Allgemeinmedizin - highlighted - Bayerisches Ärzteblatt
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Allgemeinmedizin – highlighted Hausärzte sind für die Bevölkerung die Fall 1: Brustschmerz – Ein Notfall seine aktuellen Beschwerden ebenfalls „vom ersten Ansprechpartner bei Gesundheits- Herzen“ kommen. störungen aller Art und haben es deshalb Anamnese bei Verdacht auf eine koronare mit einem breiten Spektrum von Anliegen, Herzkrankheit (KHK) Diagnostik Ein 64-jähriger Patient (Rentner) erscheint vor- In der körperlichen Untersuchung zeigt sich ein Symptomen und Erkrankungen zu tun. mittags, ohne Termin, zur Sprechstunde in der Blutdruck von 140/90 mmHg und ein regelmä- Hausärzte kennen in der Regel ihre Pa- Hausarztpraxis. Bisher erfolgte die Vorstellung ßiger Puls von 72/Min. Die Auskultation von tienten und deren Vorgeschichte – auch in der Praxis nur gelegentlich, überwiegend auf- Herz und Lunge ergeben keine pathologischen deren sozialen Kontext – schon über einen grund von leichten Erkrankungen wie Atem- Befunde. Durch thorakale Palpation ist kein Brust- langen Zeitraum, was zum Beispiel für die wegsinfekten. Chronische Erkrankungen oder schmerz auslösbar, die Untersuchung der Wir- Einschätzung von unklaren Befunden oder Vormedikation sind keine bekannt. Der aktuelle belsäule und des Abdomens bleiben ebenfalls das Ausmaß der geplanten Diagnostik ein Anlass zur Vorstellung sind jetzt immer wieder unauffällig. Das sofort durchgeführte EKG zeigt, unschätzbarer Vorteil ist. Ein großer Teil auftretende Brustschmerzen innerhalb der ver- verglichen mit einem Vor-EKG, keine pathologi- der in der Hausarztpraxis präsentierten Er- gangenen drei Wochen. Die Schmerzen würden schen Veränderungen (ein AV-Block Grad 1 ist krankungen ist mithilfe einer gründlichen nicht in Abhängigkeit von körperlicher Belastung bereits bekannt). Anamnese, der körperlichen Untersuchung auftreten, sondern eher in Ruhe. Atemnot habe er in diesen Situationen keine. Die Qualität des Zunächst werden die erhobenen Befunde mit dem und einiger weniger technischer Tests si- Brustschmerzes wird als „drückend“ beschrie- Patienten besprochen. In der hausärztlichen Ver- cher zu diagnostizieren und erfolgreich ben, ein „Engegefühl“ in der Brust wird verneint, sorgung kommen zahlreiche Ursachen für Brust- zu behandeln. Dabei kommt es darauf an, ausstrahlen würden die Schmerzen nicht. Stress schmerzen in Betracht (Tabelle 1). Diese sollten zu- gefährlich abwendbare Verläufe zu erken- oder familiäre Probleme werden nicht angege- nächst ausgeschlossen werden, um im Anschluss nen, aber gleichzeitig Über- und Fehlver- ben, Nikotinkonsum wird verneint. Der Patient die Vortest-Wahrscheinlichkeit für eine zugrunde sorgung zu vermeiden. Die folgenden drei gibt an, dass sein Vater „immer Herzprobleme“ liegende KHK zu bestimmen. Laut Marburger Kasuistiken sind erlebte, leicht modifizier- gehabt habe, genauere Ursachen kann er aber Herz-Score (Tabelle 2) [1] sind bei diesem Pati- te Fälle aus der eigenen Praxis. nicht nennen. Der Patient vermutet aber, dass enten drei Kriterien erfüllt (männlich > 55 Jahre, 208 Bayerisches Ärzteblatt 5/2019
