Aktueller Extremismus - Gefahren für unsere Gesellschaft - Dokumentation 24. Forum Migration - Otto Benecke Stiftung eV

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Aktueller Extremismus - Gefahren für unsere Gesellschaft - Dokumentation 24. Forum Migration - Otto Benecke Stiftung eV
Dokumentation 24. Forum Migration
Aktueller Extremismus –
Gefahren für unsere Gesellschaft
5. Dezember 2019, Stadthalle Bonn-Bad Godesberg
Aktueller Extremismus - Gefahren für unsere Gesellschaft - Dokumentation 24. Forum Migration - Otto Benecke Stiftung eV
Tagungsleitung:
    Salim Bölükbasi, Projektleiter
    Tel.: 0221-2 72 43 99-13
    E-Mail: Salim.Boeluekbasi@obs-ev.de

    Konzeption
    / Fachbeirat der OBS
    / Dr. Lothar Theodor Lemper
    / Dr. Stefan Metzger, Referatsleiter
    / Jörg Frank, Referatsleiter
    / Salim Bölükbasi, Projektleiter

    Impressum
    September 2020

    Herausgeber:
    Otto Benecke Stiftung e.V.
    Kennedyallee 105–107, 53175 Bonn
    Tel. 0228-81 63-147 · Fax: 0228-8163-300
    E-Mail: post@obs-ev.de
    Internet: www.obs-ev.de

    Geschäftsführender Vorsitzender: Dr. Lothar Theodor Lemper
    Vorsitzender des Kuratoriums: Eberhard Diepgen, Regierender Bürgermeister von Berlin a.D.

    Redaktion:
    Anne Bergsdorf, OBS
    Anne Hohl, OBS
    Achim Hermes, Journalist und Kommunikationsberater

    Gestaltung:
    gb | Grafik Anna Böttcher

    Bildnachweise:
    Titel, S. 5-7, S. 11-28, S. 32-43, S. 45 links, S. 46 links, S. 47 links,
    S. 49 links, S. 50, S. 51: OBS/Hans Theo Gerhards
    S. 4: Eberhard Diepgen, privat
    S. 9: LVR-ZMB/Stefan Arendt
    S. 29: OBS/Norman Althaus
    S. 45 rechts: DIE LINKE/DIG/Trialon
    S. 46 rechts: Anke Jacob
    S. 47 rechts: Wolfgang Bosbach, privat
    S. 48: Christoph Busse
    S. 49 rechts: Grüne Landtagsfraktion NRW

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Aktueller Extremismus - Gefahren für unsere Gesellschaft - Dokumentation 24. Forum Migration - Otto Benecke Stiftung eV
Inhalt

Vorwort .................................................................................................................................... 4
Eberhard Diepgen, Vorsitzender des Kuratoriums der Otto Benecke Stiftung e.V.

Begrüßung .......................................................................................................................... 5 - 8
Dr. Lothar Theodor Lemper,
Geschäftsführender Vorsitzender der Otto Benecke Stiftung e.V.

Grußwort Miguel Freund ................................................................................................. 9 - 10
Stellvertretender Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit,
Mitglied der Gemeindevertretung der Synagogen-Gemeinde Köln

Radikalisierte Mitte?
Toleranz und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Deutschland ..................... 11 - 17
Vortrag von Prof. Dr. Andreas Zick,
Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld
(redaktionell bearbeitet von Achim Hermes)

Politisch-weltanschaulicher Extremismus im Jugendalter ............................................ 18 - 23
Vortrag von Michaela Glaser,
Frankfurt University of Applied Sciences,
Kompetenzzentrum Soziale Interventionsforschung, Frankfurt a.M.

Was heisst Radikalisierung? Anmerkungen zu einem umstrittenen Begriff .................... 24 - 27
Vortrag von Prof. Dr. Christopher Daase,
Goethe-Universität Frankfurt a.M.,
Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt a.M.

Aktuelle Extremismus-Tendenzen in NRW und Möglichkeiten der Prävention ............... 28 - 36
Vortrag von Burkhard Freier,
Ministerialdirigent im Ministerium des Inneren NRW, Leiter des Verfassungsschutzes NRW, Düsseldorf
(redaktionell bearbeitet von Achim Hermes)

Offene Gesellschaft und Rechtsstaat versus Extremismus –
Wie sollen Staat und Gesellschaft handeln? .................................................................. 37 - 44
Vortrag von Peter Biesenbach,
Minister der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen, CDU, MdL

Aktuelle Entwicklungen des Extremismus – Gefahren für unsere Gesellschaft ........... 45 - 51
Podiumsdiskussion mit
Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau, MdB, Die Linke
Gerhart Baum, Bundesinnenminister a.D., FDP
Wolfgang Bosbach, MdB a.D., CDU, ehemaliger Vorsitzender des Innenausschusses
Helge Lindh, MdB, SPD, Ausschuss für Inneres u. Heimat
Monika Düker, MdL, Fraktionsvorsitzende GRÜNE im Landtag NRW

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Aktueller Extremismus - Gefahren für unsere Gesellschaft - Dokumentation 24. Forum Migration - Otto Benecke Stiftung eV
Vorwort
              Politisch motivierte Kriminalität hat im Jahr 2019
              in Deutschland weiter zugenommen. Insgesamt
              registrierten die Sicherheitsbehörden 41.177
              politisch motivierte Delikte. 22.342 dieser Straf-
              taten kamen aus dem rechten Milieu. Das geht
              aus dem aktuellen Bericht „Politisch motivierte
              Kriminalität im Jahr 2019. Bundesweite Fallzahlen“
              hervor, den das Bundesministerium des Innern,
              für Bau und Heimat und das Bundeskriminalamt
              im Mai 2020 vorstellten1.                                     Eberhard Diepgen

              Bei den rechtsextremistisch motivierten Straftaten handelte es sich in der großen
              Mehrheit um Propagandadelikte und Fälle von Volksverhetzung. Aber auch in fast
              1.000 Gewalttaten ermittelten die Sicherheitsbehörden. Trauriger Höhepunkt des Jah-
              res 2019 war im Juni der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke.

              Unter dem Titel „Aktueller Extremismus – Gefahren für unsere Gesellschaft“ nahm
              sich das 24. Forum Migration des Themas an. Rund 400 Interessierte aus Bundes-,
              Landes- und Kommunalpolitik, aus Institutionen und Behörden, Kirchen, Religions-
              gemeinschaften und Wohlfahrtsverbänden fanden dafür am 5. Dezember 2019 den
              Weg in die Stadthalle von Bonn-Bad Godesberg. Das zeigt, die Otto Benecke Stif-
              tung e.V. hatte den Nerv der Zeit getroffen.

              In Impulsreferaten wie „Radikalisierte Mitte? Toleranz und gruppenbezogene
              Menschenfeindlichkeit in Deutschland“, „Was heißt Radikalisierung? Anmerkun-
              gen zu einem umstrittenen Begriff“, „Politisch-weltanschaulicher Extremismus im
              Jugendalter“ und „Aktuelle Extremismus-Tendenzen in NRW und Möglichkeiten der
              Prävention“ führten anerkannte Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis tief in
              die Thematik ein. Eine Podiumsdiskussion mit Bundes- und Landespolitiker*innen
              sowie der nordrhein-westfälische Justizminister Peter Biesenbach, MdL (CDU) be-
              leuchteten die politischen Konsequenzen der wissenschaftlichen Expertise.

              Dieses Heft dokumentiert das 24. Forum Migration der Otto Benecke Stiftung e.V.
              mit den Grußworten und den Referaten, der Diskussion und einer Bildergalerie.

              Wir danken dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für
              die Finanzierung unseres erfolgreichen Forums.

              Eberhard Diepgen
              Vorsitzender des Kuratoriums der Otto Benecke Stiftung e.V.

    1
        Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat

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Aktueller Extremismus - Gefahren für unsere Gesellschaft - Dokumentation 24. Forum Migration - Otto Benecke Stiftung eV
Begrüßung
Dr. Lothar Theodor Lemper,
Geschäftsführender Vorsitzender der Otto Benecke Stiftung e.V.

Auf den Tagesordnungen unserer Foren          notorische Gegner der Flüchtlingspolitik
steht seit geraumer Zeit der zu vertiefen-    sind dies alles keine sympathischen und
de thematische Diskurs zu der zentralen       sie überzeugenden Befunde.
Frage: Wie gelingt Integration durch
Qualifizierung in den akademischen und
berufsorientierten Bereichen? Wie gelingt
Integration durch die erfahrene Wirklich-
keit des Arbeitsmarktes?

