Archivrundschau Berliner - 200 Jahre Fahrrad Luther im Spiegel Berliner Archive Der 2. Juni 1 967 - Verband deutscher ...
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Berliner Archivrundschau 2017 1 Ulrich Thein während einer Pause bei den Dreharbeiten zu „ Martin Luther“, 1982 Foto: Harald Schmitt (AdK, Ulrich-Thein-Archiv 337) Editorial S ie halten heute erstmals die „Berliner Archivrundschau“ als gedruckte Ausgabe in den Händen. Damit bewegen wir uns entgegen dem derzeitigen Trend vom Print-Produkt zum E-Paper. Warum? Weil wir glauben, dass es noch viele interessierte Menschen gibt, die in ei- nem gedruckten Magazin blättern wollen. Und weil dadurch die ausgewählten Archivalien, die in unserem Heft zu sehen sind, besonders ausdrucksstark zur Geltung kommen. Natürlich können Sie die „Berliner Archivrundschau“ aber auch künftig in digitaler Form lesen. Jubiläen sind immer eine gute Gelegenheit, um auf spannende Dokumente oder reichhalti- ge Bestände aufmerksam zu machen. Wir haben diesmal mit 200 Jahren Fahrrad und 500 Jah- ren Reformation zwei Themen ausgewählt, bei denen sich in vielen Archiven Anknüpfungs- punkte finden. Wir hoffen, dass die ausgewählten Dokumente und ihre Geschichten interes- sant sind und Sie gut unterhalten. Vielleicht regen die Artikel auch andere Kolleginnen und Kollegen an, der Redaktion lesenswerte Geschichten und sehenswerte Dokumente oder Bilder aus ihrem Alltag zu schicken. Dazu haben wir neue Rubriken eingeführt, in denen Archivalien vorgestellt oder über neu zugängliche Bestände informiert werden kann. Ebenso wollen wir zukünftig auch regelmäßig Menschen vorstellen, die das Berliner Archivwesen prägen. Der erste Berliner Landesarchivtag wirft bereits seinen Schatten voraus. Er findet zwar erst am 15. November statt, aber schon jetzt sind viele fleißige Hände und kühle Köpfe mit seiner Vorbereitung befasst, damit alles perfekt organisiert und für Sie vorbereitet ist. Wir freuen uns, Sie dort zu treffen. Torsten Musial unbekannter Künstler, 1954 (AdK, KS-Plakate 17842)
2 Berliner Archivrundschau 2017 Inhalt 4 Aus dem Landesverband Berlin im VdA Aktuelles aus dem Landesverband Studienfahrt des Norsk Arkivråds nach Berlin Der Tag der Archive 2018 6 1. Berliner Landesarchivtag 2017 Programm Die Berlinische Galerie stellt sich vor Quellen zur Migration in Berlin: Das Beispiel Böhmisches Archiv 12 Der Tag der Archive 2018 13 Als die Räder laufen lernten : 200 Jahre Fahrrad in Berlin Eine kurze Geschichte des Fahrrades in Berlin und was es dazu im Histo- rischen Archiv der Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin zu finden gibt Es rollt und rollt und rollt – Das Fahrrad im Plakat Räder für die Kunst Fahrradhandel in Berlin – Eine Stichprobe Arthur Schnitzlers erster Alpencross 28 Luther und die Reformation im Spiegel Berliner Archive Die Restaurierung des Stummfilms „Luther“ (1927) im Bundesarchiv Ulrich Thein und die umfangreichste Luther-Verfilmung aller Zeiten Am Ende des Kreuzwegs – Kleine Nachlese zu einem archivischen Aus- stellungsprojekt im Luther-Jahr 36 Der Tag, an dem Benno Ohnesorg starb Ein Staatsbesuch und seine Folgen 38 Das Treffen am Bannwaldsee Vor 70 Jahren tagte erstmals die Gruppe 47 40 Aus den Beständen Das Berliner Standesamt I – Ein Geschichtsbuch mit vergessenen Zeitzeugen Ein Fiasko deutscher Diplomatie: Das Zimmermann-Telegramm Ingenieurskunst zwischen Technik und Ästhetik: Das Archiv von Ulrich Müther wird erschlossen IM „Sonja“ und das Zentrale Staatsarchiv der DDR
