelmäßig Mitarbeiter*innengespräche zu führen – obwohl die Kolleg*innen
 das schon lange einfordern und es an vielen Stellen in der Organisation kriselt. Auch auf
 wichtigen Vernetzungstreffen und Tagungen ist sie nicht präsent. Bettina nimmt wahr, dass
 sie die Geschäftsführung nicht so ausfüllen kann, wie sie das gerne würde und ist häufig
 unzufrieden und gereizt, was dann nach der Arbeit ihre Familie „abbekommt“.

 Erst mit der Einstellung von Frauke, einer erfahrenen Finanzerin, ändert sich etwas an die-
 ser Misere. Frauke entwickelt einheitliche Formate zur Überprüfung des finanziellen Mittel-
 abflusses in den Projekten: Sie setzt sich mit den Projekten zusammen und erklärt den dort
 arbeitenden Kolleg*innen, welche Informationen sie in was für Abständen benötigt, um ei-
 nen Überblick zu schaffen. (Auch für die Projekte wird dadurch das Leben leichter.)

 Frauke bringt auch die Buchhaltung auf einen aktuellen Stand und liefert der Geschäftsfüh-
 rerin alle zwei Monate einen komprimierten finanziellen Überblick über die ganze Organi-
 sation, auf dessen Grundlage Bettina mit dem sechsköpfigen Leitungsteam, dem Frauke
 angehört, gut Entscheidungen treffen kann, z. B. über Neueinstellungen.

 Bettina kann sich auf Frauke verlassen; durch die neue Arbeitsteilung entspannt sich ihr
 gesamter Arbeitsalltag zusehends. Als Geschäftsführerin ist sie jetzt subjektiv nicht mehr
 „für alles“ zuständig und kann sich stärker ihren eigentlichen Aufgaben zuwenden. Auch
 abends ist sie jetzt seltener im Büro und verbringt mehr Zeit mit ihrer Familie.

    d) Selbstausbeutung

Selbstausbeutung - oder auch „Überengagement“, wie es in der Literatur oft etwas freundlicher
heißt - ist ein nicht zu unterschätzender gesundheitlicher Risikofaktor für Führungskräfte. Es
scheint in der Kultur von Organisationen tief verankert zu sein, zu erwarten, dass Führungs-
kräfte in ihrer Arbeit ständig über die eigenen Grenzen gehen: „Als Bereichsleiterin ist es nor-
mal, dass ich 60 Stunden in der Woche arbeite“ oder „Überstunden abbauen? Daran ist gar
nicht zu denken, wir schlittern hier von einer Krise in die nächste!“. Solche Sätze sind häufig
zu hören. Eine geregelte Arbeitszeit mit einem planbaren und machbaren Arbeitspensum gilt
dann als Luxus. Die systemische Überforderung ist sozusagen der Preis, den Personen für
den Aufstieg in der Organisation, für das in sie gesetzte Vertrauen bezahlen. Und die Erwar-
tung, sich selbst auszubeuten, wird keineswegs nur von außen an Führungskräfte herange-
tragen; viele bringen sie mit in den Job.

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Das erhebliche gesundheitliche Risiko, sich zu überarbeiten, wird verschärft durch ein Phäno-
men, das ich in Ermangelung eines besseren Begriffs „Weltretter-Syndrom“ nennen möchte -
und ich meine das weder zynisch noch herablassend. Das „Weltretter-Syndrom“ ist verbreitet
in Organisationen, die für das - wie auch immer bestimmte - Gute arbeiten, sei es gegen Ras-
sismus und Rechtsextremismus, für das Klima oder gegen Diskriminierung aufgrund von se-
xueller Orientierung. Weit stärker als in Organisationen, in denen die Arbeit vor allem dem
Broterwerb dient, besteht hier die Gefahr, die eigene Gesundheit und die Gesundheit im Team
dem höheren Zweck der Arbeit unterzuordnen. „Wie kann ich mich um Überstunden in meinem
Team kümmern, wenn anderswo Menschen wegen ihrer Hautfarbe oder sexuellen Orientie-
rung verprügelt werden?“ könnte man diese Haltung zugespitzt auf den Punkt bringen - ich
finde das sehr nachvollziehbar.

Diese Haltung führt vielleicht kurzfristig zu einer hohen Identifikation der Mitarbeiter*innen mit
der Arbeit und einem hohen Output der Organisation. Sie ist aber alles andere als nachhaltig,
weil sie langfristig keine stabilen und befriedigenden Arbeitsverhältnisse schafft, in denen Men-
schen bleiben und sich weiter entwickeln wollen und können.

 Anekdote: Unbezahlte Mehrarbeit wird erwartet…
 In schöner Erinnerung geblieben ist mir der Moment, als ich eine neue Stelle als Vollzeit-
 Führungskraft einer zivilgesellschaftlichen Organisation antrat und sich eine Frau aus dem
 Vorstand – übrigens ansonsten eine sehr integere und sympathische Person, wie ich später
 feststellen konnte – jovial zu mir beugte und sagte: „Du weißt schon, dass wir in deiner
 Position 20 % unbezahlte Mehrarbeit erwarten?“ Nein, das wusste ich tatsächlich noch
 nicht. Und es stand (natürlich) auch nicht in der Stellenausschreibung und war auch kein
 Thema beim Vorstellungsgespräch. Ob mein gestammelter Einwand, ich habe zu Hause
 zwei kleine Kinder, die ich ab und zu gerne sehen würde, die Vorstandsfrau (und damit
 Arbeitgeberin) beeindruckt hat, weiß ich nicht mehr.

    e) Widersprüchliche Erwartungen aus dem Team/Minenfeld „Autorität“

Welche Entscheidungen durch wen wann und wie gefällt werden, ist für Organisationen von
zentraler Bedeutung. Und auch für den Erfolg eines Projekts ist eine gute Entscheidungskultur
grundlegend. (Wie reagieren wir darauf, dass sich an den Rahmenbedingungen unseres Pro-
jekts etwas verändert hat? Wie reagieren wir darauf, dass unser Ansatz bei einer unserer Ziel-
gruppen nicht funktioniert?)

