Die Kleine Schule des Genießens kommt in die Jahre "15 Jahre Genußprogramm"

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Lutz,R (1999): Die kleine Schule des Genießens kommt in die Jahre, "15 Jahre Ge-
nussprogramm". In: Beiträge zur Euthymen Therapie. (Eds: Lutz,R; Mark,N; Bart-
mann,U; Hoch,E; Stark,F-M) Lambertus Verlag, Freiburg, 39-73.

Die Kleine Schule des Genießens kommt in die Jahre
"15 Jahre Genußprogramm"

Rainer Lutz

1. Die Anfänge

Positive Emotionen, wie sich Wohlfühlen, Freude, Lachen und Genießen, sind therapeutische
Elemente. Dieser Gedanke ist grundlegend für die Kleine Schule des Genießens; er basiert auf
einer verbreiteten therapeutischen Erfahrung. Diese Idee habe ich zum ersten mal von Ron
Ramsay gehört. Er arbeitete am Institut für Psychologie der Universität Amsterdam. 1972 war
er für einen Monat in Marburg, um einer Gruppe von interessierten Studierenden und ange-
henden Therapeuten sowohl Grundlagen von Verhaltenstherapie beizubringen als auch recht
spezielle Einsichten zu vermitteln. Schon zu dieser Zeit stellte er uns ein Eßprogramm vor,
das uns erstaunte: Übergewichtigen wurde gestattet, alles zu essen, was ihnen Appetit bereite-
te. Einzige Auflage war, langsam und mit Genuß zu essen. Selbst Schokolade war nicht ver-
boten, solange sie genüßlich verzehrt wurde. Das Geniale an dieser Idee war und ist, daß
durch die Genußkomponente das Eßverhalten geändert und die Kalorienaufnahme pro Zeit
zwangsläufig reduziert wird. Durch die Erlaubnis zum Genuß wird der Umgang mit Lebens-
mitteln entkrampfter. Auch Übergewichtige dürfen genießen.
Für eine Reihe von Patienten1 ist die Strategie von Ramsay sicherlich angemessen und führt
zu einer Veränderung des Eßverhaltens. Betroffene wissen aber, daß sehr viele andere Bedin-
gungen und
psychologische Funktionen unangemessenes Eßverhalten beeinflussen können. Gleichwohl
mag diese Überlegung für manche Therapeuten eine ungewohnte Sichtweise sein, die im
Einzelfall sich zu überprüfen lohnt.
Positive Emotionen und Genuß setzte Ramsay u.a. auch bei der Behandlung sexueller Funkti-
onsstörungen ein: Mit Hilfe einer speziellen Technik werden positive Emotionen induziert,
um das Angenehme und Genüßliche der Sexualität erfahrbar zu machen.
Ich habe mich seit 1980 mit Entspannungstechniken beschäftigt (Lutz, 1980, 1985; Lutz und
Wieberg, 1982). Diese wurden (und werden auch heute noch) in der Verhaltenstherapie wei-

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  Da ich mich zu keiner der geläufigen, das Geschlecht hervorhebende
Schreibweisen durchringen konnte, werden im folgenden Text die unterschied-
lichen Formen in wechselnder Reihenfolge genutzt.
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testgehend funktionalisiert: Entspannung wird eingesetzt, damit eine andere Technik, z.B.
eine systematische Desensibilisierung, durchgeführt werden kann. Leider muß festgehalten
werden, daß die besonderen emotionalen Qualitäten eines entspannten Zustandes dabei ver-
gessen werden. Sich entspannt fühlen bedeutet nämlich nicht nur Desaktivierung, sondern
auch eine positiv gestimmte Befindlichkeit. Mit einer Entspannungstechnik können also
BehandlerInnen ihre Patienten und Patientinnen nicht nur ruhigstellen, sondern auch eine
positive Stimmung wecken. Diese Beobachtung führte zu der Idee, depressive Patienten auch
mittels Entspannung zu behandeln. Das war sehr ungewöhnlich und irritierte damals die
Psychiater der psychiatrischen Abteilung eines Universitätskrankenhauses. Ihr Gegenargu-
ment: Man muß depressive Patienten und Patientinnen, die sowieso antriebsarm sind, durch
eine Entspannungstechnik nicht noch mehr verlangsamen, man muß sie vielmehr aktivieren.
Meine Überlegung war jedoch, daß durch die positiven Emotionen, die mit einem entspannten
Zustand verbunden sind, Patienten und Patientinnen möglicherweise wieder an ein ihnen
bekanntes Wohlgefühl anknüpfen und möglicherweise zur intensiven Auseinandersetzung in
einer Psychotherapie motiviert werden.
Die Entspannungsübungen wurden sehr behutsam durchgeführt. Nicht alle Patienten und
Patientinnen konnten sich zunächst darauf einlassen. Es dauerte einige Sitzungen, bis sie zum
Wagnis einer Entspannung bereit waren. Ein solches Vorgehen stellt immerhin eine Konfron-
tation auf einer emotionalen Ebene dar. Depressive Patienten müssen in irgendeiner Weise
mit einer positiven Emotion umgehen, z.B. sie benennen, „zugeben“ und „ertragen" lernen
oder auch genießen. Die Ergebnisse dieses Behandlungsversuches waren überzeugend: Viele
Patienten berichteten, daß sie die Entspannung wohltuend erlebt hätten, daß sie eine Möglich-
keit für sich erkannt hätten, selber ihre Stimmung zu verbessern. Manche sagten sogar, sie
hätten diesen Zustand genossen.
Durch die ersten Versuche ermutigt, fügte ich später Instruktionselemente in die Entspan-
nungsübungen ein, die zum Genuß des angenehmen Zustands des Entspanntseins auffordern.
Patienten und Patientinnen wurden dazu angeleitet, die positiven Seiten des Entspannungszu-
standes zu genießen, sich vorzunehmen, dieses angenehme Gefühl zu bewahren und sich
später daran zu erinnern. Aus meiner heutigen Sicht sollten Entspannungstechniken immer
ein Genuß-Element enthalten.
Bei der Beschäftigung mit Entspannungstechniken war mir ein weitreichendes Theoriekon-
zept klargeworden: die Aufmerksamkeitsfokussierung. Fokussiert man Aufmerksamkeit auf
beruhigende Wahrnehmungen, so wird sich Entspannung zwangsläufig einstellen. Entspan-
nungsinduzierende Reize riefen zudem auch positive Emotionen hervor. Bei der Arbeit mit
depressiven Patienten und Patientinnen wurde zudem deutlich, daß bei einer solchen Fokus-
sierung der Aufmerksamkeit störende Gedanken ausgeblendet sind. Das gelang nicht allen
Patienten und schon gar nicht auf Anhieb; wenn es ihnen allerdings möglich war, ihre Auf-
merksamkeit auszurichten, waren sie für diese Zeit von bedrängenden Grübeleien befreit.
In dieser Zeit habe ich intensiv die Arbeiten von F. Kanfer gelesen (z.B. Kanfer & Phillips,
1970) und seine Lehrveranstaltungen besucht. Dabei habe ich viel gelernt, nicht nur die funk-
tionale Analyse als via regia der Verhaltensdiagnostik, sondern auch nach den „assets“ und
nicht nur nach den „deficits“ zu fragen (Kanfer & Saslow, 1969).
Mit solchen Gedanken und Ideen war ich beschäftigt, als mir eine Supervisionskandidatin aus