Titelthema Professorin Dr. Anne Simmenroth Dr. Til Uebel Sebastian Fleer Felix Jede Professorin Dr. Ildikó Gágyor Schmerzen durch Palpation nicht reproduzier- farkt“ bzw. ACS und die damit notwendige Kli- In der Klinik wird bei dem Patienten bei anhal- bar, Patient vermutet Herzkrankheit als Ursa- nikeinweisung erklärt. Bis zum Eintreffen des tenden Brustschmerzen und im Verlauf anstei- che), womit die klinische Wahrscheinlichkeit Transports wird er in der Praxis erstversorgt: genden Herzenzymen eine Herzkatheterunter- für das Vorliegen einer KHK bei 17 Prozent liegt Der Oberkörper wird mit 30° hochgelagert, Herz- suchung durchgeführt. In dieser zeigt sich eine (die Wahrscheinlichkeiten des Marburger Herz- rhythmus und Blutdruck werden engmaschig hochgradige Stenose der Seitenwandarterie RCX Scores haben sich durch neue Validierungsstu- überwacht. Nach Legen eines venösen Zugangs woraufhin dem Patienten ein beschichteter Stent dien seit Erscheinen der DEGAM-Leitlinie „Brust- erhält der Patient 500 mg ASS intravenös, wei- (Drug eluting stent – DES) implantiert wird. schmerz“ [2] geändert – Leitlinie befindet sich terhin wird ihm Enoxaparin-Natrium gewichts- aktuell in Revision). Eine Wiedervorstellung in adaptiert subkutan verabreicht (1 mg/kg/KG). Die Diskussion und Fazit der kommenden Woche zur Durchführung eines Schmerzen werden vom Patienten als noch tolera- Bei Patienten mit Brustschmerzen kann der Mar- Belastungs-EKGs wird vereinbart. bel angegeben, auf das ihm angebotene Morphin burger Herz-Score [1] helfen, die Situation bezüg- will er verzichten, ein Medikament zur Anxiolyse lich des Verdachts auf das Vorliegen einer KHK Wiedervorstellung bei akutem wird vom Patienten ebenfalls abgelehnt. Bei einer besser einzuschätzen. Je nach Wahrscheinlichkeit Koronarsyndrom (ACS) durchgehenden Sauerstoffsättigung von über 90 kann danach weitere Diagnostik geplant werden. Nach zwei Tagen stellt sich der Patient erneut Prozent und fehlender Atemnot wird auf Sauer- Bei Verdacht auf ein ACS ist die Anwendung eines wegen Brustschmerzen vor, dieses Mal seien stoffgabe verzichtet. Der Patient bleibt bis zum Troponin-Schnelltests in den wenigsten Situatio die Schmerzen stärker als bisher, würden schon Eintreffen des Notarztes kreislaufstabil und wird nen sinnvoll, da ein negatives Ergebnis erst bei ei- seit über zwei Stunden ununterbrochen beste- von diesem in ein nahegelegenes Krankenhaus ner Symptomdauer von über zwölf Stunden einen hen und auch zum Zeitpunkt der Vorstellung mit Herzkatheterlabor gebracht. Myokardinfarkt sicher ausschließen kann – ein noch anhalten. Diagnostik und Sofortmaßnahmen in der Praxis Ein umgehend durchgeführtes Ruhe-EKG zeigt wiederum keine Ischämiezeichen, weitere Vi- Häufige Brustschmerzursachen in der hausärztlichen Versorgung talparameter: RR 150/90 mmHg, Puls 90/Min., » Brustwandsyndrom (zum Beispiel Interkostalneuralgie) 46 Prozent regelmäßig, SpO2 97 Prozent. Es werden zwei Hub Nitrolingualspray verabreicht, die keinen we- » Stabile KHK (zum Beispiel Angina Pectoris beim Treppensteigen) 11 Prozent sentlichen Effekt auf die Brustschmerzen zeigen. » Psychogene Ursachen (zum Beispiel Depression, Angstneurose) 10 Prozent Auf einen Troponin-Schnelltest wird verzichtet (siehe Fazit und Diskussion). » Respiratorische Infekte (zum Beispiel Pleuritis) 10 Prozent » Gastrointestinale Ursachen (zum Beispiel Reflux) 6 Prozent Über die Rettungsleitstelle werden umgehend Notarzt und Rettungswagen angefordert, dem » Akutes Koronarsyndrom (ACS) 3,5 Prozent Patienten wird die Verdachtsdiagnose „Herzin- Tabelle 1: Häufigkeit von Brustschmerzursachen in der hausärztlichen Versorgung. Bayerisches Ärzteblatt 5/2019 209