Die Fähigkeiten der Geflüchteten für den
Arbeitsmarkt zu erkennen und damit ihre
Potenziale zu heben, um ihnen mit ent-
sprechender zusätzlicher Qualifizierung
neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu
ermöglichen – das ist die zentrale Voraus-
setzung für eine nachhaltige Integration.

Damit nicht zu Beginn die positiven Sei-
ten unter den Zwang des Verschweigens
geraten, verweise ich auf eine ermutigen-
de Zwischenbilanz: Fünf Jahre nach ihrer
Ankunft in Deutschland hat gut die Hälfte
der Geflüchteten Arbeit gefunden; 68          Dr. Lothar Theodor Lemper, Geschäftsführender
Prozent davon gehen einer Voll- oder Teil-    Vorsitzender der OBS
zeiterwerbstätigkeit nach, 17 Prozent einer
bezahlten Ausbildung und 3 Prozent einem      Denn Menschen mit Migrationshinter-
bezahlten Praktikum, 12 Prozent sind ge-      grund wurden immer gerne instrumenta-
ringfügig beschäftigt. Dabei arbeiten         lisiert für ideologische Hindeutungen auf
44 Prozent der erwerbstätigen Geflüchte-      den Weltuntergang und den gleichzeitigen
ten in einem Helferberuf, 57 Prozent sind     Nachweis für die Abnutzung des demokra-
als Fachkraft oder in Tätigkeitsbereichen     tischen Systems. Nirgendwo hat die Silves-
mit höherem Anforderungsniveau beschäf-       ternacht am Kölner Hauptbahnhof mehr
tigt.                                         klammheimliche Freude ausgelöst als bei
                                              der AfD. Es entwickelt sich eine zuneh-
Auf diese Weise entsteht etwas sehr Posi-     mend offene, schamlose und entgrenzte
tives: Immer öfter werden aus Leistungs-      faschistoide Rhetorik des Rechtsextremis-
empfängern Leistungsträger. So leisten        mus. Wir erleben zunehmend Tabubrüche:
Geflüchtete einen wichtigen Beitrag zum       im Zynismus der Sprache, in bewusst insze-
demokratischen, sozialen und ökonomi-         nierten Provokationen, in Diskursen, die
schen Leben in unserer Gesellschaft. Für      schon längst die Regeln für einen ernsthaf-

                                                                                              5
Aktueller Extremismus - Gefahren für unsere Gesellschaft - Dokumentation 24. Forum Migration - Otto Benecke Stiftung eV
ten Meinungsaustausch außer Kraft gesetzt     Wir erleben Tabubrüche durch eine ge-
    haben. All das zunehmend hemmungslo-          meine Sprache, die für viele schon zu einer
    ser. Die Ermordung meines und unseres         gemeinsamen Sprache geworden ist.
    Freundes Dr. Walter Lübcke ist das jüngste    Keine Demokratie kann angesichts dieser
    traurige Resultat.                            besorgniserregenden politischen Entwick-
                                                  lungen einfach zur Tagesordnung über-
    Wir spüren mehr und mehr eine steigende       gehen. Wer zum Unrecht schweigt, wird
    Polarisierung in unserer Gesellschaft, eine   selbst zum Hehler des Unrechts. Ja, die
    Rhetorik der verletzenden Anfeindungen,       OBS ist der parteipolitischen Neutralität
    deren wesentliches Ziel, aus dem sich die     verpflichtet. Das wird sich auch nicht
    ganze Leidenschaft der Verunglimpfung         ändern. Aber Neutralität ist weder Weggu-
    nährt, in der Mobilisierung von Gefühlen      cken noch Wegducken. Es gilt auch für uns
    und dem Schüren niederschwelliger In-         die Pflicht zur „zivilen Robustheit“ – gegen
    stinkte besteht. Und damit zugleich die       zunehmend antidemokratische Entwick-
    demokratische Pflicht zur Rationalität und    lungen und vor allem rechtsextremistische
    der Bindung der Meinungsfreiheit an die       Angriffe auf die wesentlichen Säulen unse-
    ethische Verantwortung des Wortes zur         rer Verfassung.
    belanglosen Nebensache unserer Demo-
    kratie macht. Je komplexer die Sachver-       Vor 70 Jahren verabschiedete der Parla-
    halte, desto einfacher die Antworten. Es      mentarische Rat unser Grundgesetz, das
    werden alle Schichten und Ebenen kom-         eine wehrhafte und nicht wehrlose Demo-
    plexer Sachverhalte so weit abgebaut, bis     kratie zum Inhalt hat. Die Mütter und Väter
    die Illusion übrigbleibt, man könne mit       unseres Grundgesetzes: Sie hatten ganz
    einfachen Mitteln alle Probleme lösen.        besonders das Menschheitsverbrechen
                                                  des Holocaust vor Augen. Und so wurde
                                                  das Grundgesetz vor allem als radikaler
                                                  Gegenentwurf zum Nazideutschland ver-
                                                  standen. Diese Mütter und Väter des
                                                  Grundgesetzes haben uns eine universelle
                                                  Formel geschenkt, hinterlassen, vererbt:
                                                  „Die Würde des Menschen ist unantast-
                                                  bar!“ Dieser Satz des ersten Artikels – wie
                                                  alle anderen Grundrechte und unsere
                                                  Rechtsordnung auch: Das ist die Klammer
                                                  unserer Gesellschaft, das ist der Kit un-
                                                  serer Demokratie – nie verhandelbar, nie
                                                  austauschbar, unantastbar, alternativlos.

                                                  Und manche Vorkommnisse, die für sich ge-
                                                  nommen nicht akzeptabel sind, werden mit
    Publikum                                      einer klammheimlichen Freude als Steilvor-
                                                  lage für die Erzeugung kollektiver Reflexe
    Mit dieser Methode wandeln sich Begriffe      instrumentalisiert. Hetze und Hass werden
    wie „Geflüchtete“ oder „Migranten“ oder       zu Pflichtaufgaben, Feinseligkeit wird zur
    „Integration“ zu aggressiven Reflexen, zu     notwendigen Weltanschauung, Weghören
    Projektionsflächen zynischer Formen der       und Wegsehen werden zur maximalsten
    Ablehnung und Hasstiraden.                    Form der vornehmen Distanzierung.

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Aktueller Extremismus - Gefahren für unsere Gesellschaft - Dokumentation 24. Forum Migration - Otto Benecke Stiftung eV
Publikum

Es braut sich was zusammen, ja es braunt       Ronald Lauder weiter: „Erstaunlicherweise
sich was zusammen am Horizont unseres          kommt der Hass von jungen Menschen,
demokratischen Systems. Übrigens nicht         die nicht wissen, was hier vor 80 Jahren
nur von den Rändern, sondern Schritt für       geschah. Die dritte Generation ist ahnungs-
Schritt mit einer hochmoralischen Aufla-       los, nicht nur in Deutschland, sondern
dung zunehmend auch aus der Mitte der          überall. Das müssen wir ändern.“
Gesellschaft – da dürfen wir uns nichts vor-
machen. Die Entgrenzung der Sprache ist        Zunehmend kommen Gefahren für unsere
die Generalprobe für den Ernstfall wider-      Demokratie nicht nur von den Rändern,
wärtigster Taten.                              sondern auch von denjenigen, denen jedes
                                               politische Engagement suspekt ist, die
Das gilt vorrangig für rechtsextremistische    mit einer Arroganz höchster moralischer
Äußerungen bis hin zu einem vielfach auf       Rechtfertigung eine Radikalablehnung des
leisen Sohlen daherschleichenden Antise-       Politischen inszenieren, die in der Ableh-
mitismus – bis hin zu dem gescheiterten        nung jedes politischen Engagements ihre
Terroranschlag auf die Synagoge in Halle.      scheinmoralische Rechtfertigung finden
Bei seinem Deutschland-Besuch einen Tag        in dem genüsslich verbreiteten Vorurteil,
danach, am 25. Oktober 2019, sagte der         Politik sei ein schmutziges Geschäft, um
Vorsitzende des Jüdischen Weltkongres-         im Einzelfall in den Politikern zugleich ihre
ses, Ronald Lauder: „Deutschland hat 6         Adressaten für den eigenen Lobbyismus zu
Millionen Gründe, besonders wachsam            finden.
gegen Neonazibewegungen und Judenhass
zu sein. Wenn es ein Land der Erde gibt,       Es ist mehr als irritierend, was jetzt in Thü-
das extrem empfindbar sein sollte, wenn        ringen passiert ist, wo Mitglieder der CDU
es um Antisemitismus geht, dann ist es         mit einer Zusammenarbeit mit der AfD
Deutschland.“                                  liebäugelten und sogar zusammen mit AfD

