Aktueller Extremismus - Gefahren für unsere Gesellschaft - Dokumentation 24. Forum Migration - Otto Benecke Stiftung eV
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Dokumentation 24. Forum Migration Aktueller Extremismus – Gefahren für unsere Gesellschaft 5. Dezember 2019, Stadthalle Bonn-Bad Godesberg
Tagungsleitung: Salim Bölükbasi, Projektleiter Tel.: 0221-2 72 43 99-13 E-Mail: Salim.Boeluekbasi@obs-ev.de Konzeption / Fachbeirat der OBS / Dr. Lothar Theodor Lemper / Dr. Stefan Metzger, Referatsleiter / Jörg Frank, Referatsleiter / Salim Bölükbasi, Projektleiter Impressum September 2020 Herausgeber: Otto Benecke Stiftung e.V. Kennedyallee 105–107, 53175 Bonn Tel. 0228-81 63-147 · Fax: 0228-8163-300 E-Mail: post@obs-ev.de Internet: www.obs-ev.de Geschäftsführender Vorsitzender: Dr. Lothar Theodor Lemper Vorsitzender des Kuratoriums: Eberhard Diepgen, Regierender Bürgermeister von Berlin a.D. Redaktion: Anne Bergsdorf, OBS Anne Hohl, OBS Achim Hermes, Journalist und Kommunikationsberater Gestaltung: gb | Grafik Anna Böttcher Bildnachweise: Titel, S. 5-7, S. 11-28, S. 32-43, S. 45 links, S. 46 links, S. 47 links, S. 49 links, S. 50, S. 51: OBS/Hans Theo Gerhards S. 4: Eberhard Diepgen, privat S. 9: LVR-ZMB/Stefan Arendt S. 29: OBS/Norman Althaus S. 45 rechts: DIE LINKE/DIG/Trialon S. 46 rechts: Anke Jacob S. 47 rechts: Wolfgang Bosbach, privat S. 48: Christoph Busse S. 49 rechts: Grüne Landtagsfraktion NRW 2
Inhalt Vorwort .................................................................................................................................... 4 Eberhard Diepgen, Vorsitzender des Kuratoriums der Otto Benecke Stiftung e.V. Begrüßung .......................................................................................................................... 5 - 8 Dr. Lothar Theodor Lemper, Geschäftsführender Vorsitzender der Otto Benecke Stiftung e.V. Grußwort Miguel Freund ................................................................................................. 9 - 10 Stellvertretender Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Mitglied der Gemeindevertretung der Synagogen-Gemeinde Köln Radikalisierte Mitte? Toleranz und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Deutschland ..................... 11 - 17 Vortrag von Prof. Dr. Andreas Zick, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld (redaktionell bearbeitet von Achim Hermes) Politisch-weltanschaulicher Extremismus im Jugendalter ............................................ 18 - 23 Vortrag von Michaela Glaser, Frankfurt University of Applied Sciences, Kompetenzzentrum Soziale Interventionsforschung, Frankfurt a.M. Was heisst Radikalisierung? Anmerkungen zu einem umstrittenen Begriff .................... 24 - 27 Vortrag von Prof. Dr. Christopher Daase, Goethe-Universität Frankfurt a.M., Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt a.M. Aktuelle Extremismus-Tendenzen in NRW und Möglichkeiten der Prävention ............... 28 - 36 Vortrag von Burkhard Freier, Ministerialdirigent im Ministerium des Inneren NRW, Leiter des Verfassungsschutzes NRW, Düsseldorf (redaktionell bearbeitet von Achim Hermes) Offene Gesellschaft und Rechtsstaat versus Extremismus – Wie sollen Staat und Gesellschaft handeln? .................................................................. 37 - 44 Vortrag von Peter Biesenbach, Minister der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen, CDU, MdL Aktuelle Entwicklungen des Extremismus – Gefahren für unsere Gesellschaft ........... 45 - 51 Podiumsdiskussion mit Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau, MdB, Die Linke Gerhart Baum, Bundesinnenminister a.D., FDP Wolfgang Bosbach, MdB a.D., CDU, ehemaliger Vorsitzender des Innenausschusses Helge Lindh, MdB, SPD, Ausschuss für Inneres u. Heimat Monika Düker, MdL, Fraktionsvorsitzende GRÜNE im Landtag NRW 3
Vorwort Politisch motivierte Kriminalität hat im Jahr 2019 in Deutschland weiter zugenommen. Insgesamt registrierten die Sicherheitsbehörden 41.177 politisch motivierte Delikte. 22.342 dieser Straf- taten kamen aus dem rechten Milieu. Das geht aus dem aktuellen Bericht „Politisch motivierte Kriminalität im Jahr 2019. Bundesweite Fallzahlen“ hervor, den das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat und das Bundeskriminalamt im Mai 2020 vorstellten1. Eberhard Diepgen Bei den rechtsextremistisch motivierten Straftaten handelte es sich in der großen Mehrheit um Propagandadelikte und Fälle von Volksverhetzung. Aber auch in fast 1.000 Gewalttaten ermittelten die Sicherheitsbehörden. Trauriger Höhepunkt des Jah- res 2019 war im Juni der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Unter dem Titel „Aktueller Extremismus – Gefahren für unsere Gesellschaft“ nahm sich das 24. Forum Migration des Themas an. Rund 400 Interessierte aus Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik, aus Institutionen und Behörden, Kirchen, Religions- gemeinschaften und Wohlfahrtsverbänden fanden dafür am 5. Dezember 2019 den Weg in die Stadthalle von Bonn-Bad Godesberg. Das zeigt, die Otto Benecke Stif- tung e.V. hatte den Nerv der Zeit getroffen. In Impulsreferaten wie „Radikalisierte Mitte? Toleranz und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Deutschland“, „Was heißt Radikalisierung? Anmerkun- gen zu einem umstrittenen Begriff“, „Politisch-weltanschaulicher Extremismus im Jugendalter“ und „Aktuelle Extremismus-Tendenzen in NRW und Möglichkeiten der Prävention“ führten anerkannte Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis tief in die Thematik ein. Eine Podiumsdiskussion mit Bundes- und Landespolitiker*innen sowie der nordrhein-westfälische Justizminister Peter Biesenbach, MdL (CDU) be- leuchteten die politischen Konsequenzen der wissenschaftlichen Expertise. Dieses Heft dokumentiert das 24. Forum Migration der Otto Benecke Stiftung e.V. mit den Grußworten und den Referaten, der Diskussion und einer Bildergalerie. Wir danken dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für die Finanzierung unseres erfolgreichen Forums. Eberhard Diepgen Vorsitzender des Kuratoriums der Otto Benecke Stiftung e.V. 1 Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat 4