Sehr oft äußern Mitarbeiter*innen zivilgesellschaftlicher Organisationen, dass es ein Ent-
scheidungs- und Verantwortungsproblem gibt. Damit ist einerseits gemeint, dass Füh-
rungskräfte sich nicht trauen, (rechtzeitig) Entscheidungen zu fällen. So werden Probleme –

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beispielsweise Konflikte – manchmal um Monate oder Jahre verschleppt. Auf der einen Seite
gibt es also die berechtigte Erwartung aus dem Team, dass Führungskräfte Entscheidungen
fällen und damit die Organisation weiterbringen (Entscheidungsproblem). Andererseits gibt es
gerade in zivilgesellschaftlichen Organisationen ein tiefes Misstrauen gegen Autorität, also ge-
gen das „geführt werden“, das Führungskräften auf Schritt und Tritt begegnet und ihnen die
Arbeit erschwert (Verantwortungsproblem). Entscheidungs- und Verantwortungsproblem be-
dingen sich gegenseitig.

Um sich das Entscheidungs- und das Verantwortungsproblem genauer vor Augen zu führen,
ist es hilfreich, über den Begriff der Autorität nachzudenken. Wenn ich hier von Autorität spre-
che, meine ich nicht die Macht dazu, Menschen nach Belieben „herumzuschubsen“, sondern
ein persönliches Verhältnis, in dem ich einer Person innerhalb eines bestimmten Systems Ver-
trauen schenke und bereit bin, ihr bis zu einem gewissen Grad zu folgen: Damit spreche ich
ihr Autorität zu. Ich entscheide mich dazu in der Regel aus rationalen Gründen, weil die Person
mehr Erfahrung/Wissen/Überblick als ich hat und ich die Erfahrung gemacht habe, dass sie
zum Besten der Organisation handelt und auch meine Interessen im Blick hat.

Wenn es sich bei der Person um eine Führungskraft handelt, weiß ich außerdem, dass sie für
Entscheidungen mandatiert ist, also durch ihre Position von der Organisation – innerhalb be-
stimmter Grenzen - dazu beauftragt wurde, bestimmte Fragen zu entscheiden. Das bedeutet
jedoch weder, dass die Person willkürliche Entscheidungen treffen kann (dann würde sie ver-
mutlich nicht lange auf ihrer Stelle bleiben), noch, dass ich ihr blind folge und dabei mein ei-
genes Gehirn ausschalte.

Führungskräfte in zivilgesellschaftlichen Organisationen machen jedoch immer wieder die Er-
fahrung, völlig überraschend, sozusagen „aus heiterem Himmel“ aus dem Team angegriffen
bzw. in Frage gestellt zu werden. In den seltensten Fällen geht es dabei nur um das Anliegen,
das offen auf dem Tisch liegt. In solchen Momenten wird die Frage der Autorität (mit-)verhan-
delt, mit anderen Worten, „wer hat hier was zu sagen?“ bzw. „muss ich mir von ihr*ihm etwas
sagen lassen?“. Je weniger die Führungsrollen beschrieben sind (vgl. Punkt a)) und je weniger
es ein von allen (mehr oder weniger) geteiltes Verständnis der Rolle „Führungskraft“ gibt, desto
schwieriger und zeitraubender wird es, solche Konflikte um Autorität zu klären.

Es gibt für Führungskräfte also einerseits den Auftrag und die Notwendigkeit, in einer Organi-
sation oder in einem Projekt in bestimmten Fragen „in Führung zu gehen“ – natürlich nicht
ohne Gespräche (Abstimmung, Konsultation, Interessenabwägung, Feedback etc.) – und an-
dererseits machen sie dabei die Erfahrung, gehörigen Gegenwind zu bekommen. Diese kom-
plexe Gemengelage stellt dann einen Risikofaktor für die Gesundheit einer Führungskraft dar,
wenn die Frage nach ihrer Entscheidungsbefugnis und nach der Verantwortung, die sie trägt,
in der Organisation nicht geklärt wird, sondern ständig im Untergrund weiter schwelt.
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Anekdote: Die „Mülleimer-Geschäftsführung“
 In einer aufstrebenden zivilgesellschaftlichen Organisation war höchst umstritten, was die
 aus mehreren Personen bestehende Geschäftsführung überhaupt entscheiden solle. Bei
 einer Teambesprechung kam die Frage auf den Tisch, welches Abfallentsorgungsunter-
 nehmen in der Zukunft damit beauftragt werden sollte, den Müll abzuholen. Das sei doch
 mal etwas, so eine Stimme aus dem Team nur halb ironisch, was die Geschäftsführung
 entscheiden solle. Von da an hat sich in der Organisation scherzhaft der Begriff der „Müll-
 eimer-Geschäftsführung“ eingebürgert.