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dieser Zeit, Frau Dipl.Psych. Eva Koppenhöfer eine besondere Beobachtung berichtete: Sie
konnte stark depressive Patienten mit Hilfe von starken Düften aus Flacons, die sie ihnen
unter die Nase hielt, dazu bewegen, sich ihr zuzuwenden. Das war deshalb eine außerordent-
liche Beobachtung, weil diese Patienten und Patientinnen sonst kaum in der Lage waren,
sozialen Kontakt aufzunehmen, sei es verbal oder non-verbal.
Gemeinsam formulierten wir die Kleine Schule des Genießens (Lutz & Koppenhöfer, 1983).
Der Grundsatz wurde niedergeschrieben: Keine Depressionstherapie ohne Förderung genuß-
vollen Erlebens und Handelns (Koppenhöfer & Lutz, 1983).
Die erste Genußgruppe wurde in der Psychosomatischen Fachklinik Bad Dürkheim von Frau
Koppenhöfer und Frau Brotzler durchgeführt. Damit wurde für uns therapeutisches Neuland
betreten. Die Effekte, die sich in und nach der Genußgruppe zeigten, waren schon verblüf-
fend. Wir konnten beobachten, daß Depressive weniger jammerten, aktiver wurden, in Einzel-
sitzungen produktiver mitarbeiteten, etc.. Das war neu und ungewöhnlich. Meine ursprüngli-
che Motivation an der Ausarbeitung dieses Therapiekonzeptes war nicht durchweg ernsthaft
und eher von dem Gedanken geleitet: "Warum soll man den (armen) Depressiven in der Kli-
nik nicht auch mal `was Gutes tun?" Durch die von mir nicht in diesem Ausmaß erwarteten
therapeutischen Effekte war mein Interesse an deren theoretischer Aufklärung geweckt.

2. Therapeutische Bedeutung

2.1 Was bewirkt das Genußprogramm bei Patienten?

Um zu erfahren, was das Genußprogramm bei Patientinnen bewirkt, hatten wir solche Thera-
peutinnen nach ihren Beobachtungen befragt, die die Kleine Schule des Genießens bei ihren
Patienten regelmäßig anwenden. Von diesen sog. Genußtherapeuten werden u.a. die recht
unterschiedlichen Auswirkungen berichtet:
- Generelle Aktivierung (z.B. die Suche nach Positiva beginnen)
- Soziale Aktivierung (z.B. gemeinsame Unternehmungen initiieren und/oder an ihnen
    teilnehmen)
- Mittelpunkt in der Gruppe sein (z.B. etwas Schönes vorstellen)
- Übertreten von Normen (z.B. sich auf den Rasen eines öffentlichen Parks legen)
- In umschriebenen Bereichen neue Sichtweisen der persönlichen Biographie entwickeln
    (z.B. sich an positive Szenen aus der Kindheit wieder erinnern, an eine freundliche Nach-
    barin oder an ein Spiel im Heu)
- Verstärkte Fokusssierung auf gesunde Anteile und Positiva statt auf problematische Ereig-
    nisse oder Beschwerden
- Sich besser konzentrieren können.

Die Idee der differentiellen Interventions-Effekte hilft, die involvierten psychologischen
Prozesse besser zu verstehen. Diese wurde zur Beschreibung von Entspannungsverfahren
konzeptionalisiert (Lutz, 1985). Das Konzept der differentiellen Interventions-Effekte besagt
zunächst, daß eine bestimmte Intervention zu mehreren - mindestens drei - unterscheidbaren

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Effekten führt, nämlich zum:

                      (1) intendierten Effekt
                      (2) verfahrensbezogenen Effekt
                      (3) kovariaten Effekt

Ad (1): Bei einer geplanten Intervention ist üblicherweise der antizipierte intendierte Effekt
der Anlaß für eine Maßnahme. Eine Entspannungstechnik z.B. soll entspannen, nach dem
erfolgreichen Besuch der Kleinen Schule des Genießens sollen Patienten und Patientinnen in
der Lage sein, besser zu genießen. Der intendierte Effekt beschreibt somit die Veränderung,
die aufgrund des Aufbaus oder der angenommenen Wirkmechanismen von einer Technik
erwartet wird.
Wird eine Technik durchgeführt und tritt ein intendierter Effekt ein, so wird es zugleich (2)
verfahrensbezogene Effekte und (3) kovariate Effekte geben.
Ad (2): Jede therapeutische Intervention fordert vom Patienten/der Patientin ein ganz be-
stimmtes Verhaltensrepertoire: Soll eine Intervention durchgeführt werden, müssen beim
Patienten ganz bestimmte Verhaltensweisen auftreten. So muß sowohl bei der Durchführung
einer Entspannungstechnik als auch bei den Übungen der Kleinen Schule des Genießens sich
ein Patient z.B. konzentrieren können. Besteht ein Defizit im jeweils geforderten Repertoire,
so wird dies zwangsläufig trainiert werden. Insofern sind für bestimmte Patienten solche
Techniken auch hilfreich zur Konzentrationsteigerung. Mit dem verfahrensbezogenen Effekt
wird also die Veränderung in dem Verhaltensrepertoire eines Probanden beschrieben, das
notwendigerweise involviert ist, wenn eine therapeutische Technik durchgeführt wird. Also:
Da die Kleine Schule des Genießens ein Gruppenprogramm ist, muß ein Patient z.B. die Nähe
zu anderen regulieren können bzw. dieses lernen. Es wird weiterhin von ihm verlangt, sich
auf Stimulantien einzulassen, er wird sich also konzentrieren müssen (vgl. auch Henning &
Schang-Schild, in diesem Band). Eine Patientin lernt im Genußprogramm z.B., ihre Sinne
besser zu gebrauchen, genußvoller mit Angeboten umzugehen, etc..
Der intendierte Effekt und der verfahrensbezogene Effekt haben eine funktionale Beziehung
zueinander. Mit dem kovariaten Effekt dagegen wird – wie die Wortwahl nahe legt - ein
korrelativer Zusammenhang zum intendierten Effekt beschreiben:
Ad (3): Mit den kovariaten Effekten werden die Veränderungen bei solchen Verhaltensweisen
oder ähnlichen Befindlichkeiten beschrieben, die ebenfalls zu beobachten sind, wenn der
intendierte Effekt auftritt. Die entsprechenden Verhaltensweisen sind - bildlich gesprochen –
verwandt; die kovariaten Effekte können auch als "Nebenwirkungen" bezeichnet werden.
Patienten und Patientinnen werden sich nach einem Entspannungstraining nicht nur entspannt
fühlen, sie sollten sich auch besser, wenn nicht sogar wohl fühlen etc.. Eine negative Stim-
mung (z.B. gereizt oder verärgert) dagegen sollte ausgeschlossen sein. Als kovariater Effekt
der Genußgruppe ist nicht nur eine generelle Sinnesoffenheit zu beobachten, sondern auch das
Gefühl der Selbstwirksamkeit und mitunter auch der Autonomie.

2.2 Empirische Untersuchungen

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Zur Wirksamkeit der Kleinen Schule des Genießens existieren z.T. nur wenige empiri-
sche/experimentelle Untersuchungen. In früheren Evaluations-Bemühungen waren die vor-
hergesagten Auswirkungen mit den damals üblichen Skalen nur ansatzweise nachzuweisen.
Das entsprach nicht den Beobachtungen: Schwer depressive Patienten eines psychiatrischen
Landes-Krankenhauses veranstalteten voller Begeisterung ein Lärmkonzert im pompösen
Treppenhaus ihrer Anstalt. Oder: Therapeutinnen sahen ihre Patienten zum ersten Mal lä-
cheln, als sie aus der Genußgruppe kamen; etc..
Dieselben Patienten aber berichteten in den eingesetzten Fragebogen von keinen Verbesse-
rungen, mitunter sogar von Verschlechterungen. Zum Glück ist mein Glauben in die For-
schungsdaten nicht ausgeprägter als in die eigenen Beobachtungen. Das hat bei mir zu einem
längeren Nachdenken über den Widerspruch zwischen den experimentellen Ergebnisse und
den klinischen Beobachtungen geführt. Das Ergebnis ist das Konzept der konkurrierenden
Itemformate, einem Ansatz zur Konstruktion von Fragebögen. Erste Studien belegen die
Vermutung, daß sog. positive Veränderungen mit spezifischen Fragebogen zu diagnostizieren
sind. Nicht das Genußprogramm war also wenig effektiv, vielmehr war das verwendete Un-
tersuchungs - Instrumentarium ungeeignet, die ganz offensichtlich eingetretenen positiven
Veränderungen darzustellen. Im MUM, dem Marburger Untersuchungs Instrumentarium
(Lutz, 1999), wurden nach dem Konzept der konkurrierenden Itemformate Skalen zur Evalua-
tion therapeutischer Prozesse zusammengestellt. Diese wurden in mehreren Marburger Ge-
sundheitsstudien im Verlauf der letzten Jahre untersucht. Sowohl hinsichtlich Praktikabilität,
teststatistischen Gütekriterien und wissenschaftlichem Ertrag erfüllt das MUM alle Erwartun-
gen (Lutz, Franzen, Heyn, Schmid, Sick & Steinl, 1995; Lutz & Schneider, 1997, 1998; Lutz,
Schneider & Süss, 1999; Bernhard, Kupka & Lutz, 1999). Die systematische Erforschung
euthymer Therapieansätze steht noch aus. Zur Zeit werden allerdings an verschiedenen Stel-
len in dieser Richtung Forschungsbemühungen unternommen, die einen erfolgversprechend
Ausgang erwarten lassen.