Begrüßung Dr. Lothar Theodor Lemper, Geschäftsführender Vorsitzender der Otto Benecke Stiftung e.V. Auf den Tagesordnungen unserer Foren notorische Gegner der Flüchtlingspolitik steht seit geraumer Zeit der zu vertiefen- sind dies alles keine sympathischen und de thematische Diskurs zu der zentralen sie überzeugenden Befunde. Frage: Wie gelingt Integration durch Qualifizierung in den akademischen und berufsorientierten Bereichen? Wie gelingt Integration durch die erfahrene Wirklich- keit des Arbeitsmarktes? Die Fähigkeiten der Geflüchteten für den Arbeitsmarkt zu erkennen und damit ihre Potenziale zu heben, um ihnen mit ent- sprechender zusätzlicher Qualifizierung neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu ermöglichen – das ist die zentrale Voraus- setzung für eine nachhaltige Integration. Damit nicht zu Beginn die positiven Sei- ten unter den Zwang des Verschweigens geraten, verweise ich auf eine ermutigen- de Zwischenbilanz: Fünf Jahre nach ihrer Ankunft in Deutschland hat gut die Hälfte der Geflüchteten Arbeit gefunden; 68 Dr. Lothar Theodor Lemper, Geschäftsführender Prozent davon gehen einer Voll- oder Teil- Vorsitzender der OBS zeiterwerbstätigkeit nach, 17 Prozent einer bezahlten Ausbildung und 3 Prozent einem Denn Menschen mit Migrationshinter- bezahlten Praktikum, 12 Prozent sind ge- grund wurden immer gerne instrumenta- ringfügig beschäftigt. Dabei arbeiten lisiert für ideologische Hindeutungen auf 44 Prozent der erwerbstätigen Geflüchte- den Weltuntergang und den gleichzeitigen ten in einem Helferberuf, 57 Prozent sind Nachweis für die Abnutzung des demokra- als Fachkraft oder in Tätigkeitsbereichen tischen Systems. Nirgendwo hat die Silves- mit höherem Anforderungsniveau beschäf- ternacht am Kölner Hauptbahnhof mehr tigt. klammheimliche Freude ausgelöst als bei der AfD. Es entwickelt sich eine zuneh- Auf diese Weise entsteht etwas sehr Posi- mend offene, schamlose und entgrenzte tives: Immer öfter werden aus Leistungs- faschistoide Rhetorik des Rechtsextremis- empfängern Leistungsträger. So leisten mus. Wir erleben zunehmend Tabubrüche: Geflüchtete einen wichtigen Beitrag zum im Zynismus der Sprache, in bewusst insze- demokratischen, sozialen und ökonomi- nierten Provokationen, in Diskursen, die schen Leben in unserer Gesellschaft. Für schon längst die Regeln für einen ernsthaf- 5
ten Meinungsaustausch außer Kraft gesetzt Wir erleben Tabubrüche durch eine ge- haben. All das zunehmend hemmungslo- meine Sprache, die für viele schon zu einer ser. Die Ermordung meines und unseres gemeinsamen Sprache geworden ist. Freundes Dr. Walter Lübcke ist das jüngste Keine Demokratie kann angesichts dieser traurige Resultat. besorgniserregenden politischen Entwick- lungen einfach zur Tagesordnung über- Wir spüren mehr und mehr eine steigende gehen. Wer zum Unrecht schweigt, wird Polarisierung in unserer Gesellschaft, eine selbst zum Hehler des Unrechts. Ja, die Rhetorik der verletzenden Anfeindungen, OBS ist der parteipolitischen Neutralität deren wesentliches Ziel, aus dem sich die verpflichtet. Das wird sich auch nicht ganze Leidenschaft der Verunglimpfung ändern. Aber Neutralität ist weder Weggu- nährt, in der Mobilisierung von Gefühlen cken noch Wegducken. Es gilt auch für uns und dem Schüren niederschwelliger In- die Pflicht zur „zivilen Robustheit“ – gegen stinkte besteht. Und damit zugleich die zunehmend antidemokratische Entwick- demokratische Pflicht zur Rationalität und lungen und vor allem rechtsextremistische der Bindung der Meinungsfreiheit an die Angriffe auf die wesentlichen Säulen unse- ethische Verantwortung des Wortes zur rer Verfassung. belanglosen Nebensache unserer Demo- kratie macht. Je komplexer die Sachver- Vor 70 Jahren verabschiedete der Parla- halte, desto einfacher die Antworten. Es mentarische Rat unser Grundgesetz, das werden alle Schichten und Ebenen kom- eine wehrhafte und nicht wehrlose Demo- plexer Sachverhalte so weit abgebaut, bis kratie zum Inhalt hat. Die Mütter und Väter die Illusion übrigbleibt, man könne mit unseres Grundgesetzes: Sie hatten ganz einfachen Mitteln alle Probleme lösen. besonders das Menschheitsverbrechen des Holocaust vor Augen. Und so wurde das Grundgesetz vor allem als radikaler Gegenentwurf zum Nazideutschland ver- standen. Diese Mütter und Väter des Grundgesetzes haben uns eine universelle Formel geschenkt, hinterlassen, vererbt: „Die Würde des Menschen ist unantast- bar!“ Dieser Satz des ersten Artikels – wie alle anderen Grundrechte und unsere Rechtsordnung auch: Das ist die Klammer unserer Gesellschaft, das ist der Kit un- serer Demokratie – nie verhandelbar, nie austauschbar, unantastbar, alternativlos. Und manche Vorkommnisse, die für sich ge- nommen nicht akzeptabel sind, werden mit Publikum einer klammheimlichen Freude als Steilvor- lage für die Erzeugung kollektiver Reflexe Mit dieser Methode wandeln sich Begriffe instrumentalisiert. Hetze und Hass werden wie „Geflüchtete“ oder „Migranten“ oder zu Pflichtaufgaben, Feinseligkeit wird zur „Integration“ zu aggressiven Reflexen, zu notwendigen Weltanschauung, Weghören Projektionsflächen zynischer Formen der und Wegsehen werden zur maximalsten Ablehnung und Hasstiraden. Form der vornehmen Distanzierung. 6
Publikum Es braut sich was zusammen, ja es braunt Ronald Lauder weiter: „Erstaunlicherweise sich was zusammen am Horizont unseres kommt der Hass von jungen Menschen, demokratischen Systems. Übrigens nicht die nicht wissen, was hier vor 80 Jahren nur von den Rändern, sondern Schritt für geschah. Die dritte Generation ist ahnungs- Schritt mit einer hochmoralischen Aufla- los, nicht nur in Deutschland, sondern dung zunehmend auch aus der Mitte der überall. Das müssen wir ändern.“ Gesellschaft – da dürfen wir uns nichts vor- machen. Die Entgrenzung der Sprache ist Zunehmend kommen Gefahren für unsere die Generalprobe für den Ernstfall wider- Demokratie nicht nur von den Rändern, wärtigster Taten. sondern auch von denjenigen, denen jedes politische Engagement suspekt ist, die Das gilt vorrangig für rechtsextremistische mit einer Arroganz höchster moralischer Äußerungen bis hin zu einem vielfach auf Rechtfertigung eine Radikalablehnung des leisen Sohlen daherschleichenden Antise- Politischen inszenieren, die in der Ableh- mitismus – bis hin zu dem gescheiterten nung jedes politischen Engagements ihre Terroranschlag auf die Synagoge in Halle. scheinmoralische Rechtfertigung finden Bei seinem Deutschland-Besuch einen Tag in dem genüsslich verbreiteten Vorurteil, danach, am 25. Oktober 2019, sagte der Politik sei ein schmutziges Geschäft, um Vorsitzende des Jüdischen Weltkongres- im Einzelfall in den Politikern zugleich ihre ses, Ronald Lauder: „Deutschland hat 6 Adressaten für den eigenen Lobbyismus zu Millionen Gründe, besonders wachsam finden. gegen Neonazibewegungen und Judenhass zu sein. Wenn es ein Land der Erde gibt, Es ist mehr als irritierend, was jetzt in Thü- das extrem empfindbar sein sollte, wenn ringen passiert ist, wo Mitglieder der CDU es um Antisemitismus geht, dann ist es mit einer Zusammenarbeit mit der AfD Deutschland.“ liebäugelten und sogar zusammen mit AfD 7