Titelthema Marburger Herz-Score bestehenden Schmerzen im Unterleib und Al- gurie vor. Sie verneint vaginalen Ausfluss zu Kriterien (jeweils 1 Punkt) haben und berichtet zudem, dass sie einen neu- » Alter/Geschlecht (Männer ≥ 55 Jahre und Frauen ≥ 65 Jahre) en Freund habe und mit diesem regelmäßig » Bekannte vaskuläre Erkrankung zumeist geschützten Geschlechtsverkehr habe. » Beschwerden belastungsabhängig Der Freund habe jedoch keinerlei Beschwerden. » Schmerzen sind durch Palpation nicht reproduzierbar Eine Schwangerschaft verneinte die Patientin, » Patient vermutet Herzkrankheit als Ursache sichere Verhütungsmethoden seien aber nicht Punkte Wahrscheinlichkeit KHK angewendet worden. Sie habe selbst bereits ges- tern zwei Mal Ibuprofen 400 mg eingenommen, 0 bis 1 < 1 Prozent sehr gering was aber keine essenzielle Besserung gebracht 2 4 Prozent gering habe. Die Patientin bringt eine angebroche- ne Medikamentenpackung mit Ciprofloxacin 3 17 Prozent * mittel 250 mg Tabletten von ihrer Tante mit und fragt, 4 bis 5 50 Prozent hoch ob sie die nehmen solle, bei der Tante hätte das „immer so gut geholfen“. Tabelle 2: Marburger Herz-Score. * Die in der DEGAM-Leitlinie „Brustschmerz“ angegebenen 25 Prozent für das mittlere Risiko sind nicht mehr aktuell und werden nach Revision auf 17 Prozent geändert (siehe auch www.uni-marburg.de/fb20/allgprmed/ Diagnostik forschung/projekte/mhs/mhs-intro.html). In der körperlichen Untersuchung zeigt sich ein dezenter Druckschmerz im mittleren Unterbauch, aber kein Rücken- oder Nierenklopfschmerz. Die Patientin hat kein Fieber. Der vorab von der negativer Test bringt bei einer kürzeren Symp- Bioverfügbarkeit von oral verabreichten P2Y12- medizinischen Fachangestellten mit Urin-Stix tomdauer keinen Informationsgewinn [2]. Die Antagonisten wie Clopidogrel oder Ticagrelor untersuchte Urin bestätigt die bereits anamnes- Entscheidung, den Patienten in eine Klinik einzu- assoziiert ist [3]. In Anbetracht von fehlenden tisch sehr sichere Diagnose eines unkomplizierten weisen, sollte bei fehlenden EKG-Veränderungen, Alternativen wird bei starken Schmerzen jedoch Harnwegsinfekts durch eine Leukozyturie (++) also anhand des klinischen Bildes, erfolgen. Hierbei weiterhin die Gabe von Opiaten, wie zum Bei- und Nitritnachweis (++). Die Diagnose lautet: kann der Marburger Herz-Score die entscheiden- spiel Morphin, empfohlen. unkomplizierter Harnwegsinfekt. de Hilfe sein. Ein Wert von 2 und mehr Punkten legt eine weitere Diagnostik in der Klinik nahe. Komplizierende Faktoren eines Harnweginfekts Fall 2: Brennen beim sind in Tabelle 3 [4] aufgeführt. Bezüglich der Sofortmaßnahmen bei ACS emp- Wasserlassen – Eine häufige fiehlt die DEGAM-Leitlinie „Brustschmerz“, Behandlungssituation Therapie Betablocker im ambulanten Bereich nur zu- Aufgrund des Leidensdrucks der Patientin und der rückhaltend einzusetzen. Die Anwendung von Anamnese nicht wirksamen konservativen Therapie, kommt Opiaten ist seit einigen Jahren Gegenstand von Eine in der Praxis seit Jahren bekannte 17-jäh- eine antibiotische Therapie in Betracht. Jedoch Debatten, da deren Gabe mit einer reduzierten rige Patientin stellt sich mit seit zwei Tagen sollte aufgrund der Resistenzlage und aktuell neu aufgezeigten unerwünschten Nebenwirkun- gen auf das frühere Erstlinienpräparat aus der Gruppe der Fluorchinolone verzichtet werden. Aufgrund der Praktikabilität der Einmaldosis, der hohen Wirksamkeit und (in diesem Fall) mögli- Komplizierende Faktoren eines Harnwegsinfekts cher