 Und in einer anderen zivilgesellschaftlichen Organisation überraschte der schon seit 20
 Jahren dort beschäftigte Personalreferent die Geschäftsführung mit dem Statement: „Wir
 haben hier ja keine richtige Geschäftsführung.“

Auch wenn die fünf oben beschriebenen Problem- und Schieflagen für zivilgesellschaftliche
Organisationen – in unterschiedlicher Ausprägung – typisch sind, erzeugen sie keineswegs
für alle das gleiche gesundheitliche Risiko. Denn das ist in hohem Maße von der Persönlichkeit
abhängig: Was für Person A hochriskant ist, ist für Person B unproblematisch. Person B ist
dafür möglicherweise aufgrund eines anderen Risikofaktors gesundheitlich belastet, der für
Person A überhaupt keine Rolle spielt.

Aber vielleicht kann die Auseinandersetzung mit den oben beschriebenen Faktoren dazu an-
regen, Risiken für die eigene Stelle zu beschreiben und zu analysieren. Das wäre ein wichtiger,
erster Schritt dazu, an den eigenen Arbeitsverhältnissen etwas zu verändern.

3.     Take good care of yourself – Selbstfürsorge von Führungskräften

Es ist fast schon eine Binsenweisheit: Körper und Psyche verzeihen vieles, aber irgendwann
ist dann auch Schluss. Die eigene Arbeitskraft und Leistungsfähigkeit lassen sich nicht über
Jahre ungestraft überbeanspruchen. Das merken Menschen in der Regel mit 50 leichter als in
jungen Jahren. Daher kann sich glücklich schätzen, wer bereits mit 30 ein Bewusstsein dafür
entwickelt, dass die eigene Arbeitskraft endlich und die Gesundheit ein kostbares Gut ist, das
sich im Zweifelsfall nicht ersetzen lässt. Auch hier kann uns Corona also vielleicht etwas leh-
ren.

Daher ist aus meiner Sicht eine wichtige Aufgabe von Führungskräften, das Feld der Gesund-
heit und Krankheit, das gerne beschwiegen und ins Private abgedrängt wird, Schritt für Schritt
„besprechbar” zu machen, auch und gerade am Arbeitsplatz. Dazu gibt es weiter unten, in
Abschnitt 6, Vorschläge und Hilfen.

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Selbstbefragung

Zum Einstieg in das Thema lade ich alle Führungskräfte dazu ein, die folgenden fünf Fragen
zu beantworten:

1. Wie schätze ich mein körperliches und seelisches Befinden im Vergleich zu vor einem
Jahr (vor fünf Jahren) ein? Konkret: Wie gut (oder schlecht) geht es mir auf einer Skala von 1
(sehr schlecht) bis 10 (sehr gut)? Und welchen Anteil hat meine Arbeit daran?

Wer möchte, kann sich das Ergebnis in regelmäßigen Abständen aufschreiben, um eine Ent-
wicklung nachvollziehen zu können.

2. Welche Rückmeldungen bekomme ich von Partner*in, Familie, Freund*innen, Bekannten
und Kolleg*innen über meinen Zustand? Und: Weichen die Rückmeldungen stark davon ab,
wie ich mein körperliches und seelisches Befinden selbst einschätze?

Manchmal lohnt es sich, nachzufragen, wie jemand zu einer Einschätzung über mich kommt.

3. Wie steht es mit den Beziehungen und Dingen, die mein Leben außerhalb der Arbeit
ausmachen: Freundschaften, Familie, Hobbies, Ehrenamt, das Erlernen neuer Fähigkeiten?
Oder einfach mal einen Tag lang nichts tun. Habe ich dafür ausreichend Zeit und Kraft? Nimmt
der Raum dafür eher zu oder ab?

Auch hier kann eine Skalierung aufschlussreich sein, z. B. von 1: „Außerhalb meiner Arbeit
komme ich überhaupt nicht zu den Dingen, die mir wichtig sind” bis 10: „Ich habe keinerlei
Probleme, die Dinge zu tun, die mir außerhalb der Arbeit wichtig sind.”

4. Gibt es konkrete körperliche oder seelische Warnzeichen? Herzrasen? Bluthochdruck?
Schlaflosigkeit? Konzentrationsstörungen? Panikattacken? Kurzatmigkeit? Antriebslosigkeit?
usw.

5. Brauche ich ein Bier, ein Glas Wein oder einen Joint, um nach einem stressigen Tag „run-
terzukommen“? Verwende ich Substanzen, um auf der Arbeit wach und leistungsfähig oder
schwierigen Situationen gewachsen zu sein? Nehme ich regelmäßig Medikamente ein, ohne
akut krank zu sein, z. B. Schlafmittel?

Jede*r wird diese Fragen unterschiedlich beantworten. Warum stelle ich sie hier? Zur Rolle als
Führungskraft gehört, die Aufmerksamkeit stark nach außen zu richten: Verantwortung für
mein Team, herannahende Deadlines, Finanzierungsengpässe, Meinungsverschiedenheiten
mit der Geschäftsführung usw. Es gibt ständig unterschiedlichste Anforderungen, die um
meine Aufmerksamkeit konkurrieren.

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Diese Fragen helfen dabei, den Blick von Zeit zu Zeit möglichst ehrlich auf sich selbst zu rich-
ten. Und natürlich lässt sich der Fragenkatalog erweitern, denn gesundheitliche Belastung
drückt sich sehr unterschiedlich aus.