Berliner Archivrundschau 2017 3 52 Archive geöffnet Ein Leben im Exil: Theodor-Balk-Archiv eröffnet Vier Jahrzehnte Gebrauchsgrafik: Der künstlerische Nachlass von Klaus Wittkugel ist online 56 Personen Jürgen Kloosterhuis Sabine Wolf 60 Aus den Arbeitskreisen Regionaler Arbeitskreis Berlin-Brandenburg der VdW Der Gesprächskreis Autographen und Nachlässe 61 Tagungen Brandenburgischer Archivtag 2017 Treffen der Arbeitsgruppe Kulturarchive der Fachgruppe 8 im VdA 64 Berichte und Nachrichten Berliner Forscher legen Archiv zu syrischen Kulturstätten an Ein Auslandspraktikum in Rom re:publica auch 2017 wieder mit einer Archivsektion Was tun im Notfall? Der 7. Tag der Bestandserhaltung 2017 69 Ausstellungen Vom Kaufhaus zum Tacheles – Fotografien der Friedrichstraßen-Passage im Technikmuseum Beginner – Aktenlage Weißensee Kreuzwege. Die Hohenzollern und die Konfessionen 1517-1740 Der 2. Juni 1967 durch das Objektiv der Polizei RADLEREI! 200 Jahre Fahrradmotive in der Kunstbibliothek Erich „Wüste“ Hoffmann und der Berliner Radsport 1934-1950 Die Erfindung der Pressefotografie. Aus der Sammlung Ullstein 1894-1945 73 Neuerscheinungen 76 Termine 77 Autoren 77 Impressum
4 Berliner Archivrundschau 2017 Aus dem Landesverband Berlin im VdA M ittlerweile geht der Landesverband in das zweite Jahr seit seiner Gründung im Frühjahr 2016. Die Arbeit des Vorstands trägt erste Früchte und all- fentlichen möchte, kann dies auch das Redaktionsteam übernehmen. In diesem Fall kann man Text und Abbil- dungen einfach an die Redaktion schicken. Das gilt na- mählich kristallisieren sich die Schwerpunkte seiner türlich ebenso für die „Berliner Archivrundschau“. Tätigkeit heraus. Dazu gehören der Aufbau und die Ein letzter und nicht unwichtiger Punkt war die Pflege von Kontakten zu anderen Institutionen und Überarbeitung des Flyers, mit dem sich der Landesver- Fachverbänden. band vorstellt und um Mitarbeit wirbt. Erstmals wurde So wurde in mehreren Treffen der Austausch mit der Flyer zum letztjährigen Tag der Bestandserhaltung den Vorständen der anderen Landesverbände im VdA im Oktober konzipiert. In der neuen Form wird er zum gesucht. Eine besonders enge Zusammenarbeit wurde Landesarchivtag vorliegen. mit dem Vorstand des Landesverbands Brandenburg Torsten Musial verabredet. Insbesondere Fortbildungsveranstaltungen oder Tagungen könnten zukünftig auch gemeinsam or- ganisiert werden. Gwyn Pietsch hat die Verbindung zum Unterarbeitskreis FaMI / Fachwirt des VdA und Studienfahrt des Norsk zum Oberstufenzentrum „Louise Schröder“ hergestellt, Arkivråds nach Berlin wo die die Fachangestellten für Medien- und Informati- D onsdienste unterrichtet werden. Ab dem neuen Ausbil- dungsjahr werden sich dort zukünftig der VdA und der er Norwegische Verband der Archivare und Re- Berliner Landesverband vorstellen. cordsmanager (Norsk Arkivråd) hat 1.200 Mit- Neben der Bildung eines Netzwerkes wurden die glieder, darunter zahlreiche Einrichtungen und Förderung des fachlichen Austauschs und die Öffent- Institutionen. Angesichts der Gesamteinwohnerzahl lichkeitsarbeit in Angriff genommen. Wichtigster Punkt Norwegens von etwa 5 Millionen ist dies durchaus be- war in diesem Jahr die Organisation des Landesarchiv- merkenswert. Das oberste Organ ist die Generalver- tages. Dazu kam die Vorbereitung der neuen Ausgabe sammlung, die einmal im Jahr zusammentritt. der „Berliner Archivrundschau“ und die Pflege des Zwischen den Generalversammlungen führt ein aus Blogs „Berliner Archive“. Das Blog hat sich inzwi- acht Mitgliedern bestehender Vorstand das Geschäft. schen etabliert. Es berichtet in einem breiten Themen- Zusätzlich ist der Verband in fünf Regionen