Schwangerschaft wird der Patientin eine » Männliches Geschlecht, Kinder, Schwangere Einmaldosis Fosfomycin-Trometamol 3.000 mg als Granulat verordnet. Die Patientin wird ins- » Anatomische Harntrakt-Fehlbildung oder Abflussstörung truiert, es am Abend mindestens zwei Stunden » Zustand nach Operationen an den Harnwegen nach dem Essen kurz vor dem Schlafengehen » Dauerkatheterisierung einzunehmen, damit das Medikament lokal in der Harnblase über Nacht wirken kann. » Chronisch renale Erkrankung » Immunsuppression Eine Liste der empfohlenen Medikamente und der nicht empfohlenen Medikamentengruppen Besondere Patientengruppen und besondere Untersuchungsbefunde befindet sich in Tabelle 4 [5]. » Iatrogene Manipulation (zum Beispiel Dauerkatheter, Zystoskopie) Fazit » Rezidivierende Harnwegsinfekte (≥ zwei Infektionen pro Halbjahr oder ≥ drei pro Jahr) Eine symptomatische Therapie ist zum Beispiel » Neurologische Grunderkrankung (zum Beispiel Querschnittslähmung, mit Ibuprofen und gesteigerter Flüssigkeitszufuhr Multiple Sklerose, Demenz) möglich. Die von pflanzlichen Mitteln ist noch » Flankenschmerzen/Fieber nicht ausreichend belegt. Bei unkomplizierten Harnwegsinfekten sollte bei der Verschreibung » Diabetes mit Folgeerkrankungen oder instabiler Stoffwechsellage von Antibiotika die Entwicklung von Resistenzen Tabelle 3: Komplizierende Faktoren eines Harnwegsinfekts [4]. berücksichtigt werden. Medikamente der ersten 210 Bayerisches Ärzteblatt 5/2019
Titelthema Substanz Tagesdosierung Dauer sonst rüstige Selbstversorgerin wird von der Tochter gefahren, begleitet und gestützt. Bei Empfohlene Antibiotika zur Therapie des unkomplizierten Harnwegsinfekts der körperlichen Untersuchung zeigt sich kein Fosfomycin-Trometamol 3.000 mg 1 x täglich ein Tag wegweisender Befund. Nitrofurantoin 50 mg 4 x täglich sieben Tage Nitrofurantoin retard 100 mg 2 x täglich fünf Tage Procedere Die eingeleitete probatorische Schmerzthera- Nitroxolin 250 mg 3 x täglich fünf Tage pie mit Novaminsulfon (bei Kontraindikatio- Pivmecinillam 400 mg 2 bis 3 x täglich drei Tage nen für NSAR) ohne nähere Verdachtsdiagnose Empfohlen, wenn lokale Resistenzlage unter 20 Prozent liegt (Fragen Sie in Ihrem Labor nach!) war erfolglos geblieben. Wegen Schmerzen am Trimethoprim 200 mg 2 x täglich drei Tage Ansatz des Os pubis wird eine farbcodierte Ve- nenkompressions-Sonografie (KUS) im Bereich Nicht empfohlene Mittel zur Behandlung des unkomplizierten Harnwegsinfekts der proximalen Venen durchgeführt und an- Cephalosporine schließend im Labor mittels D-Dimer eine tiefe Fluorchinolone (Gyrasehemmer) Beinvenenthrombose (TVT) ausgeschlossen. Bei Cotrimoxazol anhaltenden Schmerzen erfolgt tags darauf die stationäre Einweisung, bei der eine Beckenring- Tabelle 4: Liste der empfohlenen Medikamente und der nicht empfohlenen Medikamentengruppen bei der Behand- fraktur (Schambein) diagnostiziert wird. Sie ver- lung des unkomplizierten Harnwegsinfekts (angelehnt an die aktuelle S3-Leitlinie zur Behandlung des unkomplizier- ten Harnwegsinfekts [5]). bleibt zunächst stationär. Nach Beendigung der ebenfalls stationären Anschluss-Heilbehandlung wird die Patientin erneut vorstellig. Sie berichtet, es sei bereits bei Antritt zur Rehabilitationsmaßnahme zu Wahl sind Fosfomycin, Nitrofurantoin, Nitroxolin, Fall 3: Tiefe Beinvenenthrombose – einer Schwellung des linken Beines gekom- Pivmecillinam und – je nach Resistenzlage im ei- men. Eine subkutane