und FDP einen Ministerpräsidenten wähl- als die Ideen auszurotten, aus denen sie ten – mit dem Argument, man könne auf geboren sind und ihre Kraft gezogen haben. Dauer nicht gegen 20 Prozent der Wähler Nicht aller Faschismus ist mit Mussolini regieren. So fängt das an: Ähnliches hatte oder Hitler zu Ende. der damalige Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht gesagt, eine Führungspersön- Um eines guten, eines dauerhaften Frie- lichkeit aus der Wirtschaft der Weimarer dens willen müssen die gutgesinnten Republik, ein Republikaner, der sich wan- Völker in aller Welt ihre Entschlossenheit delte zum Gegner der parlamentarischen wahren, den bösen Geist zu zertreten, der Demokratie und prominenten Unterstützer die Welt in den letzten Jahren überschattet Hitlers. hat.“ Das sind bemerkenswerte Sätze von Harry S. Truman in seinen Memoiren 1945. In einer Rede 1930 vor dem Wirtschaftsrat der Bayerischen Volkspartei erklärte er: „Richtig ist, dass man auf Dauer nicht gegen 20 Prozent der Wähler regieren kann, die in der letzten Reichstagwahl einen lebendigen Protest gegen die innere und äußere Einschnürung unseres Lebens- raumes zum Ausdruck bringen wollten.“ Nichts anderes als ein Plädoyer für eine Regierungsbeteiligung der NSDAP. „Ein- schnürung unseres Lebensraumes“ – heute ist es die Flüchtlingszuwanderung. Heute kann keiner sagen, er habe es nicht gewusst. Heute kann es zunehmend jeder wissen – und zwar durch eine breite Aufklärung über die Gefahren des Extre- mismus. Im Übrigen: ein Extremismus von rechts und von links. Zu diesen beiden Seiten hat schon Friedrich Nietzsche erklärt: „Die beiden gegnerischen Parteien, die sozialistische und die nationale – oder wie die Namen in den verschiedenen Ländern Europas lauten mögen –, sind einander würdig: Neid und Faulheit sind die bewe- genden Mächte in ihnen beiden“ – ein interessantes, heute noch aktuelles Zitat. „Hitler existiert nicht mehr – aber die Samen seines Wahnwitzes haben in vie- len fanatischen Köpfen Wurzel gefasst. Es ist leichter, die Tyrannen zu beseitigen und die Konzentrationslager aufzuheben, 8
Grußwort Miguel Freund Stellvertretender Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Mitglied der Gemeindevertretung der Synagogen-Gemeinde Köln Vor einem Monat erinnerten wir nicht nur – und aus diesem Abschnitt der Geschich- an den Fall der Mauer, sondern auch an te intensiver als je zuvor. die Reichspogromnacht, an die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, als im ganzen Deutschen Reich Synagogen demo- liert, geschändet, verbrannt wurden. Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 war die Nacht, in der Nazideutsch- land und der größte Teil seiner Einwohner auf gewaltsame, auf mörderische Art und Weise den hier lebenden Jüdinnen und Ju- den zeigten, dass sie endgültig nicht mehr zur deutschen Gesellschaft dazugehörten. Im ganzen Reich zündete der faschistische deutsche Mob die Synagogen an, zerstörte und plünderte jüdische Geschäfte, Betrie- be und Wohnungen, verprügelte, verge- waltigte und tötete Juden und verschlepp- Miguel Freund, Stellvertretender Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische te Tausende in die Konzentrationslager. Zusammenarbeit Der Schritt von der totalen Ausgrenzung, Juden haben den Abgrund eindringlicher Entrechtung und Beraubung der Juden und schmerzhafter erfahren als andere. in Deutschland hin zur Schoah, zum Ho- Ihnen ist die Lagernummer, die einer locaust, zur Vernichtung der europäischen obrigkeitlich angeordneten Aberkennung Jüdinnen und Juden war getan. der Menschenrechte gleichkam, tiefer eingebrannt als jedem anderen und sie 81 Jahre sind seitdem vergangen. 81 Jahre, tragen dieses Mal mit sich, gleich ob sie in denen der Mensch gelernt haben sollte. selbst im Lager waren oder die Nach- kommen der Entronnenen sind. Seither Bergen-Belsen, Auschwitz, Buchenwald, haben besonders wir Juden – nicht nur Dachau, Ghetto Warschau, Theresienstadt, die Überlebenden der Vernichtungslager, Babij Jar und Majdanek sind nicht nur Stät- nicht nur die Verfolgten und Vertriebe- ten der Erinnerung an unbeschreibliches nen, sondern alle Juden – die Pflicht, die Leid, an Demütigung und Entwürdigung Geschichte gegenwärtig zu halten, wenn und an einen millionenfachen qualvollen sie von anderen abgewiesen oder verges- Tod. Sie sind auch anmahnende Geschich- sen wird. Uns Juden bleibt präsent, dass te. Wir müssten aus der Geschichte lernen wir nicht deshalb verfolgt und gepeinigt 9
wurden, weil wir so oder so gehandelt ha- Nein, es war nicht genug. Der braune Mob ben, sondern allein deshalb, weil wir Juden wütet weiter, er wird stärker. waren. Aber die Aufgabe, die Geschichte zu bewahren und mit ihr zu leben, kann nicht Wie kann es sein, dass über 20 Prozent der den Juden allein gestellt sein. In und mit der Bürgerinnen und Bürger in den nicht mehr so Geschichte leben wir alle. Keiner kann sich neuen Bundesländern für eine zumindest in wegstehlen. Teilen rechtsextreme Partei stimmen? Nun, ich bin sicher, dass Sie mit mir einer Wie kann es sein, dass Wahlplakate mit dem Meinung sind, dass die nach dem Recht des Text „Israel ist unser Unglück“ nicht nur auf- „Dritten Reiches“ begangenen Gräueltaten gehängt werden, sondern Staatsanwaltschaf- nicht vergessen werden dürfen und auch ten sie nicht als antisemitisch und volksver- nicht vergessen werden. hetzend einordnen? Aber haben wir wirklich aus dem Schreck- Wie kann es sein, dass „Du Jude“ ein ge- lichen gelernt? Haben wir entschlossen bräuchliches und akzeptiertes Schimpfwort „Halt“ nicht nur gerufen, sondern uns ener- auf unseren Schulhöfen ist? gisch entgegengestellt, gegen jeden, der das Unglaubliche neu geschehen lassen wollte Wie kann es sein, dass über 80 Jahre nach und will? der Reichspogromnacht Anschläge auf Got- teshäuser verübt werden – nicht nur auf jüdi- Wir haben gedacht, es sei genug, als vor 60 sche, auch auf muslimische –, Gotteshäuser Jahren die neu aufgebaute Synagoge in der geräumt werden müssen, weil sie bedroht Roonstraße im benachbarten Köln feierlich wurden? eingeweiht wurde – und wenige Wochen später ihre Fassade mit Hakenkreuzen be- Wie kann es sein, dass mitten am Tag ein schmiert war. Mann, schwer bewaffnet, minutenlang versuchen kann, in eine mit zahlreichen Wir haben gedacht, es sei genug, nach Betenden gefüllte Synagoge einzudringen, den rechtsextremen Gewalttaten in über 500 Meter über eine Straße geht, dabei Hoyerswerda (1991), Rostock-Lichten- Passanten erschießt – ohne dass im Einhalt hagen (1992), Mölln (1992), Solingen geboten wird? (1993) und Lübeck (1996), als in den neunzi- ger Jahre Asylbewerberheime brannten. Trotz alledem – wir dürfen nicht aufgeben, wir dürfen nicht resignieren. Für uns Juden Wir haben gedacht, es sei genug, als Neo- gilt sowieso: Weglaufen hilft nicht. Wir lassen nazis zehn Menschen ermordeten und alle uns nicht einschüchtern und schon gar nicht wegschauten. vertreiben. Wir haben ein Recht, hier zu sein. Wir haben gedacht, es sei genug, als 1994 Aber auch von der nichtjüdischen Mehrheits- ein Brandanschlag auf die Synagoge in gesellschaft, von Ihnen erwarte ich: Empört Lübeck, 2000 Brandanschläge auf die euch, steht auf und widersteht. Es ist genug. Synagogen in Erfurt und Düsseldorf, 2002 ein Brandanschlag auf eine Synagoge in Berlin-Kreuzberg verübt und Friedhöfe ge- schändet wurden. 10