                                                                                                7
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und FDP einen Ministerpräsidenten wähl-       als die Ideen auszurotten, aus denen sie
    ten – mit dem Argument, man könne auf         geboren sind und ihre Kraft gezogen haben.
    Dauer nicht gegen 20 Prozent der Wähler       Nicht aller Faschismus ist mit Mussolini
    regieren. So fängt das an: Ähnliches hatte    oder Hitler zu Ende.
    der damalige Reichsbankpräsident Hjalmar
    Schacht gesagt, eine Führungspersön-          Um eines guten, eines dauerhaften Frie-
    lichkeit aus der Wirtschaft der Weimarer      dens willen müssen die gutgesinnten
    Republik, ein Republikaner, der sich wan-     Völker in aller Welt ihre Entschlossenheit
    delte zum Gegner der parlamentarischen        wahren, den bösen Geist zu zertreten, der
    Demokratie und prominenten Unterstützer       die Welt in den letzten Jahren überschattet
    Hitlers.                                      hat.“ Das sind bemerkenswerte Sätze von
                                                  Harry S. Truman in seinen Memoiren 1945.
    In einer Rede 1930 vor dem Wirtschaftsrat
    der Bayerischen Volkspartei erklärte er:
    „Richtig ist, dass man auf Dauer nicht
    gegen 20 Prozent der Wähler regieren
    kann, die in der letzten Reichstagwahl
    einen lebendigen Protest gegen die innere
    und äußere Einschnürung unseres Lebens-
    raumes zum Ausdruck bringen wollten.“
    Nichts anderes als ein Plädoyer für eine
    Regierungsbeteiligung der NSDAP. „Ein-
    schnürung unseres Lebensraumes“ –
    heute ist es die Flüchtlingszuwanderung.

    Heute kann keiner sagen, er habe es
    nicht gewusst. Heute kann es zunehmend
    jeder wissen – und zwar durch eine breite
    Aufklärung über die Gefahren des Extre-
    mismus.

    Im Übrigen: ein Extremismus von rechts
    und von links. Zu diesen beiden Seiten hat
    schon Friedrich Nietzsche erklärt:
    „Die beiden gegnerischen Parteien, die
    sozialistische und die nationale – oder wie
    die Namen in den verschiedenen Ländern
    Europas lauten mögen –, sind einander
    würdig: Neid und Faulheit sind die bewe-
    genden Mächte in ihnen beiden“ – ein
    interessantes, heute noch aktuelles Zitat.

    „Hitler existiert nicht mehr – aber die
    Samen seines Wahnwitzes haben in vie-
    len fanatischen Köpfen Wurzel gefasst. Es
    ist leichter, die Tyrannen zu beseitigen
    und die Konzentrationslager aufzuheben,

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Aktueller Extremismus - Gefahren für unsere Gesellschaft - Dokumentation 24. Forum Migration - Otto Benecke Stiftung eV
Grußwort Miguel Freund
Stellvertretender Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für
christlich-jüdische Zusammenarbeit
Mitglied der Gemeindevertretung der Synagogen-Gemeinde Köln

Vor einem Monat erinnerten wir nicht nur      – und aus diesem Abschnitt der Geschich-
an den Fall der Mauer, sondern auch an        te intensiver als je zuvor.
die Reichspogromnacht, an die Nacht vom
9. auf den 10. November 1938, als im
ganzen Deutschen Reich Synagogen demo-
liert, geschändet, verbrannt wurden.

Die Nacht vom 9. auf den 10. November
1938 war die Nacht, in der Nazideutsch-
land und der größte Teil seiner Einwohner
auf gewaltsame, auf mörderische Art und
Weise den hier lebenden Jüdinnen und Ju-
den zeigten, dass sie endgültig nicht mehr
zur deutschen Gesellschaft dazugehörten.

Im ganzen Reich zündete der faschistische
deutsche Mob die Synagogen an, zerstörte
und plünderte jüdische Geschäfte, Betrie-
be und Wohnungen, verprügelte, verge-
waltigte und tötete Juden und verschlepp-     Miguel Freund, Stellvertretender Vorsitzender
                                              der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische
te Tausende in die Konzentrationslager.       Zusammenarbeit

Der Schritt von der totalen Ausgrenzung,      Juden haben den Abgrund eindringlicher
Entrechtung und Beraubung der Juden           und schmerzhafter erfahren als andere.
in Deutschland hin zur Schoah, zum Ho-        Ihnen ist die Lagernummer, die einer
locaust, zur Vernichtung der europäischen     obrigkeitlich angeordneten Aberkennung
Jüdinnen und Juden war getan.                 der Menschenrechte gleichkam, tiefer
                                              eingebrannt als jedem anderen und sie
81 Jahre sind seitdem vergangen. 81 Jahre,    tragen dieses Mal mit sich, gleich ob sie
in denen der Mensch gelernt haben sollte.     selbst im Lager waren oder die Nach-
                                              kommen der Entronnenen sind. Seither
Bergen-Belsen, Auschwitz, Buchenwald,         haben besonders wir Juden – nicht nur
Dachau, Ghetto Warschau, Theresienstadt,      die Überlebenden der Vernichtungslager,
Babij Jar und Majdanek sind nicht nur Stät-   nicht nur die Verfolgten und Vertriebe-
ten der Erinnerung an unbeschreibliches       nen, sondern alle Juden – die Pflicht, die
Leid, an Demütigung und Entwürdigung          Geschichte gegenwärtig zu halten, wenn
und an einen millionenfachen qualvollen       sie von anderen abgewiesen oder verges-
Tod. Sie sind auch anmahnende Geschich-       sen wird. Uns Juden bleibt präsent, dass
te. Wir müssten aus der Geschichte lernen     wir nicht deshalb verfolgt und gepeinigt

                                                                                                    9
Aktueller Extremismus - Gefahren für unsere Gesellschaft - Dokumentation 24. Forum Migration - Otto Benecke Stiftung eV
wurden, weil wir so oder so gehandelt ha-        Nein, es war nicht genug. Der braune Mob
     ben, sondern allein deshalb, weil wir Juden      wütet weiter, er wird stärker.
     waren. Aber die Aufgabe, die Geschichte zu
     bewahren und mit ihr zu leben, kann nicht        Wie kann es sein, dass über 20 Prozent der
     den Juden allein gestellt sein. In und mit der   Bürgerinnen und Bürger in den nicht mehr so
     Geschichte leben wir alle. Keiner kann sich      neuen Bundesländern für eine zumindest in
     wegstehlen.                                      Teilen rechtsextreme Partei stimmen?

     Nun, ich bin sicher, dass Sie mit mir einer      Wie kann es sein, dass Wahlplakate mit dem
     Meinung sind, dass die nach dem Recht des        Text „Israel ist unser Unglück“ nicht nur auf-
     „Dritten Reiches“ begangenen Gräueltaten         gehängt werden, sondern Staatsanwaltschaf-
     nicht vergessen werden dürfen und auch           ten sie nicht als antisemitisch und volksver-
     nicht vergessen werden.                          hetzend einordnen?

     Aber haben wir wirklich aus dem Schreck-         Wie kann es sein, dass „Du Jude“ ein ge-
     lichen gelernt? Haben wir entschlossen           bräuchliches und akzeptiertes Schimpfwort
     „Halt“ nicht nur gerufen, sondern uns ener-      auf unseren Schulhöfen ist?
     gisch entgegengestellt, gegen jeden, der das
     Unglaubliche neu geschehen lassen wollte         Wie kann es sein, dass über 80 Jahre nach
     und will?                                        der Reichspogromnacht Anschläge auf Got-
                                                      teshäuser verübt werden – nicht nur auf jüdi-
     Wir haben gedacht, es sei genug, als vor 60      sche, auch auf muslimische –, Gotteshäuser
     Jahren die neu aufgebaute Synagoge in der        geräumt werden müssen, weil sie bedroht
     Roonstraße im benachbarten Köln feierlich        wurden?
     eingeweiht wurde – und wenige Wochen
     später ihre Fassade mit Hakenkreuzen be-         Wie kann es sein, dass mitten am Tag ein
     schmiert war.                                    Mann, schwer bewaffnet, minutenlang
                                                      versuchen kann, in eine mit zahlreichen
     Wir haben gedacht, es sei genug, nach            Betenden gefüllte Synagoge einzudringen,
     den rechtsextremen Gewalttaten in                über 500 Meter über eine Straße geht, dabei
     Hoyerswerda (1991), Rostock-Lichten-             Passanten erschießt – ohne dass im Einhalt
     hagen (1992), Mölln (1992), Solingen             geboten wird?
     (1993) und Lübeck (1996), als in den neunzi-
     ger Jahre Asylbewerberheime brannten.            Trotz alledem – wir dürfen nicht aufgeben,
                                                      wir dürfen nicht resignieren. Für uns Juden
     Wir haben gedacht, es sei genug, als Neo-        gilt sowieso: Weglaufen hilft nicht. Wir lassen
     nazis zehn Menschen ermordeten und alle          uns nicht einschüchtern und schon gar nicht
     wegschauten.                                     vertreiben. Wir haben ein Recht, hier zu sein.