gegliedert, spektrum über Neuigkeiten aus dem Berliner die jeweils eigene, aus vier Mitgliedern bestehende, Archivwesen und interessante Ausstellungen, stellt Vorstände haben. Der Verband gibt eine Zeitschrift neue Projekte oder Archivbestände vor und präsentiert heraus, die viermal im Jahr erscheint und auch online Fundstücke aus den Archiven. Doch offenbar ist das einsehbar ist. Der Vorstand trifft sich etwa achtmal im Blog noch nicht bei allen Kolleginnen und Kollegen Jahr. Mindestens einmal jährlich tagt er mit den Vertre- bekannt. Oder die Hemmschwelle, sich mit eigenen tern der Regionen, und das dann oft im Ausland. Bei Beiträgen zu beteiligen, scheint zu hoch zu sein. In je- den Entfernungen in Norwegen macht dies durchaus dem Fall wäre es wünschenswert, wenn sich noch mehr Sinn. Autorinnen oder Autoren für kürzere oder längere Bei- Bei diesen Treffen suchen sie den Austausch mit träge fänden. den einheimischen Fachverbänden und machen sich Alle Archive, alle Kolleginnen und Kollegen und zugleich auch immer ein Bild von der jeweiligen Ar- andere Interessierte sind eingeladen, sich am Blog zu chivlandschaft. So besuchte der Vorstand in diesem beteiligen. Es gibt dazu zwei verschiedene Möglichkei- Frühjahr auch Berlin. Für diese Zeitschrift haben die ten: Wenn man einen eigenen Account haben möchte, Kolleginnen und Kollegen einen kurzen Bericht über schickt man nur eine kurze Mail mittels des Kontakt- ihren Besuch verfasst: formulars unter Angabe der E-Mail-Adresse, mit der Mehr als 30 Mitglieder des Vorstands des Norsk man sich registrieren möchte. Danach wird ein Account Arkivråds und Vertreter der Regionen fuhren Mitte eingerichtet und man kann selbständig Artikel veröf- März 2017 zu einer Vorstandssitzung nach Berlin. Ne- fentlichen. Falls man seine Artikel nicht selbst veröf- ben der Arbeit an unserer Kommunikationsstrategie
Berliner Archivrundschau 2017 5 Im Archiv des Bundestages Führung im Archiv des BStU Foto: Norsk Arkivråd Foto: Norsk Arkivråd und der Diskussion über die fortschreitende Digitalisie- nungen seit 1962 und Videos seit 1987, auch von allen rung wollten wir auch mehr über das deutsche Archiv- öffentlichen Ausschusssitzungen, und all dies wird di- wesen lernen. gitalisiert. Es beläuft sich auf etwa ein Petabyte und So trafen wir am ersten Tag Torsten Musial, den vieles davon ist bereits online verfügbar. Auf der ande- Vertreter des Landesverbands Berlin im VdA, unserer ren Seite wird das gesamte Dokumentenarchiv analog Schwesterorganisation in Deutschland. Zunächst erläu- geführt, wird alles auf Papier gespeichert. Sogar E- terte er uns den Aufbau und die Aufgaben des VdA und Mails müssen ausgedruckt werden! sprach über dessen Aktivitäten wie den Deutschen Ar- Parallel waren einige von uns im Stasiarchiv, bevor chivtag. In der Diskussion tauschten wir uns angeregt wir alle gemeinsam ins Bundesarchiv gingen, wo uns über gleiche Probleme unserer Verbände, aber auch be- Anett Meiburg und Rainer Jacobs über das digitale Ar- sondere Spezifika in unseren Ländern aus. Insbesonde- chiv berichteten und die Schnittstelle für die Übergabe re interessierten uns die Social-Media-Aktivitäten des elektronischer Archivalien erläuterten. Nach dem Ge- VdA wie Blog, Facebook und Twitter, denn wir überden- spräch wurden uns die Räumlichkeiten und das Gelän- ken ja auch gerade unsere Kommunikationsstrategie. de gezeigt. Die Gebäude sind etwas Besonderes, weil Dann berichtete uns Torsten Musial von dem gerade es weitgehend ehemalige militärischen Bauten aus ver- gegründeten Berliner Regionalverband und der Vielfalt schiedenen