Radikalisierte Mitte? Toleranz und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Deutschland Vortrag von Prof. Dr. Andreas Zick, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld (redaktionell bearbeitet von Achim Hermes) Wenn wir den Extremismus der Mitte nicht die sich gegen die Gesellschaft gerichtet verstehen, können wir bestimmte Konflikte habe, sagte Professor Zick und untermauer- nicht mehr konstruktiv regulieren. Dann te das mit folgenden Zahlen: werden sie destruktiv reguliert.“ Deshalb sei „2018: 20.431 Straftaten polizeilich rechts es wichtig, über den Extremismus der Mitte eingestuft. Das ist aber nur das Hellfeld. Die zu sprechen, sagte Professor Dr. Andreas Zahlen liegen unweit höher. Und die Zahlen Zick. Und so führte der Leiter des Instituts kamen auch zustande, nachdem NGOs ge- für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltfor- nauer ermittelt haben. Gewalttaten rechts: schung (IKG) an der Universität Bielefeld auf 156.646 Straftaten rassistisch, 400 mehr dem 24. Forum Migration der Otto Benecke als in 2017, 7.700 fremdenfeindlich, 1.800 Stiftung e.V. im Dezember 2019 in Bonn-Bad ungefähr antisemitisch, Steigerung in 2018. Godesberg ein in das Thema „Radikalisier- te Mitte? Toleranz und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Deutschland“. Das Modell der Demokratie in Deutschland folge der Idee einer starken Mitte mit Rän- dern, hob Professor Zick hervor. Im Fokus stehe das ständige Ringen „um die Herstel- lung von Gleichwertigkeit“. Die Herausfor- derung dabei: „Das gesellschaftliche Klima ist gerade für Gesellschaften, die getragen sind von einem Modell einer ausgleichen- den Mitte, wichtig für den Zusammenhalt. Und dafür gilt im Besonderen die Frage, in- wieweit destruktive, radikale und extremis- tische Meinungen – aber auch Affekte und Ideologien – in die Mitte eindringen. Oder Prof. Dr. Andreas Zick, Leiter des Instituts für interdis- die Mitte sich selbst an den Rand begibt ziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der oder sich radikalisiert.“ Universität Bielefeld Solche Szenarien habe die Bundesrepublik Wir sprechen dabei über ein Jahr, in dem in den vergangenen Jahren erlebt mit einer die Gesellschaft diesen Stresstest, Zuwan- Hass- und Gewaltwelle in der Gesellschaft, derung von Geflüchteten, Asylsuchenden die aus der Gesellschaft gekommen sei und erlebt hat und sich das Ganze beruhigt hat. 11
Wir haben ungefähr 98.000 Menschen, sich das in die Mitte hineinschiebt und es die klar extremistisch organisiert sind. Im dann die Mitte verschiebt. Die Tat von Halle Bereich Rechtsextremismus wird nun mitt- haben wir noch gar nicht verstanden. Ich lerweile auch offiziell jede zweite Person als warne davor, sie einfach nur als strafrecht- gewaltorientiert eingestuft.“ liches Problem zu bezeichnen. Wir müssen verstehen, wie so ein Täter sich radikalisiert Der Konflikt- und Gewaltforscher mahn- hat. Wir müssen das verstehen, weil er lei- te aber zur Vorsicht bei der Verwendung der einer von uns war. der Begriffe „Extremismus der Mitte“ und „Radikalisierung“. Es gehe nicht darum, Feindseligkeiten diese Begrifflichkeiten mit Ausdehnung auf die Mitte gleichsam „zu verwässern“. Zick: Den Rechtsextremismus in der Mitte könne „Wenn ich von Radikalisierung und Extre- man festmachen an Menschenfeindlichkeit, mismus rede, dann meine ich eine zuneh- gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Vor- mende psychische, physische, ideologische urteilsmustern, Abwertung, Diskriminierung, Gewalt gegen andere, die in Emotionen, die gruppenbezogen sei: „Das ist Ausdruck Überzeugungen oder Verhaltensweisen einer Meinung, die ich habe, weil ich mich mit liegt. Und wenn ich von Radikalisierung bestimmten Gruppen identifiziere. Die Tat auf rede, dann meine ich dabei Radikalisierung Lübcke ist von einem Einzeltäter verübt wor- als einen sozialen Prozess, der zu einer den, der aber meinte, kollektiv zu handeln.“ extremistischen Polarisierung von sozial- Aus der empirischen Forschung stamme die geteilten Emotionen und Überzeugungen, Erkenntnis: Wenn die eine Menschenfeind- also Ideologien und Verhaltensweisen, die lichkeit da sei und es gebe eine zweite men- mit der gesellschaftlichen Norm inkonsis- schenfeindliche Abwertung, dann gehe das tent sind, und zu Extremismus führt und miteinander einher. Es sei ein Syndrom. Man letztendlich zu Gewalt. Und das variiert. könne Antisemitismus und Islamfeindlichkeit Diese Gewalt ist zum Teil offen. Viel von nicht gleichsetzen. Aber sie gingen mitein- dieser Gewalt sehen wir aber nicht. Sie ist ander einher. Deshalb fordert der Leiter des versteckt, sie ist latent, sie ist verzögert, Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und insbesondere der psychische Anteil. Darü- Gewaltforschung (IKG) an der Universität ber haben wir auch keine Daten.“ Bielefeld, sie gemeinsam zu diskutieren und ständig zu analysieren, wieweit diese Men- Radikalisierung fange früh an, hat der Kon- schenfeindlichkeit Ungleichwertigkeit her- flikt- und Gewaltforscher beobachtet. Es stelle. Professor Zick: „Es geht um die Frage gebe ein großes Reservoir an Stereotypen – und das ist für die Mitte eine Zerreißprobe in der Gesellschaft, Stereotypen, die zu- –, wie viel Ungleichwertigkeit zwischen nächst einmal lediglich Zuschreibungen zu Gruppen sickert in der Mitte ein.“ bestimmten Merkmalen, Eigenschaften und Gruppen seien. „Die müssten noch über- Dazu zitierte er aus der großen repräsenta- haupt nicht rassistisch sein.“ Stereotypen tiven Studie seines Instituts vom März 2019, seien auch etwas anderes als Vorurteile. der „Mitte-Studie“. Sie habe rückläufige Menschenfeindlichkeit festgestellt mit Rück- Radikalisierung dagegen gehe einen Schritt gängen beim Sexismus von 10,8 Prozent in weiter und führe heute zunehmend zu 2014 auf 7,5 Prozent 2018/2019, bei Homo- rechtspopulistischen Orientierungen, zu phobie von 11,8 Prozent 2014 auf 8,3 Pro- rechtsextremem Terror. „Wenn wir das ver- zent 2018/2019. Die Abwertung von Trans- stehen wollen, müssen wir wissen, wieweit menschen bleibe mit 12,3 Prozent konstant. 12
