Archäologie einer Beziehung - Deutsches Ärzteblatt

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Archäologie einer Beziehung - Deutsches Ärzteblatt
THEMEN DER ZEIT

          ARZT UND PATIENT

          Archäologie einer Beziehung
          Die Rolle des Arztes in der Begegnung mit dem Patienten ist vielfältig und oft
          widersprüchlich. Ein „archäologisches“ Schichtenmodell stellt die verschiedenen
          Funktionen in einen zeitlichen und – metaphorisch – räumlichen Zusammenhang.

          Norbert Donner-Banzhoff

                 rzt als Droge, Patriarch, Part-    lers lässt sich in allen Epochen
          A      ner oder Biotechniker – viele
          Konzeptionen sind vorgeschlagen
                                                    und Kulturen ausmachen.
                                                       Das wesentliche Arbeits-
          worden, um das Verhältnis zum Pa-         instrument des Heilers ist
          tienten zu verstehen. Dabei ergeben       das Ritual. Heute oft nega-
          sich markante Widersprüche zwi-           tiv besetzt („leeres Ritu-
          schen den Auffassungen. Die hier          al“), ist rituelles Verhal-
          vorgeschlagene „Archäologie“ ver-         ten die mächtigste Form
          sucht, diese Widersprüche im Um-          menschlicher Kommuni-
          gang von Arzt und Patient in einen        kation. Es besteht in der
          zeitlichen und – metaphorisch –           „Aufführung“ symbolischer,
          räumlichen Zusammenhang zu brin-          durch Überlieferung gepräg-
          gen. Dabei werden vier grundlegen-        ter Verhaltensweisen für erns-
          de ärztliche Funktionen postuliert,       te Lebenssituationen (2). Dass
          die jeweils typisch für bestimmte         sich Konsultationen häufig
          Epochen der Medizingeschichte ge-         nicht ohne die Verschreibung ei-
          wesen sind. Sie haben dabei die           nes Medikaments zum glück-
          vorangegangenen Funktionen „ver-          lichen Ende bringen lassen,
          deckt“, ohne diese jedoch zu elimi-       unterstreicht die Aktualität
          nieren (Grafik).                          dieser Überlegungen. In der
                                                    Verschreibung eines (klinisch
          Heiler                                    wirkungslosen und ökolo-
          Die ursprüngliche Aufgabe eines je-       gisch gefährlichen) Antibio-
          den Heilers – unabhängig von Qua-         tikums steckt für den Patien-
          lifikation und Gesundheitssystem –        ten die Anerkennung seines
          ist das Eingehen auf das Kranksein.       Leids, die Legitimierung
          Ernsteres Kranksein beinhaltet (nach      der Inanspruchnahme, die
          Uexküll und Wesiack) (1):                 Hoffnung auf rasche Besse-
             ● Beeinträchtigung von Wohlbe-         rung durch eine hochwirksa-
                 finden und Leistungsfähigkeit      me Therapie und die Über-
             ● dadurch hervorgerufene sozia-        windung von Bedrohung und
                 le Isolierung und Bedrohung        Isolierung. Ähnlich die Chef-
                 des sozialen Status                arztvisite im Krankenhaus:
             ● existenzielle Not und Bedro-         Diese wird gerade dann als
                 hung.                              Erfolg empfunden, wenn der
              Jeder Heiler muss die Funktion        Oberarzt zuvor die Station
          eines Experten und eines Partners in      von realen Probleme berei-
          sich vereinigen. Aufgabe des Ex-          nigt hat. Ihr Sinn liegt offen-
          perten ist es, Beschwerden zu lin-        bar jenseits der medizini-
          dern und die Leistungsfähigkeit wie-      schen Problemlösung (3).
          derherzustellen; der Partner hilft, so-
          ziale Isolierung zu überwinden und        Detektiv
          existenzielle Ängste zu ertragen.         Der Schluss von „Daten“,
              So unterschiedlich die Heilkunde      die der Patient liefert, auf
          in der Geschichte praktiziert worden      allgemeine Kategorien (Dia-
                                                                                       Foto: iStockphoto

          ist: Die Kombination von Experte          gnosen) erfolgte in allen
          und Partner in der Person des Hei-        medizinischen Systemen. Ab