Was kann ich konkret tun?

     a) Persönliche Gesundheitsziele identifizieren

Gesundheitliche Belastungen auf der Arbeit wirken sich bei jeder* und jedem anders aus: Was
für die eine Person Stress auslösen mag, wirkt auf die andere vielleicht anspornend und mo-
tivierend. Daher ist es hilfreich, persönliche Gesundheitsziele für die Arbeit zu entwickeln.
Denn letztlich kann niemand außer mir selbst sagen, was für mich gut ist und was ich brauche.

Die folgenden, leicht modifizierten Gesundheitsziele stammen aus einer Broschüre der Be-
rufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), die für einige in „De-
mokratie leben!“ geförderte Organisationen zuständig ist. Neben umfangreicher Literatur bietet
die Website www.bgw-online.de auch Beratungsmöglichkeiten und Seminare zum Thema Ar-
beit und Gesundheit (BGW, Seminare).

 Welche Gesundheitsziele sind mir wichtig?

 Bei der Arbeit möchte ich erreichen, dass…                    eher wichtig   eher unwichtig
 …ich meine Pausenzeiten einhalten und so gestalten
 kann, dass ich mich nicht überlastet fühle.
 …ich zur Feierabendzeit nach Hause gehe.
 …ich nur Aufgaben übernehme, die zu meinem Zustän-
 digkeitsbereich gehören.
 …ich so klar kommuniziere, dass meine Mitarbeiter*in-
 nen genau wissen, was ich von ihnen erwarte.
 …ich mit Konflikten und Krisen so gut umgehen kann,
 dass die emotionale Belastung für mich vertretbar
 bleibt.
 …ich meinem Team deutlich mache, dass ich nicht für
 alle Probleme allein zuständig bin, sondern dass wir ge-
 meinsam nach einer Lösung suchen.
 …ich meine Arbeit so effizient organisiere, dass ich in
 der verfügbaren Zeit (bzw. vertraglichen Arbeitszeit) fer-
 tig werde.
 …
Quelle: In Anlehnung an BGW, Gesund und motivierend führen, S. 21.

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Analog zu der Selbstbefragung in Abschnitt 3 ist es sinnvoll, eigene Ziele aufzustellen (denn
ich kann nur etwas bewusst verfolgen, wenn ich es mir vorher klargemacht habe). Gesund-
heitsziele für sich zu identifizieren ist ein wichtiger erster Schritt auf dem Weg zu einem ge-
sünderen Arbeitsleben. Es bietet sich an, die Selbstbefragung nach einer gewissen Zeit zu
wiederholen, um sich Veränderungen deutlich zu machen.

    b) Gegengewichte zur Arbeit schaffen (Work-Life-Balance)

Stärker als andere Beschäftigte laufen Führungskräfte Gefahr, dass die Arbeit Schritt für
Schritt das gesamte Leben okkupiert. Im äußersten Fall messen sie daran sogar ihren „Erfolg“:
Sie arbeiten oft bis zum Abend oder sogar bis in die Nacht, bei privaten Treffen besprechen
sie Arbeitsdinge und sie werden auch im Urlaub per Telefon mit Arbeitsangelegenheiten be-
helligt oder checken täglich ihre Mails, in der steten Sorge, etwas zu verpassen. Wichtig zu
sein und gebraucht zu werden streichelt das Ego und verhindert, sich ausreichend abzugren-
zen.

Die Arbeit und ihre Probleme „mit nach Hause zu nehmen” bzw. von der Arbeit gedanklich
“nicht mehr abschalten zu können” sind Themen, die Führungskräfte regelmäßig äußern. Ich
rate dazu, gezielt Gegengewichte zu schaffen, indem ich die Dinge, die mir außerhalb der
Arbeit wichtig sind, die mein Leben ausmachen und mich mit Freude erfüllen, bewusst identi-
fiziere und dafür Platz „freiräume” - gleichgültig, ob ich gerne reite oder gärtnere, meine de-
mente Großmutter besuche oder Schwedisch lerne. Denn ohne diese bewusste Anstrengung
besteht die Gefahr, dass die Anforderungen der Arbeit immer wichtiger sind, immer vorgezo-
gen werden, bis dann am Ende nichts anderes mehr übrig ist und ich den Horizont dafür ver-
liere, wie ein ausgewogenes und erfülltes Leben aussieht, in dem nicht nur die Arbeit Raum
hat.

So spricht aus meiner Sicht viel dafür, gleich beim Antritt einer Führungsposition deutlich zu
machen, dass ich jeden Mittwochnachmittag ab drei Uhr mit meiner Tochter Hockey spiele und
nicht zu erreichen bin oder in regelmäßigen Abständen den Freitag freinehmen werde, um ein
verlängertes Wochenende auf dem Land zu verbringen. Führungskräfte, die sich entgegen der
Erwartungshaltung, ständig verfügbar zu sein, solche Freiheiten „herausnehmen“, machen in
der Regel die Erfahrung, dass das ihrem Ansehen in keiner Weise schadet – ganz im Gegen-
teil, sie geben dadurch ein gutes Beispiel in ihrer Organisation (mehr zur Beispielfunktion von
Führungskräften in Punkt f)).

    c) Langsame mit schnellen Phasen abwechseln

Auch wenn Führungskräfte ihre Arbeit gut und langfristig planen und Aufgaben wirksam dele-
gieren, bleibt es nicht aus, dass es plötzlich auftretende Krisen oder andere Situationen gibt,
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in denen sie schnell reagieren und in kurzer Zeit viel leisten müssen. Es ist aus meiner Sicht
gesundheitsfördernd, Phasen hohen Tempos und hoher Leistung (und vielleicht auch langer
Arbeitstage, beispielsweise unmittelbar vor einer Abgabe/Antragsfrist) gezielt mit langsamen
Phasen abzuwechseln.