Epochen der deutschen Geschichte sind. der Archive in Berlin. Diese Vielfalt konnten wir am Berlin hatte eine Menge für jeden Archivar und jede nächsten Tag bei Besuchen verschiedener Archive ken- Archivarin zu bieten und alle waren sich einig, dass es nen lernen. So waren wir im Archiv und der Dokumen- eine tolle Reise gewesen war! tation des Bundestages, wo wir eine kurze und lehr- Norsk Arkivråd reiche Einführung in die Dokumentenerfassung und Ar- chivierung der Parlamentsarbeit bekamen. Überrascht waren wir von den Widersprüchen in der Digitalisierung. Auf der einen Seite gibt es Aufzeich-
6 Berliner Archivrundschau 2017 1. Berliner Landesarchivtag 2017 A m 15. November 2017 findet erstmals ein Berli- ner Landesarchivtag statt. Veranstaltungsort ist die Berlinische Galerie – Museum für Moderne Kunst Die zweite Veranstaltung greift das aktuelle Thema Quellen der Zuwanderung auf. Diese Quellen stellen bislang in keinem Berliner Archiv einen Sammlungs- in Berlin-Mitte. Das Rahmenthema der Konferenz lau- schwerpunkt dar. Stattdessen werden eher zufällig im tet: Kulturelle Vielfalt – Archive in Berlin. Die Vielfalt Rahmen von Projekten Materialien eingeworben. Zum der verschiedenen Archive aller Sparten, unter denen Auftakt werden potentielle Archivbildner wie die Hel- sich viele wissenschaftliche und sogenannte Kulturar- lenische Gemeinde und der Türkische Bund zu Wort chive befinden, wird ebenso in den Blick genommen kommen. In der anschließenden Diskussion soll über- wie deren vielfältige Anforderungen. legt werden, welche Materialien von welchen mögli- Das Programm umfasst vier Panels: In der ersten chen Archivgebern in Frage kommen und wie für deren Veranstaltung geht es um Archivpädagogik in Berliner Sicherung und Erhaltung gesorgt werden kann. Archiven. Seit den 1990er Jahren bildet die Historische Um die Modernisierung des Archivrechts und die Bildungsarbeit ein wichtiges Tätigkeitsfeld in den Ar- Erleichterung des Zugangs zu den Archivbeständen chiven. Seither wird über Möglichkeiten und Grenzen geht es in dem anschließenden Gespräch. Dabei werden der Historischen Bildungsarbeit bzw. der Archivpä- die Chancen und Grenzen der Novellierung des Bun- agogik in Staats- und insbesondere in Spezialarchiven desarchivgesetz ausgelotet und die Interessenskonflikte diskutiert. Das Panel stellt vier Ansätze und Modelle insbesondere der Archiv- und der Nutzerseite diskutiert des Zugangs zu Originalquellen für Jugendliche in Ber- werden. lin aus dem Landesarchiv, dem BStU, dem Jüdischen Das letzte Panel widmet sich der Überlieferungs- Museum und der Gedenkstätte Berliner Mauer vor. bildung nichtstaatlicher bzw. alternativer Gruppen und Bewegungen. In Berlin gibt es mittlerweile mehrere Archive, die sich der Erhaltung dieser Unterlagen ver- schrieben haben. Die Beteiligten sprechen über Unter- schiede und Gemeinsamkeiten von ihren und den „normalen“ Archiven, z. B. in Hinblick auf Finanzie- rung und Organisationsform, sowie über Möglichkeiten einer Zusammenarbeit und eine Popularisierung der Freien Archive. In der Abschlussveranstaltung wird über die öffent- liche Wahrnehmung und Sichtbarkeit der Archive in Berlin und ihren Platz innerhalb der Gesellschaft dis- kutiert werden. Die Anmeldeunterlagen sind auf den Seiten des Landesverbands auf der VdA-Website (www.vda.lv- berlin.archiv.net) bzw. der Tagungsseite zu finden (www.vda.lvberlin.archiv.net/berliner-archivtage). Die Berlinische Galerie Foto: Nina Strassgütl
