ABPFIFF: EINE KRITISCHE BILANZ DER FUSSBALL-WM 2014 - ANALYSEN

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ABPFIFF: EINE KRITISCHE BILANZ DER FUSSBALL-WM 2014 - ANALYSEN
ANALYSEN

GESELLSCHAFT

ABPFIFF:
EINE KRITISCHE BILANZ
DER FUSSBALL-WM 2014
THOMAS FATHEUER UND CHRISTIAN RUSSAU
INHALT

Einleitung                                         2

Zwischen Protesten und Triumphalismus – 
die WM als politischer Streitfall                  3

Geschäfte, Repression und Proteste – eine Bilanz    7
Schneeballeffekt oder Gentrifizierung?              7
Infrastruktur – Versprechungen und Wirklichkeit    10
Die Fifa-WM – weniger Demokratie wagen             11
Keine Massenproteste – aber allgemeine Unruhe      14
Die anderen Proteste – der Hass der Elite          16
Die WM der Repression                              17
Nach der WM ist vor Olympia                        20
2   EINLEITUNG

    Im Oktober endete in Brasilien ein lan-       beigetragen – ob in Sieg oder Niederla-
    ges politisches Jahr: Bei den Präsident-      ge –, die Nation zu einen. Selten ist ein
    schaftswahlen wurde mit einer denkbar         Wahlkampf in Brasilien so polarisierend
    knappen Mehrheit von 51,64 Prozent            und hasserfüllt geführt worden wie der
    Amtsinhaberin Dilma Rousseff wieder-          des Jahres 2014. Die politische Polarisie-
    gewählt, das knappste Ergebnis der letz-      rung hat stattdessen ihren Teil dazu bei-
    ten Jahrzehnte. Begonnen hatte das lan-       gesteuert, dass die exorbitanten Ausga-
    ge Jahr im Juni 2013, als während des         ben für die WM nicht mehr durch einen
    Confederations Cup zur allgemeinen            nationalen Konsens getragen wurden –
    Überraschung Millionen BrasilianerInnen       wie etwa bei der WM in Deutschland
    auf die Straße gingen und protestierten.      oder sogar noch in Südafrika. Kurz vor
    Und dazwischen lag die WM – genauer           der WM befürchtete eine Mehrheit der
    gesagt: die FIFA Fußball-Weltmeister-         BrasilianerInnen sogar eher negative
    schaft Brasilien 2014™ der Männer. Das        Auswirkungen des Megaevents.
    größte Medienevent des Planeten ist so        Nun verlief die WM ohne große Proteste
    sehr wie noch nie in den Strudel unruhi-      und unter massiver Präsenz der Sicher-
    ger Zeiten geraten und selbst zum Ge-         heitskräfte weitgehend reibungslos –
    genstand von Protesten geworden, dass         wenn auch sportlich für Brasilien de-
    das Modell Fifa-WM Brasilien wohl nicht       saströs. Trotzdem sind die Fragen gültig
    unbeschadet überstanden hat. Aber hat         geblieben, die im Vorfeld der WM aufge-
    die WM auch die Wahlen in Brasilien be-       worfen wurden. In einer noch vorläufigen
    einflusst? Viele hatten geglaubt, dass ein    Bilanz wollen wir eine erste genauere
    Ausscheiden der seleção zu einer Nieder-      Schadensbesichtigung unternehmen:
    lage der Präsidentin bei den Wahlen füh-      Was hat die WM für die BrasilianerInnen
    ren könnte. Das ist nicht geschehen – die     gebracht, was für den Fußball? Hat sie
    Präsidentin mag für vieles verantwortlich     tatsächlich – wie versprochen – Entwick-
    sein, aber die Mannschaft hatte Trainer       lungsimpulse für das Land setzen kön-
    Luiz Felipe Scolari aufgestellt, nicht sie.   nen? Wer sind die Verlierer, wer sind die
    Die WM hat allerdings auch nicht dazu         Gewinner dieser WM?
ZWISCHEN PROTESTEN UND TRIUMPHALISMUS –                                                    3
DIE WM ALS POLITISCHER STREITFALL

Der Juni des Jahres 2013 hatte alles geän-    Infra­struktur. Und oft hörte man die Fra-
dert. Aus Anlass des Confederations Cups      gen: Was wird passieren, wenn Brasilien
waren Millionen auf die Straßen gegangen      vorzeitig ausscheidet? Wird sich dann
und hatten demonstriert: gegen Fahrpreis-     der Volkszorn in Unruhen oder gar Auf-
erhöhungen im öffentlichen Nahverkehr,        ständen austoben?
gegen Missstände im Gesundheits- und          Im Vergleich zu solch aufgeregten und
Erziehungssystem, aber auch gegen die         hoch gepeitschten Spekulationen ver-
exorbitanten Ausgaben für die Fußball-        lief die Weltmeisterschaft eher unauf-
WM und die Auflagen der Fifa.                 geregt – sieht man von dem sportlichen
Die Fußball-WM war im Vorfeld plötz-          GAU (aus brasilianischer Sicht) im Halbfi-
lich politisiert, und zwar nicht nur durch    nale einmal ab. Die Organisation des Tur-
eine intellektuelle Kritik, sondern durch     niers war zumindest zufriedenstellend,
Massenproteste. Diese Proteste waren          es gab keine gravierenden Pannen, Tou-
sicherlich diffus und vielleicht auch po-     ristInnen wurden nicht massakriert, und
litisch zwiespältig, aber sie stellten vie-   die Proteste erreichten nicht annähernd
le richtige und wichtige Fragen. Warum        das Ausmaß des Jahres 2013. Das hatte
muss ein Land (wie Brasilien) Milliarden      mehrere Gründe.
für ein Megaevent ausgeben, warum             Die Zeit nach den großen Protesten bis
muss man sich den Auflagen der Fifa un-       zum Beginn der WM war eine Zeit der
terwerfen? Ab Juni 2013 begleitete eine       Unruhe in Brasilien. Unzählige dezent-
lebendige und vielfältige gesellschaft-       rale Protestaktionen, aber auch größere
lich Debatte, immer wieder aufflammen-        Streiks erschütterten das Land. Im Ok-
de Proteste, aber auch eine zunehmen-         tober streikten die LehrerInnen und gin-
de Repression die Vorbereitung der WM         gen zu Hunderttausenden auf die Stra-
2014. Noch nie war eine Weltmeister-          ße, während des Karnevals streikte die
schaft derartig in den Mittelpunkt poli-      Müllabfuhr in Rio de Janeiro, und kurz
tischer Kontroversen geraten, noch nie        vor der WM legte ein Streik die U-Bahn
waren Ausgaben für eine WM so massiv          in São Paulo nahezu lahm. Auch die städ-
kritisiert worden, und noch nie war die Fi-   tischen Bewegungen für Land (MTST)
fa in einem solchen Ausmaß Gegenstand         erreichten eine neue Dimension. Beson-
öffentlicher Proteste geworden.               ders spektakulär war eine Besetzung in
Das hatte Erwartungen für die WM ge-          unmittelbarer Nähe des Itaquerão, des
weckt. Bei den Protesten in ihrem Vorfeld     WM-Stadions in São Paulo, in dem das
tauchte die Parole auf: «Não vai ter copa»    Eröffnungsspiel der WM stattfand. Etwa
(es wird keine WM geben). Nur eine Pro-       10.000 Menschen besetzten ein Grund-
vokation oder eine – je nach Perspekti-       stück und forderten Land zum Wohnen.
ve – reale Möglichkeit beziehungsweise        Staatspräsidentin Dilma Rousseff be-
Gefahr? Viele BeobachterInnen erwarte-        suchte persönlich die BesetzerInnen und
ten eine Wiederholung der Massenpro-          versprach, ihre Forderungen zu erfüllen.
teste, andere befürchteten Chaos we-          Dieses Beispiel ist symptomatisch: Vie-
gen unfertiger Stadien und mangelhafter       le soziale Bewegungen nutzten den Mo-
4   ment vor der WM, um ihre Anliegen öf-         der WM rühmt sich die Regierung, «1,19
    fentlich zu machen – oftmals mit Erfolg.1     Milliarden Reais [ca. 400 Millionen Euro]
    Es ging dabei weniger um Proteste ge-         für 117.000 Sicherheitskräfte ausgege-
    gen die WM als um die Durchsetzung            ben zu haben, dreimal mehr als bei der
    konkreter Forderungen. Offensichtlich         WM 2010».2 Nicht nur die allgegenwär-
    gab es die – durchaus nachvollziehbare –      tige Präsenz der Sicherheitskräfte und
    Einschätzung, dass die WM selbst kein         ihr oftmals brutales Vorgehen hatten ab-
    günstiger Moment für solche Mobilisie-        schreckende Wirkung, auch die von den
    rungen sei.                                   Medien ausführlich dargestellten gewalt-
    Anders als beim Confederations Cup im         samen Ausschreitungen zwischen ein-
    vergangenen Jahr wurde die politische         zelnen DemonstrantInnen und der Polizei
    Situation in Brasilien 2014 zunehmend         insbesondere in São Paulo wirkten de-
    durch die für den Oktober angesetzten         motivierend.