A 2078                                                                             Deutsches Ärzteblatt | Jg. 109 | Heft 42 | 19. Oktober 2012
Archäologie einer Beziehung - Deutsches Ärzteblatt
THEMEN DER ZEIT

Mitte des 18. Jahrhunderts wurde       stieg die Gefahr, dass Ärzte die
die Beobachtung am Kranken             Subjektivität ihrer Patienten ver-
jedoch systematisiert und mit          nachlässigten und diese sich als
pathologisch-anatomischen Befun-       Objekt zu empfinden begannen.
den begründet (4). Damit wurden
gerade auch solche Zeichen wich-       Gatekeeper
tig, die für das Erleben des Patien-   Die ärztliche Gatekeeper-Funktion
ten am Rande lagen oder über-          bezieht sich auf die Indikationsstel-
haupt nicht bemerkt worden wa-         lung für medizinisch wirksame The-
ren. Die Kommunikation zwischen        rapien und die Berechtigung, Leis-
Patient und Arzt musste sich da-       tungen eines solidarischen Sozial-
durch ändern (5).                      systems in Anspruch zu nehmen.
   Der Detektiv Sherlock Holmes           Für eine individuelle Heilung
war eine Schöpfung des Schrift-        vieler Erkrankungen standen Ärz-
stellers und Arztes Sir Arthur         ten erst im 20. Jahrhundert wirklich
Conan Doyle. Zur selben Zeit           wirksame Maßnahmen zur Verfü-
schlug der Kunsthistoriker Gio-        gung (8). Seitdem müssen sie präzi-
vanni Morelli vor, Gemälde an-         se die Patienten identifizieren, die
  hand von peripheren und wenig        von einer Therapie bei vertretba-
    beachteten Partien (Ohren,         rem Risiko für Nebenwirkungen
     Hände, Füße dargestellter Per-    profitieren. Bei anderen Maßnah-
     sonen) Künstlern zuzuordnen;      men geht es weniger um die indi-
     Morelli hatte ebenfalls Medi-     viduelle Sorge gegenüber dem
      zin studiert. Auch die Psycho-   Kranken, sondern um eine breitere
      analyse des Arztes Sigmund       Verantwortung (zum Beispiel ratio-
      Freud schloss von scheinbar      nale Antibiotikatherapie).

  GRAFIK

  Schichtenmodell in historischer Dimension

                                                                                                         Die Abbildung
                                                           Partner                                       zeigt die Aspekte
                                                                                                         ärztlicher Tätigkeit in
                                                                                                         vier Schichten. Die
                                                     Gatekeeper                                          Breite der Schichten
                                                                                                         stellt jeweils ihre Be-
                                                                                                         deutung in verschie-
                                                                                                         denen historischen
                                          Detektiv                                                       Epochen dar. Da je-
                                                                                                         der Aspekt immer zu
                                                                                                         einem gewissen
                                                                                                         Maß präsent gewe-
                  Heiler                                                                                 sen ist, ziehen sich
                                                                                                         alle Schichten durch
                                                                               Quelle: Donner-Banzhoff

                                                                                                         die gesamte Zeit.

                              1750            1850          1950

 nebensächlichen Träumen, Fehl-           Das System der gesetzlichen
  leistungen oder Scherzen auf         Krankenversicherung in Deutsch-
 verborgene Prozesse. Die diagnos-     land und vieler ähnlicher Gesund-
 tizierende Medizin des 19. Jahr-      heitssysteme beruht auf dem Soli-
 hunderts hat das gemeinsame           darprinzip unter ihren Mitgliedern.
Paradigma geliefert (6). Damit         Daraus ergibt sich die Notwendig-
konnte sich nun aber eine Dis-         keit, berechtigte von unberechtigten
krepanz zwischen Patient und Arzt      Ansprüchen zu unterscheiden; die-
ergeben: Was den Patienten am          se Feststellung erfolgt überwiegend
meisten bedrängte, war für den         durch Ärzte. Nur mit einem wirksa-
diagnostizierenden Arzt oft nur        men Gatekeeping kann das System
von geringem Wert (7). Damit           überleben.                        ►