Professor Zicks Fazit: „In den sogenannten chenden steigen. Es gebe also in der Mitte geschlechtsgruppenbasierten Vorurteilen der Gesellschaft bei einzelnen Gruppen ein haben wir über die vielen Jahre, in denen Reservoir an offenen, feindseligen Meinun- wir beobachten, einen Rücklauf. Und wenn gen, schlussfolgerte Professor Zick. Diese man tiefer hinschaut, sind das genau diese Meinungen blieben zum Teil stabil, selbst Gruppen, bei denen rechtlich sehr viel an wenn die gesellschaftliche Realität sich Gleichstellung passiert ist.“ ändere und zum Beispiel die Zuwanderung Dagegen bleibe Fremdenfeindlichkeit in der abnehme. Zick: „Die empirische Beob- Bevölkerung latent auf hohem Niveau. So achtung sagt uns, dass die Feindseligkeit stimme jeder Fünfte eindeutig einer im- gegenüber asylsuchenden Geflüchteten migrantenfeindlichen Meinung zu wie zum angestiegen ist nach einem Rückgang der Beispiel: „Es leben zu viele Ausländer in Zuwanderung. Das ist in vielen anderen Deutschland.“ Das meinen mit 35 Prozent Bereichen und der Geschichte auch so: ein gutes Drittel der Befragten in der reprä- Der Rassismus gegen schwarze Amerika- sentativen Stichprobe. In absoluten Zahlen nerinnen und Amerikaner in Amerika ist waren das 2.000 Personen. Der Aussage: auch nach Krisenzeiten angestiegen. Damit „Weiße sind zu Recht führend in der Welt“ müssen wir rechnen, denn das Stereotyp folgten elf Prozent. Der Wert bleibe stabil bleibt ja da.“ über die vergangenen sechs Jahre hinweg. „Was sind Ursachen dafür, wenn Mitglieder Ebenfalls stabil halte sich der klassische der Mitte sich offen menschenfeindlich Antisemitismus, sechs Prozent der Befrag- äußern?“, forschte Professor Zick. Dafür ten bekundeten eine deutliche Zustimmung gebe es eine Vielzahl von Faktoren, sagte er zu offener, feindseliger Abwertung und eine und nannte beispielhaft Alter, Geschlecht, rassistische Abwertung von Jüdinnen und Bildung, Schichtzugehörigkeit oder ob man Juden. Ungefähr ein Viertel in der Bevölke- etwa im Osten oder im Westen Deutsch- rung zeige israelbezogenen Antisemitismus. lands lebe. Aber: „Sobald Menschen mei- Das definieren die Forscher des Bielefelder nen, Zuwanderung generell sei eine Bedro- Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung hung, sobald Menschen meinen, sie sind als einen Antisemitismus, der sich auf Israel benachteiligt durch das, was in Migration richte und der Israel-Kritik äußere unter Be- stattfindet, sind sie bereit, auch Vorurteilen zugnahme auf antisemitische Stereotype: und Abwertungen zuzustimmen, Ungleich- „Was der Staat Israel heute mit den Paläs- wertigkeit herzustellen, vielleicht um selbst tinensern macht, ist im Prinzip auch nichts eine Integration zu erleben. Menschen- anderes als das, was die Nazis im Dritten feindlichkeit ist deswegen radikalisierungs- Reich mit den Juden gemacht haben.“ fähig, weil es ein Integrationsversprechen für die Einheimischen ist.“ Für diese Aussage gebe es 39 Prozent Zustimmung in der Mitte der Gesellschaft. Es gebe ebenso eine Fülle von Faktoren, die Jede fünfte Person teile eindeutig die Ab- Menschenfeindlichkeit und Homogenität wertung von Muslimen, führte Professor erzeugten, analysierte Professor Zick weiter Zick weiter aus. Die Aussage: „Muslimen und nannte beispielhaft den Wunsch nach sollte die Zuwanderung nach Deutschland einer Rückkehr zu alten Zeiten, die Wieder- untersagt werden“ habe zum Beispiel 18 herstellung alter Traditionen oder nationa- Prozent Zustimmung gefunden. Die Abwer- ler Identitäten wie auch das Beharren auf tung von Sinti und Roma liege konstant bei Dominanz und Vorrechten. Vielfalt werde 20 Prozent. Vorurteile gegenüber Asylsu- als Bedrohung empfunden und erzeuge 13
ebenfalls Menschenfeindlichkeit. Professor nicht unbedingt immer nur um die politi- Zick: „Diese Feindseligkeiten, diese Men- schen Themen, sondern um Gruppen, die schenfeindlichkeit sind nicht exklusiv zu be- abgewertet werden in der Gesellschaft.“ trachten, sondern sie sind eine Möglichkeit, sich zu radikalisieren und sich an radikale Radikale Ideologien andere Ideologien zu heften.“ Rund 21 Prozent der Befragten vertreten eindeutig rechtspopulistische Orientierun- gen. Auch das habe die repräsentative „Mit- te-Studie“ herausgearbeitet. Zwei bis drei Prozent stimmten rechtsextremen Ideologi- en zu. Und 25 Prozent der Befragten neigten Einstellungen und Meinungen zu, die aus dem Bereich der „Neuen Rechten“ kommen. Drei Prozent befürworteten eine Diktatur, 13 Prozent einen nationalen Chauvinismus, also „Deutschland first“. Drei Prozent der Befrag- ten verharmlosten den Nationalsozialismus. Fremdenfeindlichkeit äußerten neun Prozent der Befragten, offen und direkt antisemitisch waren zwei Prozent und sozialdarwinistisch ebenfalls zwei Prozent. Schaue man sich das anhand konkreter Aussagen an, so komme Prof. Dr. Andreas Zick und Moderator Joachim Frank die Studie bei ausgewählten Fragen zu fol- genden Ergebnissen: „Was Deutschland jetzt Interessant sei in diesem Zusammenhang, braucht, ist eine einzige starke Partei, die die dass es offenbar bestimmte „Schlüsselwör- Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“, ter“ gebe, die Hassbotschaften hervorrufen. finden 22 Prozent der Befragten richtig, 13 Professor Zick belegt dies mit einer weite- Prozent sagten dazu „teils, teils“, der Rest ren Studie seines Instituts unter 800 Journa- habe die Aussage abgelehnt. listinnen und Journalisten. Man habe ihnen die Frage gestellt: „Gibt es Ihrer Meinung „Wir sollten einen Führer haben, der nach sogenannte ,hot issues‘, Schlagworte, Deutschland zum Wohle aller mit starker die Angriffe auf Sie nahezu unvermeidlich Hand regiert“, findet die Zustimmung von elf hervorrufen?“ 270 von ihnen bejahten diese Prozent der Befragten in der Studie, sieben Frage. Es gebe „Signalbegriffe“, die sofort Prozent sagen „teils, teils“, der Rest lehnt ab. Hassbotschaften gegen Journalistinnen „Im nationalen Interesse ist unter bestimm- und Journalisten hervorriefen. Die Studie ten Umständen eine Diktatur die bessere arbeite auch heraus, dass die meisten „hot Staatsform“: vier Prozent Zustimmung, zehn issues“ sich durch Menschenfeindlichkeit Prozent „teils, teils“. gegen andere Gruppen hervorheben. Das heiße, so der Konflikt- und Gewaltforscher, Schaue man sich die rechtsextremen Ein- sobald Journalistinnen und Journalisten bei- stellungen im Detail an, dann sei die Voraus- spielsweise über die Arbeit von NGOs, die setzung dafür, jemanden als rechtsextrem Hilfe für Geflüchtete und ähnliche Themen einzustufen, so Professor Zick, dass man 18 berichteten, rufe das Hatespeech hervor. rechtsextremen Einstellungen zustimme. Professor Zicks Schlussfolgerung: „Es geht Aber wann stimme jemand zu, fragte der 14