    Präsidentschaftswahlen geprägt. Die           Und schließlich haben sich viele Brasili-
    Schwierigkeiten bei der WM-Vorberei-          anerInnen bei aller Kritik auf den Fußball
    tung und die hohen Kosten kamen der           gefreut und wollten sich einfach amü-
    (rechten) politischen Opposition gelegen.     sieren. Mit dem Anpfiff war die Zeit der
    Sie warf der Regierung Inkompetenz vor        Proteste vorbei, die Zeit des Festes ge-
    und hatte gleichzeitig Angst, ein mögli-      kommen. Und man wollte auch vor den
    cher WM-Sieg Brasiliens könne die Amts-       zahlreichen Gästen aus dem Ausland
    inhaberin Rousseff im Wahlkampf be-           ein gutes Bild abgeben, brasilianische
    günstigen. Die Regierung ihrerseits warf      Freundlichkeit und Offenheit zelebrie-
    der Opposition eine Lust am Scheitern         ren und nicht genau in diesem Moment
    («Fracassomania») und damit eine unpa-        innenpolitische Auseinandersetzungen
    triotische Haltung vor. In dieser politisch   austragen.
    aufgeladenen Situation war es schwierig,      Das Ausbleiben von größeren Protes-
    berechtigte Proteste gegen die immensen       ten und von «Chaos» führte bei der Re-
    Kosten der WM-Stadien und die Aufla-          gierung zu einer triumphalistischen Aus-
    gen der Fifa auf die Straße zu tragen, ohne   wertung der WM. «Wir haben gesagt,
    gleich ins Fahrwasser der Propaganda der      wir werden die beste WM aller Zeiten
    rechten Opposition zu geraten. In Zeiten      haben. Und wir hatten die beste WM al-
    des beginnenden Wahlkampfs nahmen             ler Zeiten. […] Wir haben ohne Zweifel
    Proteste eine ganz andere Bedeutung an        pessimistische Voraussagen besiegt und
    als 2013. Viele politisch aktive Menschen,    haben mit der enormen, herrlichen Betei-
    die der Regierung Dilma durchaus kritisch     ligung des Volkes diese beste WM aller
    gegenüberstehen, sehen sie dennoch ge-        Zeiten organisiert», schwärmte Präsiden-
    genüber der Opposition als kleineres Übel     tin Dilma Rousseff im Juli.3
    an und verzichteten auf öffentliche Kritik.   Dieser Triumphalismus ist genauso un-
    Die WM war kein guter Moment für politi-      angebracht wie der politisch motivier-
    sche Differenzierungen.
    Sicherlich hat auch der massive Einsatz       1 Zu diesen Protesten siehe die ausführlichere Darstellung
                                                  unten, Teil 2.4. 2 Portal Brasil, 14.7.2014. 3 Zu diesem und
    von Repressionskräften dazu beigetra-         den folgenden Zitaten der Präsidentin vgl. http://globoespor-
    gen, dass der Protest weit weniger heftig     te.globo.com/futebol/copa-do-mundo/noticia/2014/07/dilma-
                                                  lamenta-derrota-da-selecao-mas-afirma-tivemos-copa-das-
    ausfiel als erwartet. In ihrer Auswertung     copas.html.
te Pessimismus vor dem Turnier. Denn          tifizieren. Und die Mannschaft nahm                                   5
die Kritik an den horrenden Kosten, an        die Herausforderung bereitwillig an:
der Vertreibung Tausender Familien aus        «Die Spieler der seleção übernahmen ab
ihren Wohnungen, an der fehlenden             dem ersten Spiel der WM die Rolle von
Nachhaltigkeit der Sportstätten, an den       ‹Rettern des Vaterlandes›, des Vaterlan-
ignoranten Auflagen der Fifa und dem          des in Fußballschuhen. Und das Singen
zweifelhaften wirtschaftlichen Nutzen         der Hymne a cappella! Überzeugt von
der WM bleibt ja bestehen. Die demons-        der Macht der medialen Inszenierung,
trativ zur Schau getragene Euphorie da-       dass sie Super-Helden seien, und einge-
nach erinnert fatal an die übertriebene       stimmt durch eine starke soziale Emotion
Siegesgewissheit vor dem Turnier. Wo-         schulterten sie die unerträgliche Last, die
mit wir beim Sport wären.                     Probleme des Landes zu überspielen.»5
Bei der WM ging es ja nicht nur um Po-        Welche Bürde die emotionale Aufla-
litik und Proteste, es wurde auch Fuß-        dung für die jungen Sportler bedeutete,
ball gespielt, und teilweise aufregender,     zeigten die Weinkrämpfe bei dem sieg-
intensiver Fußball. Zweifelsohne wird in      reichen Elfmeterschießen gegen Chile.
der Geschichte des Fußballs wie auch im       Das Gewicht der Nation lastete schwer,
nationalen Gedächtnis Brasiliens das 1:7      zu schwer auf den Schultern der jungen
im Halbfinale gegen Deutschland eine          Spieler.
überragende Stellung einnehmen. Wie           Die brasilianischen Fußballfunktionäre
konnte das nur passieren? Ist dies eine       hatten nichts getan, um der Überfrach-
rein fußballerische Angelegenheit, oder       tung entgegenzuwirken. Ganz im Gegen-
hat die Niederlage mit dem Zustand des        teil. Im Vorfeld der WM zeigten sie sich
Landes zu tun? Sagt sie uns nur etwas         von einer unglaublichen Weltfremdheit
über die brasilianische Mannschaft aus        und Arroganz. Gefragt, ob er sich vor-
oder auch etwas über die Nation?              stellen könne, auch einen ausländischen
«Brasilien vom Fußball aus zu denken»,        Trainer für die seleção zu engagieren,
das hat im Land selbst eine lange Tradi­      antwortete José Maria Marin, der Präsi-
tion.4 Zwar mag der Fußball Brasilien         dent des brasilianischen Fußballverban-
nicht erklären, aber er war immer eine        des CBF: «Ich kann versichern, dass wir
«Art und Weise, mit der die Nation vor-       nichts von einem Ausländer lernen kön-
zugsweise ihre Rechnungen mit sich            nen, insbesondere beim Fußball. Wir hat-
selbst ritualisiert», stellte José Wisnik     ten immer die Besten der Welt in Brasi-
fest, einer der einflussreichsten Interpre-   lien. Wir haben schon fünfmal die WM
ten des brasilianischen Fußballs. Nach        gewonnen.» Und der Technische Direk-
der heftigen Niederlage wollten Trai-         tor der brasilianischen Mannschaft, Car-
ner und Fußballverband aber nichts von        los Alberto Parreira, verkündete: «Der
weitreichenden Erklärungen wissen, für        Weltmeister ist gekommen. Wir haben
sie war es nur ein Blackout von sechs Mi-     die Hand am Pokal. Die CBF ist das Brasi-
nuten, der die jahrelangen Erfolge nicht
ausradieren könne. Nun wollte man leug-       4 Mehr dazu und zu den politischen Ereignissen vor der WM
                                              in: Dilger, Gerhard u. a. (Hrsg.): Fußball in Brasilien. Widerstand
nen, was man seit dem Confederations          und Utopie, Hamburg 2014. 5 Dieses Zitat – wie auch die fol-
Cup stets getan hatte: das brasilianische     genden – stammt aus einer Analyse von Jorge Luiz Souto Ma-
                                              ior; vgl. http://blogdaboitempo.com.br/2014/07/17/moral-da-
Team, die seleção, mit der Nation zu iden-    copa-a-fantasia-clama-pela-racionalidade/.
6   lien, das Erfolg hat.» Solche Siegesrheto-    derlage unbeschadet überstanden, le-
    rik wurde täglich im Fernsehen reprodu-       diglich Trainer Felipe Scolari (der die WM
    ziert und verstärkt. Emotionalität wurde      noch als fußballerischen Erfolg verkau-
    zum letzten gedanklichen Horizont, wie        fen wollte) musste gehen; aber die Er-
    der argentinische Philosoph Pablo Ala-        nennung von Carlos Dunga, der schon
    barces treffend konstatierte. Dadurch         bei der WM 2010 eine glanzlose Mann-
    ging jedes Gefühl für eigene und fremde       schaft trainiert hat, ist sicherlich kein Sig-
    Schwächen und Stärken verloren.               nal für einen neuen Aufbruch.