Thromboseprophylaxe genen Labor – Trimethoprim. Fluorchinolone und Ein abwendbar gefährlicher Verlauf sei sowohl während des Aufenthalts in der Cephalosporine sollten nicht bei unkomplizierten Universitäts-Orthopädie als auch während Harnwegsinfekten verwendet werden, da erstere Anamnese der Rehabilitation durchgehend gegeben. Bei ein ungünstiges Nebenwirkungsprofil aufweisen Eine 79-jährige Patientin stellt sich zunächst jetzt klinisch deutlichem Verdacht auf eine und letztere oral verabreicht einen nicht ausrei- beim orthopädischen Facharzt, dann in der TVT wird diese tags darauf duplexs onografisch chend verfügbaren Wirkspiegel aufbauen. Beide Hausarztpraxis, wegen heftiger Schmerzen im bestätigt. Hinweise auf eine Lungenarterien- tragen unnötigerweise zur allgemeinen Ausbrei- Hüftgelenk und in der linken Leiste beim Ge- embolie (LAE) finden sich nicht. Die am Tag tung resistenter Keime bei. hen vor. Ein Trauma wird nicht erinnert. Die anlässlich der Entlassung beendete Therapie Anzeige Schaugst amoi vorbei! Mit unserem Vor-Ort-Prinzip geben wir unserer Dienstleistung immer ein persönliches Gesicht. Lernen Sie uns direkt in München kennen! IHRE PERFEKTE PRIVATABRECHNUNG Wir machen das! Sprechen Sie mit uns: 089 2000 325-10 • www.pvsbayern.de/angebot
Titelthema Morbidität wie Progredienz der TVT, von neuen Klinische Charakteristik Score Lungenembolien und langfristiger Schädigung » Aktive Tumorerkrankung 1 im Sinne eines postthrombotischen Syndroms. Von solchen Folgen ist in der Hälfte der Fälle kli- » Lähmung oder kurzzeitige Immobilisation 1 nisch relevanter TVTs auszugehen, wie das Robert Koch-Institut 2009 in einem Gesundheitsbericht » Bettruhe (> drei Tage); größerer chirurgischer Eingriff 1 feststellte [7] (wiedergegeben werden hier ansons- mit Bettlägerigkeit (< zwölf Wochen) ten vor allem Empfehlungen und Inhalte aus der S2k-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie der Ven- » Schmerz/Verhärtung entlang der tiefen Venen 1 enthrombose und der Lungenembolie der deut- schen Gesellschaft für Angiologie von 2017 [8]) . » Schwellung ganzes Bein 1 Die korrekte Diagnosestellung und die frühzeitige » Unterschenkelschwellung 1 Behandlung einer TVT senken die unmittelbaren und kurzfristigen Risiken. » Eindrückbares Ödem am symptomatischen Bein 1 » Kollateralvenen 1 Die geriatrischen isolierten, meist vorderen Be- ckenringfrakturen, werden bei über 65-jähri- » Frühere, dokumentierte TBVT 1 gen Patienten überwiegend beim weiblichen Geschlecht diagnostiziert. Ursächlich sind Os- Tabelle 5: Wells-Score – validierter klinischer Score zur Ermittlung der klinischen Wahrscheinlichkeit einer teoporose oder andere Knochenstoffwechsel- Venenthrombose. Summenscore > 2 = hohe Wahrscheinlichkeit für eine TVT [10]. störungen, Medikamentennebenwirkungen oder Bestrahlungsfolgen. Häufig sind Traumen zwar Auslöser, werden aber von den Betroffenen nicht erinnert. Daher werden diese Frakturen auch spät diagnostiziert, und anders als bei jungen Patien- mit niedermolekularen Heparinen wird wieder Bei der akuten tiefen Bein- und Beckenvenen- ten, nicht frühzeitig im Rahmen standardisierter aufgenommen und, an den Nierenwert adap- thrombose handelt es sich per definitionem um Untersuchungen gefunden [9]. tiert, intensiviert. Eine orale Antikoagulation eine partielle oder vollständige Verlegung der mit Phenprocoumon wird noch am gleichen Leit- und Muskelvenen durch Blutgerinnsel, die Abschätzung der