Konflikt- und Gewaltforscher. „Was spielt Was die letzte Studie auch deutlich gemacht dabei eine Rolle? Ist es die wirtschaftliche habe, „und das war ziemlich erschreckend“, Lage? Das sind Sorgenbürgerinnen und sei eine hohe Korrelation zwischen rechts- Sorgenbürger, die wirtschaftlich vielleicht populistischen Orientierungen, neurechten abgestiegen sind. Die finanzielle Lage? Das Einstellungen, rechtsextremen Einstellun- sind die Verlierer, das sind die Menschen, gen und einer allgemeinen Gewaltneigung. die arm sind. Denn natürlich ist die Abgren- Professor Zick: „Wir sehen in unseren Studi- zung, die Menschenfeindlichkeit, die radi- en, dass dieser Konnex zwischen politischer kale Ideologie ein Inklusionsversprechen für Orientierung und Gewaltneigung stärker die Einheimischen, für die Alteingesessenen. geworden ist. Das heißt, Menschen, die Eine wirtschaftliche Bedrohung, eine Depri- rechtsextreme, rechtspopulistische, neue vation? Man fühlt sich benachteiligt gegen- rechte Einstellungen teilen, neigen heute in über denen, die zugewandert sind. den neueren Studien stärker dazu, Gewalt Eine Bedrohung der Identität? Die Leute füh- als eine Option zu betrachten. Das ist eine len sich deutsch, sie sind nationalstolz. Radikalisierung.“ Es kann aber auch sein, dass Menschen andere Ideologien teilen, Vielfalt ablehnen, dominanzorientiert sind, autoritär, ökono- mistisch eingestellt sind, die Demokratie missachten, sich machtlos fühlen. Es kann sein, dass Einkommen, Alter, Geschlecht, West, Ost, Bildung eine Rolle spielen oder andere Vorurteilsmuster. Weil Menschen Vorurteile gegenüber bestimmten Gruppen haben, neigen sie dazu, auch rechtsextre- men Einstellungen zuzustimmen. Das sind alles Faktoren, die möglich sind.“ In den Studien komme es darauf an abzu- schätzen, welche dieser Faktoren relevant seien. Nach Professor Zick gibt es zwei Faktoren, die ein hohes Ausmaß an Varia- tion bei den rechtsextremen Einstellungen erklären. „Das ist die Polarisierung in der Mitte der Gesellschaft. Sobald Menschen Publikum gegen Vielfalt sind und sobald Menschen Vorurteile gegenüber bestimmten Gruppen Das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und haben, steigt ihre Zustimmungsbereitschaft Gewaltforschung (IKG) an der Universität zu rechtsextremen Einstellungen. Das ist die Bielefeld habe das auch gemessen, indem es Polarisierung des Rechtsextremismus in der in 401 Kreisen Daten über vorurteilsbasierte Mitte. Es ist eigentlich ein Kampf gegen die Hasstaten ausgewertet hat. Dann habe man Vielfalt und es geht um eine Abgrenzung von analysiert, welche Wahlergebnisse die AfD anderen Gruppen. Diese beiden Faktoren dort erziele, wie die soziale Lage in diesen erzeugen das. Deswegen ist Vielfalt und Teil- Kreisen, wie hoch die Arbeitslosenquote sei habe auf einmal wieder eine Zerreißprobe in und welche Rolle das interkulturelle Leben der Mitte der Gesellschaft.“ spiele. 15
Für die ostdeutschen Bundesländer zeige Die Radikalisierung folge Mustern, die es sich, dass die Wahlerfolge der AfD insbe- auch in anderen Bereichen gebe, sagte sondere in den Regionen hoch gewesen Professor Zick. Er erläuterte dazu ein Modell seien, in denen ein Jahr zuvor die Arbeitslo- des Radikalisierungsforschers Randy Brown. sigkeit hoch und der Ausländeranteil gering Danach verlaufe Radikalisierung in verschie- war. Gleichzeitig habe es in Regionen mit denen Gruppen sehr ähnlich. Das sei unab- AfD-Wahlerfolgen im Wahljahr signifikant hängig davon, ob die Gruppen zum Beispiel mehr Hasstaten gegeben gegenüber Ge- islamistisch oder rechtsextrem seien. Nach flüchteten. Es gebe zwar bisher keine Lang- diesem Modell könnten Menschen sich als zeitstudie dazu, die die Kausalität messe, radikalisierungsfähiger entpuppen, sobald sagte Professor Zick: „Aber das war schon sie anfangen, sich zu beschweren oder chro- erschreckend, dass dort, wo eine Hasstat nische Ungerechtigkeitsgefühle zu entwi- passiert ist, eine politische Einstellung nach- ckeln und dabei auf Gruppen treffen. Ein- rückt.“ gebunden in ein radikales Kollektiv neigten sie dann mehr zu Gewalt, sobald Ungerech- Betrachte man dagegen die westdeut- tigkeitsgefühle entstünden. „Auf der dritten schen Bundesländer, so lasse sich dort zwar Stufe werden diese Ungerechtigkeitsgefühle eine Vorhersage treffen auf die Wahl der abgestellt, und dann gibt es so eine externa- AfD. Aber Vorhersagen zu rechtsextremen le Zuschreibung, alles ist schlecht, alles sind Hasstaten seien mit den derzeitigen Da- die anderen schuld und wir müssen gucken, ten und mit den Sozialstrukturdaten kaum dass wir das jetzt bereinigen. Und dann fin- möglich. Für den Westen gelte: je höher det eine Distanzierung von der Gesellschaft die Arbeitslosenquote, desto geringer die statt.“ Wahrscheinlichkeit der AfD-Wahl. Und diese Beobachtung erstrecke sich über alle Kreise Eine solche Geschichte schreibe der Attentä- im Westen. Dagegen gebe es aber einen Zu- ter von Halle, meinte Professor Zick. „Das ist sammenhang von Ausländeranteil und einer ein Modell, und es ist natürlich populistisch. Präferenz für die AfD. Zicks Schlussfolgerung: Man kann es aufblasen, man kann es unter- „Das zeigt, hier geht es um einen ökonomi- füttern. Wir leben in Zeiten, in denen eine schen Konflikt, um Benachteiligung. Solche ständige Propaganda und Aggregation von Wahlen sind Konfliktindikatoren. genau diesen Mustern bedient wird. Es sind immer genau diese Muster: Etwas ist nicht Im Osten sind die Verhältnisse anders. Da richtig, etwas ist nicht fair, etwas ist unge- können wir eine gute Vorhersage treffen recht und so weiter und jemand ist böse. für Hasstaten. Da ist es der Ausländeran- Wir wissen aus unserer Forschung, dass teil. Je niedriger der Ausländeranteil, desto die Bindung an radikale Gruppen und der stärker ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine radikale Konflikt zu anderen auch ein zweiter Hasstat passiert. Auch der Bezug Wahl der Beschleunigungsfaktor sind. Das heißt, es AfD und Ausländeranteil, je niedriger der geht um Propaganda, die aber eingebunden Ausländeranteil, desto höher ist die Wahr- ist in Gruppen. Was wir in unserem On- scheinlichkeit, dass AfD gewählt wird. Und line-Netzwerk sehen, aber auch in analogen hier sehen wir, die Arbeitslosenquote hat im Gruppen: Extremistisch orientierte Gruppen Osten etwas mit der Hasstat zu tun, weniger mobilisieren und erzeugen Zusammenhalt. mit der Ausländerquote. Das ist schon inte- Es geht um das Angebot exklusiver Iden- ressant, das Ergebnis, weil es bedeutet, hier titäten, es geht um Moral und Obligation. sind unterschiedliche Konfliktlagen, die eine Wir werden in einen moralischen Konflikt ganz große Rolle spielen.“ hineingezogen. Es müssen ständig Affektkul- 16