    Der Versuch von Funktionären, Medien          Und auch in der Politik ist nach den mar-
    und Trainer, die offensichtlichen Defizi-     kigen Ankündigungen der Alltag einge-
    te der brasilianischen Mannschaft durch       kehrt und wird die Niederlage rhetorisch
    emotionale Aufladung zu kompensie-            aufgelöst. In der bereits zitierten WM-
    ren, funktionierte nur bis zum Spiel ge-      Auswertung von Präsidentin Rousseff
    gen Deutschland. «Die Verkleidung, die        kommt sie auch kurz auf den Fußball zu
    so sehr eingesetzt worden war, rächte         sprechen: «Wir hatten da ein Problem,
    sich und brachte die Realität zurück ins      das war unser Spiel gegen Deutsch-
    Spiel: ‹Deutschland 7, Brasilien 1›. Der      land. Aber ich glaube, dass alles im Le-
    Hochmut, die technischen Mängel, die          ben Überwindung ist. Ich glaube, dass
    fehlende Organisation, die exzessive          die Zeile aus einem Samba von Paulo
    Verbindung des Fußballs mit Politik und       ­Vanolini, ‹Steh auf, schüttele den Staub
    Kommerz führten zu dieser historischen         ab und komm wieder hoch›, uns ein Bei-
    Schmach. Aber das war notwendig, nur           spiel geben sollte angesichts dessen,
    ein GAU konnte Brasilien aus dem tiefs-        was geschehen ist.»
    ten Abgrund der Irrationalität herausho-       Damit will sich die rechte Opposition
    len, in dem es sich befand.»                   nicht zufriedengeben und versuchte,
    Die Einschätzung, dass derbe 1:7 sei ein       die Niederlage für einen Angriff auf die
    Einbruch des Realitätsprinzips in eine         Regierung zu nutzen. Charakteristisch
    Welt der Überheblichkeit und fragwürdi-        hierfür ist die Äußerung einer brasiliani-
    ger Inszenierungen gewesen, eröffnet ei-       schen Dolmetscherin nach dem 1:7, die
    ne optimistische Perspektive: Die Realität     das deutsche Fußballmagazin 11 Freun-
    zu erkennen ist der erste Schritt zur Ände-    de veröffentlichte: «Das war mehr als
    rung. Dies erhofft sich auch Juca Kfouri,      nur ein Fußballspiel. Es ist der Endpunkt
    der vielleicht wichtigste Fußballkommen-       in der Geschichte von brasilianischen
    tator Brasiliens: «Das Vermächtnis der         Schwindlern, die meinen, ihr Geld zu ver-
    WM für den brasilianischen Fußball muss        dienen, ohne zu schwitzen, die Staats-
    die dringende Reform seiner Methoden           männer werden wollen, ohne ein Stu-
    und Organisation sein und damit die De-        dium zu absolvieren.» Eine deutliche
    mokratisierung seiner Praktiken.» Dem          Anspielung auf Brasiliens Ex-Präsidenten
    stimmte Präsidentin Dilma Rousseff zu:         Lula, den die Opposition immer wieder
    «Die große Lektion der WM ist die Not-         als Semi-Analphabeten zu diffamieren
    wendigkeit, den Fußball zu reformieren.»       versuchte. So ist es also nun für manche
    Den großen Worten sind bisher keine Ta-        nicht mehr die Nation, das Team oder der
    ten gefolgt. Die Spitzenfunktionäre des        Verband, die auf dem Spiel und in der Kri-
    brasilianischen Fußballs haben die Nie-        tik stehen, sondern die Regierung.
GESCHÄFTE, REPRESSION UND PROTESTE –                                                                             7
EINE BILANZ

Schneeballeffekt                             und die renommierte Unternehmensbe-
oder Gentrifizierung?                        ratung Ernst&Young erstellt haben. Sie
Sportliche Megaevents werden üblicher-       wurden im Vorfeld der WM immer wie-
weise nicht primär mit ihrem Spaßfak-        der zitiert und als Beleg für die positiven
tor gerechtfertigt, nein, sie sollen einen   Effekte herangezogen.6
Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung         Eine fundierte Analyse der wirtschaft-
des Austragungslandes leisten. Sie sei-      lichen Effekte der WM liegt bisher (Ok-
en nicht nur ein vorübergehendes Fest,       tober 2014) nicht vor. Dennoch lassen
sondern hinterließen ein dauerhaftes «Er-    sich – gerade angesichts der so hoch ge-
be» im Land und leisteten einen Beitrag      schraubten Erwartungen – einige erste
zu dessen wirtschaftlicher Entwicklung.      Schlussfolgerungen ziehen.
Nun sind die Auswirkungen der letzten        Ein positiver makroökonomischer Ef-
beiden Weltmeisterschaften (in Deutsch-      fekt der WM ist bislang nicht feststell-
land und Südafrika) auf Ökonomie und         bar. Statt von einem Schneeballeffekt zu
Infrastruktur recht eingehend untersucht     profitieren, weist die brasilianische Wirt-
worden, und es herrscht Konsens, dass        schaft ausgerechnet 2014 die niedrigs-
positive Effekte – wenn sie überhaupt zu-    ten Wachstumsraten seit Langem auf,
verlässig feststellbar sind – sehr gering    die industrielle Produktion geht zurück.
oder eher lokal sind. Das sollte in Brasi-   Der kleine Schneeball WM ist offensicht-
lien alles ganz anders werden. Im «Vater-    lich in der makroökonomischen Hitze
land der Fußballschuhe» erschien es zu-      ganz schnell und folgenlos geschmol-
mindest glaubwürdig, dass, anders als in     zen. Schlimmer noch, ausgerechnet der
Südafrika, die fußballbegeisterte Bevöl-     brasilianische Wirtschaftsminister Gui-
kerung die Stadien auch nach der WM          do Mantega macht nun die WM für die
nutzen könnte. Aber die Regierung woll-      enttäuschende ökonomische Perfor-
te und versprach viel mehr. «Die Ökono-      mance verantwortlich. In dem Versuch,
mie wird sich wie ein Schneeball entwi-      das schlechte Abschneiden der brasilia-
ckeln und in der Lage sein, den Effekt der   nischen Wirtschaft im 2. Quartal 2014 zu
Investitionen zu vervierfachen. Über die     erklären (0,6 Prozent Rückgang des Brut-
22 Milliarden Reais hinaus, die in die In-   toinlandsprodukts), führte Mantega die
frastruktur der WM investiert werden,        zusätzlichen Feiertage während der WM-
sollte die WM 112,79 Milliarden Reais in     Spiele als einen Grund an.7
die Wirtschaft einspeisen. Von 2010 bis      Das mag nun stimmen oder nicht, be-
2014 erwarten wir 3,63 Millionen neue        merkenswert ist jedenfalls, dass im
Arbeitsplätze und 63 Milliarden Reais an     Quartal, in dem die WM stattfand, die
zusätzlichen Einkommen für die Bevölke-      brasilianische Wirtschaft schrumpfte.
rung.»                                       Aber eine WM bringt natürlich TouristIn-
Diese fantastischen Zahlen stammen
nicht aus einer Propagandaschrift der        6 Vgl. http://fgvprojetos.fgv.br/sites/fgvprojetos.fgv.br/files/­
Regierung, sondern aus einem Gutach-         estudo_9.pdf. 7 Vgl. www1.folha.uol.com.br/mercado/­
                                             2014/08/1507858-mantega-diz-que-pib-ficou-abaixo-do-
ten, das die Fundação Getulio Vargas         esperado-e-que-vai-rever-estimativas.shtml.
