"Alle Zeit verwart - Die Tübinger Totenbücher 1697 bis 1792
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Kunst und Kultur „Alle Zeit verwart ...“ Die Tübinger Totenbücher 1697 bis 1792 Wilfried Setzler Das amtlich-offizielle Registrieren und Beurkunden von Geburt, Heirat oder Tod lag in Deutschland, bis dies 1876 ein Reichsgesetz den bürgerlich-kommunalen Standesämtern übertrug, meist in kirchlichen Händen. In Württemberg waren dafür seit der Reformation die Pfarrämter zuständig. Was dabei notiert werden sollte und in welcher Form dies zu geschehen hatte, bestimmten verschiedene von Herzog Chris- toph in den 1550er-Jahren erlassene Gesetze. Chronologisch geordnet, sollten die entsprechenden Daten „ordentlich“ auf Papier gebracht werden, das dann, in Büchern gebunden, „alle Zeit bey der Kirchen verwart, behalten und pleiben“ sollte. V on Tübingen haben sich Ehebü- cher seit 1553, Taufbücher seit 1558, Totenbücher seit 1596 erhalten, Von vier Ausnahmen abgesehen, ent- stammten die Geehrten alle dem Kreis der einst zur Tübinger Stiftskirche gehö- pietistischen Frömmigkeit, spiegeln sie überaus anschaulich die einstige Gedenk- und Erinnerungskultur wider. einzusehen bis vor wenigen Jahren in der renden Geistlichkeit oder waren Famili- Anfänglich wurden sie großzügig mit Registratur der Stiftskirchengemeinde, enangehörige der dortigen Pfarrer, Dia- barocken Rahmungselementen versehen heute im Landeskirchlichen Archiv in kone, Frühprediger, Mesner. Dazu zählten und garniert, wobei die Maler die ein- Stuttgart. auch Theologen, Kanzler und Rektoren fachen Schmuckelemente der Girlanden Eine absolut einmalige kunst- und kul- der Universität, die über ihr Lehramt mit oder Kartuschen – Rosen, Weinlaub, Palm- turgeschichtliche Rarität bilden die der Stiftskirche verbunden waren. und Ölbaumzweige – vielfältig mit Sym- Tübinger Totenbücher, in denen Jahr Bei einigen Eintragungen, vor allem in bolen und allegorischen Darstellungen der für Jahr chronologisch geordnet die den ersten Jahrzehnten und bei Kindern, Vergänglichkeit, des Sterbens und Verge- Sterbefälle notiert wurden. Dabei han- wurden die herkömmlichen zwei oder hens anreicherten. Man sieht Totenköpfe, delt es sich um großformatige Bände, drei Textzeilen lediglich kunstvoll mit verrinnende Sanduhren, Sensenmänner, durchschnittliche Größe etwa 32 x 20 barocken Girlanden, Ornamenten oder erlöschende Kerzen, gebrochene Blumen. cm, die aus zusammengebundenen Kartuschen umrandet, die mit Engeln eng beschriebenen Heften aus Papier und Todessymbolen ausgeziert waren. Inbilder des Jenseits bestehen. Ihr Umfang variiert grob Doch auch schon von Anfang an und Ab den 1720er-Jahren werden die Rah- betrachtet zwischen 300 und 650 Seiten. schließlich dominierend wurde den zu mungen zurückhaltender. Dafür aber Dementsprechend umfassen sie auch ehrenden Personen je eine ganze Seite übernehmen die Bilder zunehmend den unterschiedliche Zeiträume. Die Ster- mit Text und Malereien gewidmet. In der Part erläuternder Texte. Die Totenbücher beeinträge benötigten in Tübingen bei Regel wurden nun diese Seiten – ab 1751 werden zu einem Arsenal von Bildern des normalen Verhältnissen etwa 15 Seiten sind es immerhin 57 Einzelarbeiten – auf Gedenkens und Erinnerns, das anschau- pro Jahr. separaten Blättern gleicher Papierstruk- lich die damalige Glaubenswelt spiegelt tur und Größe gestaltet und danach in und dies im Stil des Barocks oder Roko- Kostbares Kleinod die Totenbücher eingeheftet. kos, in Formen, die dem protestantischen In ihnen wurden, wie auch anderswo Württemberg jener Zeit ansonsten eher üblich, nach dem Sterbetag der Name und Spiegel der Frömmigkeit fremd sind. Die Gemälde vermitteln nun das Alter des Verstorbenen, sein Famili- Einen festen Bestandteil