turen hergestellt werden. Das ist eine neue zu prognostizieren. Es werde nicht mehr Herausforderung. Alles geht über Emotionen reichen, bei der Migration über die Notwen- und Affektkulturen.“ digkeit der Integration und von Sprachkur- sen zu sprechen. Vielmehr müsse sich der Rechtsextremismus und Radikalisierung sei- Fokus künftig darauf richten, welche kom- en keine homogenen Phänomene. Die alte munalen Konflikte dabei entstehen können. Formel, rechts, links oder islamistisch bil- Dafür müsse mehr Sensibilität entwickelt deten eine homogene Gruppe, habe ausge- werden. Professor Zick: „Ich glaube, dass wir dient. Vielmehr seien innerhalb der Milieus eine universelle Prävention gegen Hass und Überbietungswettbewerbe in Affektkulturen Radikalisierung brauchen, dass man For- und Gewalt zu beobachten. Sie beschleunig- schung und Praxis noch enger zusammen- ten die Propaganda und machten es ihr so bringen muss. Das Ausmaß an Gewalt und sehr viel einfacher. Man reagiere aufeinan- fehlendem Schutz ist immens. Ich denke, wir der, sehr schnell und sehr variabel. Kurz: Es brauchen die Fähigkeit, Ungleichwertigkeit gelinge extremistisch orientierten Gruppen auch tatsächlich zu erkennen. durch exklusive Identitäten, Verschwörungs- propaganda, Affektkulturen und Konflikt- Wir brauchen zivile Räume. Was bedeuten und Gewaltwettbewerbe digital Zusammen- zivile Räume? Zivile Räume bedeuten maxi- halt zu generieren und zu mobilisieren. male Fairness gegenüber allen Gruppierun- gen. Das muss der Raum sein, den wir so Bremsen bestimmen, das muss das Parlament sein, die Schule, das ist diese Veranstaltung, maxi- „Was kann man dagegen tun?“, fragte Pro- male Fairness bei Differenzen, gegenseitige fessor Zick: „Gibt es Bremsen?“ Politische Wertschätzung, die über jeden Zweifel erha- Bildung sei ein Mittel der Prävention. Aller- ben ist. Viele Menschen zweifeln und rücken dings müsse sie auch erteilt werden. Profes- dann an den Rand. Wir brauchen deutlichen sor Zick verwies dabei auf die Untersuchung Respekt gegenüber Vielfalt, Schutz, Präven- „Ranking Politische Bildung 2018. Politische tion vor Gewalt. Und ich glaube, dass man Bildung an allgemeinbildenden Schulen Integrationspotenziale und zivilgesellschaft- der Sekundarstufe I im Bundesländerver- liche Kräfte besser erkennen und stärken gleich“1. Danach betrug der Stundenanteil sollte. „Politische Bildung“ in der Sekundarstufe 1 in Nordrhein-Westfalen 3,8 Prozent. In den ostdeutschen Bundesländern zwischen einem Prozent (Thüringen) und 4,3 Prozent (Mecklenburg-Vorpommern). Schlusslicht war Bayern mit einem Stundenanteil von 0,5 Prozent. „So wird das nicht gehen“, kritisier- te Professor Zick. Die Gesellschaft müsse dazu übergehen, Konflikte stärker zur Kennt- nis zu nehmen und sie im Vorfeld bereits 1 Mahir Gökbudak und Reinhold Hedtke: Ranking Politische Bildung 2018. Politische Bildung an allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe I im Bundesländervergleich, in: Didaktik der Sozialwissenschaften, Social Science Education Working Papers, Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie, Hrsg.: Prof. Dr. Reinhold Hedtke und Prof. Dr. Bettina Zurstrassen, März 2019, Working Paper No. 9. 17
Politischer Extremismus im Jugendalter Vortrag von Michaela Glaser, Frankfurt University of Applied Sciences, Kompetenzzentrum Soziale Interventionsforschung, Frankfurt a.M. In meinem Beitrag möchte ich ein paar wird der Einstieg mit ca. 16 bis 19 Jahren Überlegungen zum Thema der Tagung aus insgesamt etwas später verortet; teilweise Jugendforschungs- und Jugendhilfepers- finden sich aber auch hier Annäherungen pektive beisteuern. Das heißt, ich werde im und Fundamentalisierungen bereits in der Folgenden nicht DAS Erklärungsmodell für frühen Adoleszenz (so war der jüngste jugendlichen Extremismus skizzieren oder Attentäter in Deutschland, der den [verhin- einen Überblick über die wichtigsten Erklä- derten] Anschlag auf den Ludwigshafener rungsdimensionen geben. Hier wäre u.a. Weihnachtsmarkt plante, gerade einmal 12 auch über biografische Belastungen, des- Jahre alt). integrierende Erfahrungen, Gelegenheits- strukturen, Gruppendynamiken zu reden. Sondern es geht mir um die Frage: Was ist jugendspezifisch an den Phänomenen, die wir (aktuell) unter „politischem Extre- mismus“ diskutieren? (Wobei ich mich auf die Phänomene „Rechtsextremismus“ und „islamistischer Extremismus“ beschränken werde, da aktuelle Erscheinungsformen im Phänomenbereich „links“ m.E. substanziell anders gelagert und konturiert und deshalb nicht in dieser Form vergleichbar sind.) Und daran anschließend: Was folgt daraus für unsere gesellschaftliche Perspektive auf diese Phänomene wie auch für unseren Michaela Glaser, Frankfurt University of Applied Scien- gesellschaftlichen Umgang mit diesen? ces, Kompetenzzentrum Soziale Interventionsforschung, Frankfurt a.M. Beginnen möchte ich mit bestimmten Ju- gendspezifika der Phänomene, die geradezu „ins Auge springen“. Ein hoher Anteil junger Menschen fand sich auch bei den Ausreisenden nach Syrien Einstiegsalter (dort stellten die 18- bis 25-Jährigen die ins- gesamt größte Gruppe, es finden sich aber Das ist zum einen das Alter derjenigen, die auch teilweise deutlich Jüngere). sich extremistischen Strömungen anschlie- ßen. So wird das Einstiegsalter in rechtsex- Mit anderen Worten: Hinwendungen zum tremen Szenen von feldkundigen Akteuren rechten wie auch zum islamistischen Ex- inzwischen auf 13 bis 14 Jahre geschätzt. Es tremismus und Einbindungen in entspre- sind aber auch Fälle von 11- und 12-Jähri- chende Szenen finden oft im Jugend- und gen bekannt. Im islamistischen Extremismus Jungerwachsenenalter statt. 18
Jugendkulturelle Elemente Zum anderen die Rekrutierungsvideos des sogenannten „Islamischen Staates“: Diese Zum Zweiten sind sowohl Rechtsextremis- von professionellen Anbietern erstellten mus als auch islamistischer Extremismus Propagandabotschaften knüpften in ihrer in bestimmten Teilsegmenten wie auch in Ästhetik gezielt an der Bildersprache von ihren Rekrutierungs- und Propagandastra- bei jungen Menschen angesagten Blockbus- tegien stark durch jugendkulturelle Stilele- tern und Videospielen an. mente geprägt. Dass sich extremistische Propaganda in be- Im Rechtsextremismus sind das seit vielen sonderer Weise an junge Menschen richtet, Jahren insbesondere jugendkulturell orien- erklärt allerdings noch nicht, warum gerade tierte Musikstile. Diese reichen inzwischen junge Menschen solchen Botschaften ge- auch längst über den klassischen „Rechts- genüber besonders vulnerabel sind. Viel- rock“ hinaus und in breite Spektren von bei mehr lässt sich die jugendkulturelle Prägung Jugendlichen „angesagten“ Musikstilen, wie von Ansprachen auch als eine Anpassung z.B. Hardcore oder Hip-Hop, hinein. an die Zielgruppen begreifen: Extremis- Gleiches gilt für den Kleidungsstil: Der Look t*innen richten ihre Werbestrategien – wie heutiger rechtsextremer Jugendlicher un- alle guten Werbestrategen – an derjenigen terscheidet sich meist deutlich vom Skin- Adressat*innengruppe aus, bei der sie den head-Outfit der 1980er/1990er Jahre oder größten Zuspruch für ihr „Produkt“ erwarten. dem traditionellen „Deutsche Mädel“-Look. Warum das so ist, wird erkennbar, wenn wir Er ist eher eine „Bricolage“ unterschiedli- die Motive betrachten, die die Forschung bei cher jugendkulturell angesagter Stilformen; denjenigen identifiziert hat, die sich von ext- die rechtsextremen Codes sind subtiler und remistischen Strömungen angezogen fühlen. die Übergänge zu Mainstream-Jugendkultu- ren fließender geworden. Motive Insgesamt an Bedeutung gewonnen hat die Was sagt uns also vorliegende Forschung zu (zunehmend professionelle) Nutzung digi- den Motiven, aus denen