8   nen ins Land. Hat also wenigstens die-        eine kontinuierliche Nutzung des Stadi-
    ser Sektor profitiert? Unbestritten stei-     ons ist nicht in Sicht. Zwar verlegen die
    gen die Besucherzahlen anlässlich von         populären Clubs aus Rio de Janeiro wie
    Weltmeisterschaften deutlich an, insbe-       Flamengo oder Fluminense gelegentlich
    sondere in Städten, die sonst nicht am        ihre Spiele in die Hauptstadt, aber die-
    internationalen Massentourismus teil-         se Gastspiele und einige Rockkonzerte
    haben. Dies ist auch in Brasilien passiert.   werden allenfalls die laufenden Kosten
    Aber die Gesamtbilanz ergibt ein überra-      begleichen können. «Im ersten Jahr seit
    schendes Bild. Zwar nahm die Zahl der         der Einweihung erzielte das Stadion Ein-
    TouristInnen in Brasilien stark zu, und       nahmen von 1,37 Millionen mit 30 Fuß-
    das zuständige Ministerium preist deren       ballspielen und Shows, darunter einer
    Konsumfreudigkeit (1,58 Milliarden Re-        mit Beyoncé […]. So wird es genau 1167
    ais) als großen Erfolg. Aber zur gleichen     Jahre dauern bis zur Amortisierung der
    Zeit stiegen auch die Ausgaben der bra-       Baukosten.»9
    silianischen TouristInnen im Ausland –        Die Gelder für die neue Spielstätte kamen
    und die Bilanz ist negativ. Denn in den       zu 100 Prozent aus öffentlichen Mitteln.
    beiden Monaten der WM gaben brasi-            Das Stadion Mané Garrincha bündelt
    lianische TouristInnen im Ausland 4,41        somit die zentralen Probleme bei vielen,
    Milliarden Reais aus.8 Die Weltmeister-       aber keineswegs allen neuen Stadien: ex-
    schaft als Förderung der heimischen           plodierende Baukosten, fehlende dauer-
    Wirtschaft – bisher ist dies durch Zahlen     hafte wirtschaftliche Nutzung, und das
    nicht zu belegen.                             alles zulasten der öffentlichen Hand.
    Auch die vielfach vorgebrachte Kritik an      Arena da Amazônia in Manaus: Die
    den überteuerten Stadienbauten ist nach       Schönheit hat 669,5 Millionen Reais ge-
    dem Turnier nicht obsolet. Tatsächlich        kostet, auch hier alles öffentliche Mittel.
    haben die enormen Kosten der Baupro-          Weil keiner der Clubs aus Manaus dort
    jekte entscheidend dazu beigetragen,          Fußball spielt, will die Landesregierung
    dass die WM in Brasilien die teuerste al-     das Stadion an private Investoren über-
    ler Zeiten wurde. Drei Beispiele mögen        geben. Eine Studie über die mögliche
    das verdeutlichen                             Nutzung der Arena ist in Auftrag gege-
    Das Nationalstadion Mané Garrincha in         ben – bei Ernst&Young, denselben, die
    Brasília: Die Baukosten von 1,78 Milliar-     den Schneeballeffekt voraussagten. Sie
    den Reais haben das Stadion der Haupt-        jedenfalls gehören zu den Profiteuren der
    stadt zu dem teuersten der WM und ei-         WM, eine Million kostet allein das Gut-
    nem der teuersten der Welt gemacht.           achten, das bis Ende August vorliegen
    Allerdings herrscht kein Konsens über         sollte, aber bis jetzt (Oktober 2014) nicht
    die tatsächlich ausgegebene Summe,            veröffentlicht wurde. Aufschlussreich
    die hier genannte Zahl stammt vom Lan-        auch, dass ein Gutachten für die wirt-
    desrechnungshof Brasílias (DF), die Re-       schaftliche Nutzung des Stadions erst
    gierung selbst gibt «nur» Kosten in Höhe      jetzt erarbeitet wird.
    von 1,4 Milliarden Reais zu. Ursprüng-
                                                  8 Vgl. http://g1.globo.com/economia/noticia/2014/08/gasto-
    lich geplant waren 631 Millionen Re-          de-estrangeiros-no-brasil-sobe-60-na-copa-e-bate-recorde.
    ais. Keiner der Fußballvereine in Brasília    html. 9 Vgl. http://copadomundo.uol.com.br/noticias/reda-
                                                  cao/2014/04/04/estadio-mais-caro-da-copa-pode-levar-mil-
    spielt in einer der drei nationalen Ligen,    anos-para-recuperar-custo-ao-df.htm.
Maracanã in Rio de Janeiro: Das berühm-        wie die Milliardensummen helfen sollten,                           9
teste Stadion Brasiliens, Schauplatz des       die Krise des brasilianischen Fußballs zu
Endspiels, wurde zur WM für sagenhaf-          überwinden. Auch in der Meisterschaft
te 1,1 Milliarden Reais umgebaut. Da-          2014 kommt die erste brasilianische Liga
bei war es bereits für die Pan-Amerika-        nicht über einen Zuschauerschnitt von
nischen Spiele 2007 komplett saniert           15.844 pro Spiel hinaus (Stand: Anfang
worden (Kosten 428 Millionen Reais),           Oktober 2014). 10 Das liegt zwar leicht
verbunden mit dem Versprechen, es sei          über dem Wert von 2014 (14.955), aber
dann schon fertig, falls Brasilien den Zu-     deutlich unter dem besten Wert der letz-
schlag für die Weltmeisterschaft 2014 er-      ten zehn Jahre, 17.807 im Jahr 2009.
halten sollte. Der Umbau des Maracanã          Die brasilianischen Fußballfunktionä-
illustriert eine Entwicklung, die man als      re weisen darauf hin, dass die Durch-
Gentrifizierung bezeichnen kann und            schnittszahlen in den neuen Stadien hö-
die viele Fußballfans ablehnen: Die Zu-        her sind als in den alten – aber liegt das
schauerkapazität sank von ursprünglich         an den Spielstätten oder an den Verei-
180.000 auf knapp 75.000, die Stehplät-        nen, die dort spielen? Die populärsten
ze fielen weg, dafür baute man zahlreiche      Clubs Brasiliens (Flamengo, Fluminense
Luxuslogen ein.                                und Corinthians) spielen in neuen Stadi-
Auch der Umbau des Maracanã wur-               en, den augenblicklichen Zuschauerre-
de selbstredend mit öffentlichen Gel-          kord hält aber der FC São Paulo im «al-
dern finanziert. Seine wirtschaftliche         ten» Morumbi-Stadion, das für die WM
Nutzung hat die Stadtregierung nun             nicht in Betracht gezogen wurde.11
aber einem privaten Konsortium über-           Während die Zuschauerzahlen weiterhin
geben, das jährlich fünf Millionen Reais       auf niedrigem Niveau vor sich hin düm-
an die Staatskasse überweist und sich          peln, sieht es bei den Einnahmen und Ti-
verpflichtete, 600 Millionen Reais in das      cketpreisen ganz anders aus. Seit 2002
Umfeld der Sportstätte zu investieren,         stiegen die Eintrittspreise um 478 Pro-
unter anderem für den Bau eines Shop-          zent (zum Vergleich, die Inflationsrate lag
pingcenters. Allerdings sind die dafür         im selben Zeitraum bei 98,13 Prozent), al-
notwendigen Abrissmaßnahmen durch              lein im Jahr 2014 um stolze 15 Prozent.
Proteste verhindert worden, sodass die         Der durchschnittliche Eintrittspreis liegt
Erfüllung dieses Teils des Vertrages unsi-     inzwischen bei 51 Reais (17 Euro), viel
cher ist.                                      Geld in Brasilien. Wenn die WM hier ei-
Der Bau der Stadien für die WM in Bra-         nen messbaren Effekt hat, dann ist es
silien war in die Logik des Megaevents         wohl die weitere Forcierung der «Elitisie-
eingebettet. Die enormen Ausgaben für          rung» des Fußballs.12
zwölf Stadien (mehr als die Fifa forderte)
sind nur als Teil eines nationalen Prestige-
projekts verständlich – und gerade des-
                                               10 Vgl. http://globoesporte.globo.com/futebol/brasileirao-
halb umstritten. Sie sind – von einigen        serie-a/publico-brasileirao.html. 11 Eine Übersicht über die
Ausnahmen wie São Paulo oder Porto             letzten zehn Jahre findet sich unter: http://globoesporte.globo.
                                               com/platb/olharcronicoesportivo/2013/12/18/renda-recorde-
Alegre abgesehen – nicht mit den Struk-        publico-nem-tanto-o-brasileirao-2013/. 12 Eine Übersicht gibt
turen des lokalen Fußballs verknüpft,          es unter: http://oglobo.globo.com/esportes/distante-do-pad-
                                               rao-copa-futebol-brasileiro-ve-preco-dos-ingressos-disparar-
und es ist nicht ersichtlich, warum und        361-em-10-anos-13331403#ixzz3FFLHZdXK).