dieser bunten enstand und sein Beruf, die Todesursache Seiten bilden die Texte, die hier sehr viel und, mitunter, seine besonderen Lebens- umfangreicher waren und über die übli- umstände verzeichnet. Doch anders als chen knappen Informationen hinausgin- irgendwo sonst wurden in Tübingen gen. Weit ausführlicher wurden beispiels- Seite aus dem Totenbuch zum Jahr 1759: in den Jahren zwischen 1697 und 1792, weise bei den Männern deren Karrieren, Text mit Rokoko-Rahmung, typisch also über fast ein Jahrhundert, einzelne bei den Frauen meist deren Tugenden für den aus Brüssel stammenden Maler Personen auch durch bunte Tempe- beschrieben, nicht selten wurden Bibel- Josef Franz Malcote (unten links signiert: ra-Malereien hervorgehoben: 36 Männer, sprüche, allgemeine Lebensweisheiten de Malcote, peintre) zehn Frauen und 29 Kinder. Ähnliches oder bekannte Zitate beigegeben, mitun- Schmuckblatt für Maria Angelika gibt es in Württemberg, ja im gesamten ter auch selbstverfasste Gedichte. Die oft geb. Helfferich, gestiftet von „dem höchst deutschen Sprachraum nirgendwo: die panegyrisch anmutenden Texte sind vol- betrübten Wittwer: Johann Friderich Tübinger Totenbücher sind ein Sonder- ler zeittypischem Pathos. Geprägt von der Cotta, der heil. Schrifft Dokt. und Profeß.“ fall, ein kostbares Kleinod. damals in Württemberg weit verbreiteten 52 Tübinger Blätter 2023
Kunst und Kultur entstandenen Gemälde, deren Mittel- Foto: Landeskirchliches Archiv, Stuttgart punkt nun ein Porträt des Verstorbenen bildet. Mesner und Mahler Mit der Hervorhebung und Verzierung einzelner Einträge im Totenbuch begon- nen hat höchstwahrscheinlich der Stifts- kirchenmesner Andreas Herzog zum Tod des 1697 verstorbenen Johann Andreas Osiander, Propst der Stiftskirche und Kanzler der Universität. Auf Herzog verweist eine Signatur wie auch der ihn selbst 1704 betreffende Todeseintrag. In ihm heißt es, er sei ein „Tüncher“, also ein handwerklicher Maler, und 18 Jahre lang Mesner der Stiftskirche gewesen. Für die Illustration dieser „Sterbeurkunde“ hat sein Sohn Johann Michael Her- zog gesorgt, der dem Vater im Beruf als Tüncher und im Amt als Mesner später nachfolgte und nach seinem Tod 1733 ebenfalls im Totenbuch eine malerische Würdigung erhielt. Man wird annehmen dürfen, dass die Mesner sich mit der Ausmalung ein klei- nes Nebenbrot verdient haben. An den Gemälden angebrachte Signaturen, aber auch stilistische Merkmale verdeutli- chen, dass auch andere Maler zu den Ausschmückungen beigetragen haben. Einige sind auch zu identifizieren. Dazu zählt Gottfried Schreiber, der seit 1704 in Tübingen vor allem als Porträtist nach- gewiesen werden kann. Sein malerisches Können belegen die bis heute erhaltenen großflächigen schwarzen Seccomalereien im Universitätskarzer an der Münzgasse, womit ihn die Universität 1736 beauftragt Foto: Universitätsbibliothek Tübingen In bunter barocker Rahmung: der Eintrag für Johann Abel Bedenkrecht, „Bürger und Zeugmacher, allhier, Stifts-Mößner“, 24 Jahre, 4 Monate und 6 Tage alt. gewissermaßen Blicke ins Jenseits, ins zweien ihrer Enkel an der Hand den drit- Paradies und illustrieren die Vorstellung ten am Tor zum Paradies erwartet. von Auferstehung und Wiedersehen. Immer mehr verschmelzen im Lauf der Nicht selten beginnen sie zu „erzählen“, Zeit Texte, Rahmen und Bilder zu einem beispielsweise von Engeln, die den Ver- Gesamtkunstwerk, mit dem auf ganz storbenen vor Gottes Thron geleiten oder unterschiedliche Art und Weise eines Ver- von verstorbenen Verwandten, denen storbenen gedacht wird, ähnlich wie man man dann wieder begegnet. Geradezu es bei den zahlreichen Epitaphien in der Silhouette des Maler Jacob Friedrich Dörr rührend beschreibt beispielsweise ein Tübinger Stiftskirche findet. Besonders im Stammbuch des Theologiestudenten Bild, wie die verstorbene Großmutter mit eindrucksvoll sind die letzten ab 1772 Johann Christian Mayer 11. März 1783. 54 Tübinger Blätter 2023