                                                                                                                      A 2079
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                       Partner                                        zite Äußerung, kein Interesse am                     Hier war offenbar ein Ritual
                       Zunehmend wollen Patienten ernst               Austausch zu haben. So mag ein                    (= kommunikative Handlung) durch
                       genommen werden und sehen Ärzte                biomedizinisch orientierter Arzt                  ein anderes ersetzt worden: die
                       als Partner in einer gleichberechtig-          sich vornehmen, seinen Patienten                  (schädliche) Antibiotikaverschrei-
                       ten Beziehung. Patientenzentriertes            dadurch zu helfen, dass er Erkran-                bung durch die (angenommen un-
                       Vorgehen verlangt deshalb von Ärz-             kungen präzise diagnostiziert und                 schädliche) CRP-Testung. Letztere
                       ten, Vorstellungen und Erwartungen             optimal behandelt; die Ebenen des                 war auch bei den Ärzten mit Kom-
                       ihrer Patienten zu erfragen und ein            archaischen Heilers und des Part-                 munikationstraining eine willkom-
                       gemeinsames Vorgehen zu erarbei-               ners interessieren ihn nicht. Seine               mene Ergänzung ihres Repertoires.
                       ten (9, 10). Mit elektronischen Ent-           Patienten werden ihn jedoch nicht                    Mit dem Schichtenmodell wer-
                       scheidungshilfen können Patienten              als neutral empfinden, sondern als                den die Reaktionen von Praktikern
                       sich informieren und Vor- und Nach-            kalt und autoritär. Für das System                auf „klinische Dekonstruktionen“
                       teile abwägen (11, 12). Während die            der vier Schichten gilt also nach                 plausibel. Darunter verstehe ich die
                       Heiler-Funktion grundsätzlich hier-            Watzlawick: „Man kann nicht nicht                 Entzauberung etablierter Behand-
                       archisch ist, besteht hier eine Gleich-        kommunizieren.“ (13)                              lungen durch klinische Studien; be-
                       berechtigung. Während der Heiler                                                                 kannte Beispiele sind die Hormon-
                       per definitionem über geheimes                 Evidenz gegen Erfahrung                           gabe in der Menopause (19) und
                       Wissen verfügt, ist auf der Partner-           Eine niederländische Studie unter-                arthroskopische Knorpelglättungen
                       ebene Transparenz funktional.                  suchte an Patienten mit Atem-                     (20). Diese Studien treffen oft auf
                           Die Schichtenmetapher kann                 wegsinfekten die Bestimmung des                   wütendes Unverständnis der anwen-
                       helfen, Widersprüche und Tabus zu              C-reaktiven Proteins (CRP) und                    denden Ärzte, die von der Wirksam-
                       verstehen. Aus der Sicht einer „neu-           ein Kommunikationstraining. So-                   keit überzeugt sind. Sicher spielen
                       en“ Schicht erscheinen die vorher-             wohl mit dem Test als auch mit der                hier materielle Interessen eine Rol-
                       gehenden als veraltet und nicht                verbesserten Kommunikation lie-                   le; vor allem jedoch haben die An-
                       mehr angemessen. Die entsprechen-              ßen sich die Antibiotikaverschrei-                wender mit diesen Behandlungen
                       de Praxis erregt (Fremd-)Schämen               bungen reduzieren (16). Eine be-                  auf der Ebene der rituellen Heilung
                       und provoziert erzieherische Maß-              gleitende Interviewstudie zeigte,                 große Erfolge erlebt. Eine biomedi-
                       nahmen oder Sanktionen. Die Be-                dass das CRP nicht nur der rationa-               zinische Wirkung ist dazu offenbar
                       geisterung für die „moderne“ Schicht           len Entscheidungsfindung diente.                  nicht nötig gewesen.