10   Infrastruktur –                               der Bevölkerung geht? Die Proteste des
     Versprechungen und Wirklichkeit               Jahres 2013 jedenfalls richteten sich ge-
     Nach der letzten offiziellen Schätzung        gen die Misere des öffentlichen Nahver-
     aus dem Hause des Sportministers be-          kehrs, nicht gegen überfüllte Flughäfen.
     laufen sich die Gesamtausgaben für die        Eigentlich sollte der öffentliche Nahver-
     WM auf 28 Milliarden Reais, eine End-         kehr von den Investitionen in die Verbes-
     abrechnung liegt bis heute nicht vor. Ne-     serung der städtischen Mobilität profi-
     ben den wichtigsten Posten – 8,9 Milliar-     tieren. Hier ist die Bilanz nicht eindeutig
     den Reais für die städtische Infrastruktur,   und etwas unübersichtlich. Offensicht-
     8,4 Milliarden für Flughäfen, 7,6 Milliar-    lich priorisierte die Regierung Investitio-
     den für die Stadien und 1,6 Milliarden für    nen in Stadien- und Flughafenbau, weil
     die Sicherheit – kommen noch Ausga-           diese unabdingbar für einen reibungslo-
     ben für Telekommunikation, Hafenaus-          sen Verlauf der WM waren. Von den ur-
     bau und touristische Leistungen hinzu.        sprünglich vorgesehenen 50 Infrastruk-
     Davon sollen, wieder nach den Angaben         turprojekten (Liste der Bundesregierung)
     des Sportministeriums, lediglich 5,6 Mil-     wurden nur 32 wirklich umgesetzt. Nach
     liarden, also etwa 20 Prozent aus priva-      Angaben der WM-Ausrichterstädte wur-
     ten Quellen stammen, der Rest ist staat-      den 74 Projekte bis zur Eröffnung der
     lich finanziert.                              WM fertiggestellt, 46 blieben unvollen-
     Als Brasilien den Zuschlag für die Aus-       det. Die höhere Zahl kommt zustande,
     richtung der WM erhielt, hörte sich das       weil die Städte große Projekte in mehre-
     ganz anders an. Der damalige Präsident        re kleine aufgeteilt haben. Wichtige und
     Lula verkündete, dies werde eine WM           pompös angekündigte Vorhaben wie ein
     der Privatinitiative werden, und der da-      Schnellbus-System auf Schienen (VLT)
     malige Sportminister von der Kommunis-        in Manaus und Brasília erblickten eben-
     tischen Partei Brasiliens (PCdoB), Orlan-     so wenig das Licht der Welt wie eine Ex-
     do da Silva, versprach sogar, die Stadien     presslinie zwischen dem Flughafen und
     ohne eine einzigen Cent öffentlichen Gel-     dem Zentrum in São Paulo.
     des bauen zu lassen. Am Ende waren es         Ein erhellendes Beispiel für die Schwie-
     nicht einmal 10 Prozent, die private Geld-    rigkeiten, die mit Investitionen in urbane
     geber beisteuerten.                           Mobilität verbunden waren, bietet Salva-
     Ein großer Teil der Ausgaben für Infra-       dor da Bahia, die drittgrößte Stadt Brasili-
     struktur floss in den Ausbau der Flughä-      ens.13 2010 stellte man dort das Konzept
     fen. Wer den Flughafen von São Paulo,         für eine Schnellbuslinie auf einer eigenen
     immerhin die größte Stadt Südameri-           Fahrbahn (Bus Rapid Transit, BRT) vor.
     kas, kennt, wird die Notwendigkeit von        Über eine Milliarde Reais sollten in das
     Investitionen in dessen Modernisierung        Projekt fließen. Der Vertrag war unter-
     kaum bezweifeln. Aber diese bestand           zeichnet, als eine neue Landesregierung
     unabhängig von der WM. Flughafenmo-           2011 die Pläne änderte: Statt des BRT
     dernisierung ist heute ein weitgehend         sollten nun die schon 1997 begonne-
     akzeptierter Teil einer nationalen Investi-   nen Arbeiten an einer U-Bahn beschleu-
     tionsagenda in Schwellenländern – aber        nigt und ausgeweitet werden. Aufgrund
     ist sie vorrangig, wenn es um die Verbes-     13 Vgl. http://osvaldocampos.blogspot.de/2013/08/salvador-
     serung der Lebenssituation der Mehrheit       qual-o-legado-da-copa.html.
konkurrierender Projekte und umstritte-       (als Gastgeber) ein ganzes Paket von Ge-                    11
ner Zuständigkeiten dauerte es bis zum        setzen erlassen (Lei Geral da Copa), um
Mai 2013, bis die Ausschreibung erfolg-       die nationale Gesetzgebung an die An-
te. Die Kosten beliefen sich inzwischen       forderungen der Fifa anzupassen. Der
auf über drei Milliarden Reais, Beginn der    Verkauf von alkoholischen Getränken in
Bauarbeiten war Oktober 2013. Für die         den Stadien etwa – ansonsten verboten –
WM war das natürlich zu spät, jetzt ist die   wurde wieder erlaubt, gesetzliche Rabat-
Fertigstellung für Oktober 2017 geplant.      te für bestimmte Bevölkerungsgruppen
Am 11. Juli 2014 schaffte es Präsidentin      (StudentInnen, Behinderte) mussten auf-
Dilma Rousseff wenigstens, ein zwölf Ki-      gehoben werden, und die Fifa und de-
lometer langes Teilstück für den Testbe-      ren Dienstleister erhielten die geforderte
trieb freizugeben. Schnellbus und Metro       Steuerfreiheit. Der brasilianische Staat
aber verschwinden aus der Liste der In-       musste sich zudem verpflichten, die
frastrukturmaßnahmen für die WM, für          Durchsetzung des intellektuellen Eigen-
Salvador blieben 20 Millionen Reais für       tums der Fifa (nur Originaltrikots dürfen
die Verbesserung des Stadionumfelds –         verkauft werden) zu garantieren und die
das ist nicht einmal die Hälfte der 43 Mil-   Kosten dafür zu übernehmen, sowie da-
lionen, die das Fünf-Sterne-Hotel She-        für Sorge tragen, dass in einem Umkreis
raton Bahia für eine Erweiterung seiner       von zwei Kilometern rund um die Stadien
Bettenkapazitäten erhielt.                    und andere Veranstaltungsorte nur die
Nicht überall lief es so schlecht wie in      Produkte der Fifa-Sponsoren vermarktet
Salvador, aber die WM wird sicherlich         wurden.
kein Meilenstein in der Geschichte des        Für den Bau der Stadien ist nicht direkt
öffentlichen Verkehrs in Brasilien sein.      die Fifa verantwortlich, aber sie macht ei-
                                              ne Reihe von Vorgaben, die das Wie des
Die Fifa-WM –                                 Stadionbaus betreffen. So muss jedes
weniger Demokratie wagen                      Stadion für die Fifa mindestens eine ex-
Die Proteste des Jahres 2013 waren            klusive Lounge mit Sofa und hochwer-
wohl die ersten Massenproteste, die sich      tigen Sesseln für den Fifa-Präsidenten,
(auch) direkt gegen die Fifa richteten.       VIP-Lounges für 550 (während der Grup-
Bei Umfragen zu ihren Motiven nann-           penphase) bzw. für 1.730 geladene Fifa-
ten 30,9 Prozent der Protestierenden die      Gäste (beim Eröffnungsspiel, den Halbfi-
enormen Ausgaben der WM als einen             nalbegegnungen und dem Finale) sowie
der wichtigsten Gründe.                       eine ausreichende Zahl von Parkplätzen
Aber es ging nicht nur um Geld, sondern       zur Verfügung stellen.14 Die Anforderun-
um das Geschäftsmodell der Fifa als sol-      gen der Fifa bezüglich Stadien, Zufahrts-
ches, das einer breiten Öffentlichkeit erst   wegen und Flughafenausbau fasste der
im Verlauf der WM-Vorbereitungen nach         Volksmund im Ausdruck padrão Fifa (Fi-
und nach deutlich wurde. Das Grundprin-       fa-Niveau) zusammen. Bei den Protesten
zip lautet: Alle Kosten für die Durchfüh-     avancierte die Bezeichnung zu einem ge-
rung einer WM trägt das Gastgeberland,        flügelten Wort; auf unzähligen Transpa-
alle direkten Einnahmen (Fernsehrechte,
Sponsoren, Ticketverkauf) fließen in die      14 Vgl. http://de.fifa.com/mm/document/tournament/com-
                                              petition/51/54/02/football_stadiums_technical_recommenda-
Taschen der Fifa. Zudem muss Brasilien        tions_and_requirements_de_8212.pdf, S. 134.