Wahrscheinlichkeit/ Tag überlappend eingeleitet. zum appositionellen Wachstum und zur Embo- Wells-Score lisation in die Lunge neigen [6]. Der diagnostische Prozess sollte mit der Einschät- Diagnose zung der klinischen Wahrscheinlichkeit beginnen TVT nach Immobilisation infolge einer Scham- Das Übersehen einer vorhandenen venösen Throm- (Abbildung 1). Hierzu eignen sich validierte Scores beinfraktur trotz adäquater Thrombosepro- bose oder Thromboembolie (VTE) beinhaltet ein (Tabelle 5) [10]. Wenn bildgebende Diagnostik phylaxe. hohes Risiko der Mortalität und der kurzfristigen notwendig wird, aber nicht zeitnah zur Verfügung steht, sollte bei hoher klinischer Wahrscheinlich- keit mit einer Antikoagulation begonnen werden und zu einem späteren Zeitpunkt der definitive Nachweis oder Ausschluss einer Thrombose mit Bildgebung geführt werden [8]. In diesem Fall war gleich zweimal die Notwendigkeit gege- nicht hoch negativ ben, den Wells-Score zu erheben. Während zum KW * D-Dimer nicht behandeln Zeitpunkt der Erstvorstellung (Schmerz entlang der Venen, Immobilisation wegen Schmerzen) der Wells-Score nur grenzwertig war, musste hoch positiv bei der erneuten Vorstellung eine Score-Sum- me von sieben erhoben werden (Lähmung oder kürzliche Immobilisation der Beine; Bettruhe positiv negativ [> drei Tage]; Schwellung eines ganzen Beines behandeln KUS ** nicht behandeln und Unterschenkelschwellung > drei Zentimeter gegenüber Gegenseite; eindrückbares Ödem am symptomatischen Bein, Kollateralvenen). Selbst nicht eindeutig wenn die erreichte Punktezahl im Score wegen der Fraktur gekürzt wird (alternative Diagnose mindestens ebenso wahrscheinlich wie Venen- positiv negativ thrombose), ist zu diesem Zeitpunkt eine deut- KUS-Kontrolle behandeln nicht behandeln lich erhöhte Score-Summe vorhanden gewesen. nach vier bis sieben Tagen D-Dimere Abbildung 1: Diagnostischer Algorithmus bei Verdacht auf Venenthrombose [8]. Ein D-Dimer-Test soll nur nach vorheriger Ein- * KW = Klinische Wahrscheinlichkeit; ** KUS = Kompressionsultraschall der Beinvenen schätzung der klinischen Wahrscheinlichkeit 212 Bayerisches Ärzteblatt 5/2019
Titelthema durchgeführt werden. Bei niedriger oder mittlerer klinischer Wahrscheinlichkeit und normalen D- Dimeren (es gelten altersadjustierte Normwerte) ist keine weitere Thrombose-Diagnostik erfor- derlich. Bei hoher klinischer Wahrscheinlichkeit soll kein D-Dimer-Test durchgeführt werden (niedrige Spezifität, damit häufig falsch-positive Ergebnisse), sondern gleich eine weiterführende Diagnostik erfolgen [8]. Jeder klinische Verdacht auf Venenthrombose muss umgehend soweit abgeklärt werden, so- dass eine therapeutische Entscheidung erfolgen kann. Anamnese und körperliche Untersuchung allein sind hierzu nicht ausreichend. Dies kann in der Hausarztpraxis oder in einer spezialisierten Praxis rasch mit einem konventionellen Ultra- Foto: Privat schallgerät erfolgen. Kompressionsultraschall (KUS) Für die Diagnostik einer Thrombose der tiefen Abbildung 2: Kompressionsultraschall der Beinvene. Beinvenen wird an mehreren Stellen die Kompres- sion der Beinvenen untersucht, im abgebildeten Fall der der Vena femoralis. Die Untersuchung beurteilt die Komprimierbarkeit des Gefäßes und erfolgt im korrekt eingestellten B-Bild (Abbil- dung 2). Eine fehlende Komprimierbarkeit gilt ca. 0,1 Prozent. Die Patienten dieser Gruppe sind Die Autoren erklären, dass sie keine finan- als Hinweis auf eine Thrombose und wird mit