     Wir haben gedacht, es sei genug, als 1994        Aber auch von der nichtjüdischen Mehrheits-
     ein Brandanschlag auf die Synagoge in            gesellschaft, von Ihnen erwarte ich: Empört
     Lübeck, 2000 Brandanschläge auf die              euch, steht auf und widersteht. Es ist genug.
     Synagogen in Erfurt und Düsseldorf, 2002
     ein Brandanschlag auf eine Synagoge in
     Berlin-Kreuzberg verübt und Friedhöfe ge-
     schändet wurden.

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Radikalisierte Mitte?
Toleranz und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
in Deutschland
Vortrag von Prof. Dr. Andreas Zick, Leiter des Instituts für interdisziplinäre
Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld
(redaktionell bearbeitet von Achim Hermes)

Wenn wir den Extremismus der Mitte nicht         die sich gegen die Gesellschaft gerichtet
verstehen, können wir bestimmte Konflikte        habe, sagte Professor Zick und untermauer-
nicht mehr konstruktiv regulieren. Dann          te das mit folgenden Zahlen:
werden sie destruktiv reguliert.“ Deshalb sei    „2018: 20.431 Straftaten polizeilich rechts
es wichtig, über den Extremismus der Mitte       eingestuft. Das ist aber nur das Hellfeld. Die
zu sprechen, sagte Professor Dr. Andreas         Zahlen liegen unweit höher. Und die Zahlen
Zick. Und so führte der Leiter des Instituts     kamen auch zustande, nachdem NGOs ge-
für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltfor-   nauer ermittelt haben. Gewalttaten rechts:
schung (IKG) an der Universität Bielefeld auf    156.646 Straftaten rassistisch, 400 mehr
dem 24. Forum Migration der Otto Benecke         als in 2017, 7.700 fremdenfeindlich, 1.800
Stiftung e.V. im Dezember 2019 in Bonn-Bad       ungefähr antisemitisch, Steigerung in 2018.
Godesberg ein in das Thema „Radikalisier-
te Mitte? Toleranz und gruppenbezogene
Menschenfeindlichkeit in Deutschland“.

Das Modell der Demokratie in Deutschland
folge der Idee einer starken Mitte mit Rän-
dern, hob Professor Zick hervor. Im Fokus
stehe das ständige Ringen „um die Herstel-
lung von Gleichwertigkeit“. Die Herausfor-
derung dabei: „Das gesellschaftliche Klima
ist gerade für Gesellschaften, die getragen
sind von einem Modell einer ausgleichen-
den Mitte, wichtig für den Zusammenhalt.
Und dafür gilt im Besonderen die Frage, in-
wieweit destruktive, radikale und extremis-
tische Meinungen – aber auch Affekte und
Ideologien – in die Mitte eindringen. Oder       Prof. Dr. Andreas Zick, Leiter des Instituts für interdis-
die Mitte sich selbst an den Rand begibt         ziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der
oder sich radikalisiert.“                        Universität Bielefeld

Solche Szenarien habe die Bundesrepublik         Wir sprechen dabei über ein Jahr, in dem
in den vergangenen Jahren erlebt mit einer       die Gesellschaft diesen Stresstest, Zuwan-
Hass- und Gewaltwelle in der Gesellschaft,       derung von Geflüchteten, Asylsuchenden
die aus der Gesellschaft gekommen sei und        erlebt hat und sich das Ganze beruhigt hat.

                                                                                                              11
Wir haben ungefähr 98.000 Menschen,              sich das in die Mitte hineinschiebt und es
     die klar extremistisch organisiert sind. Im      dann die Mitte verschiebt. Die Tat von Halle
     Bereich Rechtsextremismus wird nun mitt-         haben wir noch gar nicht verstanden. Ich
     lerweile auch offiziell jede zweite Person als   warne davor, sie einfach nur als strafrecht-
     gewaltorientiert eingestuft.“                    liches Problem zu bezeichnen. Wir müssen
                                                      verstehen, wie so ein Täter sich radikalisiert
     Der Konflikt- und Gewaltforscher mahn-           hat. Wir müssen das verstehen, weil er lei-
     te aber zur Vorsicht bei der Verwendung          der einer von uns war.
     der Begriffe „Extremismus der Mitte“ und
     „Radikalisierung“. Es gehe nicht darum,          Feindseligkeiten
     diese Begrifflichkeiten mit Ausdehnung auf
     die Mitte gleichsam „zu verwässern“. Zick:       Den Rechtsextremismus in der Mitte könne
     „Wenn ich von Radikalisierung und Extre-         man festmachen an Menschenfeindlichkeit,
     mismus rede, dann meine ich eine zuneh-          gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Vor-
     mende psychische, physische, ideologische        urteilsmustern, Abwertung, Diskriminierung,
     Gewalt gegen andere, die in Emotionen,           die gruppenbezogen sei: „Das ist Ausdruck
     Überzeugungen oder Verhaltensweisen              einer Meinung, die ich habe, weil ich mich mit
     liegt. Und wenn ich von Radikalisierung          bestimmten Gruppen identifiziere. Die Tat auf
     rede, dann meine ich dabei Radikalisierung       Lübcke ist von einem Einzeltäter verübt wor-
     als einen sozialen Prozess, der zu einer         den, der aber meinte, kollektiv zu handeln.“
     extremistischen Polarisierung von sozial-        Aus der empirischen Forschung stamme die
     geteilten Emotionen und Überzeugungen,           Erkenntnis: Wenn die eine Menschenfeind-
     also Ideologien und Verhaltensweisen, die        lichkeit da sei und es gebe eine zweite men-
     mit der gesellschaftlichen Norm inkonsis-        schenfeindliche Abwertung, dann gehe das
     tent sind, und zu Extremismus führt und          miteinander einher. Es sei ein Syndrom. Man
     letztendlich zu Gewalt. Und das variiert.        könne Antisemitismus und Islamfeindlichkeit
     Diese Gewalt ist zum Teil offen. Viel von        nicht gleichsetzen. Aber sie gingen mitein-
     dieser Gewalt sehen wir aber nicht. Sie ist      ander einher. Deshalb fordert der Leiter des
     versteckt, sie ist latent, sie ist verzögert,    Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und
     insbesondere der psychische Anteil. Darü-        Gewaltforschung (IKG) an der Universität
     ber haben wir auch keine Daten.“                 Bielefeld, sie gemeinsam zu diskutieren und
                                                      ständig zu analysieren, wieweit diese Men-
     Radikalisierung fange früh an, hat der Kon-      schenfeindlichkeit Ungleichwertigkeit her-
     flikt- und Gewaltforscher beobachtet. Es         stelle. Professor Zick: „Es geht um die Frage
     gebe ein großes Reservoir an Stereotypen         – und das ist für die Mitte eine Zerreißprobe
     in der Gesellschaft, Stereotypen, die zu-        –, wie viel Ungleichwertigkeit zwischen
     nächst einmal lediglich Zuschreibungen zu        Gruppen sickert in der Mitte ein.“
     bestimmten Merkmalen, Eigenschaften und
     Gruppen seien. „Die müssten noch über-           Dazu zitierte er aus der großen repräsenta-
     haupt nicht rassistisch sein.“ Stereotypen       tiven Studie seines Instituts vom März 2019,
     seien auch etwas anderes als Vorurteile.         der „Mitte-Studie“. Sie habe rückläufige
                                                      Menschenfeindlichkeit festgestellt mit Rück-
     Radikalisierung dagegen gehe einen Schritt       gängen beim Sexismus von 10,8 Prozent in
     weiter und führe heute zunehmend zu              2014 auf 7,5 Prozent 2018/2019, bei Homo-
     rechtspopulistischen Orientierungen, zu          phobie von 11,8 Prozent 2014 auf 8,3 Pro-
     rechtsextremem Terror. „Wenn wir das ver-        zent 2018/2019. Die Abwertung von Trans-
     stehen wollen, müssen wir wissen, wieweit        menschen bleibe mit 12,3 Prozent konstant.