                       kann andererseits den Blick für                Von den Allgemeinärzten wurde                        Aktuelle Leitlinien zum Rücken-
                       die fortdauernden Auswirkungen                 betont, dass sie durch den Test an                schmerz legen eine Zurückhaltung
                       der „alten“ Schichten trüben. Im               Glaubwürdigkeit gewonnen hät-                     bei bildgebenden Verfahren nahe,
                       Folgenden gehe ich davon aus,                  ten, vor allem bei der Nichtver-                  die früher häufigen Spritzen sollten
                       dass jede der vier Schichten auch              schreibung eines Antibiotikums.                   ganz unterbleiben (21). Das Schich-
                       heute noch spezifische Aufgaben an             Sie hatten den Eindruck, dass sich                tenmodell macht verständlich, war-
                       Ärzte im Umgang mit ihren Patien-              Patienten mit dem Test eher ernst                 um die Umsetzung Zeit benötigt:
                       ten stellt.                                    genommen fühlten (17). „Der Zau-                  Röntgen und Spritzen sind mäch-
                           Zwangsläufig werden auf jeder              ber der Messung ist stärker als der               tige Rituale auf der archaischen
                       Schicht von den Beteiligten Signale            Zauber meiner Worte“, bemerkte                    Ebene gewesen.
                       ausgesandt, und sei dies die impli-            einer der Ärzte (18).                                Warum verwenden Ärzte latei-
                                                                                                                        nische Fachausdrücke, obwohl Pa-
                                                                                                                        tienten diese nicht verstehen? Da-
  FALLBEISPIEL                                                                                                          mit demonstrieren sie ihr Experten-
                                                                                                                        tum, das zur archaischen Heiler-
  Eine 47-jährige Frau, Busfahrerin, kommt am                Das Dilemma lässt sich mit dem Schichten-                  Funktion gehört; der Heiler muss,
  späten Vormittag in die Praxis. Wegen ihrer Hals-       modell verstehen. Als Gatekeeper muss ich das                 um Wirkung zu erzielen, etwas ha-
  schmerzen wünscht sie ein Antibiotikum; damit           Antibiotikum verweigern. Als Heiler verweigere ich            ben, das Familie, Freunden, Nach-
  würde sie so fit, dass sie gleich zur Spätschicht       damit jedoch die erwartete rituelle Handlung, pro-            barn fehlt: exklusives Wissen. Für
  könne. Eine Krankschreibung lehnt sie ab. Bei           duziere bei der Patientin Enttäuschung und das                die Mobilisierung der Heilkräfte
  einem Centor-Score von lediglich einem Punkt            Gefühl, alleingelassen zu werden. Auf der Partner-            auf dieser Ebene genügt die ent-
  ist die Wahrscheinlichkeit für eine bakterielle         ebene entwerte ich ihren Vorschlag zur Therapie.              sprechende subjektive Überzeu-
  Tonsillitis gering (14).                                   Ich versuche das Dilemma dadurch zu lösen,                 gung des Patienten; heute wie in der
      Wenn ich dieser tapferen Frau das Antibioti-        dass ich ihr Penicillin verschreibe, aber gleichzeitig        Vergangenheit dürften die meisten
  kum verweigere, versage ich ihr eine in ihren Au-       versichere, dass das Antibiotikum für die Heilung             Patienten bei ihren Heilern mehr
  gen wirksame Hilfe, in einer prekären Arbeitssi-        nicht entscheidend ist. Ich rate ihr, noch zwei Tage          Heilkompetenz vermutet haben, als
  tuation zu bestehen. Ich entwerte auch ihre Erfah-      zu warten und das Rezept nur einzulösen, wenn bis             diese biomedizinisch hatten.
  rung von früheren Krankheitsepisoden, nämlich           dahin keine Besserung eingetreten ist. Außerdem                  So wird die Heilkunst zur Grat-
  dass (nicht gerechtfertigte) Antibiotika bei (selbst-   nehme ich mir vor, das Thema beim nächsten Kon-               wanderung zwischen Entmutigung
  heilenden) Atemwegsinfekten helfen.                     takt in Ruhe anzusprechen (15).                               und Wichtigtuerei. Ärzte, die ge-
                                                                                                                        genüber ihren Patienten die der