2.3 Differentielle Effekte des Genußprogramms bei verschiedenen Patienten

Das Genußprogramm wurde inzwischen bei ganz unterschiedlichen Patientengruppen ange-
wendet, z.B. bei
-              Depressiven Patienten
-              Alkohol-Patienten
-              Schizophrenen Patienten
-              Typ-A Patienten
-              Schmerz-Patienten
-              Patienten mit neurologisch begründeten Symptomatiken
-              Patienten mit psychosomatischen Symptomatiken

Bei den unterschiedlichen Patientinnen und Patienten werden jeweils spezifische Behand-
lungs-Effekte erzielt. Im Wesentlichen werden im Sinne der verfahrensbezogenen Effekte
jeweils spezifische Defizite durch die Kleine Schule des Genießens ausgeglichen. Diese be-
gründen sich zum einen in der individuellen Biographie, zum anderen im spezifischen Stö-

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rungsbild:
(1) Für neurologische Patienten z.B. ist die Kleine Schule des Genießens eine Form von
    Konzentrationstraining und Anlaß über ihre Perspektiven nach dem Kli-
    nikaufenthalt nachzudenken.
(2) Typ-A Patienten lernen schneller und ohne Zwang, für eine Weile “ruhig sitzen bleiben”
    zu können.
(3) Für Alkoholpatienten ist die Kleine Schule des Genießens eine Aufforderung, sich neue
    Verstärkungsmöglichkeiten zu suchen. Der früher omnipotente Verstärker Alkohol wurde
    ihnen entzogen; Im Sinne einer euthymen Behandlungsstrategie ist es sinnvoll, die Suche
    nach angenehmen Dingen (neuen Verstärkern) zu beginnen. Diese sind zwar zunächst
    „nur“ Ersatz. Alkohol-Patienten erkennen aber recht schnell die Perspektiven für ihre Le-
    bensplanung, die durch euthyme Ansätze vermittelt werden.
(4) Depressive entdecken ansatzweise im Genußprogramm positive Aspekte aus der Vergan-
    genheit. Sie beginnen „ihre Biographie neu zu schreiben“. Dies ist ein mitunter schwieri-
    ger und schmerzhafter therapeutischer Prozess. Dabei ist es auch notwendig zu erkennen,
    daß manches Leid unnötig war.
(5) Die starke Fokussierung auf positive Reize bewirkt bei Schmerzpatienten, daß sie sich für
    eine gewisse Zeit schmerzfrei erleben.
(6) Über die Wirkung der Kleinen Schule des Genießens bei Schizophrenen Patienten steht
    eine theoretische Diskussion aus: Nach Cohen (1989) ist Anhedonie eine sog. Markerva-
    riable; Zenz (1991) diskutiert die Rolle des Hedonischen für kognitive Prozesse; Haupt,
    Lutz, Lebershausen & Czegalla (1991) sowie Höpfl-Reinhard, Kunze-Bechstädt und
    Stöhr (in diesem Bnad) berichten von guten therapeutischen Effekten in unterschiedli-
    chen Verhaltensbereichen.

Immer wieder ist zu beobachten, daß einzelne Aspekte des Genußprogramms unmittelbar an
die Lebensgeschichte von Patienten und Patientinnen anknüpfen. Die Genuß-Regeln „Genuß
ist alltäglich" oder „Genuß muß erlaubt sein“ z.B. sind mitunter Anstoß, über Gewohnheiten
hinsichtlich Genuß und deren Einbindung in den Ablauf eines Tages oder eines Jahres nach-
zudenken. Die Zeitspanne kann das aktuelle Geschehen genau so umfassen wie frühere Ge-
pflogenheiten im Elternhaus. Solche Vorgeschichten haben bei den Patienten zwar immer
auch gemeinsame Elemente (z.B. waren Positiva, Erlaubnis zum Genuß, vielfach beschränkt
auf "große" Feste etc.). Die jeweiligen Inhalte jedoch sind höchst individuell.

2.4 Was Genußtherapeuten und Genußtherapeutinnen bei
    ihren Patienten und Patientinnen beobachten

Im Rahmen ihrer Diplomarbeit hat Poser (1994) 22 Genuß-Therapeuten und Therapeutinnen
nach ihren Beobachtungen gefragt: Bewirkt das Genußprogramm bei Patienten (aus verschie-
denen psychosomatischen Kliniken und Suchtkliniken) eine Veränderung positiver Verhal-
tensweisen (z.B. Fähigkeit, Sinneseindrücke differenziert und intensiv zu erleben; selbstbe-
stimmt und maßvoll zu genießen; ein leichterer Zugang zu angenehmen Erinnerungen und
Gedanken etc. zu gewinnen) und/oder eine Veränderung negativer Verhaltensweisen (z.B.

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Genußsüchtigkeit; Trägheit; Faulheit; Selbstmitleid; Zunahme an Politikverdrossenheit).
Die Therapeuten und Therapeutinnen registrierten bei ihren PatientenInnen kaum negative
Verhaltensänderungen, wohl aber eine mehr oder weniger deutliche Zunahme positiver Ver-
haltensweisen: Die geringste Zunahme wurde bei Verhaltensweisen aus dem Bereich Auto-
nome Normen und Durchsetzung, die größte Veränderung im Bereich differenzierte und
intensivere Wahrnehmung und Umgang mit Konsum beobachtet.
Diese Ergebnisse belegen deutlich, daß die Genußtherapie aus der Sicht der Therapeuten
nicht nur überwiegend positive Verhaltensänderungen bewirkt, sondern daß auch die befürch-
teten negativen Veränderungen äußerst selten auftreten.

2.5 Zur Klinischen Bedeutsamkeit

Viele Effekte der Kleinen Schule des Genießens sind Beobachtungen, die wiederholt gemacht
und berichtet wurden, die aber nur ansatzweise in kontrollierten Studien überprüft wurden (s.
Abs. 2.2). Eine mögliche Bedeutsamkeit kann also empirisch (noch) nicht hinreichend nach-
gewiesen werden.
Die Bedeutsamkeit leitet sich aus der folgenden Überlegung ab: Immer sind bei Patienten
Defizite im euthymen Erleben und Verhalten zu beachten, die in der Regel einen direkten
oder indirekten (funktionalen) Bezug zu den vorgetragenen Beschwerden haben. Solche
Defizite sollten behandelt werden. Im Rahmen eines Behandlungsplanes sind euthyme Strate-
gien notwendige und sinnvolle Bausteine im Rahmen eines umfassenden Behandlungsplanes.
Im Einzelfall ist zu entscheiden, in welchem Umfang auf die (vorgetragenen) Beschwer-
den/Symptome eingegangen wird oder euthyme Behandlungsziele verfolgt werden. Zur Zeit
kenne ich keinen Therapeuten/Therapeutin aus psychosomatischen Kliniken, der/die ein
euthymes Programm als alleinige Therapiestrategie anwendet. Ich frage mich allerdings, ob
dies bei bestimmten Patienten nicht sogar sinnvoll wäre. Die Arbeiten von Niebel (1981) oder
Figge (1982 ; 1999, in diesem Band) jedenfalls ermutigen zu einer solchen Überlegung.
Grundsätzlich sollte gelten, daß nach einer gründlichen Diagnostik, in der die Fragen von
Ressourcen, insbesondere auch hinsichtlich euthymen Erlebens und Verhaltens etc., gleich-
rangig mit Beschwerden, Problemen etc. geklärt wurden, zu entscheiden ist, welche Therapie-
strategien in welchem Zeitabschnitt einer Behandlung zu bevorzugen sind.