Also nach der dreitägigen, sehr anstrengenden Tagung beispielsweise einen Tag einzulegen,
an dem ich in aller Ruhe Ablage mache, mich mit einer Kolleg*in beim Kaffee austausche, die
neue Broschüre einer Partnerorganisation lese oder mit dem Team plaudere. Solche Phasen
der Entschleunigung helfen, den inneren Akku wieder aufzuladen und in das körperliche und
seelische Gleichgewicht zurück zu finden. Gut möglich, dass ich in einer solchen Phase eine
kreative Idee habe, die ich in einer Hochleistungsphase nie gehabt hätte.

    d) Motivierende und entlastende Tätigkeiten einbauen

Führungskräfte, die innerhalb einer Organisation aufgestiegen sind und bis dahin stärker in-
haltlich (statt leitend und verwaltend) gearbeitet haben, können meist genau sagen, welche
Tätigkeiten für sie sinnstiftend sind und sie an den Job und die Organisation binden. Das kön-
nen etwa Jugendbildungsseminare, die monatliche Dienstreise zu einem Vernetzungstreffen
oder das Schreiben eines Artikels für eine Zeitschrift sein. Wer sich klar macht, welche kon-
kreten Tätigkeiten die eigene Motivation und ggf. auch “Bodenhaftung” fördern, kann versu-
chen, solche Momente gezielt in den neuen Job einzubauen.

Denn der neue Job als Projektleiter*in oder Geschäftsführer*in ist ja nicht mit einer Schablone
ausgeschnitten worden: Der Aufgabenmix spiegelt vielmehr die subjektive Einschätzung be-
stimmter Bedarfe der Organisation wieder. Dabei sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass
dieser Job der Person, die dafür ausgewählt wird, Spaß machen und sie mit dem Gefühl der
Sinnhaftigkeit erfüllen soll, so dass sie ihn über einige Jahre behält und sich darin weiterent-
wickelt – an dieser Kontinuität muss jede Organisation ein Interesse haben, die auch in fünf
Jahren noch existieren will.

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Beispiel: Ein Stück vom Alten mitnehmen ins Neue
 Joana, eine Jugendbildungsreferentin, steigt nach mehreren Jahren in der Organisation zur
 Projektleiterin eines siebenköpfigen Teams auf. Sie freut sich auf den neuen Job und er-
 fährt auch Rückhalt aus ihrem Team. Allerdings gibt ihr zu denken, wie unzufrieden ihr
 Vorgänger auf der Stelle am Ende war. Vor Beginn der neuen Tätigkeit überlegt sich Joana
 daher, dass sie auch als Projektleiterin mit wechselnden Personen aus ihrem Team zwei
 einwöchige Jugendbildungsseminare im Jahr leiten will, obwohl das für sie Mehrarbeit be-
 deutet, ihr Vorgänger es nicht so gemacht hat und das in der Organisation bis jetzt auch
 nicht üblich war.

 Was erhofft sie sich davon?

 Erstens weiß Joana aus langer Erfahrung, wieviel Motivation und Freude sie aus der Arbeit
 mit den Jugendlichen zieht und möchte sich ein Stück davon erhalten. Zweitens erwartet
 sie zu Recht, dass sie davon auch in ihrer Funktion als Projektleiterin profitiert, weil sie ein
 besseres Gespür für das behält, um was es in dem Projekt eigentlich geht, nämlich die
 konkrete Bildungsarbeit. Drittens bekommt sie in diesen Seminaren einen unmittelbaren
 und für ihre Führungstätigkeit sehr wertvollen Einblick in die Arbeitsrealität ihres Teams,
 anstatt es “nur” zu koordinieren. Und viertens – da sie die Seminare nicht alleine leitet –
 können ihre Mitarbeiter*innen sie in dieser Woche in einer anderen Rolle erleben - sie ist
 während des Seminars nahbarer und ansprechbarer als in ihrem Arbeitsalltag als Projekt-
 leiterin.

 Da sie gute Argumente hat, hat Joana keine Mühe, ihre Geschäftsführung davon zu über-
 zeugen. Die Geschäftsführung vertraut der neuen Projektleiterin und hat kein Interesse da-
 ran, sich auf Biegen und Brechen durchzusetzen. Ihr Interesse ist vielmehr, dass Joana
 ihren Job so gestaltet, dass sie möglichst zufrieden ist und langfristig auf der Position bleibt.