Berliner Archivrundschau 2017 7 Programm 13.00-14.00 Uhr Immer mehr Recht im Archiv? Herausforderungen ab 8.15 Uhr für die Archive und ihre Benutzer Anmeldung und Archivmesse Moderation: Prof. Dr. Michael Scholz (FH Potsdam) Dr. Clemens Rehm (Landesarchiv Baden-Württemberg) Dr. Michael Hollmann (Bundesarchiv) 9.00 Uhr Prof. Dr. Frank Bösch (ZZF Potsdam) Begrüßung Nach einem Kurzvortrag zur ständig wachsenden Be- Dr. Torsten Musial, Vorsitzender des Landesverbands deutung rechtlicher Fragestellungen im Alltag der Ar- Berlin im VdA chive und einer Präsentation der Novellierung des Grußworte Bundesarchivgesetzes als Beispiel für den Versuch ei- Dr. Thomas Köhler, Direktor der Berlinischen Galerie – ner nutzerfreundlichen Modernisierung des Archiv- Museum für moderne Kunst rechts sollen in der Diskussion Probleme benannt und Dr. Christine Regus, Referatsleiterin in der Senatsver- die Interessenskonflikte insbesondere der Archiv- und waltung für Kultur und Europa der Nutzerseite herausgearbeitet werden. Ralf Jacob M. A., Vorsitzender des VdA 14.30-15.30 Uhr 9.20-10.30 Uhr Welche Geschichte bewahren wir? Welche Geschich- Archivpädagogik in Berliner Archiven te ist die richtige? Überlieferungsbildung nichtstaat- Neuland oder Erfolgsmodell? licher bzw. alternativer Gruppen und Bewegungen Moderation: Bianca Welzing-Bräutigam (Landesarchiv Moderation: Dr. Michael Häusler (Archiv des Evange- Berlin) lischen Werks für Diakonie und Entwicklung) Anne Rothschenk (Landesarchiv Berlin) Gabriele Rohmann (Archiv der Jugendkulturen) Dr. Axel Janowitz (BStU) Dr. Olaf Weißbach (Archiv der DDR-Opposition/Ro- Aubrey Pomerance (Archiv des Jüdischen Museums) bert-Havemann-Archiv) Dr. Manfred Wichmann (Gedenkstätte Berliner Mauer) Was sind die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Seit den 1990er Jahren bildet die Historische Bildungs- freien und „ normalen“ Archiven, z. B. in Hinblick auf arbeit ein wichtiges Tätigkeitsfeld in den Archiven. Finanzierung, Organisationsform etc. Gibt es Kontakte Das Panel stellt vier Ansätze und Modelle des Zugangs in die „ normale“ Archivlandschaft? Gibt es Möglich- zu Originalquellen für Jugendliche in Berlin vor. keiten der Zusammenarbeit? Welche Erwartungen ha- ben die „ freien“ an die etablierten Archive? Wie kann man die „ freien“ Archive und ihre Arbeit in der „ nor- 11.00-12.00 Uhr malen“ Archivlandschaft bekannter machen? Berlin – Schmelztiegel der Kulturen Quellen der Zuwanderung Moderation: Dr. Torsten Musial (Akademie der Künste) 16.00-17.00 Uhr Stefan Butt (Archiv im Böhmischen Dorf) Abschlussdiskussion Safter Çinar (Türkischer Bund Berlin-Brandenburg) Der Begriff „ Archiv“ erlebt derzeit eine große Kon- Evangelia Daskalaki (Hellenische Gemeinde zu Berlin) junktur, vor allem im Internet. Aber warum profitieren Dr. Martin Luchterhandt (Landesarchiv Berlin) die wirklichen Archive nicht davon? Die Teilnehmer Diese Quellen stellen bislang in keinem Berliner Archiv und Teilnehmerinnen diskutieren über Archive in Bezug einen Sammlungsschwerpunkt dar. Stattdessen werden auf ihre öffentliche Wahrnehmung und Sichtbarkeit in eher zufällig im Rahmen von Projekten Materialien Berlin und ihren Platz innerhalb der Gesellschaft. eingeworben. In der Diskussion soll überlegt werden, Moderation: Dr. Torsten Musial (Akademie der Künste) welche Materialien von welchen potentiellen Archivge- Susanne Leinemann (Journalistin, Berliner Morgenpost) bern in Frage kommen (Sammlungen, Fotos, Nachläs- Petra Rauschenbach (Bundesarchiv) se, Unterlagen der Verbände), wie man für deren Moritz van Dülmen (Kulturprojekte Berlin GmbH) Sicherung und Erhaltung sorgen kann, wo diese archi- viert werden sollten und wer sich dafür verantwortlich fühlt.