3. Auswirkungen der Kleinen Schule des Genießens auf das therapeutische
   Umfeld

3.1 Was macht das Programm mit den Therapeuten und Therapeutinnen?

Es ist sicher nicht ganz zufällig, wer auf das Genußprogramm aufmerksam wird und wie es in
der Therapiepraxis umgesetzt wird. Erwartungsgemäß arbeiten sog. kreative Therapeuten
gerne mit der Kleinen Schule des Genießens. Es kommt ihnen entgegen; sie verwenden routi-
nemäßig Interventionen, die Teile des Programms sind oder entwickeln selber euthyme Inter-
ventionen. Der Euthyme Ansatz liefert die theoretische Untermauerung und Bestätigung für

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ihre eigene Therapie-Ideologie. Auf der anderen Seite habe ich sehr viele, eher strenge Ver-
haltens-Therapeutinnen und Therapeuten erlebt, die zur Ergänzung bzw. zum Ausgleich das
Genußprogramm für sich entdeckt haben. Das gilt für ihre Therapiepraxis wie u.U. auch für
ihre Privatsphäre. Ihnen werden dadurch die Divergenzen der unterschiedlichen therapeuti-
schen Ansätze deutlich vor Augen geführt. Sie werden in ihrer Therapie-Ideologie vielleicht
etwas „milder“.
Sehr kontrollierte (oder vielleicht besser: kontrollierende?) Therapeutinnen und Therapeuten
mit einer (zu) ausgeprägten kognitiven Orientierung verändern auch das Programm im Sinne
ihrer kognitiven Präferenz. Sie finden dadurch einen Zugang zum Genußprogramm. Diese
Vorgehensweise ist insofern angemessen, als es ihren Möglichkeiten entspricht. Nicht ganz
im Sinne der Idee der Kleinen Schule des Genießens ist es aber, wenn durch die (zu) starke
Betonung kognitiver Elemente die Möglichkeiten zum Umgang und zur Förderung positiver
Emotionen bei den Patienten und Patientinen vom Therapeuten/von der Therapeutin nicht
ausgeschöpft werden.
Von Therapeuten und Therapeutinnen werden z.T. große Veränderungen ihrer Therapieauf-
fassung als Folge der Auseinandersetzung mit der Kleinen Schule des Genießens berichtet:
Diese werden durch nachhaltige „Aha-Erlebnisse“ eingeleitet, die entweder auf Beobachtun-
gen bzw. Patientenberichten gründen und die aus ganz unterschiedlichen Bereichen stammen
können: Schmerztherapeuten sind erstaunt, wenn sie zum ersten Mal von ihren Patienten und
Patientinnen die wohltuenden Effekte eines positiven Bildes hören (vgl. Lutz, Hoch & Nifosi,
in diesem Band); TherapeutenInnen sind verblüfft über den Witz depressiver Patienten, den
sie nicht erwartet hätten; Therapeuten von Typ-A Patienten sind beeindruckt von deren bis-
lang schlummerndem kreativem Potential (vgl. Henning & Schang-Schild, in diesem Band);
Psychiater hätten nicht erwartet, daß ältere chronisch schizophrene Patienten einen Zugang zu
positiven Erinnerungen finden (Haupt, et al. 1991); etc. Solche Erfahrungen führen bei The-
rapeuten und Therapeutinnen zum Überdenken ihrer Therapieziele, der geeigneten Methoden
zu deren Erreichung, über die eigene Therapie-Ideologie und über therapiewirksame Mecha-
nismen.
Beeindruckend sind aber auch Veränderungen der Therapeuten und Therapeutinnen selber.
Sie entwickeln mitunter spezifische Vorlieben, z.B. zu fotografieren, angeregt durch die
Übungen zum Sehen.
Weder für die Betreffenden noch für die Umwelt sind Veränderungen sofort wahrnehmbar:
Eine sehr tüchtige Abteilungsleiterin einer psychosomatischen Fachklinik z.B. beginnt mit der
Kleinen Schule des Genießens zu arbeiten. Ein Kollege spricht sie später auf ihre neue Frisur
an, sie sei kess und betone vorteilhaft ihr Gesicht. Sie bezweifelt energisch, daß sie mehr
Wert auf ihre Frisur legen würde. Der Kollege - er war mit der Kleinen Schule vertraut – stellt
einen Bezug zur Genußgruppe her. Die sichtbar positiven Veränderungen dem Umgang mit
der Genußgruppe zuzuschreiben, das erscheint ihr weit hergeholt. Nach weiteren zwei Wo-
chen stellt sie selber bei sich fest, daß sie insgesamt mehr darauf achtet, das anzuziehen, was
ihr selber gefällt und was ihr Spaß macht. Sie hatte sich in ihrer Kleidung nach dem vermeint-
lichen Standard gerichtet, was frau als leitende Psychologin tragen sollte.
Festzuhalten bleibt, daß ihr selber der Bezug zur Genußgruppe erst sehr viel später deutlich
wurde.

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3.2 Was verändert das Genußprogramm in den Kliniken?

Im sog. "KTL", der Klassifikation therapeutischer Leistungen, einem von der BfA (Bundes-
versicherungsanstalt für Angestellte) herausgegebenen Katalog über therapeutische Leistun-
gen in Reha-Einrichtungen, ist auch die Genußgruppe aufgeführt. In zahlreichen Kliniken
zählt sie oder eine Variante der Kleinen Schule des Genießens heute zum Standardangebot.
Der Import des Genußprogramms in Kliniken war eher eine individuelle Initiative von einzel-
nen Therapeutinnen oder Therapeuten. Auch Mitglieder von Kliniksleitungen haben mitunter
euthyme Behandlungselemente initiiert.
Der Aufnahme der Kleinen Schule des Genießens in den Behandlungsplan geht meist die
Suche nach einem alternativen Therapieangebot voraus. Das bereits ist der erste Schritt zur
Veränderung der Behandlungskultur und mitunter auch der Kliniksphilosophie. Unverkennbar
ist, daß eine Kliniksatmosphäre sich insgesamt ändert, wenn die Kleinen Schule des Genie-
ßens eingeführt wird. Die Patienten und Patientinnen selber registrieren Veränderungen bei
sich und sprechen bei ihren Therapeuten und Therapeutinnen Themen zum euthymen Erleben
und Verhalten an. Sie erleben die Kleine Schule des Genießens als eine sinnvolle Ergänzung
eines auf Störungen ausgerichteten Behandlungsplans. Therapeuten und Therapeutinnen
werden damit aufgefordert, verstärkt auf Positiva zu achten. So gibt eine Patientin als Ziel der
Behandlung Selbstfürsorge an. Sie hatte sich zuvor mit Patientinnen aus der Genußgruppe
unterhalten. Sie kann zwar ihrem Therapeuten nicht sagen, was sie im einzelnen darunter
versteht. Beide beginnen aber zu erarbeiten, was Selbstfürsorge für sie bedeuten kann.