12   renten forderte man padrão Fifa auch für       Nerven, sondern auch Verzögerungen
     Schulen und Krankenhäuser.                     bei den Bauprojekten und Reibereien mit
     Erst in der gesellschaftlichen Debatte         der Regierung. In diesem Kontext ließ
     um das Megaevent erkannten viele Bra-          sich Fifa-Generalsekretär Jérôme Valcke
     silianerInnen, dass die WM nicht einfach       zu einer bemerkenswerten Äußerung
     ein großes Fußballfest ist, bei dem natür-     hinreißen. «Das mag jetzt vielleicht ver-
     lich auch Geld verdient wird, sondern ein      rückt klingen, aber manchmal ist weniger
     knallhartes und durchstrukturiertes Ge-        Demokratie bei der Planung einer WM
     schäftsmodell, das auf den Profit der Fifa     besser. Wenn es ein starkes Staatsober-
     ausgerichtet und dem das Sportereignis         haupt mit Entscheidungsgewalt gibt,
     selbst untergeordnet ist. Die Fifa besitzt     vielleicht wie Putin sie 2018 hat, ist es
     die Rechte am größten globalen Event,          für uns Organisatoren leichter als etwa in
     das Gastgeberland ist reiner Zulieferer        Ländern wie Deutschland, in denen auf
     und kann sich mit vagen Hoffnungen auf         verschiedenen Ebenen verhandelt wer-
     «positive Effekte» (Tourismus, Imagege-        den muss», sagte Valcke am 23. ­April
     winn) trösten. Die Narrative vom Sport         2013. Auch in Brasilien habe die politi-
     als Entwicklungsmotor sind demgegen-           sche Struktur Probleme bereitet. «Es gibt
     über nachgeschoben, und die Rede von           verschiedene Personen, Bewegungen
     den dauerhaften positiven Effekten (dem        und Interessen, und es ist es durchaus
     «Erbe») ist lediglich ein Legitimationsdis-    schwierig, in diesem Rahmen eine WM
     kurs.                                          zu organisieren.»16
     Es ist das große Verdienst der Proteste        Diese Äußerung hat für eine Welle der
     und der gesellschaftlichen Debatte, die        Empörung gesorgt und Jérôme Valcke
     durch sie verstärkt wurde, dass die Kritik     (auch aufgrund anderer Aussagen, in be-
     am Modell Fifa-WM weit über den Kreis          sonderer Erinnerung ist hierbei das Wort
     der üblichen Verdächtigen hinausging,          von dem «Tritt in den Hintern» geblieben,
     sogar in die Welt der SportjournalistIn-       den Brasilien angesichts des Zeitver-
     nen vordrang und zu überraschenden             zugs bei den Stadienbauten nötig habe)
     Umfrageergebnissen führte: Eine Mehr-          zu einem der meistgehassten Männer
     heit der BrasilianerInnen lehnte vor der       in Brasilien gemacht. Aber gerade die
     WM diese Art von Fußballevent (nicht           WM in Brasilien hat gezeigt, dass Valcke
     den Fußball an sich) ab. Noch vor Anpfiff      in dem einen Punkt durchaus recht hat:
     des ersten Spiels stellte daher der brasili-   Megaevents wie die Fifa-WM geraten
     anische Journalist Sergio da Motta fest,       immer mehr in Konflikt mit demokrati-
     das wichtigste Erbe dieser WM würden           schen Strukturen. Die strikten Vorgaben
     nicht die Stadien sein, sondern «der ko-       und der erhebliche Termindruck lassen
     lossale Protest des brasilianischen Vol-       für öffentliche Debatte, für Partizipation
     kes gegen die politischen Verhältnisse         und demokratische Entscheidungsfin-
     und die Schäden, die die Fifa anrichtet,       dung keinen Platz. Es gehört zu den tra-
     indem sie die WM in ein Fest für Eliten        gischen Aspekten dieser WM, dass ei-
     und reiche Touristen verwandelt».15
     Der Fifa gingen nicht nur die Proteste         15 Vgl. http://observatoriodaimprensa.com.br/news/view/_
     und die – vorsichtig formuliert – zurück-      ed752_presidente_da_fifa_menosprezou_protestos_no_bra-
                                                    sil. 16 Vgl. www.handelsblatt.com/fussball-wm-valcke-weni-
     haltende Stimmung in Brasilien auf die         ger-demokratie-bei-planung-hilfreich/8119136.html.
ne eigentlich linksgerichtete Regierung         2013 demonstrativ gelassen gegeben                               13
sich zur Durchführung eines nationalen          und versichert hatte, dass «Fußball stär-
Prestigeprojekts der Fifa und dem brasi-        ker ist als die Unzufriedenheit der Men-
lianischen Fußballverband CBF ausge-            schen», waren Fifa und CBF während des
liefert hat. Dabei galt Ex-Präsident Lula       Turniers äußerst nervös – wie sehr, das
bei seinem Regierungsantritt durchaus           zeigt eine kleine Anekdote. Als Deutsch-
als Kritiker der mafiösen Strukturen, die       land im Halbfinale das 4:0 gegen Brasili-
CBF und Fifa dominieren. Die CBF wur-           en erzielte, machte sich Angst im Hotel
de damals von Ricarado Teixeira geleitet,       Copacabana Palace breit, dem Haupt-
dem Schwiegersohn von João Havelan-             quartier der Fifa in Rio. Die Funktionäre
ge, der während seiner Amtszeit das bis         forderten umgehend mehr Sicherheits-
heute gültige Geschäftsmodell der Fifa          kräfte, und noch am selben Tag wurden
etabliert hatte. Sepp Blatter baute seine       diese tatsächlich verstärkt. Marin hat-
Karriere als Generalsekretär von Have-          te 2013 schlimme Ahnungen gehabt.
lange auf.                                      «Wir werden alle in die Hölle fahren,
Um die WM nach Brasilien zu holen,              wenn Brasilien nicht gewinnt.» 18 Dazu
musste Lula Frieden mit der Fifa/CBF-           ist es nicht gekommen, die Hölle muss
Mafia schließen. Der bekannte Fifa-Kriti-       noch etwas warten. Nach dem 1:7 kam
ker und investigative Journalist Andrew         es zwar zu vereinzelten Zwischenfällen,
Jennings wählte für diese Unterwerfung          aber der große Volksaufstand blieb aus.
drastischere Worte. Jörg Vollmüller, der        Die meisten BrasilianerInnen reagierten
Chef der Handelsabteilung der Fifa, dro-        mit stummer Trauer oder Sarkasmus auf
he «Regierungen, die sich nicht der Fifa        die Niederlage. Dafür zeigten sich Sepp
beugen wollen. ‹Küss den Hintern von            Blatter und Jérôme Valcke am Tag nach
Blatter, oder ihr werdet keine WM ha-           dem Endspiel froh und sichtlich erleich-
ben.› Und so sah sich die Regierung Lula        tert. Sie zogen ein positives Fazit der
gezwungen, den Hintern von Blatter, Tei-        WM, gaben ihr die Note 9,25 (Bestno-
xeira und José Maria Marin zu küssen.»17        te: 10) und lobten Gastgeber und insbe-
Marin rückte 2012 an die Spitze des CBF         sondere das brasilianische Volk in den
auf und beerbte Texeira, der wegen sich         höchsten Tönen.19
zuspitzender Veruntreuungsvorwürfe den          Die Freude ist verständlich. Denn für die
CBF und Brasilien verlassen musste und          Fifa hat sich die WM auf jeden Fall ge-
sich in Florida ein neues Domizil gesucht       lohnt. Etwa 1,6 Milliarden Euro Gewinn
hat. Marin, ein Vertrauter Texeiras, hat sei-   für die Fifa bei 3,3 Milliarden Euro Um-
ne politische Karriere in der Zeit der Mili-    satz sind neuer Rekord.20 Der gemeinnüt-
tärdiktatur gemacht und wird beschul-           zige Verein kann den Gewinn steuerfrei
digt, Mitverantwortung am Tod (infolge          in die Schweiz mitnehmen. Etwa 71 Mil-
von Folter) des bekannten Journalisten          lionen Euro sollen allerdings in Brasilien
Vladimir Herzog zu tragen. Das ist die eh-
renhafte Gesellschaft, mit der sich die bra-    17 Vgl. http://apublica.org/2013/01/chefoes-mafia-fifa/.
silianische Regierung arrangieren muss-         18 Vgl. http://esportes.estadao.com.br/noticias/futebol,fifa-
                                                pede-que-brasil-mantenha-compromissos,1525930. 19 Vgl.
te, um die WM organisieren zu dürfen.           www.sport.de/medien/fussball-wm/3db84-1e2bdb-af5c-17/fi-
                                                fa-boss-blatter-gibt-brasiliens-wm-die-note-9-25.html. 20 Vgl.
Auch wenn Fifa-Präsident Sepp Blat-             www.zeit.de/news/2014-07/27/fussball-fifa-feiert-rekord-wm-
ter sich angesichts der Massenproteste          16-milliarden-euro-gewinn-27102803.