12
Professor Zicks Fazit: „In den sogenannten      chenden steigen. Es gebe also in der Mitte
geschlechtsgruppenbasierten Vorurteilen         der Gesellschaft bei einzelnen Gruppen ein
haben wir über die vielen Jahre, in denen       Reservoir an offenen, feindseligen Meinun-
wir beobachten, einen Rücklauf. Und wenn        gen, schlussfolgerte Professor Zick. Diese
man tiefer hinschaut, sind das genau diese      Meinungen blieben zum Teil stabil, selbst
Gruppen, bei denen rechtlich sehr viel an       wenn die gesellschaftliche Realität sich
Gleichstellung passiert ist.“                   ändere und zum Beispiel die Zuwanderung
Dagegen bleibe Fremdenfeindlichkeit in der      abnehme. Zick: „Die empirische Beob-
Bevölkerung latent auf hohem Niveau. So         achtung sagt uns, dass die Feindseligkeit
stimme jeder Fünfte eindeutig einer im-         gegenüber asylsuchenden Geflüchteten
migrantenfeindlichen Meinung zu wie zum         angestiegen ist nach einem Rückgang der
Beispiel: „Es leben zu viele Ausländer in       Zuwanderung. Das ist in vielen anderen
Deutschland.“ Das meinen mit 35 Prozent         Bereichen und der Geschichte auch so:
ein gutes Drittel der Befragten in der reprä-   Der Rassismus gegen schwarze Amerika-
sentativen Stichprobe. In absoluten Zahlen      nerinnen und Amerikaner in Amerika ist
waren das 2.000 Personen. Der Aussage:          auch nach Krisenzeiten angestiegen. Damit
„Weiße sind zu Recht führend in der Welt“       müssen wir rechnen, denn das Stereotyp
folgten elf Prozent. Der Wert bleibe stabil     bleibt ja da.“
über die vergangenen sechs Jahre hinweg.
                                                „Was sind Ursachen dafür, wenn Mitglieder
Ebenfalls stabil halte sich der klassische      der Mitte sich offen menschenfeindlich
Antisemitismus, sechs Prozent der Befrag-       äußern?“, forschte Professor Zick. Dafür
ten bekundeten eine deutliche Zustimmung        gebe es eine Vielzahl von Faktoren, sagte er
zu offener, feindseliger Abwertung und eine     und nannte beispielhaft Alter, Geschlecht,
rassistische Abwertung von Jüdinnen und         Bildung, Schichtzugehörigkeit oder ob man
Juden. Ungefähr ein Viertel in der Bevölke-     etwa im Osten oder im Westen Deutsch-
rung zeige israelbezogenen Antisemitismus.      lands lebe. Aber: „Sobald Menschen mei-
Das definieren die Forscher des Bielefelder     nen, Zuwanderung generell sei eine Bedro-
Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung     hung, sobald Menschen meinen, sie sind
als einen Antisemitismus, der sich auf Israel   benachteiligt durch das, was in Migration
richte und der Israel-Kritik äußere unter Be-   stattfindet, sind sie bereit, auch Vorurteilen
zugnahme auf antisemitische Stereotype:         und Abwertungen zuzustimmen, Ungleich-
„Was der Staat Israel heute mit den Paläs-      wertigkeit herzustellen, vielleicht um selbst
tinensern macht, ist im Prinzip auch nichts     eine Integration zu erleben. Menschen-
anderes als das, was die Nazis im Dritten       feindlichkeit ist deswegen radikalisierungs-
Reich mit den Juden gemacht haben.“             fähig, weil es ein Integrationsversprechen
                                                für die Einheimischen ist.“
Für diese Aussage gebe es 39 Prozent
Zustimmung in der Mitte der Gesellschaft.       Es gebe ebenso eine Fülle von Faktoren, die
Jede fünfte Person teile eindeutig die Ab-      Menschenfeindlichkeit und Homogenität
wertung von Muslimen, führte Professor          erzeugten, analysierte Professor Zick weiter
Zick weiter aus. Die Aussage: „Muslimen         und nannte beispielhaft den Wunsch nach
sollte die Zuwanderung nach Deutschland         einer Rückkehr zu alten Zeiten, die Wieder-
untersagt werden“ habe zum Beispiel 18          herstellung alter Traditionen oder nationa-
Prozent Zustimmung gefunden. Die Abwer-         ler Identitäten wie auch das Beharren auf
tung von Sinti und Roma liege konstant bei      Dominanz und Vorrechten. Vielfalt werde
20 Prozent. Vorurteile gegenüber Asylsu-        als Bedrohung empfunden und erzeuge

                                                                                                 13
ebenfalls Menschenfeindlichkeit. Professor           nicht unbedingt immer nur um die politi-
     Zick: „Diese Feindseligkeiten, diese Men-            schen Themen, sondern um Gruppen, die
     schenfeindlichkeit sind nicht exklusiv zu be-        abgewertet werden in der Gesellschaft.“
     trachten, sondern sie sind eine Möglichkeit,
     sich zu radikalisieren und sich an radikale          Radikale Ideologien
     andere Ideologien zu heften.“
                                                          Rund 21 Prozent der Befragten vertreten
                                                          eindeutig rechtspopulistische Orientierun-
                                                          gen. Auch das habe die repräsentative „Mit-
                                                          te-Studie“ herausgearbeitet. Zwei bis drei
                                                          Prozent stimmten rechtsextremen Ideologi-
                                                          en zu. Und 25 Prozent der Befragten neigten
                                                          Einstellungen und Meinungen zu, die aus
                                                          dem Bereich der „Neuen Rechten“ kommen.
                                                          Drei Prozent befürworteten eine Diktatur, 13
                                                          Prozent einen nationalen Chauvinismus, also
                                                          „Deutschland first“. Drei Prozent der Befrag-
                                                          ten verharmlosten den Nationalsozialismus.
                                                          Fremdenfeindlichkeit äußerten neun Prozent
                                                          der Befragten, offen und direkt antisemitisch
                                                          waren zwei Prozent und sozialdarwinistisch
                                                          ebenfalls zwei Prozent. Schaue man sich das
                                                          anhand konkreter Aussagen an, so komme
     Prof. Dr. Andreas Zick und Moderator Joachim Frank   die Studie bei ausgewählten Fragen zu fol-
                                                          genden Ergebnissen: „Was Deutschland jetzt
     Interessant sei in diesem Zusammenhang,              braucht, ist eine einzige starke Partei, die die
     dass es offenbar bestimmte „Schlüsselwör-            Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“,
     ter“ gebe, die Hassbotschaften hervorrufen.          finden 22 Prozent der Befragten richtig, 13
     Professor Zick belegt dies mit einer weite-          Prozent sagten dazu „teils, teils“, der Rest
     ren Studie seines Instituts unter 800 Journa-        habe die Aussage abgelehnt.
     listinnen und Journalisten. Man habe ihnen
     die Frage gestellt: „Gibt es Ihrer Meinung           „Wir sollten einen Führer haben, der
     nach sogenannte ,hot issues‘, Schlagworte,           Deutschland zum Wohle aller mit starker
     die Angriffe auf Sie nahezu unvermeidlich            Hand regiert“, findet die Zustimmung von elf
     hervorrufen?“ 270 von ihnen bejahten diese           Prozent der Befragten in der Studie, sieben
     Frage. Es gebe „Signalbegriffe“, die sofort          Prozent sagen „teils, teils“, der Rest lehnt ab.
     Hassbotschaften gegen Journalistinnen                „Im nationalen Interesse ist unter bestimm-
     und Journalisten hervorriefen. Die Studie            ten Umständen eine Diktatur die bessere
     arbeite auch heraus, dass die meisten „hot           Staatsform“: vier Prozent Zustimmung, zehn
     issues“ sich durch Menschenfeindlichkeit             Prozent „teils, teils“.
     gegen andere Gruppen hervorheben. Das
     heiße, so der Konflikt- und Gewaltforscher,          Schaue man sich die rechtsextremen Ein-
     sobald Journalistinnen und Journalisten bei-         stellungen im Detail an, dann sei die Voraus-
     spielsweise über die Arbeit von NGOs, die            setzung dafür, jemanden als rechtsextrem
     Hilfe für Geflüchtete und ähnliche Themen            einzustufen, so Professor Zick, dass man 18
     berichteten, rufe das Hatespeech hervor.             rechtsextremen Einstellungen zustimme.
     Professor Zicks Schlussfolgerung: „Es geht           Aber wann stimme jemand zu, fragte der