Nach meiner Beobachtung wird die Kleine Schule des Genießens vergleichsweise unproble-
matisch in psychosomatischen Fachkliniken übernommen. Um euthyme Behandlungselemen-
te auch längerfristig zu etablieren, sind feste Absprachen zwischen einzelnen Behandlern und
der Kliniksleitung sowie eine Verankerung im Behandlungsangebot notwendig.
In psychiatrischen Abteilungen und auch in Suchtkliniken dagegen hat - auf den ersten Blick -
die Kleine Schule des Genießens mit größeren Widerständen zu rechnen. Aber gerade dort
sind die Veränderungen sehr nachhaltig, wenn das Genußprogramm installiert wurde. Am
deutlichsten sind aus meiner Sicht die Veränderungen in suchttherapeutischen Einrichtungen,
z.B. in Kliniken zur Behandlung von Alkohol-Patienten. Diese hatten bzw. haben mitunter
eine eher strenge Behandlungsmoral: Danach haben Alkohol-Patienten „gefehlt", sie hatten
sich gehen lassen und sind „schuldig“ geworden. Ihnen wird mitunter vermittelt, daß sie froh
und dankbar sein sollten, nicht voll in die Gosse abgerutscht zu sein und nun Halt in der
Behandlungseinrichtung gefunden zu haben. Von ihnen wird daher als zentrales Ziel gefor-
dert, Disziplin zu lernen. Diese Behandlungs-Ideologie ist teilweise gut begründet, was die
Konzept-Diskussion schwierig machen kann. Gleichwohl ist eine solche Behandlungsphilo-
sophie äußerst problematisch. Sie ist anhedon begründet („Lust ist eine Versuchung“, „Lust
ist gefährlich“). Durch das Genußprogramm sollen nun andere Akzente gesetzt werden, wie
z.B. Selbstfürsorge, Suche nach positiven Alternativen zum Alkohol, die angenehm und
verstärkend sind. Das widerspricht einem Behandlungskonzept, das ganz auf Selbstdisziplin
setzte. In einer solchen konzeptionellen Auseinandersetzung muß im Diskurs ein Ausgleich
zwischen dem notwendigen Maß an Selbstkontrolle und euthymen Elementen gefunden wer-

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den.
3.3 Widerstand gegen die "Kleine Schule des Genießens"

Die Kleine Schule des Genießens macht nicht immer einen ernsthaften Eindruck. Patienten
lachen, Therapeuten unterhalten sich in der Genußgruppe mit ihren Patienten über höchst
Banales, wie z.B. über himbeerrote Lutschbonbons aus ihrer Kindheit, die den Gaumen auf-
reißen oder ob sich eine Patientin ein grünes Strohhütchen kaufen soll. Vor dem Hintergrund
einer klassischen Psychotherapie mögen solche Erörterungen unwichtig bis unseriös erschei-
nen. In den Anfängen der Genußtherapie war mir die Kleine Schule des Genießens selber
nicht seriös genug.
Zu gut kann ich mich an meine eigenen Befangenheiten erinnern, die Genußgruppe tatsäch-
lich auch als Genußgruppe zu vertreten. Ich überlegte, ob man ihr nicht wenigstens ein wohl-
anständigen Titel wie z.B. Reiz-Diskriminations-Training geben sollte. Ich wurde eines Bes-
seren belehrt, nämlich von den Patientinnen und Patienten und den Kollegen und Kollegin-
nen, die mit dem Genußprogramm arbeiten. Vielleicht müssen diejenigen, die in der Vermitt-
lung von Genuß etwas Unseriöses sehen, sich mit den Inhalten der eingeleiteten Therapiepro-
zesse auseinandersetzen.
In der Phase der Therapieplanung in einer psychosomatischen Klinik identifizieren einige
Patienten die Kleine Schule des Genießens mitunter als „Kinderkram“, als wenig ernsthafte
Therapiemethode. Sie verlassen die Genußgruppe, bevor diese begonnen hat; es sind aber
nicht viele. Verbleiben allerdings kritische bzw. abwartende Patienten in der Genußgruppe
und beginnen dann mitzuarbeiten, erkennen sie sehr rasch die Bedeutung dieses Ansatzes für
sich selber.
Unverständnis erntet die Kleine Schule des Genießens häufig von den Angehörigen. Beson-
ders drastisch ist dies mitunter in der Psychiatrie, speziell in der Gerontologie. Angehörige
schütteln hier schon einmal den Kopf, was die Psychologen mit ihrer Großmutter anstellen:
"Nun soll unser Omma auch noch an ´ner Rose riechen, macht sie sonst auch nicht!" Die
Oma war guter Dinge und fidel, vielleicht ist es das, was die Angehörigen irritierte.
Manche Kollegen und Kolleginnen lehnen die Kleine Schule des Genießens aus Gründen der
Therapiestrategie ab: Durch die Kleine Schule des Genießens wird vergleichsweise rasch eine
Linderung herbeigeführt. Das reduziert den „Leidensdruck“, was diese Kollegen und Kolle-
ginnen befürchten läßt, die Therapiemotivation könne darunter leiden. Ich selber habe in
diesem Punkt andere Erfahrungen gemacht: Durch die Eröffnung neuer Perspektiven wird die
Hoffnung auf einen positiven Therapieausgang geweckt. Die Motivationslage ist dann aller-
dings eine andere. Sie ist stärker zielgerichtet und durch eine gewisse Hoffnung getragen.

4. Über Denkfehler und Vorurteile

4.1 Autonomie, Epikur2 und die Götter

2
  Nach Abschluß des Manuskripts entdeckte ich das Buch „Epikureische Auf-
klärung“ von D.Kimmich (WBG, Darmstadt, 1993) das viele der angesprochenen
Sachverhalte vertieft.
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Die Meinungen über Genuß und ein gutes Leben sind zwiespältig. Gerne und mit großer Geste
wird vor zu viel Wohlergehen, positiven Emotionen und Genuß gewarnt (z.B. Simon,1992, s.a.
Box im Vorwort). Der Genießende wird angeprangert und muß sich den Vorwurf gefallen las-
sen, er wolle allein nach seinen Lüsten und Gelüsten leben.
Diese Argumentationsfigur ist nicht neu. Die Idee, Wohlbefinden oder ein gutes Leben als eine
leitende Lebensmaxime zu verwirklichen, wurde schon früh ausgesprochen und schon früh kriti-
siert. Sie ist mit Epikur (341-270 v. Chr.) verknüpft, Begründer des
Epikureismus und philosophischer Wegbereiter des Hedonismus. Für ihn waren Glückseligkeit
(Eudämonie) und Gemütsruhe (Ataraxie) ethisch begründete Lebens-ideale. Epikur war ein
gläubiger Mensch, der die Tempel besuchte und die Götter verehrte und anbetete. Er konnte sich
aber einen göttlichen Eingriff in menschliche Schicksale nicht vorstellen. Er glaubte an die Exis-
tenz der Götter als perfekte Seinsformen, die „frei von aller Sorge, Unruhe und Mühe die voll-
kommenste Daseinfreude genießen“ (Otto, 1963). Um es zuzuspitzen: Die Götter waren so mit
sich und der Verwirklichung göttlicher Ideale beschäftigt, daß die Auseinandersetzung mit bana-
len irdischen Problemen unpassend war. Sie konnten sich „nicht um das kümmern, was ... ihre
Seligkeit stören oder trüben kann“ (Eckstein & Siefert, 1874).
Epikur reagierte auf seine Analyse nicht depressiv und verzagt. Konsistent mit einem seiner
wichtigsten Werte, der mitmenschlichen Gemeinschaft, war es für ihn nur logisch, daß sich die
Menschen selber um die Verwirklichung ihrer eigenen Belange kümmern mußten.
Diese Aufforderung Epikurs, für sein Leben selbst verantwortlich zu sein und autonom zu han-
deln, scheint Angst zu machen - früher wie auch heute. Das gilt nicht nur für einzelne Menschen,
sondern auch für Institutionen. Die Idee, daß Menschen sich um ihre Belange selber kümmern,
muß am Selbstverständnis der Institution „Kirche“ rütteln. Für Eckstein & Siefert z.B. sind die
Lehren Epikurs nur „dürftige psychologische Wahrheiten“ im Vergleich zur teleologischen
Betrachtung der Stoiker („Weisheit des Schöpfers“). Entsprechend ihrem Wertesystem wurde
Epikur als atheistisch uminterpretiert und angeprangert (Böhling, 1998; Otto, 1963), was ange-
sichts deren Werte zwingend erscheinen muß.
Dieser Vorwurf verdeutlicht ein Problem, das bis heute die Diskussion um den Stellenwert von
Genuß im Leben der Menschen bestimmt: Ein autonom handelnder Mensch könnte durch seine
pure Existenz den Einfluß institutioneller Autoritäten untergraben. Welche Rolle spielt Gott und
insbesondere die Institution „Kirche“ im Leben autonomer Menschen? Auch der Staat könnte
seinen (großen) Einfluß teilweise verlieren. Wenn es zwischen Genuß und Autonomie eine Be-
ziehung gibt, dann muß der Stellenwert von Genuß skeptisch machen.
Manchmal hilft ein Blick in die Nachbarschaft: Im jüdischen Glauben kommt es einer Sünde
gleich, wenn Menschen die guten Gaben Gottes, z.B. ihr Essen, nicht wertschätzen und genießen.
Ein weiterer Problembereich gipfelt im Vorwurf, Epikur bzw. die Anhänger des Epikureismus
seien Apologet(en) der Ausschweifung (Epikur, 1985, S. 308). Dieser Vorwurf beinhaltet, daß
die Kunst, sein Leben zu genießen und die lustvollen Momente im Leben als etwas Positives und
Erstrebenswertes schätzen zu lernen, automatisch mit Maßlosigkeit und uneingeschränktem
Sinnesgenuß gleichzusetzen ist. Auch heute müssen sich Menschen, die offensichtlich nach
Glück streben und Genuß als etwas Bereicherndes in ihrem Leben fest installieren wollen, vertei-
digen. Epikur formuliert selber in seinen Weisungen: „Es gibt auch im einfachen Leben Zurück-
haltung. Wer sie außer Acht läßt, dem widerfährt Ähnliches wie jenem, der aus Schrankenlosig-