14   bleiben, zur Unterstützung des Jugend-       Hitze, Sturm und drückender Schwüle.
     und Frauenfußballs in den Bundesstaa-        Dafür erhält er 800 Reais im Monat, um-
     ten, in den keine WM-Spiele stattfan-        gerechnet rund 220 Euro.
     den.21                                       Um ihrer Forderung nach besseren Ar-
     José Maria Marin bleibt Chef des CBF,        beitsbedingungen und endlich spürba-
     und Sepp Blatter steuert seine Wieder-       rer Lohnerhöhung Nachdruck zu ver-
     wahl als Fifa-Präsident an. Angesichts       leihen, beschlossen die Müllmänner zu
     gefüllter Kriegskassen bleiben Ge-           streiken, und zwar während des Karne-
     schäftsmodell und Führungspersonal           vals, weil dann ihr Streik für alle sichtbar
     anscheinend unangreifbar. Immerhin,          den politisch größten Druck aufzubauen
     der Ruf die Fifa ist nach der WM in Bra-     imstande war. Der Bürgermeister von
     silien noch schlechter geworden, und         Rio, Eduardo Paes, behauptete, nur ei-
     weitere Ehrungen sind für Blatter erst       ne Minderheit der garis streike, und ver-
     einmal nicht in Sicht. Nach der WM 2006      unglimpfte diese als «Randständige und
     in Deutschland hatte Angela Merkel dem       Delinquenten». Per SMS übermittelte der
     Schweizer noch das Bundesverdienst-          Bürgermeister 300 garis ihre Kündigung.
     kreuz verliehen.                             Doch Paes hatte die Rechnung ohne die
                                                  Reinigungskräfte gemacht. Für acht Ta-
     Keine Massenproteste –                       ge – während und nach dem Karneval –
     aber allgemeine Unruhe                       streikten weit über 1.000 garis in Rio de
     Die Proteste hörten keineswegs nach          Janeiro. Die Presse war voll mit Bildern
     den großen Demonstrationen im Ju-            der sich auf den Straßen häufenden Müll-
     ni und Juli 2013 auf. Brasilien war vom      berge und die sozialen Netzwerke mit So-
     Geist der Unruhe erfasst. Aber nun traten    lidaritätsbekundungen für die streiken-
     Kämpfe von einzelnen Gruppen mit spe-        den garis.22
     zifischen Forderungen an die Öffentlich-     Die Regierung gab schließlich nach und
     keit. Besonders markant war der Streik       bewilligte den Müllmännern eine Lohn-
     der LehrerInnen in Rio de Janeiro, der im    erhöhung von 37 Prozent. Sie verdienen
     August 2013 begann und über zwei Mo-         nun 1.220 Reais im Monat, umgerech-
     nate anhielt. Massendemonstrationen          net rund 300 Euro, bei gleichzeitiger Re-
     und wiederholte Konfrontationen mit der      duzierung der Wochenarbeitszeit von 44
     Polizei machten den Streik zu einem nati-    auf 36 Stunden.
     onalen Ereignis. Dabei erhielten die Leh-    Die Protestaktionen hielten auch in der
     rerInnen Unterstützung des sogenann-         Zeit unmittelbar vor der WM an. Im April
     ten black bloc, einer Gruppe militanter      und Mai 2014 war die Stimmung im Land
     DemonstrantInnen, die sich während der       äußerst angespannt. In Rio de Janeiro
     Juni-Proteste gebildet hatte. Im Oktober     streikte das Wachpersonal der Banken,
     endete der Streik mit Teilerfolgen.          mehrmals legten Streikaktionen der Bus-
     Streiks weiterer Berufsgruppen folgten.      fahrer die Stadt lahm. Unmittelbar vor
     Einen Höhepunkt stellte der Ausstand
     der Müllwerker Anfang 2014 dar. Ein          21 Vgl. www.tagesspiegel.de/sport/nach-wm-2014-fifa-mit-
                                                  rekordgewinn-brasilien-geht-leer-aus/10265644.html. 22
     ­gari, wie die Müllmänner in Rio de Janei-   Raphael Tsavkko Garcia: Greve de garis no Rio de Janeiro: da
      ro genannt werden, arbeitet 44 Stunden      luta à vitória, 11.3.2014, unter: http://pt.globalvoicesonline.
                                                  org/2014/03/11/greve-de-garis-no-rio-de-janeiro-da-luta-a-
      pro Woche, bei Regen und Sonne, bei         vitoria/.
der WM traten in São Paulo die Beschäf-      der Einweihung des Itaquerão auch die                            15
tigten der Metro in Streik, nur im letzten   BesetzerInnen zu besuchen und ihnen
Augenblick konnte eine Einigung erzielt      die Erfüllung ihrer Forderungen in Aus-
werden.                                      sicht zu stellen. Kurz vor der WM kam es
In der unruhigen Zeit vor der WM mach-       schließlich zu einer Einigung zwischen
te auch ein weiterer Akteur auf sich auf-    der Stadtverwaltung von São Paulo und
merksam: die Obdachlosenbewegung             dem MTST, dessen Forderungen weitge-
des Movimento dos Trabalhadores Sem          hend erfüllt werden sollen. Im Gegenzug
Teto (MTST). Sie hatte sich in den 1990er    versprach das MTST, auf Aktionen wäh-
Jahren gegründet, als ein städtisches        rend der WM zu verzichten. Dem MTST
Pendant zur Landlosenbewegung MST.           und anderen sozialen Bewegungen – das
Dem MTST gelang eine der spektakulärs-       zeigt dieses Beispiel – ging es nicht dar-
ten Protestaktionen im Vorfeld der WM.       um, die WM zu verhindern, sondern die
Unter seiner Führung besetzten etwa          Gunst der Stunde zu nutzen, um ihre An-
10.000 Menschen ein Gelände in unmit-        liegen bekannt zu machen und durchzu-
telbarer Nähe des Itaquerão, des neu er-     setzen. «Wir wollen, dass es eine WM
bauten Stadions in São Paulo, in dem das     gibt, aber eine WM der Rechte, der Bür-
Eröffnungsspiel stattfinden sollte. Diese    ger», erklärte Jussara Basso.
beeindruckende Mobilisierungsfähigkeit       Politisch versuchte sich das MTST dabei
des MTST ist auch Ausdruck der sich ver-     jenseits der nationalistischen Mobilisie-
schlechternden Wohnsituation in bra-         rung der Regierung und des Ausschlach-
silianischen Metropolen. Ein allgemei-       tens der Proteste durch die (rechte) Op-
ner Preisanstieg hatte, verschärft durch     position zu positionieren. Weder wollte
Spekulation, Mieten und Bodenpreise          es sich von der Regierung in seiner Au-
explodieren lassen. Immer mehr Men-          tonomie im Kampf um Bürgerrechte be-
schen sind trotz Lohnarbeit von Obdach-      schneiden noch vor den Karren der Op-
losigkeit und prekären Wohnsituationen       position spannen lassen. Das MTST, das
bedroht. «Der Anstieg der Mieten ist un-     sich deutlich kritischer zur Regierung
erträglich, und der Staat macht nichts da-   verhält als etwa das MST, war mit dieser
gegen. Das sind Erhöhungen, die vier-,       Strategie erfolgreich und hielt sich dann
fünfmal höher sind als die Inflation. Das    an die Absprachen – keine Proteste wäh-
bringt die Familien dazu, Land zu beset-     rend des Turniers.
zen», fasste Jussara Basso, eine der Or-     Dennoch kam es während der WM zu ei-
ganisatorinnen des MTST, die Situation       ner Vielzahl von Protestaktionen, die al-
zusammen.23 Die Besetzung erhielt nach       lerdings vergleichsweise klein blieben
einer Abstimmung den Namen «Copa do          und nur bis zu 2.000 Personen auf die
Povo» (WM des Volkes), und stellte so ei-    Straße brachten. Die einzige bislang vor-
nen direkten Bezug zur WM her. 20 Tage       liegende offizielle Statistik veröffentlichte
vor Turnierbeginn mobilisierte das MTST      eine Spezialabteilung des Justizministeri-
mit Unterstützung des MST und ande-          ums am 10. Juli 2014, also noch vor dem
ren Gruppen 20.000 Menschen und legte        Endspiel. Danach sollen 48.123 Men-
das Zentrum von São Paulo lahm.
So unter Druck gesetzt, zögerte Staats-      23 Vgl. http://noticias.terra.com.br/brasil/cidades/protestos-
                                             por-moradia-nao-sao-fetiche-com-a-copa-diz-mtst,1a1fcf8e
präsidentin Dilma Rousseff nicht, am Tag     a3106410VgnVCM5000009ccceb0aRCRD.html.