14
Konflikt- und Gewaltforscher. „Was spielt       Was die letzte Studie auch deutlich gemacht
dabei eine Rolle? Ist es die wirtschaftliche    habe, „und das war ziemlich erschreckend“,
Lage? Das sind Sorgenbürgerinnen und            sei eine hohe Korrelation zwischen rechts-
Sorgenbürger, die wirtschaftlich vielleicht     populistischen Orientierungen, neurechten
abgestiegen sind. Die finanzielle Lage? Das     Einstellungen, rechtsextremen Einstellun-
sind die Verlierer, das sind die Menschen,      gen und einer allgemeinen Gewaltneigung.
die arm sind. Denn natürlich ist die Abgren-    Professor Zick: „Wir sehen in unseren Studi-
zung, die Menschenfeindlichkeit, die radi-      en, dass dieser Konnex zwischen politischer
kale Ideologie ein Inklusionsversprechen für    Orientierung und Gewaltneigung stärker
die Einheimischen, für die Alteingesessenen.    geworden ist. Das heißt, Menschen, die
Eine wirtschaftliche Bedrohung, eine Depri-     rechtsextreme, rechtspopulistische, neue
vation? Man fühlt sich benachteiligt gegen-     rechte Einstellungen teilen, neigen heute in
über denen, die zugewandert sind.               den neueren Studien stärker dazu, Gewalt
Eine Bedrohung der Identität? Die Leute füh-    als eine Option zu betrachten. Das ist eine
len sich deutsch, sie sind nationalstolz.       Radikalisierung.“
Es kann aber auch sein, dass Menschen
andere Ideologien teilen, Vielfalt ablehnen,
dominanzorientiert sind, autoritär, ökono-
mistisch eingestellt sind, die Demokratie
missachten, sich machtlos fühlen. Es kann
sein, dass Einkommen, Alter, Geschlecht,
West, Ost, Bildung eine Rolle spielen oder
andere Vorurteilsmuster. Weil Menschen
Vorurteile gegenüber bestimmten Gruppen
haben, neigen sie dazu, auch rechtsextre-
men Einstellungen zuzustimmen. Das sind
alles Faktoren, die möglich sind.“

In den Studien komme es darauf an abzu-
schätzen, welche dieser Faktoren relevant
seien. Nach Professor Zick gibt es zwei
Faktoren, die ein hohes Ausmaß an Varia-
tion bei den rechtsextremen Einstellungen
erklären. „Das ist die Polarisierung in der
Mitte der Gesellschaft. Sobald Menschen         Publikum
gegen Vielfalt sind und sobald Menschen
Vorurteile gegenüber bestimmten Gruppen         Das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und
haben, steigt ihre Zustimmungsbereitschaft      Gewaltforschung (IKG) an der Universität
zu rechtsextremen Einstellungen. Das ist die    Bielefeld habe das auch gemessen, indem es
Polarisierung des Rechtsextremismus in der      in 401 Kreisen Daten über vorurteilsbasierte
Mitte. Es ist eigentlich ein Kampf gegen die    Hasstaten ausgewertet hat. Dann habe man
Vielfalt und es geht um eine Abgrenzung von     analysiert, welche Wahlergebnisse die AfD
anderen Gruppen. Diese beiden Faktoren          dort erziele, wie die soziale Lage in diesen
erzeugen das. Deswegen ist Vielfalt und Teil-   Kreisen, wie hoch die Arbeitslosenquote sei
habe auf einmal wieder eine Zerreißprobe in     und welche Rolle das interkulturelle Leben
der Mitte der Gesellschaft.“                    spiele.

                                                                                                   15
Für die ostdeutschen Bundesländer zeige           Die Radikalisierung folge Mustern, die es
     sich, dass die Wahlerfolge der AfD insbe-         auch in anderen Bereichen gebe, sagte
     sondere in den Regionen hoch gewesen              Professor Zick. Er erläuterte dazu ein Modell
     seien, in denen ein Jahr zuvor die Arbeitslo-     des Radikalisierungsforschers Randy Brown.
     sigkeit hoch und der Ausländeranteil gering       Danach verlaufe Radikalisierung in verschie-
     war. Gleichzeitig habe es in Regionen mit         denen Gruppen sehr ähnlich. Das sei unab-
     AfD-Wahlerfolgen im Wahljahr signifikant          hängig davon, ob die Gruppen zum Beispiel
     mehr Hasstaten gegeben gegenüber Ge-              islamistisch oder rechtsextrem seien. Nach
     flüchteten. Es gebe zwar bisher keine Lang-       diesem Modell könnten Menschen sich als
     zeitstudie dazu, die die Kausalität messe,        radikalisierungsfähiger entpuppen, sobald
     sagte Professor Zick: „Aber das war schon         sie anfangen, sich zu beschweren oder chro-
     erschreckend, dass dort, wo eine Hasstat          nische Ungerechtigkeitsgefühle zu entwi-
     passiert ist, eine politische Einstellung nach-   ckeln und dabei auf Gruppen treffen. Ein-
     rückt.“                                           gebunden in ein radikales Kollektiv neigten
                                                       sie dann mehr zu Gewalt, sobald Ungerech-
     Betrachte man dagegen die westdeut-               tigkeitsgefühle entstünden. „Auf der dritten
     schen Bundesländer, so lasse sich dort zwar       Stufe werden diese Ungerechtigkeitsgefühle
     eine Vorhersage treffen auf die Wahl der          abgestellt, und dann gibt es so eine externa-
     AfD. Aber Vorhersagen zu rechtsextremen           le Zuschreibung, alles ist schlecht, alles sind
     Hasstaten seien mit den derzeitigen Da-           die anderen schuld und wir müssen gucken,
     ten und mit den Sozialstrukturdaten kaum          dass wir das jetzt bereinigen. Und dann fin-
     möglich. Für den Westen gelte: je höher           det eine Distanzierung von der Gesellschaft
     die Arbeitslosenquote, desto geringer die         statt.“
     Wahrscheinlichkeit der AfD-Wahl. Und diese
     Beobachtung erstrecke sich über alle Kreise       Eine solche Geschichte schreibe der Attentä-
     im Westen. Dagegen gebe es aber einen Zu-         ter von Halle, meinte Professor Zick. „Das ist
     sammenhang von Ausländeranteil und einer          ein Modell, und es ist natürlich populistisch.
     Präferenz für die AfD. Zicks Schlussfolgerung:    Man kann es aufblasen, man kann es unter-
     „Das zeigt, hier geht es um einen ökonomi-        füttern. Wir leben in Zeiten, in denen eine
     schen Konflikt, um Benachteiligung. Solche        ständige Propaganda und Aggregation von
     Wahlen sind Konfliktindikatoren.                  genau diesen Mustern bedient wird. Es sind
                                                       immer genau diese Muster: Etwas ist nicht
     Im Osten sind die Verhältnisse anders. Da         richtig, etwas ist nicht fair, etwas ist unge-
     können wir eine gute Vorhersage treffen           recht und so weiter und jemand ist böse.
     für Hasstaten. Da ist es der Ausländeran-         Wir wissen aus unserer Forschung, dass
     teil. Je niedriger der Ausländeranteil, desto     die Bindung an radikale Gruppen und der
     stärker ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine     radikale Konflikt zu anderen auch ein zweiter
     Hasstat passiert. Auch der Bezug Wahl der         Beschleunigungsfaktor sind. Das heißt, es
     AfD und Ausländeranteil, je niedriger der         geht um Propaganda, die aber eingebunden
     Ausländeranteil, desto höher ist die Wahr-        ist in Gruppen. Was wir in unserem On-
     scheinlichkeit, dass AfD gewählt wird. Und        line-Netzwerk sehen, aber auch in analogen
     hier sehen wir, die Arbeitslosenquote hat im      Gruppen: Extremistisch orientierte Gruppen
     Osten etwas mit der Hasstat zu tun, weniger       mobilisieren und erzeugen Zusammenhalt.
     mit der Ausländerquote. Das ist schon inte-       Es geht um das Angebot exklusiver Iden-
     ressant, das Ergebnis, weil es bedeutet, hier     titäten, es geht um Moral und Obligation.
     sind unterschiedliche Konfliktlagen, die eine     Wir werden in einen moralischen Konflikt
     ganz große Rolle spielen.“                        hineingezogen. Es müssen ständig Affektkul-