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keit entartet“ (Epikur, 1985, S.93). Hier wird deutlich, daß Genuß im Sinne Epikurs eng mit
Maßhalten und einem asketischen Moment verknüpft ist.
4.2 Mehr Genuß! Mehr Faulheit! Mehr Schlendrian!

Im Vorwort wurde ausführlich der Gedankengang von Simon (1992) in einer Box dargestellt.
Ich finde ihn so treffend und so wichtig, daß ich ihn an dieser Stelle erneut erwähnen möchte.
Nach ihrem Ansatz – den ich gerne übernehme – ist das Gegenmittel gegen Überfluß und
Verschwendung nicht die Forderung nach Einschränkung und Verzicht sondern Genuß:
Simon diskutiert gesellschaftliche Probleme westlicher Industriegesellschaften (z.B. Umwelt-
zerstörung, Konsum, etc.) und das vom Club of Rome formulierte Menschenbild (z.B. Hab-
gier, Zynismus und Unfähigkeit zum Teilen). Die vorgeschlagenen Lösungsansätze, die eine
Veränderung unserer Gesellschaft hin zu einer Kultur des Verzichts, einer asketischen Welt-
kultur oder einer Ökodiktatur fordern, erscheinen ihr nicht zwingend.
Als Antwort auf die Frage nach der Lebensphilosophie derer, die so hartnäckig und dabei so
leidenschaftslos und mißmutig auf Kosten anderer und der Umwelt leben findet sie bei Max
Weber: Nicht Habgier, Eigennutz oder Hedonismus bilden nach Max Weber die moralischen
Triebkäfte der Bereicherung im Kapitalismus, sondern im Gegenteil, die „Verpflichtung des
Einzelnen gegenüber dem als Selbstzweck vorausgesetzten Interesse an der Vergrößerung
seines Kapitals“. Die Protagonisten des modernen Bürgertums waren also keine Hedonisten
mit einem luxuriösen Lebensstil, sondern „Männer mit Hingabe an den Beruf des Geldverdie-
nens“ mit einer asketisch anmutenden Lebensführung. Ihnen war Genuß fremd, ein Wohlle-
ben hatten sie sich abgewöhnt: “... nicht die uralten Schwächen Genußsucht, Bequemlichkeit
und Egoismus sind schuld an unserem maßlosen Konsum (und damit der Umweltzerstörung),
sondern die Tatsache, daß diese uns so gründlich ausgetrieben wurden. Nicht unmoralischer
Zynismus treibt uns zur Verschleuderung der Ressourcen dieses Planeten, sondern jenes
eigentümliche Ethos, das in der Hingabe an die Sache des Gelderwerbes oder des Berufs seine
Erfüllung findet ... Dadurch, daß wir unsere Bedürfnisse jedoch nicht mehr (er)kennen, wis-
sen wir auch nicht mehr, wie wir sie befriedigen können". Diese Entwicklung führte letztlich
zu einem Verlust von Erfahrungen gelebter Solidarität, von sozialem Leben und zu einer Zerstö-
rung der letzten Nischen der Faulheit, der Muße, des Nichtstuns.
Simons Schlußfolgerung: Nicht die Bekämpfung von Hedonismus oder des Genusses und die
Forderung von Enthaltsamkeit (an die sich niemand halten wird) sind angesagt, sondern „weniger
arbeiten, viel weniger, Zeit gewinnen zum Leben, jenseits von Arbeit und Konsum. Das heißt
auch: Die Arbeit aus dem Zentrum unseres Lebens vertreiben und dem Nichtstun, der Faulheit,
der Kontemplation wieder den ihnen zustehenden Platz einräumen. Doch dazu müssen wir uns
von den Zwängen der Arbeitsgesellschaft befreien“.

4.3 Irrationale Genuß-Ideen

In Diskursen und therapeutischen Gesprächen sind wunderbare Denkfehler zu identifizieren,
die den Status dysfunktionaler Kognitionen bzw. irrationaler Schemata nach Beck offiziell
ganz offiziell erhalten sollten. Die Identifizierung von irrationalen Ideen bei Depressiven ist
vergleichsweise einfach: Es sind eher einseitige Übertreibungen (z.B. Übergeneralisierung).

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In Sachen Genuß sind bipolare Konzepte auszumachen, wobei jeder der Pole durch extreme
Positionen in Sachen Genuß definiert ist, die irrationalen Genußkonzepten entsprechen. Auf
der einen Seite z.B. wird Genuß als Gegenkonzept zum Konsum abgesetzt. Das bewußte
Genießen wird als höherwertig als das wahllose Konsumieren angesetzt und ist damit dem
Banalen entrückt.
Der gegensätzliche Pol sieht Konsum als Garant für Glück und Genuß. Diese Botschaft ist
täglich in der Werbung zu hören: Genuß ist wohlfeil für wenig Geld zu kaufen. Die Werbe-
botschaft ist klar und einfach, ohne Konsum kein Genuß und keine Lebensfreude etc.. Nun ist
leicht zu begründen, daß Genußverhalten nichts mit Geld und Konsum zu tun hat (s. Vor-
wort). Aber: Natürlich ist der Erwerb von bestimmten schönen Dingen an Geld geknüpft und
wer über die entsprechenden Geldmittel nicht verfügt, kann sich den entsprechenden Konsum
und damit den entsprechenden Genuß nicht leisten. Das bedeutet, daß Konsumgüter Genu-
ßobjekte sein können.

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DENKFEHLER

In dieser Box über Denkfehler sind einige irrationale Ideen aufgelistet. Diese können aus
Platzgründen hier nicht ausgearbeitet werden; leicht sind weitere zu identifizieren. Sie mögen
für sich sprechen.

Genießer sind besondere Menschen.
  Genießer sind gute Menschen.
  Genießer sind Wollüstlinge.
  Nur ein Genuß-Mensch kann genießen.