grundsätzlich der Hochrisikogruppe zuzuordnen. ziellen oder persönlichen Beziehungen zu einem Bild des Gefäßlumens jeweils vor und nach Dritten haben, deren Interessen vom Ma- Kompression dokumentiert [8]. Therapie nuskript positiv oder negativ betroffen sein Unsere Patientin erhielt ab dem Zeitpunkt der Ver- könnten. Die Untersuchung wird im Seitenvergleich dachtsdiagnose einmal täglich Enoxaparin Natrium durchgeführt. Als weiterführende Diagnostik und noch am Tag der Bestätigung überlappend werden im Rahmen der Funktionsdiagnostik Phenprocoumon. Auch während der Rehabilita- mit Ultraschall auch Atemmanöver und wei- tionsmaßnahme war Enoxaparin, wenn auch im tere diagnostische Test eingesetzt, um Fluss- Sinne der Prophylaxe und daher niedriger dosiert, Autoren veränderungen zu beurteilen. Bezüglich einer verwendet worden. Das betroffene Bein wird direkt Beckenpathologie kann bei klinischem Verdacht mit einem Kompressionsverband versorgt [12]. Professorin Dr. Anne Simmenroth eine ergänzende venöse MR-Phlebographie Direktorin durchgeführt werden [8]. Fazit Da bei fehlender Thromboseprophylaxe bei bis Dr. Til Uebel Thromboseprophylaxe zu sechs von zehn Patienten eine TVT auftritt, Ärztlicher Mitarbeiter In der klinischen Routine wird das individu- sollten Patienten mit Verletzungen an Gelenken, elle Gesamt-Risiko für eine VTE in der Regel Knochen und Weichteilen der unteren Extremität Sebastian Fleer den Kategorien niedriges, mittleres oder ho- eine adäquate Thromboseprophylaxe erhalten. Ärztlicher Mitarbeiter hes Risiko zugeordnet [11]. Diese dreistufige Die Durchführung einer Thromboseprophylaxe Einteilung folgt praktischen Erwägungen und reduziert das Risiko einer TVT/LAE zwar deutlich Felix Jede kann nicht durch Studien belegt oder wider- um 40 bis 55 Prozent absolut, aber trotzdem Ärztlicher Mitarbeiter legt werden. Neben dem Alter als mittelgradig lediglich nur von ca. 60 Prozent auf fünf bis 20 prädisponierendem Risikofaktor kann das Risiko Prozent. Bei jedem 20. Betroffenen muss also Professorin Dr. Ildikó Gágyor durch eine Immobilisation (zum Beispiel strikte trotz adäquat durchgeführter Thromboseprophy- Direktorin Bettlägerigkeit) deutlich erhöht werden. Die laxe mit einer relevanten TVT, wie im berichteten Gesamtrate an Thrombosen liegt ohne prophy- Fall, gerechnet werden. Klinische repetierende Korrespondenzadresse: laktische Maßnahmen bei bis zu 60 Prozent. Untersuchungen auf das Auftreten von TVE sind Professorin Dr. Anne Simmenroth, Selbst unter der Anwendung medikamentöser unerlässlich, will man potenziell gefährliche Ver- Direktorin, Institut für Allgemeinmedizin, und physikalischer Prophylaxemaßnahmen liegt läufe verhindern. Patienten sollten angehalten Universitätsklinikum Würzburg, die Rate asymptomatischer distaler Thrombo- werden, ihren Behandlern neu aufgetretene Be- Josef-Schneider-Straße 2/Haus D7, sen bei zehn bis 20 Prozent, asymptomatischer schwerden umgehend mitzuteilen. 97080 Würzburg, Tel. 0931 20147801, proximaler Thrombosen bei fünf bis zehn Pro- E-Mail: Simmenroth_a@ukw.de, zent, symptomatischer Thrombosen bei zwei Das Literaturverzeichnis kann im Internet Internet: www.allgemeinmedizin.uni- bis fünf Prozent, die Rate von Lungenembolien unter www.bayerisches-ärzteblatt.de (Ak- wuerzburg.de bei ca. 0,2 Prozent und die Rate letaler LAE bei tuelles Heft) abgerufen werden. Bayerisches Ärzteblatt 5/2019 213
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