16
turen hergestellt werden. Das ist eine neue                      zu prognostizieren. Es werde nicht mehr
Herausforderung. Alles geht über Emotionen                       reichen, bei der Migration über die Notwen-
und Affektkulturen.“                                             digkeit der Integration und von Sprachkur-
                                                                 sen zu sprechen. Vielmehr müsse sich der
Rechtsextremismus und Radikalisierung sei-                       Fokus künftig darauf richten, welche kom-
en keine homogenen Phänomene. Die alte                           munalen Konflikte dabei entstehen können.
Formel, rechts, links oder islamistisch bil-                     Dafür müsse mehr Sensibilität entwickelt
deten eine homogene Gruppe, habe ausge-                          werden. Professor Zick: „Ich glaube, dass wir
dient. Vielmehr seien innerhalb der Milieus                      eine universelle Prävention gegen Hass und
Überbietungswettbewerbe in Affektkulturen                        Radikalisierung brauchen, dass man For-
und Gewalt zu beobachten. Sie beschleunig-                       schung und Praxis noch enger zusammen-
ten die Propaganda und machten es ihr so                         bringen muss. Das Ausmaß an Gewalt und
sehr viel einfacher. Man reagiere aufeinan-                      fehlendem Schutz ist immens. Ich denke, wir
der, sehr schnell und sehr variabel. Kurz: Es                    brauchen die Fähigkeit, Ungleichwertigkeit
gelinge extremistisch orientierten Gruppen                       auch tatsächlich zu erkennen.
durch exklusive Identitäten, Verschwörungs-
propaganda, Affektkulturen und Konflikt-                         Wir brauchen zivile Räume. Was bedeuten
und Gewaltwettbewerbe digital Zusammen-                          zivile Räume? Zivile Räume bedeuten maxi-
halt zu generieren und zu mobilisieren.                          male Fairness gegenüber allen Gruppierun-
                                                                 gen. Das muss der Raum sein, den wir so
Bremsen                                                          bestimmen, das muss das Parlament sein,
                                                                 die Schule, das ist diese Veranstaltung, maxi-
„Was kann man dagegen tun?“, fragte Pro-                         male Fairness bei Differenzen, gegenseitige
fessor Zick: „Gibt es Bremsen?“ Politische                       Wertschätzung, die über jeden Zweifel erha-
Bildung sei ein Mittel der Prävention. Aller-                    ben ist. Viele Menschen zweifeln und rücken
dings müsse sie auch erteilt werden. Profes-                     dann an den Rand. Wir brauchen deutlichen
sor Zick verwies dabei auf die Untersuchung                      Respekt gegenüber Vielfalt, Schutz, Präven-
„Ranking Politische Bildung 2018. Politische                     tion vor Gewalt. Und ich glaube, dass man
Bildung an allgemeinbildenden Schulen                            Integrationspotenziale und zivilgesellschaft-
der Sekundarstufe I im Bundesländerver-                          liche Kräfte besser erkennen und stärken
gleich“1. Danach betrug der Stundenanteil                        sollte.
„Politische Bildung“ in der Sekundarstufe
1 in Nordrhein-Westfalen 3,8 Prozent. In
den ostdeutschen Bundesländern zwischen
einem Prozent (Thüringen) und 4,3 Prozent
(Mecklenburg-Vorpommern). Schlusslicht
war Bayern mit einem Stundenanteil von 0,5
Prozent. „So wird das nicht gehen“, kritisier-
te Professor Zick. Die Gesellschaft müsse
dazu übergehen, Konflikte stärker zur Kennt-
nis zu nehmen und sie im Vorfeld bereits

1
    Mahir Gökbudak und Reinhold Hedtke: Ranking Politische Bildung 2018. Politische Bildung an allgemeinbildenden
    Schulen der Sekundarstufe I im Bundesländervergleich, in: Didaktik der Sozialwissenschaften, Social Science
    Education Working Papers, Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie, Hrsg.: Prof. Dr. Reinhold Hedtke und Prof.
    Dr. Bettina Zurstrassen, März 2019, Working Paper No. 9.

                                                                                                                           17
Politischer Extremismus im Jugendalter
     Vortrag von Michaela Glaser, Frankfurt University of Applied Sciences,
     Kompetenzzentrum Soziale Interventionsforschung, Frankfurt a.M.

      In meinem Beitrag möchte ich ein paar         wird der Einstieg mit ca. 16 bis 19 Jahren
      Überlegungen zum Thema der Tagung aus         insgesamt etwas später verortet; teilweise
      Jugendforschungs- und Jugendhilfepers-        finden sich aber auch hier Annäherungen
      pektive beisteuern. Das heißt, ich werde im   und Fundamentalisierungen bereits in der
      Folgenden nicht DAS Erklärungsmodell für      frühen Adoleszenz (so war der jüngste
      jugendlichen Extremismus skizzieren oder      Attentäter in Deutschland, der den [verhin-
      einen Überblick über die wichtigsten Erklä-   derten] Anschlag auf den Ludwigshafener
      rungsdimensionen geben. Hier wäre u.a.        Weihnachtsmarkt plante, gerade einmal 12
      auch über biografische Belastungen, des-      Jahre alt).
      integrierende Erfahrungen, Gelegenheits-
      strukturen, Gruppendynamiken zu reden.
      Sondern es geht mir um die Frage: Was
      ist jugendspezifisch an den Phänomenen,
      die wir (aktuell) unter „politischem Extre-
      mismus“ diskutieren? (Wobei ich mich auf
      die Phänomene „Rechtsextremismus“ und
     „islamistischer Extremismus“ beschränken
      werde, da aktuelle Erscheinungsformen im
      Phänomenbereich „links“ m.E. substanziell
      anders gelagert und konturiert und deshalb
      nicht in dieser Form vergleichbar sind.)

     Und daran anschließend: Was folgt daraus
     für unsere gesellschaftliche Perspektive auf
     diese Phänomene wie auch für unseren
                                                    Michaela Glaser, Frankfurt University of Applied Scien-
     gesellschaftlichen Umgang mit diesen?          ces, Kompetenzzentrum Soziale Interventionsforschung,
                                                    Frankfurt a.M.
     Beginnen möchte ich mit bestimmten Ju-
     gendspezifika der Phänomene, die geradezu
     „ins Auge springen“.                           Ein hoher Anteil junger Menschen fand sich
                                                    auch bei den Ausreisenden nach Syrien
     Einstiegsalter                                 (dort stellten die 18- bis 25-Jährigen die ins-
                                                    gesamt größte Gruppe, es finden sich aber
     Das ist zum einen das Alter derjenigen, die    auch teilweise deutlich Jüngere).
     sich extremistischen Strömungen anschlie-
     ßen. So wird das Einstiegsalter in rechtsex-   Mit anderen Worten: Hinwendungen zum
     tremen Szenen von feldkundigen Akteuren        rechten wie auch zum islamistischen Ex-
     inzwischen auf 13 bis 14 Jahre geschätzt. Es   tremismus und Einbindungen in entspre-
     sind aber auch Fälle von 11- und 12-Jähri-     chende Szenen finden oft im Jugend- und
     gen bekannt. Im islamistischen Extremismus     Jungerwachsenenalter statt.

18
Jugendkulturelle Elemente                       Zum anderen die Rekrutierungsvideos des
                                                sogenannten „Islamischen Staates“: Diese
Zum Zweiten sind sowohl Rechtsextremis-         von professionellen Anbietern erstellten
mus als auch islamistischer Extremismus         Propagandabotschaften knüpften in ihrer
in bestimmten Teilsegmenten wie auch in         Ästhetik gezielt an der Bildersprache von
ihren Rekrutierungs- und Propagandastra-        bei jungen Menschen angesagten Blockbus-
tegien stark durch jugendkulturelle Stilele-    tern und Videospielen an.
mente geprägt.
                                                Dass sich extremistische Propaganda in be-
Im Rechtsextremismus sind das seit vielen       sonderer Weise an junge Menschen richtet,
Jahren insbesondere jugendkulturell orien-      erklärt allerdings noch nicht, warum gerade
tierte Musikstile. Diese reichen inzwischen     junge Menschen solchen Botschaften ge-
auch längst über den klassischen „Rechts-       genüber besonders vulnerabel sind. Viel-
rock“ hinaus und in breite Spektren von bei     mehr lässt sich die jugendkulturelle Prägung
Jugendlichen „angesagten“ Musikstilen, wie      von Ansprachen auch als eine Anpassung
z.B. Hardcore oder Hip-Hop, hinein.             an die Zielgruppen begreifen: Extremis-
Gleiches gilt für den Kleidungsstil: Der Look   t*innen richten ihre Werbestrategien – wie
heutiger rechtsextremer Jugendlicher un-        alle guten Werbestrategen – an derjenigen
terscheidet sich meist deutlich vom Skin-       Adressat*innengruppe aus, bei der sie den
head-Outfit der 1980er/1990er Jahre oder        größten Zuspruch für ihr „Produkt“ erwarten.
dem traditionellen „Deutsche Mädel“-Look.       Warum das so ist, wird erkennbar, wenn wir
Er ist eher eine „Bricolage“ unterschiedli-     die Motive betrachten, die die Forschung bei
cher jugendkulturell angesagter Stilformen;     denjenigen identifiziert hat, die sich von ext-
die rechtsextremen Codes sind subtiler und      remistischen Strömungen angezogen fühlen.
die Übergänge zu Mainstream-Jugendkultu-
ren fließender geworden.                        Motive
Insgesamt an Bedeutung gewonnen hat die         Was sagt uns also vorliegende Forschung zu
(zunehmend professionelle) Nutzung digi-        den Motiven, aus denen heraus sich junge
taler Medien zu Werbe- und Rekrutierungs-       Menschen extremistischen Strömungen
zwecken, wobei sich viele Videobotschaften,     zuwenden?
etwa der „Identitären“, ebenfalls an einer
jugendkulturellen Ästhetik oder an jugend-      Als ein zentrales Motiv zeigt sich hier zum
kulturell geprägten Aktionsformen wie z.B.      einen die Suche nach Sinnstiftung und
Flashmobs orientieren.                          Orientierung im Leben – wobei diese Suche
                                                im Rechtsextremismus und islamistischen
Im Spektrum des islamistischen Extremis-        Extremismus durchaus unterschiedlich kon-
mus ist es vor allem der Salafismus, der in     turiert ist: Im islamistischen Extremismus ist
Deutschland von Beginn an eine stark ju-        sie oft dezidiert religiös gerahmt, im Rechts-
gendkulturelle Akzentuierung aufwies:           extremismus dagegen in der Regel weltlich
Zu nennen sind hier einmal die Inszenierun-     orientiert (auch wenn die rechtsextreme
gen selbsternannter Internetprediger wie        Ideologie z. T. durchaus transzendente Be-
Pierre Vogel oder sein ehemaliger Mitstreiter   dürfnisse bedient).
Sven Lau, deren Erfolg nicht zuletzt in ihrem
jugendgemäßen Auftreten gründet (bzw.           Des Weiteren zeigt sich eine Suche nach
gründete) und die sich in Sprache und Gestus    Gemeinschaft und Zugehörigkeit, auf die
stark jugendkultureller Elemente bedienen.      das exklusive Gemeinschaftsversprechen