A 2080                                                                                                        Deutsches Ärzteblatt | Jg. 109 | Heft 42 | 19. Oktober 2012
THEMEN DER ZEIT

               Medizin inhärenten Unsicherheiten       Kommunikation durch einander                   IGeL-Angebote, wie auch Prä-
               zu stark betonen, untergraben das       widersprechende Botschaften durch-          ventions-, Wellness- und Kosme-
               Vertrauen und gefährden ihre Ak-        aus ernste „Nebenwirkungen“ ha-             tikmärkte mit ihren fließenden
               zeptanz als Heiler (22). Dass auf       ben kann. Balint-Gruppen sind eine          Übergängen zur Medizin, schaffen
               der anderen Seite die subjektiv         Gelegenheit, dies kollegial und pra-        zusätzlich Widersprüche. Die un-
               überzeugende Darstellung von            xisorientiert zu reflektieren (23, 24).     vollständige Information des Ver-
               Kompetenz ausreicht, die Selbst-           Ärzte haben ein sehr festes Bild         brauchers (Patienten) ist jedoch nicht
               heilung des Patienten und seine         von dem, was für einen Patienten            das entscheidende Argument gegen
               Dankbarkeit zu stimulieren, stellt      angemessen sei und wie er sich zu           den direkten Verkauf von Leistungen
               eine große Versuchung zu Wichtig-       verhalten habe. Selbst wenn den             durch den Arzt. Problem ist vielmehr
               tuerei und Ausbeutung von Abhän-        Ärzten dies kaum bewusst ist, ver-          die existenzielle Verwundbarkeit des
               gigkeit dar. Medizinische Kompe-        mitteln sie ihren Patienten diese           Patienten. Wenn auch leichte Ge-
               tenz, Begeisterung für die eigenen      Erwartung sehr wirksam („apostoli-          sundheitsstörungen vitale Ängste
               Methoden, die auf empfängliche          sche Funktion“ nach Balint).                hervorrufen können, erwächst Ärz-
                                                                                                   ten (Heilern) eine besondere Macht
                                                                                                   und damit eine besondere Verant-
                                                                                                   wortung. Zwar ist das System der
                                                                                                   gesetzlichen Krankenversicherung
                                                                                                   nicht frei von wirtschaftlichen An-
                                                                                                   reizen, das Sachleistungsprinzip hat
                                                                                                   jedoch dafür gesorgt, dass in der
     So unterschiedlich die Heilkunde in der Geschichte praktiziert                                ärztlichen Praxis die Ökonomie re-
worden ist: Die Kombination von Experte und Partner in der Person                                  lativiert werden konnte. Das sich
                                                                                                   ausweitende IGeL-Angebot stellt
 des Heilers lässt sich in allen Epochen und Kulturen ausmachen.                                   deshalb einen ethisch höchst be-
                                                                                                   denklichen Anreiz zum Missbrauch
               Patienten überspringt, zynische Wich-   Bei schwerer Erkrankung und aku-            eines vulnerablen Schutzbefohlenen
               tigtuerei und Geschäftemacherei         tem Verlauf besteht vielfach eine           dar (26). Ähnlich kritisch sind An-
               lassen sich häufig nicht trennen.       Regressionstendenz: Diese Patien-           reize zur Leistungsausweitung im
                  Die evidenzbasierte Medizin ist      ten sind verunsichert und fühlen            stationären Bereich zu werten.
               in dieser Situation ein heilsames       sich bedroht, oft muss unter Zeit-
               Korrektiv. Die randomisierte pla-       druck entschieden werden. Jetzt             Alle Schichten wirken fort
               cebokontrollierte Doppelblindstudie     suchen sie eher den existenziellen          Alle vier Schichten und ihre Grund-
               hält uns schonungslos den Spiegel       Beistand auf der archaischen Ebene          anforderungen bleiben; keine wird
               vor. Selbst wenn der statistische       des Heilers (25).                           durch die soziale, wissenschaftliche
               Test zum Schluss „signifikant“ ist,        Auch in dieser Situation gilt es,        oder technische Entwicklung gegen-
               ist der Beitrag des mit viel Hoff-      die Beziehung in Richtung von               standslos. Selbst der patriarchalische
               nung entwickelten Pharmakons meist      Autonomie und Partnerschaft zu              Heiler kann für eine Krisensituation
               minimal. Damit wird die Vermu-          gestalten. Dies muss einfühlsam ge-         auch im aufgeklärten, patientenzen-
               tung bestärkt, dass Ärzte heute wie     schehen und ohne den Patienten zu           trierten Zeitalter funktional sein.
               früher vor allem durch ihre Person      überfordern; häufig sind Krankheits-            Schon oft ist auf die multiplen
               wirken.                                 verlauf und ein erstes Behandlungs-         ärztlichen Rollen hingewiesen wor-
                                                       ergebnis abzuwarten. Ärzte sollten          den (27). Das Schichtenmodell geht
               Normative Konsequenzen                  die oberste Schicht als Ziel jedoch         jedoch über eine Aufzählung hin-
               Der Patient bestimmt die Ebene,         nicht aus dem Auge verlieren.               aus: Es stellt zeitliche und inhaltli-
               auf welcher der Dialog beginnt. Bei        Anders eine Gefälligkeits-„Me-           che Zusammenhänge dar, weist auf
               einer schweren Erkrankung besteht       dizin“, das heißt das opportunisti-         Widersprüche hin und kann damit
               vielleicht das Bedürfnis, sich an       sche Verbleiben auf der Eingangs-           eine Hilfe zur Reflexion und Eva-
               einen starken Heiler anzulehnen,        ebene. Dies widerfährt beispiels-           luation im ärztlichen Alltag wie
               beim Wunsch nach einer Beratung         weise Menschen mit einer Neigung            auch in der Lehre sein.
               über eine Berentung ist der Gate-       zur Somatisierung; sie finden in
               keeper gefragt und so weiter.           unserem technologiefixierten Medi-          █   Zitierweise dieses Beitrags:
                  Auf den weiteren Gang können         zinsystem leicht Ärzte, die sich auf            Dtsch Arztebl 2012; 109(42): A 2078–82
               Ärzte jedoch Einfluss nehmen. Aus       die nächste Runde organischer Dia-
                                                                                                   Anschrift für den Verfasser
               der Zwangsläufigkeit einer Äuße-        gnostik einlassen, ohne ihre De-            Prof. Dr. med. Norbert Donner-Banzhoff M.H.Sc.,
               rung auf allen vier Schichten ergibt    tektivrolle kritisch zu hinterfragen.       Abteilung für Allgemeinmedizin, Philipps-Universität
                                                                                                   Marburg, Karl-von-Frisch-Straße 4, 35043 Marburg,
               sich die Forderung, dass Ärzte in je-   In ähnlicher Weise setzen viele             norbert@staff.uni-marburg.de
               der Begegnung alle vier Schichten       komplementärmedizinische Ange-
               reflektieren müssen. Die Beispiele      bote auf Rituale, ohne die anderen
               oben zeigen, dass die ärztliche         Schichten zu berücksichtigen.              @         Literatur im Internet:
                                                                                                            www.aerzteblatt.de/lit4212