Kunst und Kultur Erinnerung an Tabitha Elisabetha, „Zwil- Foto: Landeskirchliches Archiv, Stuttgart lingstöchterchen“ von Johannes Zeller, Professor und „Abend-Prediger“ in Tübin- gen, und Catharina Margaretha geb. Widt, das am Tag seiner Geburt gestorben ist und am 22. Dez 1741 begraben wurde. Zum Schluss des Jahres bilanzierte der Kirchenbuchführer: „Summa Deren in disem 1741sten Jahr Verstorbenen Persohnen 199, Männer 22 Weiber 37 Studiosus 2 Ledige Gesellen 4 Ledige Töchtern 9 Kinder 125“. hatte. Von seinem Sohn Jakob Daniel Schreiber, bekannt auch als Illustrator von studentischen Stammbüchern, stam- men mindestens sechs zwischen 1747 und 1749 mit „DS“ signierte Totenbuchblät- ter. Wie sein Vater war er „Kunstmahler“ und als solcher 1744 an der Universität immatrikuliert. Ein akademischer Bürger war auch Joseph Franz Malcote (1710–1791) aus Brüssel, der sich 1740 mit Frau und Kindern an der Universität einschrieb. Er ist zwischen 1752 und 1768 als Maler im Totenbuch belegt. Charakteristisch für seine, meist mit „Malcote peintre“ signierten Seiten sind rokokotypisch schwungvolle Rocail- le-Rahmungen aus asymmetrisch ange- ordnetem Muschelwerk. Erhalten haben sich von ihm in der Galerie der Tübinger Universität auch mehrere Professoren- porträts. Tätig war er zudem als „peintre de la cour de Kirchheim“, als Hofmaler der herzoglichen Witwe Johanna Elisa- beth von Württemberg, die in Kirchheim u. T. residierte. Überliefert ist von seinen Werken auch ein schöner klassizistischer Kupferstich, der einen Triumphbogen Diese führte ihn bald an den kaiserlichen sechsen seiner Blätter Porträts der Ver- zeigt, den die Universität zum Besuch Hof nach Wien, wo er rasch zu einem der storbenen ein, die vom Willen gekenn- Herzog Karl Eugens 1767 hatte errichten beliebtesten Porträtisten seiner Zeit avan- zeichnet sind, die Persönlichkeit des Dar- lassen. Ohne jegliche Hervorhebung oder cierte. In fast allen großen Kunstsamm- gestellten, „individuelle Merkmale und Verzierung vermelden zu ihm die Toten- lungen Mitteleuropas sind Werke von Eigenheiten“ abzubilden. Mit Blick auf bücher am 13. Mai 1791: „starb am Nach- ihm zu finden. ein in der Universitätsgalerie befindliches laß der Natur alt 81 Jahre“. Porträt des Professors Wilhelm Gott- Ein Blatt, 1763 Dorothea Faber gewid- Höhepunkt fried Plouquet bescheinigt ihm Werner met, trägt die Signatur des Malers August Einen Höhepunkt der Totenbuchmalerei Fleischhauer in seinem Standardwerk Friedrich Oelenheinz (1745–1804). Er bilden die zwischen 1772 und 1785 ent- „Bildnis in Württemberg“, seine Bilder war damals 18 Jahre alt, am Ende einer standenen zehn Blätter von Jakob Fried- seien „fortschrittlicher“ als die anderer Ausbildung zum Maler bei seinem Tübin- rich Dörr. Seine Werke sind stilistisch, zeitgenössischer Maler. ger Onkel Wolfgang Dietrich Majer und künstlerisch und technisch von hoher Dörr, 1750 als jüngster Sohn des Tübin- am Anfang einer beachtlichen Karriere. Qualität. Als neues Element führt er auf ger Bürgermeisters Christoph Adam Tübinger Blätter 2023 55