Genuß ist eine Sache des Alters und der Zeit
  Früher war alles besser.
  In früheren Zeiten waren die Genüsse reiner und unverbrauchter.
  Wenn man älter ist, kann man nicht mehr Genießen lernen.
  Nur wer alt ist, kann Genuß schätzen.
  Nur wenn man jung und gesund ist, kann man genießen.

Genuß ist nicht käuflich.
  Konsumgüter können per se keine Genußobjekte sein.
  Genießen ist eine Sache der geistigen Einstellung.
  Der reine Genuß liegt in der Entsagung

Genuß ist abhängig von der Quantität
  Viel bringt viel. Je mehr je besser.
  Nur im Überfluß läßt sich genießen.
  Man kann nur genießen, wenn auch drum herum alles stimmt.
  Nur die Auswahl bringt Genuß. Je weniger desto besser.

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4.4 Euthyme Therapie ist keine einfache Therapie

Das Fördern von Positiva erscheint vielen Therapeuten als vergleichsweise einfache Intervention:
„Gönnen Sie sich ruhig ´mal was!“ Tatsächlich übernehmen viele Patienten eine solche Erlaubnis
zum Genuß und setzen konkrete Hilfen um, sich selber Euthymens Erleben und Verhalten zu
ermöglichen. Voraussetzung hierzu erscheint mir allerdings, daß Patienten über einen entspre-
chenden Oberplan verfügen, einen Rat annehmen zu können und sich Positiva zugestehen kön-
nen bzw. zu dürfen.
Das ist eine „gesunde Haltung“: Euthymes tut gut, es entspricht dem allgemeinen Streben nach
Positivem und der Gleichsetzung von Euthymem mit Gutem, das angenehm ist und das wir
alle wollen und mit dem auch alle, auch Patienten, leicht umgehen können bzw. leichter als
mit problematischen Inhalten.
Es entspricht allerdings einem Denkfehler auf Seiten von Therapeuten, diese Sachverhalte zu
verallgemeinern und von Patienten generell zu erwarten, daß diese mit Positiva gut umgehen
können: Wenn - so die irrationale Annahme von Therapeuten - in der Therapie schon Ange-
nehmes und Schönes thematisiert wird, dann müssen Patienten davon auch begeistert sein -
zumindest aber solche Positiva gut annehmen können. Das gilt insbesondere natürlich dann,
wenn ein Therapeut diese wohlmeinend anbietet.
Das Nichtannehmen-Können von Gutem kann aber das Problem sein.
Dieser Sachverhalt ist bei Patienten vergleichsweise häufig anzutreffen und ist nach meinem
Eindruck häufiger zu beobachten als der problemlose Umgang mit Euthymen. Vielleicht
handelt es sich auch um ein Patienten-spezifisches Phänomen, das gehäuft bei depressiven
Patienten (Kopenhöfer & Lutz, 19983) oder bei Müttern in Mutter-Kind-Einrichtungen (s.
Leicht & Lutz, in diesem Band) anzutreffen. Wenn ein Therapeut/eine Therapeutin beginnt,
Positiva zu thematisieren und z.B. Fragen zur euthymen Lebensführung anzusprechen, so
stellt sich das für solche Patienten als ein höchst problematischer Sachverhalt heraus. Bei
vielen nämlich ist Anhedonie Teil ihrer Störung. Die Beschäftigung mit Genuß bedeutet dann
die Konfrontation mit einem zentralen Problem.
Das Besprechen von angenehmen Dingen und persönlich wichtigen Wünschen führt schnell
zum Nachdenken. Nicht selten wird eine Bilanz über das bisherige Leben gezogen. „Habe ich
das an Positivem erreicht, von dem ich früher geträumt hatte?“; "Wie will ich weiterleben?"
Solche Fragen zielen auf die eigene Lebensplanung, sie sind mitunter weitreichend und oft
auch nicht einfach zu klären.
Im therapeutischen Gespräch oder in der Auseinandersetzung mit anderen Patienten, z.B.
während einer Reha-Maßnahme werden Bezüge und Normen hinsichtlich Genuß und Genie-
ßen bestimmt, mitunter werden Maßstäbe verschoben. Mein Eindruck ist, daß bei Patienten
(nur bei Ihnen?) die Meinung verbreitet ist, man tue genug für sich, vielleicht schon zu viel.
Das ist eher eine Sache des Bezugspunktes, der eigenen Norm, als der tatsächlichen Häufig-
keit euthymen Verhaltens. In den Marburger Gesundheitsstudien z.B. werden sehr viele posi-
tiv valente Skalen erhoben; Patienten erhalten hierüber Rückmeldung. Manche Patienten sind
mitunter recht überrascht, daß ihre Mitpatienten und Mitpatientinnen sich sehr viel mehr
Gutes tun und das für ganz normal halten. Ist also der eigene Standard zu niedrig?
In keinem Fall halte ich die Auseinandersetzung mit Positiva oder dem Thema Selbstfürsorge

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in einer Psychotherapie für verlorene Zeit oder für ein Meidungsverhalten. Auf eine solche
Idee kommt man nur dann, wenn der alleinige Gegenstand von Therapie eine umschriebene
Symptomatik ist.

4.5 Genuß: Zu zweit ist es schöner

Eine allgemein verbreitete Einstellung in Sachen Genuß lautet, daß Genießen selbstsüchtig
macht, die hohen Ansprüche von Genießern zu Lasten anderer gehen, kurzum, sie sind Egoisten
und dem sozialen Miteinander abhold. Ist das so?
Eine erste und grundlegende Antwort ist bei Epikur zu finden (s.o.).
Aus den unterschiedlichsten Forschungsbereichen der Psychologie wird übereinstimmend die
Bedeutung sozialer Kontakte für das menschliche Wohlbefinden hervorgehoben. Schwierige
zwischenmenschliche Beziehungen beeinträchtigen das Wohlbefinden, die positiven Seiten
menschlicher Kontaktaufnahme begünstigen Wohlbefinden. Deren große Bedeutung zeigte sich
auch in eigenen Untersuchungen: Euthymes Erleben und Verhalten, das der mitmenschlichen
Bezugnahme zuzuordnen war, stellten sich als besonders wichtig heraus. Das Vorurteil - nach
dem Genießer alleine genießen wollen, stimmt also sicher nicht: Genießer sind eher gesellige
Menschen. Bestimmte Formen euthymen Erlebens und Verhaltens sind an andere Menschen
gebunden. Ein Genuß kann es z.B. sein, daß wir uns gegenseitig von erlebten Genüssen erzählen,
oder, was noch viel wichtiger ist, Genuß gemeinsam mit anderen zusammen erleben. Stäcker
(1983) entwickelt den Gedanken, daß sich Liebende die Gunst des Genusses schenken.
An dieser Stelle möchte ich die Frage wieder aufgreifen (siehe Vorwort), ob Genuß käuflich ist.
Sicher wird jeder Leser der Aussage zustimmen, daß positive soziale Kontakte bzw. die Freude
daran nicht käuflich sind. Dennoch ist materieller Wohlstand eine günstige Voraussetzung für
subjektives Wohlbefinden. Die Ergebnisse sozialer Forschung sind eindeutig: Je höher die soziale
Schicht und damit auch das Einkommen ist, desto weniger Sorgen werden berichtet; solche
Menschen sind zufriedener und glücklicher. Sie sind weniger einsam und haben mehr Freunde
(vgl. Glatzer & Zapf, 1984; Nölle-Neumann & Köcher, 1997).