  A 2082                                                                                 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 109 | Heft 42 | 19. Oktober 2012
THEMEN DER ZEIT

LITERATURVERZEICHNIS HEFT 42/2012 ZU:

ARZT UND PATIENT

Arzt und Patient
Archäologie einer Beziehung
Die Rolle des Arztes in der Begegnung mit dem Patienten ist vielfältig und oft
widersprüchlich. Ein „archäologisches“ Schichtenmodell stellt die verschiedenen
Funktionen in einen zeitlichen und – metaphorisch – räumlichen Zusammenhang.

Norbert Donner-Banzhoff

LITERATUR                                          13. Watzlawick P, Beavin JH, Jackson DD:                www.versorgungsleitlinien.de/themen/
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 4. Probst C: Der Weg des Ärztlichen Erken-            to communication and empowering pa-             25. Müller-Engelmann M, Donner-Banzhoff N,
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 5. Entralgo PL: Arzt und Patient: Zwischen-       16. Cals JW, Butler CC, Hopstaken RM, Hood              sches Fahrwasser geraten. Dtsch Arztebl
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 9. Levenstein JH, McCracken EC, McWhin-           19. Women’s Health Initiative Steering Com-
    ney IR, Stewart MA, Brown JB: The pa-              mittee; Effects of Conjugated Equine
    tient-centred clinical method. 1. A model          Estrogen in Postmenopausal Women with
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11. Siehe http://patient-als-partner.de (letzter       2002; 347: 81–8.
    Zugang 8. Februar 2012).                       21. Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztli-
12. Für eine Übersicht evaluierter Entschei-           che Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsge-
    dungshilfen weltweit siehe http://decisio          meinschaft der Wissenschaftlichen Medi-
    naid.ohri.ca (letzter Zugang 8. Februar            zinischen Fachgesellschaften (AWMF). Na-
    2012).                                             tionale VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz
                                                       – Langfassung. Version 1.X. 2010

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