16   schen an insgesamt 209 Protestaktionen      «Man hat da keinen gesehen, der wie
     teilgenommen haben.24                       ein Armer aussah, außer dir vielleicht,
     Am Eröffnungstag berichteten die Medi-      Dilma. Es gab keinen Dunkelhäutigen.
     en noch relativ ausführlich über die De-    Es war der schöne Teil der Gesellschaft,
     monstrationen in São Paulo und zeigten      der sein ganzes Leben lang gut geges-
     das brutale Vorgehen der Polizei, von       sen hat.»25 Mit anderen Worten, es war
     dem auch eine Reporterin des US-ame-        die weiße Elite, die da pöbelte. Lula gab
     rikanischen Senders CNN betroffen war.      mit seiner Äußerung – wohl ungewollt –
     Dann wich diese Berichterstattung zuse-     all jenen recht, die kritisieren, dass die
     hends der Macht des Fußballs.               WM zu einem Spektakel für Reiche und
     Am Tag des Endspiels mobilisierte die       Touristen verkommen ist, während für
     Polizei nach Aussagen des Polizeichefs      die meisten Menschen die Eintrittspreise
     von Rio das größte Polizeiaufgebot in       unerschwinglich seien. Dass diese wei-
     der Geschichte des Landes – um 300          ße Elite nun die Präsidentin beschimpf-
     DemonstrantInnen im Zaum zu halten.         te, war Ausdruck der aufgeladenen Stim-
     War der Confederations Cup 2013 durch       mung in einem Land, das sich schon im
     Massendemonstrationen geprägt, so           Wahlkampf befand. Die (rechte) Oppo-
     bleibt von der WM selbst eher die unver-    sition kritisierte nicht nur die Regierung
     hältnismäßige Polizeigewalt gegen re-       und griff sie an, wie es in einer Demokra-
     lativ kleine Protestaktionen im Gedächt-    tie normal ist. Vielmehr war da ein Hass
     nis. Auch wenn sich die Massenproteste      gegen Regierung und die Arbeiterpartei
     nicht wiederholten, die WM 2014 war si-     (PT) im Spiel, der sich nicht nur gegen
     cherlich die unruhigste und rebellischste   Korruption richtete, sondern auch gegen
     in der Geschichte des Fußballs.             die sozialen Errungenschaften der PT-Re-
                                                 gierungen, etwa gegen die Quotenrege-
     Die anderen Proteste –                      lung für schwarze StudentInnen an den
     der Hass der Elite                          Universitäten.
     Das Eröffnungsspiel der WM mussten          Im Itaquerão wurden die rechten Protes-
     Sepp Blatter und Dilma Rousseff mitei-      te manifest und der in ihnen zum Aus-
     nander anschauen. Gemeinsam muss-           druck kommende Hass deutlich. Dies
     ten sie auch die Pfiffe des Publikums       verkomplizierte die Situation für alle lin-
     aushalten, die sie erwartet hatten. Bei-    ken KritikerInnnen. Wie die Proteste auf-
     de verzichteten deshalb auch auf eine       rechterhalten, ohne dabei dem Hass der
     Rede. Aber dann wurden Sprechchöre          Elite zu dienen? 2013 war das nicht die
     unüberhörbar, die die brasilianische Prä-   entscheidende Frage, wohl aber 2014,
     sidentin auf übelste sexistische Weise      als das Land im Wahlkampf stand. Es
     beschimpften.                               waren sicherlich nicht primär die Vorfälle
     Der Vorfall beim Eröffnungsspiel löste in   im Itaquerão, die das Klima für die Pro-
     Brasilien eine heftige Debatte aus. Die     teste auf der Straße abkühlten, aber sie
     populären Fußballkommentatoren Juca
     Kfouri und José Wisnik kritisierten diese   24 Vgl. http://copadomundo.uol.com.br/noticias/redacao/
                                                 2014/07/10/apenas-18-protestos-registraram-atos-violentos-
     Proteste, und Ex-Präsident Lula bezeich-    durante-a-copa.htm#fotoNav=10. 25 Vgl. http://copado-
     nete sie als die größte Schande, die das    mundo.uol.com.br/noticias/redacao/2014/06/13/para-lula-vai-
                                                 as-a-dilma-na-abertura-sao-maior-vergonha-que-pais-ja-viveu.
     Land je erlebt habe, und empörte sich:      htm.
sind Ausdruck einer politischen Situa­        tugiesischsprachigen Text gelangte. In                      17
tion, die Proteste für viele eher schwierig   Deutschland bezeichnet er eine rechts-
machten.                                      widrige polizeitaktische Maßnahme, mit
                                              der die Polizei in Hamburg am 8. Juni
Die WM der Repression                         1986 gegen DemonstrantInnen vorging.
Das massive Aufgebot von Sicherheits-         An diesem Tag sollte in der Hansestadt
kräften und das rigide Vorgehen der Poli-     wie bereits am Vortag eine Demonstra-
zei gegen die Proteste – das hatte sicher-    tion gegen das AKW Brokdorf stattfin-
lich Fifa-Niveau. Waren es im Juni 2013       den. Die Polizeieinsatzleitung entschied,
während des Confederations Cups vor           die Demonstration bereits vor Beginn zu
allem Tränengas und Tritte, Pfefferspray      unterbinden, indem sie die auf dem Weg
und Schlägen, mit denen die auf den De-       dorthin befindlichen potenziellen De-
monstrationen eingesetzten Militärpoli-       monstrantInnen einkesselte. Diese prä-
zisten sich einen entsprechenden Ruf in       ventive Einkesselung über 13 Stunden
der Presse erprügelt hatten, so setzten       erklärte das Verwaltungsgericht Ham-
die Militärpolizeieinheiten 2014 wäh-         burg später für rechtswidrig – und die
rend der WM um, was sie im vergange-          Polizeieinsatzleiter wurden wegen Frei-
nen Jahr eifrig trainiert hatten. Als sich    heitsberaubung in 861 Fällen verwarnt.
kurz vor dem Eröffnungsspiel 1.000 De-        Wie es die rechtswidrige Taktik und der
monstrantInnen im Zentrum São Pau-            dazugehörige deutsche Ausdruck nach
los versammelten, um gegen Fifa, WM-          São Paulo geschafft haben, ist bislang
Ausgaben und damit im Zusammenhang            nicht bekannt. Eventuell gibt es einen
stehende Räumungen zu protestieren,           Zusammenhang mit der «polizeilichen
sperrte die doppelte Anzahl an Polizis-       Aufbauhilfe», die das deutsche Innen-
ten das Gebiet großflächig ab. Diese          ministerium – vermittelt über das SEK
Taktik – nicht selten wieder gepaart mit      Niedersachsen – im Herbst 2013 brasi-
massivem Einsatz von Tränengas, Pfef-         lianischen Militärpolizisten in Hannover
ferspray und Schlagstöcken – wandten          in einem mehrwöchigen Kurs zur «För-
die Polizeikräfte während der einmona-        derung von Demokratie und Rechtstaat-
tigen Fußballweltmeisterschaft an na-         lichkeit» hat zukommen lassen. Worum
hezu allen Orten an, wo durch demons-         es sich dabei handelte, erläuterte der
trierende BürgerInnen das Bild des nur        Parlamentarische Staatssekretär beim
fußballfreudigen Brasiliens in Gefahr zu      Bundesminister des Innern, Dr. Günter
geraten drohte. Erstmals ist diese «neue      Krings, im Deutschen Bundestag am
Taktik» am 22. Februar 2014, knapp vier       4. Juni 2014 auf eine Mündliche Anfra-
Monate vor WM-Anpfiff in São Paulo an-        ge des Abgeordneten der LINKEN An-
gewandt worden. Das Nachrichtenportal         drej Hunko.27 Dies sei eine «dreiwöchi-
«SpressoSP» berichtete damals über den        ge Ausbildungsmaßnahme» gewesen
Einsatz mit den Worten: «A Polícia Mili-      zur «Fortbildung von Spezialkräften» in
tar utilizou uma nova tática: a Hamburger     Vorbereitung auf die anstehenden Groß­
Kessel, ou Caldeira de Hamburgo, em           ereignisse – Fußballweltmeisterschaft
português.»26
Man fragt sich, wie der deutsche Aus-
                                              26 Vgl. http://spressosp.com.br/2014/02/24/pm-usa-tatica-
druck «Hamburger Kessel» in den por-          proibida-na-alemanha-para-reprimir-manifestantes/.
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