Natürlich hängt es von Art und Umfang der Leitungsstelle ab, ob und inwieweit sich solche
individuell motivierenden Tätigkeiten einbauen lassen. Häufig wachsen Freiräume dazu erst
mit der Zeit, es braucht also Geduld. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass es in aller Regel mehr
Gestaltungsmöglichkeiten auf der eigenen Stelle gibt, als Führungskräfte zunächst annehmen.

    e) Eher Teamplayer*in als Solodarsteller*in sein

Ganz allgemein gesprochen ist es ist für die eigene Gesundheit als Führungskraft nachhalti-
ger, die Fähigkeiten als „Teamplayer*in“ auszubauen, als das Talent zur „Solodarsteller*in“.
Natürlich werden mir genügend Situationen begegnen, wo ich auch letzteres brauche. Aber
die Fähigkeit, genau zuzuhören (Was liegt unter der Oberfläche des Gesagten?), Stimmungen

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aufzugreifen, zu motivieren, wertschätzend mit Personen umzugehen, klare Worte zu finden
und - wo nötig - Vorgaben zu machen, persönliche Grenzen zu ziehen, aber auch für das Team
einzustehen, Konflikte anzusprechen und Lösungen dafür zu finden, helfen erheblich dabei,
das gesundheitliche Risiko zu verringern.

Warum ist das so? Einfach, weil das soziale System „Team“ dann besser funktioniert, sich
eine Vertrauenskultur untereinander entwickeln kann und insbesondere auch die Kommuni-
kation leichter wird. Und: Mitarbeiter*innen, die ihre Führungskraft authentisch und glaubwür-
dig finden, werden viel eher bereit sein, eine Entscheidung mitzutragen, auch wenn sie in die-
ser Frage eine ganz andere Meinung haben. Fachliche Meinungsunterschiede oder Interes-
sen- und Ressourcenkonflikte lassen sich leichter und produktiver austragen (und ausgetra-
gen werden müssen sie), wenn ein grundsätzliches Vertrauen („ich weiß, dass die*der mich
nicht über den Tisch ziehen will“ bzw. „ich weiß, dass die*der keine versteckten Motive hat“)
gegeben ist.

    f) Schwächen und Fehler zeigen

Führungskräfte gelangen in der Regel (auch) deshalb in ihren Job, weil sie Dinge gut machen
und von anderen für kompetent gehalten werden. Gleichzeitig denken sie häufig, dass sie sich
in der Position keine Fehler leisten/keine Schwächen zeigen dürfen. Um ihre Gesundheit zu
fördern, wäre es jedoch weit besser, nachsichtig und tolerant mit sich selbst umzugehen. So
sollten sie beispielsweise nicht zur Arbeit gehen, wenn sie sich krank fühlen. Es schadet auch
nicht, wenn sie zum Beispiel zu Beginn einer Teambesprechung sagen, dass sie heute mit
dem falschen Bein aufgestanden sind und möglicherweise etwas angespannt und gereizt wir-
ken.

Damit geben sie auch ein gutes Beispiel für das gesamte Team. Denn das Team wird wesent-
lich besser funktionieren, wenn Ralf, dessen Stärke es absolut nicht ist, Texte zu schreiben,
das offen sagen kann und nicht so tun muss, als ob er es doch könnte. Dann schreibt eben
Shirin den Sachbericht, die das besser kann, und Ralf kann sich auf die Dinge konzentrieren,
die er gut kann. Das ist im Übrigen nicht nur gesundheitsfördernd, sondern auch ökonomisch.

Analog dazu hat sich unter dem Stichwort „Fehlerkultur“ mittlerweile herumgesprochen, dass
es im Interesse der Organisation und auch der eigenen Gesundheit wichtig ist, eine Kultur zu
schaffen, in der Fehler nicht vertuscht oder geleugnet werden. Denn Fehler gehören zu Lern-
und Entwicklungsprozessen dazu. Voraussetzung dafür ist, dass auch Führungskräfte die Er-
fahrung machen, dass sie nicht fallen gelassen werden, wenn sie sich Fehler oder Versäum-
nisse leisten.

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g) Rechtzeitig Beratung und Hilfe suchen

Die Erfahrung zeigt, dass Führungskräfte nicht selten in wirklich schwierige Situationen gera-
ten – häufiger als andere Beschäftigte. Einige der Ursachen dafür habe ich im zweiten Ab-
schnitt „Ich kann nicht mehr abschalten“ erwähnt. Und wenn es im Team oder in der Organi-
sation brennt, können sie – anders als andere Beschäftigte – schlecht sagen: „Das ist nicht
mein Problem, lasst mich damit in Ruhe!“. Sich in Krisen jeglicher Art nicht wegducken zu
können – das macht einen großen Teil der Schwierigkeit und des spezifischen gesundheitli-
chen Risikos von Führungsjobs aus. Und es ist nicht gut für die eigene Gesundheit, davon
auszugehen, dass ich solche Situationen zu jeder Zeit komplett auf mich alleine gestellt werde
bewältigen können. Was folgt daraus?

Führungskräfte sollten mindestens einmal im Jahr, möglichst aber öfter, regelmäßige und ver-
trauliche Gespräche mit der nächsthöheren Ebene vereinbaren, in denen u. a. die Ziele, die
Qualität der Zusammenarbeit und die gegenseitige Zufriedenheit reflektiert werden. Bei Pro-
jektleitungen kann das beispielsweise die Geschäftsführer*in oder – falls vorhanden – Be-
reichsleiter*in sein, bei Geschäftsführungen ein Vorstandsmitglied – beispielsweise eine Per-
son, die selbst Erfahrung in Führungsjobs hat oder die das Thema Personal im Vorstand ver-
antwortet.