heraus sich junge taler Medien zu Werbe- und Rekrutierungs- Menschen extremistischen Strömungen zwecken, wobei sich viele Videobotschaften, zuwenden? etwa der „Identitären“, ebenfalls an einer jugendkulturellen Ästhetik oder an jugend- Als ein zentrales Motiv zeigt sich hier zum kulturell geprägten Aktionsformen wie z.B. einen die Suche nach Sinnstiftung und Flashmobs orientieren. Orientierung im Leben – wobei diese Suche im Rechtsextremismus und islamistischen Im Spektrum des islamistischen Extremis- Extremismus durchaus unterschiedlich kon- mus ist es vor allem der Salafismus, der in turiert ist: Im islamistischen Extremismus ist Deutschland von Beginn an eine stark ju- sie oft dezidiert religiös gerahmt, im Rechts- gendkulturelle Akzentuierung aufwies: extremismus dagegen in der Regel weltlich Zu nennen sind hier einmal die Inszenierun- orientiert (auch wenn die rechtsextreme gen selbsternannter Internetprediger wie Ideologie z. T. durchaus transzendente Be- Pierre Vogel oder sein ehemaliger Mitstreiter dürfnisse bedient). Sven Lau, deren Erfolg nicht zuletzt in ihrem jugendgemäßen Auftreten gründet (bzw. Des Weiteren zeigt sich eine Suche nach gründete) und die sich in Sprache und Gestus Gemeinschaft und Zugehörigkeit, auf die stark jugendkultureller Elemente bedienen. das exklusive Gemeinschaftsversprechen 19
Publikum extremistischer Gruppen antwortet: im allerdings z. T. schon von Beginn an, spätes- Rechtsextremismus mittels Konstruktion tens jedoch mit Adaption der Ideologie, par- einer verschworenen Kameradschaft, im tikularistisch gerahmt ist: Ungerechtigkeits- islamistischen Extremismus mit dem Topos wahrnehmungen, Solidarität und Empathie der auserwählten Bruder- bzw. Schwestern- gelten dann nur noch den Angehörigen der schaft. eigenen Glaubensgemeinschaft bzw. des eigenen nationalen Kollektivs. (Das kann so Erkennbar wird außerdem das Motiv einer weit gehen, dass mit Angehörigen der kons- – auch bewusst provokativen – Abgrenzung truierten „Eigengruppe“ zutiefst mitgelitten von der Elterngeneration und deren Werten. wird, während anderen die Leidensfähigkeit (Im Falle des islamistischen Extremismus abgesprochen wird.) beinhaltet dies oft sogar eine doppelte Ab- grenzung – einmal von den eigenen, häufig Hinwendungen als adoleszente Suche wenig religiösen Eltern, zum anderen von der Mehrheitsgesellschaft, die als ableh- Es sind also durchaus vielschichtige, unter- nend erlebt wird.) schiedlich gelagerte Motive, die allerdings eines gemein haben: Es sind ganz über- Des Weiteren (vor allem, aber nicht nur) bei wiegend Motivlagen, die charakteristisch jungen Männern eine Suche nach Gren- für die Zeit der „Adoleszenz“ sind (bzw. in zerfahrungen und Abenteuern, die durch dieser Lebensphase besonders virulent wer- den Nervenkitzel des Verbotenen und die den). Denn diese markiert einen Lebensab- Aussicht auf heldenhafte Kämpfe „bedient“ schnitt, in dem es um nicht weniger als die wird. Es finden sich aber auch idealistisch Lösung von der bisherigen Kernfamilie, die grundierte Motivationen, etwa das Engage- Abgrenzung von der älteren Generation und ment gegen Ungerechtigkeiten oder für das Ausloten und Austesten neuer sozialer eine (vermeintlich) bessere Gesellschafts- Zugehörigkeiten geht wie auch um die erst- ordnung – ein Engagementinteresse, das malige Entwicklung und Erprobung eines 20
eigenen, tragfähigen Wertesystems und Le- Verläufe und der in vielen Fällen temporäre bensentwurfs. Es ist eine lebensgeschicht- Charakter einer Hinwendung zu extremisti- liche Phase, die wie keine vor oder nach ihr schen bzw. Involviertheit in extremistische von persönlichen und sozialen Umbrüchen Strömungen. geprägt ist und deshalb oft mit ausgeprägter Bereitschaft zu Probehandeln, starkem Ver- Diese Offenheit resultiert ihrerseits aus den änderungswillen, aber eben auch massiven starken Suchbewegungen, durch die dieser Verunsicherungen einhergeht. Lebensabschnitt geprägt ist. Denn damit verbunden ist auch, dass Orientierungen Alle diese Aspekte spiegeln sich in den und Zugehörigkeiten in diesem Alter noch Hinwendungsmotiven zu extremistischen vergleichsweise wenig gefestigt und ent- Strömungen wider und werden von extre- sprechend wandelbar sind. So kennt die mistischen Ideologien mit ihren Eindeutig- Rechtsextremismusforschung das soge- keitsversprechen und exklusiven Zugehörig- nannte Phänomen des „maturing out“, d.h. keitsangeboten auch abgeholt und bedient. das Herauswachsen aus Szenezugehörig- keiten mit zunehmender Einfindung in das Mit anderen Worten: Wir haben es bei Erwachsenenleben in Form von Familien- solchen jugendlichen Hinwendungen auch gründung und/oder beruflicher Etablierung2. mit adoleszenten Suchbewegungen junger Menschen zu tun, die in ihrer Motivation Im Bereich des islamistischen Extremismus häufig gar nicht so sehr anders gelagert ist Forschung zu Verläufen jenseits terroris- sind als bei anderen jungen Menschen1. Die tischer Karrieren noch sehr begrenzt, wes- besondere Vulnerabilität junger Menschen halb vergleichbare Befunde rar sind. Doch für extremistische „Anrufungen“ resultiert auch hier zeigen sich Hinweise (u.a. in unse- aus diesen Charakteristika der Jugendphase, ren eigenen Studien), dass Hinwendungen steht über den auf diese Charakteristika und Zugehörigkeiten z. T. stark von adoles- „antwortenden“ Aspekten extremistischer zenten Bedürfnissen getragen sind und mit Ideologien. Abschluss dieser Lebensphase auch wieder an Relevanz verlieren können. Offenheit der Jugendphase Anders formuliert: Ein kleiner Teil derje- Zugleich zeichnen sich solche adoleszenten nigen, die sich im Jugendalter für extre- Hinwendungen zum Extremismus aber auch mistische Szenen interessieren, geht auch durch ein weiteres Charakteristikum aus, tatsächlich den Weg der „Radikalisierung“ das in den – berechtigten – Sorgen um die bis hin zu Gewalt und Terror. Viele wenden möglichen Folgen jugendlicher sogenann- sich aber auch wieder ab, finden alternative ter „Radikalisierungen“ manchmal etwas Möglichkeiten, um Sinn, Orientierung und aus dem Blick gerät: die Offenheit dieser Zugehörigkeit zu erfahren bzw. zu entwickeln. 1 Um Missverständnisse auszuschließen: Dieser Verweis auf lebensphasentypische Charakteristika ist nicht rela- tivierend (im Sinne von: „Es sind ja nur adoleszente Ablösungsprozesse“) gemeint. Wenn diese adoleszenten Be dürfnisse und Dynamiken auf entsprechende ideologische Deutungs- und Zugehörigkeitsangebote treffen, kann dies sukzessive, manchmal auch in erstaunlich kurzer Zeit, zur Übernahme von Deutungsmustern und Hand lungsbereitschaften führen. 2 Damit ist allerdings nicht gesagt, dass mit einer solchen Distanzierung aus aktiven Szenestrukturen und dem Einstellen einschlägiger Handlungen auch stets eine Abkehr von inhaltlichen Positionen einhergeht. 21
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