Kunst und Kultur Dörr geboren und im elterlichen Haus Söhne, von denen sich der ältere, der 1782 mus gespannt hatte, gänzlich ab. Die gegenüber der Stiftskirche am Holzmarkt geborene und 1809 zum Universitätszei- Ursachen dafür sind unbekannt. aufgewachsen, betätigte sich nicht nur chenlehrer ernannte Christoph Friedrich, Eine Rolle gespielt haben dürften dabei als Porträtist und Kunstmaler, sondern als viel beschäftigter Porträtist und Land- Gedanken der Aufklärung, Ideen der auch als Zeichenlehrer. 1780 wurde er schaftsmaler später einen weit über die Französischen Revolution, neue Ansich- durch Eintragung in die Universitätsma- Grenzen Tübingens und Württembergs ten über Religion und Glauben, über Tod trikel Civis Academicus. Er zählte damals hinaus reichenden Bekanntheitsgrad und Leben, sowie die Suche nach neuen zu jenen „geschikten Meistern“, die „im erwarb. Formen angemessenen Gedenkens und Zeichnen und Mahlen“, wie der Univer- Den Bildern von Jakob Friedrich Dörr Erinnerns. sitätshistoriograph August Friedrich Bök folgt 1792 noch ein letztes, dem Stadt- 1774 berichtet, „den Studierenden man- pfarrer Christian Friedrich Höchstetter Un-vergessene Bildwelt cherley nützliche Kenntnisse verschaf- gewidmetes, Schmuckblatt von unbe- Erstaunlich ist, wie wenig Beachtung fen können“. Er starb 1788, jung, wie im kannter Hand. Danach bricht der Reigen, die Malereien in den Tübinger Totenbü- Totenbuch notiert, mit 38 Jahren „an der der sich über hundert Jahre vom Barock chern, ja diese Bücher insgesamt bislang Schwindsucht“. Er hinterließ zwei kleine über das Rokoko bis hin zum Klassizis- erfahren haben – erstaunlich, nicht nur wegen den darin befindlichen Malereien. Die Bücher beinhalten ja auch wertvolle historische Dokumente zur Tübinger Stadtgeschichte. Sie sind angereichert Foto: Landeskirchliches Archiv, Stuttgart mit außerordentlich vielen und präzisen Daten, die trotz ihrer knappen Informa- tionen sehr anschaulich alltägliche Bege- benheiten aufzeichnen, beispielsweise wenn der Registrator am Ende eines Jah- res nüchtern die Sterbezahlen bilanziert: 199 Tote, darunter 125 Kinder. Aus dem Totenbuch 1770: Erinnerung an Christine Dorothea Märklin, Tochter des Stadtpfarrers Johann Friedrich Märklin und der Dorothea Gottliebin geb. Hiller, vierjährig verstorben. Rechts unten am Rand: Christina Dorothea gehet zu dem Geschwister Das schon im Garten Gottes stehet In Paradieses Flor. Sie ihrer Eltern Lust und Freude, Voll reger Zärtlichkeit, ist nun ein Schäflein jener Weide, wo Jesus sich erfreut. Wie munter eilt sie zu empfangen Die sel’ge Großmamma! Wir aber ruffen mit Verlangen: Ach wären wir auch da! Geb. 1766, den 10. Sept. gestorben 1770, den 25. August an den umgehenden Blat- tern, begraben den 27. August. M. Johann Friderich Märklin, diaconus Ecclesiae, Dorothea Gottliebin geb. Hillerin. 56 Tübinger Blätter 2023
Kunst und Kultur Die Missachtung dieser Bücher, ihr Schat- Foto: Landeskirchliches Archiv, Stuttgart tendasein ist allerdings ein ihnen anhaf- tendes Wesenselement. Die in ihnen praktizierte Erinnerungskultur spielt sich im Verborgenen ab, sucht nicht, wie sonst bei Denkmalen üblich, die öffent- liche Aufmerksamkeit. Sie bleibt intim und individuell. Sie verschwindet, kaum geschehen, zwischen zwei Buchdeckeln und verstaubt. Und so überlebt sie dann auch alle Zeiten und kann immer wieder entdeckt und neu gepflegt werden. M Erinnerung an den am 5. November 1776 verstorbenen Johann Jacob Baur, „Doctor und außerordentlicher vierter Professor der Theologie, Special-Superintendent und Stadtpfarrer der Tübingischen Gemeine“. Am Bild links unten wird der nur wenige Monate zuvor (10.Juli 1776) im Alter von 7 Jahren verstorbenen Tochter Maria Elisabetha Friderica gedacht. Maler: Jacob Friedrich Dörr. Anmerkungen: Bald können über die von den kirchlichen Archiven betriebene Internetplattform „Archion“ alle Kirchenbücher, gegen Gebühr, eingesehen werden. Neben eigenen Recherchen im Landes- kirchlichen Archiv in Stuttgart und im Tübinger Stadtarchiv stützt sich dieser Aufsatz auf Aufzeichnungen von Hermann Jantzen (1927–2013), langjähriger Pfarrer an der Tübinger Stiftskirche, die dieser dem Autor überlassen hat. Tübinger Blätter 2023 57
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