Grundsätzlich gilt: Es ist keine Schande oder das Eingeständnis eines Scheiterns, sich als
Führungskraft Beratung und Hilfe zu holen. Das kann ein Gespräch mit eine*r vertrauenswür-
digen Kolleg*in in der eigenen oder einer Partnerorganisation sein. Wenn es im Team nicht
rund läuft, kann eine regelmäßige Supervision dabei helfen, Hindernisse anzusprechen und
zu einer besseren Zusammenarbeit zu finden. Wer als Führungskraft in einem geschützten
Rahmen mit einer kompetenten Person die eigene Arbeit reflektieren und sich weiterentwi-
ckeln will, kann ein Coaching in Anspruch nehmen. Viele Organisationen sind mittlerweile dazu
bereit, Supervisionen, Coachings u. ä. im Interesse von stabilen und gesunden Beschäfti-
gungsverhältnissen zu finanzieren – eine positive Entwicklung.

Besonderer Unterstützungsbedarf entsteht mitunter bei Konflikten. Konflikte sind in der Arbeit
unvermeidlich, sie gehören einfach dazu. Ungelöste Konflikte können die Konfliktparteien und
nicht selten ein ganzes Team um sie herum jedoch auf lange Zeit beschäftigen, spalten und
lähmen. Dann sind die Kosten immens hoch. In den Organisationen setzt sich mehr und mehr
die Erkenntnis durch, dass Konflikte auf den Tisch müssen, um sie gezielt zu bearbeiten – zum
Beispiel in einer Mediation. Die Verantwortung der Führungskraft liegt darin, Konflikte nicht so
weit eskalieren zu lassen, dass sie nicht mehr beigelegt werden können und eine Konfliktpartei
die Organisation verlässt.

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Große Organisationen, etwa Hochschulen, Industriebetriebe oder Verkehrsunternehmen, ha-
ben mittlerweile Konfliktmanagementsysteme eingeführt, die z. B. in einer Anlaufstelle beste-
hen, an die Beschäftigte sich im Konfliktfall wenden können sowie einem Mediator*innenpool,
der für das Unternehmen solche Konflikte auf Kosten der Organisation bearbeitet (UdK, Ge-
sundheitsförderung – Kompass Konfliktmanagement).

Warum sollten zivilgesellschaftliche Organisationen, die an einem Thema arbeiten, sich nicht
verbünden, um gemeinsam – wenn auch in kleinerem Maßstab – etwas Ähnliches zu versu-
chen? Das würde voraussetzen, dass sie sich vorher darüber austauschen, welche Bedeutung
und welchen Umfang Konflikte in ihrer Organisation haben und welche Ressourcen sie zur
Bearbeitung dieser Konflikte bereitstellen können und wollen.

4.    Teil des Jobs – Gesundheitsfürsorge für das Team

Die Verantwortung von Führungskräften für ihnen unterstellte Mitarbeiter*innen ergibt sich aus
den Fürsorgepflichten des Arbeitgebers gegenüber seinen Angestellten. Der Arbeitgeber, also
beispielsweise ein öffentlich geförderter Verein, ist verpflichtet, Leben und Gesundheit der für
ihn tätigen Arbeitnehmer*innen zu schützen.

Die sogenannten „öffentlich-rechtlichen Fürsorgepflichten“ des Arbeitgebers sind im Arbeits-
schutzgesetz, im Arbeitssicherheitsgesetz, in der Arbeitsstättenverordnung, in weiteren Ver-
ordnungen zum Schutz der Arbeitnehmer*innen sowie in den Regelwerken der Berufsgenos-
senschaften festgelegt. Darüber hinaus ist der Arbeitgeber verantwortlich dafür, dass die Be-
stimmungen des Arbeitszeitgesetzes (maximale Arbeitszeit pro Tage und Woche, ausrei-
chende Pausen etc.) von den Beschäftigten eingehalten werden. Er muss nachweisen können,
dass die Arbeitnehmer*innen nicht unzulässig viele Überstunden leisten oder „pausenlos“ ar-
beiten (BMJV, Arbeitszeitgesetz).

In der Praxis geht diese Verantwortung auf die Geschäftsführung und die anderen Führungs-
kräfte der Organisation über, denn das Leitungsgremium, beispielsweise ein Vorstand, ist ge-
wöhnlich zu weit entfernt, um diese Verantwortung wirksam wahrnehmen zu können. Man
könnte also sagen, dass der Arbeitgeber Führungskräfte mit der (möglicherweise impliziten)
Erwartung einstellt, diese Verantwortung stellvertretend für ihn wahrzunehmen. Es geht mir
hier aber nicht um die Frage, wer am Ende für Versäumnisse juristisch haftbar gemacht wer-
den kann; das kann ich als Nichtjurist nicht beurteilen.

Das bedeutet: Egal, wie „flach“ die Hierarchie ist oder wie selbstbewusst und autonom die
Mitarbeiter*innen eines Teams agieren, aus dieser Fürsorgeverantwortung können sich Ge-

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schäftsführer*in und Projektleiter*in nicht herausmogeln. Sprüche wie „Wir sind ja alle erwach-
sene Menschen. Jede*r schaut für sich selbst, dass sie*er sich nicht überarbeitet“ ziehen hier
nicht: Wenn ich feststelle, dass die Gesundheit einer Mitarbeiter*in durch das Arbeitsverhältnis
gefährdet ist, muss ich handeln. Und zwar schnell.