5. Innovationen als Folge der Einführung der "Kleinen Schule des
   Genießens"

5.1 Gesundheit ist unabhängig von Krankheit

Unter den verbreiteten therapeutischen Schulen wird Gesundheit und Krankheit als ein bipo-
lares Konzept beschrieben, d.h. sie werden als Gegensätze (Hambrecht, 1996) aufgefaßt.
Danach tritt eine Gesundung zwangsweise dann ein, wenn ein Symptom reduziert wird. Diese
Vorstellung ist auch alltagspsychologisch gut begründet. Wenn ich mir einen Dorn aus dem
Fuß ziehe, werden die Schmerzen nachlassen. Mit der Entdeckung von „Krankheits“-
„Erregern“ durch Pasteur und Koch ist der Gedanke der Symptomreduktion eine wohl be-
gründete und plausible Therapiestrategie. Auch in der Psychotherapie wird die Dimension
Krankheit in den Mittelpunkt gestellt (Hambrecht, 1986), Krankheit soll reduziert werden,

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damit eine Gesundung eintritt. Aktuelle Forschungsergebnisse scheinen uneingeschränkt
einen „Symptom-Reduktions-Ansatz“ zu bestätigen.
So sinnvoll ein symptom-orientierter Ansatz zur Beschreibung umschriebener Phänomene ist,
die Generalisierung einer solchen Position ist nicht nur aus einem euthymen Ansatz heraus
äußerst problematisch (s.u.). Gesundheit ist nämlich nicht die Abwesenheit von Krankheit.
Dieses Problem ist dann gelöst, wenn Gesundheit und Krankheit als zwei unabhängige psy-
chologische Konstrukte bzw. Faktoren (Lutz, 1989, 1991) begriffen werden.
Durch ein Genußprogramm oder andere Maßnahmen zur Förderung gesunder Anteile wird
eine Verbesserung auf der Dimension Gesundheit erreicht, die Dimension Krankheit bleibt
zunächst unberücksichtigt. Die Balance würde in Richtung Gesundheit verschoben, ein Pati-
ent würde sich besser fühlen. Symptomatische Beschwerden können nach einer solchen Vor-
stellung durchaus bestehen bleiben, sie haben aber nicht mehr ihren früheren Stellenwert.
Patienten werden ihre Aufmerksamkeit weniger auf ihre Beschwerden richten, diese stehen
nicht mehr im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit sich selbst oder anderen und werden
damit bedeutungsloser.

5.2 Freudvolle Therapie-Ideologie

Eine landläufige Meinung - zumindest in der älteren Generation - besagt, daß Lernen weh tun
müsse. Schulerinnerungen sind nicht immer entspannt und freudig. Viele hegen den Verdacht,
daß es schlimm enden wird, wenn es einem gut geht (Hähnen, die zu früh krähen, wird man
am Abend den Kopf abdrehen, etc.). Wir haben gelernt, daß man Probleme durch Arbeit
bewältigen muß; auch in der Therapie soll gearbeitet werden; der Therapeut strebt ein Ar-
beitsbündnis gegen die Symptome an und Patienten setzen dem Widerstand, auch ein Begriff
aus der Arbeitswelt, entgegen. Therapeut und Patient schließen ein Arbeitsbündnis - gegen
ein Symptom etc.. Arbeit wird hier als ein mehr oder weniger freudloser und belastender
Prozeß verstanden. Therapie wird aus einer solchen Position heraus als ein mehr oder weniger
schmerzhafter und anstrengender Prozeß begriffen. Keiner wird bezweifeln, daß das sehr
häufig der Fall ist.
Es ist aber zu bezweifeln, daß eine solche Position die generelle Grundlage für eine Therapie-
theorie sein kann. Es ist seit längerem bekannt, daß Lernprozesse in entspanntem Zustand
besser verlaufen als unter Streß (Bergold, 1973). Schon aufgrund dieser Befunde sollten
therapeutische Prozesse in einer wohlmeinenden und entspannten Atmosphäre stattfinden.
Kinder dürfen zwar spielen, Erwachsene aber haben zu arbeiten. Könnte gleichwohl auch für
Erwachsene und Patienten gelten, daß Freude motiviert und Hoffnung auf Erfolg die beste
Voraussetzung für eine Veränderung ist?
Freud (1960) hat zwischen Arbeitsfähigkeit auf der einen und Liebes- und Genußfähigkeit auf
der anderen Seite unterschieden. Das Anliegen an Rehabilitationsprozesse ist die Wiederher-
stellung der Arbeitsfähigkeit. In einem klassischen Rehabilitationsverständnis muß Genußfä-
higkeit als ein überflüssiger Luxus bzw. als eine unerhebliche menschliche Qualität erschei-
nen, bestenfalls als eine marginale Eigenschaft eines Patienten, nicht aber als ein Reha-
Anliegen.
Unter einem euthymen Gesichtspunkte allerdings sollten Arbeits- und Genußfähigkeit aufein-

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ander bezogen sein. So kann es ein sinnvoller Weg sein, Arbeitsfähigkeit dadurch wiederher-
zustellen, indem auch Genußfähigkeit entwickelt wird. Schon Überlegungen zur Motivation
lassen das sinnvoll erscheinen (vgl. Hoffnung auf Erfolg vs Furcht vor Mißerfolg, Heckhau-
sen, 1989).
Die Konzepte vieler psychosomatischer Reha-Kliniken sehen heute euthyme Behandlungs-
elemente vor. Die Beiträge dieses Buches zeugen davon. Für viele Behandler ist es kein Um-
weg mehr, seelische Gesundheit zu stärken. Das ist gut so: Der „Umweg-Gedanke“ darf
gedacht werden und führt wahrscheinlich zu einem besseren und nachhaltigeren Reha-Erfolg
als eine reine „Arbeits-Rehabilitation“.
Um Mißverständnissen vorzubeugen: Auch in diesem Punkt sind euthyme Ansätze kein
Allheilmittel und können keine indizierte Symptombehandlung ersetzen. Für den Einzelfall ist
zu überlegen, welcher Ansatz bzw. welche Kombination von Maßnahmen mittelfristig güns-
tiger ist.

5.3 Erweiterung der Therapietheorie

Der Ansatz der Euthymen Therapie besagt, daß eine Gesundung nicht durch eine gezielte
Symptombehandlung, sondern durch andere, nicht auf das Symptom direkt gerichtete Bemü-
hungen zu erreichen sind. Damit werden symptomorientierte Therapiestrategien nicht bedeu-
tungslos; sie sollten indikativ und nicht wenig hinterfragt als Standartmethoden eingesetzt
werden. Euthyme Therapieansätze erscheinen so „lieb“ und so wenig „handfest“, daß der
Gedanke, auch in akuten Problemsituationen auf sie zurückzugreifen, fremd anmuten mag.
Wie wirkungsvoll euthyme Interventionen auch bei akuten Beeinträchtigungen sein können,
soll am Beispiel chronischer Schmerzen verdeutlicht werden. Die Berichte von Schmerzpati-
enten sind eindrucksvoll: Im Rahmen ihrer Schmerzgruppe wird ein gemeinsames positives
Bild entwickelt (siehe Lutz, Hoch, Nifosi, in diesem Band). Etwa ¾ der Patienten berichten,
daß sie beim Gang über eine imaginierte angenehme Insel keine Beschwerden und insbeson-
dere auch keine Schmerzen hatten. Andere schildern initial große Schmerzen, beginnen
gleichwohl mit dieser Übung und verlassen (als Letzte) die Insel und berichtet, daß sie keine
Schmerzen mehr verspüren.
Im Rahmen einer erweiterten Therapie-Ideologie sind solche Interventionen überhaupt erst
denkbar. Das Konzept der euthymen Behandlungsstrategien und das Wissen um die Unab-
hängigkeit von Gesundheit und Krankheit sind wesentliche Bestandteile einer therapeutischen
Konzeption, die einen Therapeuten/eine Therapeutin veranlaßt, die positiven Wirkungen
euthymer Behandlungsstrategien einzuplanen.

5.4 Erweiterung der Begrifflichkeit

Euthym
Bereits im ersten Reader über Genuß wurde der Begriff euthym eingeführt (Lutz, 1983b). Auf der
Suche nach einem eingeführten Begriff für den angezielten psychologischen Sachverhalt war ich
nicht fündig geworden. Die Lösung aus der Kombination von zwei bekannten Wörtern („eu“
steht für „gut“, „thym“ für „Seele, Gemüt“) erschien angemessen.

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