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Publikum

     extremistischer Gruppen antwortet: im          allerdings z. T. schon von Beginn an, spätes-
     Rechtsextremismus mittels Konstruktion         tens jedoch mit Adaption der Ideologie, par-
     einer verschworenen Kameradschaft, im          tikularistisch gerahmt ist: Ungerechtigkeits-
     islamistischen Extremismus mit dem Topos       wahrnehmungen, Solidarität und Empathie
     der auserwählten Bruder- bzw. Schwestern-      gelten dann nur noch den Angehörigen der
     schaft.                                        eigenen Glaubensgemeinschaft bzw. des
                                                    eigenen nationalen Kollektivs. (Das kann so
     Erkennbar wird außerdem das Motiv einer        weit gehen, dass mit Angehörigen der kons-
     – auch bewusst provokativen – Abgrenzung       truierten „Eigengruppe“ zutiefst mitgelitten
     von der Elterngeneration und deren Werten.     wird, während anderen die Leidensfähigkeit
     (Im Falle des islamistischen Extremismus       abgesprochen wird.)
     beinhaltet dies oft sogar eine doppelte Ab-
     grenzung – einmal von den eigenen, häufig      Hinwendungen als adoleszente Suche
     wenig religiösen Eltern, zum anderen von
     der Mehrheitsgesellschaft, die als ableh-      Es sind also durchaus vielschichtige, unter-
     nend erlebt wird.)                             schiedlich gelagerte Motive, die allerdings
                                                    eines gemein haben: Es sind ganz über-
     Des Weiteren (vor allem, aber nicht nur) bei   wiegend Motivlagen, die charakteristisch
     jungen Männern eine Suche nach Gren-           für die Zeit der „Adoleszenz“ sind (bzw. in
     zerfahrungen und Abenteuern, die durch         dieser Lebensphase besonders virulent wer-
     den Nervenkitzel des Verbotenen und die        den). Denn diese markiert einen Lebensab-
     Aussicht auf heldenhafte Kämpfe „bedient“      schnitt, in dem es um nicht weniger als die
     wird. Es finden sich aber auch idealistisch    Lösung von der bisherigen Kernfamilie, die
     grundierte Motivationen, etwa das Engage-      Abgrenzung von der älteren Generation und
     ment gegen Ungerechtigkeiten oder für          das Ausloten und Austesten neuer sozialer
     eine (vermeintlich) bessere Gesellschafts-     Zugehörigkeiten geht wie auch um die erst-
     ordnung – ein Engagementinteresse, das         malige Entwicklung und Erprobung eines

20
eigenen, tragfähigen Wertesystems und Le-                      Verläufe und der in vielen Fällen temporäre
bensentwurfs. Es ist eine lebensgeschicht-                     Charakter einer Hinwendung zu extremisti-
liche Phase, die wie keine vor oder nach ihr                   schen bzw. Involviertheit in extremistische
von persönlichen und sozialen Umbrüchen                        Strömungen.
geprägt ist und deshalb oft mit ausgeprägter
Bereitschaft zu Probehandeln, starkem Ver-                     Diese Offenheit resultiert ihrerseits aus den
änderungswillen, aber eben auch massiven                       starken Suchbewegungen, durch die dieser
Verunsicherungen einhergeht.                                   Lebensabschnitt geprägt ist. Denn damit
                                                               verbunden ist auch, dass Orientierungen
Alle diese Aspekte spiegeln sich in den                        und Zugehörigkeiten in diesem Alter noch
Hinwendungsmotiven zu extremistischen                          vergleichsweise wenig gefestigt und ent-
Strömungen wider und werden von extre-                         sprechend wandelbar sind. So kennt die
mistischen Ideologien mit ihren Eindeutig-                     Rechtsextremismusforschung das soge-
keitsversprechen und exklusiven Zugehörig-                     nannte Phänomen des „maturing out“, d.h.
keitsangeboten auch abgeholt und bedient.                      das Herauswachsen aus Szenezugehörig-
                                                               keiten mit zunehmender Einfindung in das
Mit anderen Worten: Wir haben es bei                           Erwachsenenleben in Form von Familien-
solchen jugendlichen Hinwendungen auch                         gründung und/oder beruflicher Etablierung2.
mit adoleszenten Suchbewegungen junger
Menschen zu tun, die in ihrer Motivation                       Im Bereich des islamistischen Extremismus
häufig gar nicht so sehr anders gelagert                       ist Forschung zu Verläufen jenseits terroris-
sind als bei anderen jungen Menschen1. Die                     tischer Karrieren noch sehr begrenzt, wes-
besondere Vulnerabilität junger Menschen                       halb vergleichbare Befunde rar sind. Doch
für extremistische „Anrufungen“ resultiert                     auch hier zeigen sich Hinweise (u.a. in unse-
aus diesen Charakteristika der Jugendphase,                    ren eigenen Studien), dass Hinwendungen
steht über den auf diese Charakteristika                       und Zugehörigkeiten z. T. stark von adoles-
„antwortenden“ Aspekten extremistischer                        zenten Bedürfnissen getragen sind und mit
Ideologien.                                                    Abschluss dieser Lebensphase auch wieder
                                                               an Relevanz verlieren können.
Offenheit der Jugendphase
                                                               Anders formuliert: Ein kleiner Teil derje-
Zugleich zeichnen sich solche adoleszenten                     nigen, die sich im Jugendalter für extre-
Hinwendungen zum Extremismus aber auch                         mistische Szenen interessieren, geht auch
durch ein weiteres Charakteristikum aus,                       tatsächlich den Weg der „Radikalisierung“
das in den – berechtigten – Sorgen um die                      bis hin zu Gewalt und Terror. Viele wenden
möglichen Folgen jugendlicher sogenann-                        sich aber auch wieder ab, finden alternative
ter „Radikalisierungen“ manchmal etwas                         Möglichkeiten, um Sinn, Orientierung und
aus dem Blick gerät: die Offenheit dieser                      Zugehörigkeit zu erfahren bzw. zu entwickeln.

1
    Um Missverständnisse auszuschließen: Dieser Verweis auf lebensphasentypische Charakteristika ist nicht rela-
    tivierend (im Sinne von: „Es sind ja nur adoleszente Ablösungsprozesse“) gemeint. Wenn diese adoleszenten Be
    dürfnisse und Dynamiken auf entsprechende ideologische Deutungs- und Zugehörigkeitsangebote treffen, kann
    dies sukzessive, manchmal auch in erstaunlich kurzer Zeit, zur Übernahme von Deutungsmustern und Hand
    lungsbereitschaften führen.
2
    Damit ist allerdings nicht gesagt, dass mit einer solchen Distanzierung aus aktiven Szenestrukturen und dem
    Einstellen einschlägiger Handlungen auch stets eine Abkehr von inhaltlichen Positionen einhergeht.

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