 Drei Beispiele: Einschreiten erforderlich

          Wenn in der Fabriketage unter unserer Organisation eine chemische Reinigung ein-
           zieht und die Mitarbeiter*innen wegen der dort verwendeten Lösemittel mit tränen-
           den Augen und Kopfschmerzen an ihrem Arbeitsplatz sitzen, muss ich als Füh-
           rungskraft etwas tun.

          Wenn ein Teammitglied wegen seiner sexuellen Orientierung von einer anderen
           Mitarbeiter*in gemobbt wird, bin ich verpflichtet, zu handeln.

          Eine Mitarbeiterin, deren Gesundheit angegriffen ist, hat so viele Aufgaben auf dem
           Tisch, dass sie von sich aus in hohem Umfang Überstunden leistet, ohne dafür Frei-
           zeitausgleich zu verlangen oder zu erhalten. Es gibt in der Organisation auch keine
           Regel dafür, in welcher Weise Überstunden mit einer Führungskraft abgesprochen
           werden (formal müsste diese mindestens davon wissen und damit einverstanden
           sein). Noch gibt es eine Arbeitszeiterfassung oder – verbunden damit – eine Kap-
           pung der Überstunden. Schließlich erleidet die Mitarbeiterin einen Herzinfarkt. Die
           für sie zuständige Projektleiter*in hat diese – untragbaren – Zustände mitgetragen
           und trägt daher (Mit-)Verantwortung.

Diese Beispiele sollen nicht von Führungspositionen abschrecken. Die meisten Herausforde-
rungen lassen sich mit offenen Augen und Ohren, Empathie, guter Kommunikation, gesundem
Menschenverstand und Rückhalt bei der Vorgesetzten bzw. beim Leitungsorgan gut bewälti-
gen.

Ich habe allerdings den Eindruck, dass die Fürsorgeverantwortung in kleinen und mittleren
Organisationen, die ich kennengelernt habe, zu wenig explizit gemacht wird. Zum Thema wird
sie häufig erst dann, wenn „das Kind in den Brunnen gefallen ist.“

Vielleicht liegt das ja daran, dass wir Fürsorge für Menschen in unserem Einflussbereich un-
bewusst einem überholten, paternalistischen Verhältnis von Arbeitgeber*in – Arbeitnehmer*in
zurechnen, das wir meinen, weit hinter uns gelassen zu haben. In dieser schönen neuen Ar-
beitswelt ist jede*r ausschließlich für sich selbst verantwortlich und muss sehen, wie sie*er
klarkommt. Gesund ist das nicht.

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5.    Gegensteuern! – Sechs Risikofaktoren im Projektalltag

Im zweiten Abschnitt hatte ich über Risikofaktoren für Führungskräfte in zivilgesellschaftlichen
Organisationen gesprochen, im dritten über das Thema Selbstfürsorge. Jetzt soll es um Risi-
kofaktoren von Projektmitarbeiter*innen und um Handlungsmöglichkeiten von Führungskräf-
ten gehen. Teilweise sind die Risikofaktoren der Mitarbeiter*innen natürlich deckungsgleich
mit gesundheitlichen Risiken von Führungskräften.

     a) Arbeitsplatzunsicherheit und mangelnde berufliche Perspektive

Öffentlich geförderte Projekte sind oft auf mehrere Jahre angelegt. Wenn die Projektmittel je-
doch jedes Jahr neu beantragt werden müssen, stehen die Arbeitsverträge häufig unter einem
Finanzierungsvorbehalt – was vielfach zur Folge hat, dass noch im Dezember unklar ist, ob
das Arbeitsverhältnis im Januar fortbesteht. Befristete Arbeitsverträge sind gerade in kleine-
ren Vereinen, die sich hauptsächlich über Projektförderungen finanzieren, weit verbreitet.

Diese Abhängigkeit von Projektförderungen führt objektiv und subjektiv zu erheblicher Arbeits-
platzunsicherheit, die gesundheitlich belastend wirken kann: Beispielsweise dann, wenn ich
(bzw. meine Familie) finanziell von dem Job abhängig bin. Wenn ich ständig Angst um meinen
Lebensunterhalt haben muss, wird das möglicherweise meine Gesundheit schädigen.

Zum anderen bieten gerade kleinere und mittlere zivilgesellschaftliche Organisationen ihren
Angestellten häufig kaum die Möglichkeit zu einem Aufstieg, einer beruflichen Weiterentwick-
lung in der Organisation:

Erstens sind, wie oben schon angesprochen, unterschiedliche Hierarchie- und Funktionsebe-
nen (noch nicht) ausgebildet, so dass es beispielsweise ein oder zwei Führungskräfte gibt –
die verständlicherweise ihren Job behalten wollen – sowie die Projektmitarbeiter*innen, aber
dazwischen keine mittlere Führungsebene, also Bereichsleitungen o. ä., in deren Position ich
aufsteigen könnte.

Und zweitens unterschätzen Führungskräfte häufig, wie wichtig das Thema Personalentwick-
lung ist. Damit meine ich Strategien und Schritte für die berufliche und persönliche Weiterent-
wicklung im Job. Das kann dazu dienen, in der Organisation neue Aufgaben zu übernehmen,
sich auf Stellen außerhalb der Organisation zu bewerben oder einfach nur dazu, persönlich zu
wachsen.

Was kann ich konkret tun?

Führungskräfte sollten in Absprache mit dem Leitungsgremium, also z. B. dem Vorstand,
Wege suchen, um Verträge zu entfristen oder möglichst langfristig abzuschließen.

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