8 Berliner Archivrundschau 2017 Die Berlinische Galerie seines Lebens und seiner Arbeit in Berlin vor seiner stellt sich vor Emigration 1933. Mit der 1984 erfolgten Übernahme des Nachlasses D des Berliner Kunsthändlers Ferdinand Möllers (1882- ie Berlinische Galerie, das Landesmuseum für 1956) bewahren die Künstler-Archive einen wichtigen Moderne Kunst, ist eines der jüngsten Museen Quellenfundus für die nationale und internationale Pro- der Hauptstadt. Aus bürgerlicher Initiative als privater venienzforschung. Möller war zwischen 1917 und 1956 Verein im Jahr 1975 gegründet, sammelt und bewahrt ein führender Galerist der deutschen Moderne und das Museum in Berlin entstandene Kunst von 1871 bis konnte als nichtjüdischer Kunsthändler seine Ge- heute. Neben Werken der Malerei, Grafik, Fotografie schäftstätigkeit auch nach der Machtübernahme der und Architektur werden durch die Sammlungsabteilung Nationalsozialisten fortsetzen. Im Nachlass sind wich- Künstler-Archive darüber hinaus dokumentarische Ma- tige Daten zu den An- und Verkäufen von Gemälden, terialien zur Kunstgeschichte erworben, die durch eine Skulpturen und Grafiken enthalten. Diese Informatio- archivgerechte Verzeichnung erschlossen und für die nen benennen Besitzer und Interessenten, dokumentie- Nutzung bereitgestellt werden. ren geforderte und gezahlte Preise und geben Auf- Hierbei handelt es sich vorwiegend um dokumenta- schluss über die Beziehungen der Akteure am Markt. rische Nachlässe von bildenden Künstlerinnen und Die Materialfülle in den Beständen der Künstler- Künstlern, Künstlergruppen sowie Galeristen und Archive tragen laut Michael Müller, Regierender Bür- Kunstwissenschaftlern, die in Berlin tätig waren. germeister von Berlin, dazu bei, dass „die Berlinische Darüber hinaus werden auch nicht nachlassbezoge- Galerie zu einer wichtigen Forschungseinrichtung der ne Materialien gesammelt. Dazu zählen neben histori- Berliner Kunst geworden“ ist. schen Zeitschriften u. a. auch Ausstellungskataloge, Philip Gorki Presseartikel und -fotografien sowie Einladungskarten. Die Abteilung Künstler-Archive der Berlinischen Gale- rie stellt somit ein Kulturarchiv dar. Insgesamt werden durch die Abteilung ca. 118 Hannah Höch und Raoul Hausmann auf der Nachlässe und Teilnachlässe betreut. Wichtige Bestän- 1. Internationalen Dada-Messe Berlin, 1920 de stellen daher neben dem Teilnachlass des Jugendstil- Foto: Robert Sennecke (BG-FS 077/94,4) Künstler Fidus (Hugo Höppener, 1868-1948), die Teil- Repro: Anja Elisabeth Witte nachlässe der Plastiker Naum Gabo (1890-1977) und Hans Uhlmann (1900-1975) sowie die Dokumenten- sammlung zur Novembergruppe dar. Im Fokus der Sammlung stehen auch Nachlässe je- ner Künstler und Künstlerinnen, die unter dem Natio- nalsozialismus bedroht, verfolgt und in die Emigration gezwungen worden sind. Zu nennen sind hier die Nachlässe von Lotte Laserstein (1898-1993) und Issai Kulvianski (1892-1970). Einen besonderen Schwerpunkt stellt der Komplex zur Berliner DADA-Bewegung dar, gebildet aus dem Nachlass von Hannah Höch (1889-1978) und dem Teil- nachlass von Raoul Hausmann (1886-1971). Die geisti- gen Grundmotive der dadaistischen Bewegung sind ebenso dokumentiert wie die zahlreichen Aktivitäten der DADA-Protagonisten. Der von der Berlinischen Galerie bereits 1979 er- worbene Nachlass von Hannah Höch gibt mit insge- samt über 12.000 Dokumenten Auskunft über die regionale Berliner Kunst- und Kulturgeschichte und darüber hinaus. Der 1992 ins Haus gekommene Teil- nachlass von Raoul Hausmann umfasst alle Zeugnisse
Berliner Archivrundschau 2017 9 Brief von Raoul Hausmann an Salomo Friedlaender (Mynona), 1.1.1922 (BG-HHC K 4088/79) Repro: Anja Elisabeth Witte
10 Berliner Archivrundschau 2017 Quellen zur Migration in Berlin: Die Brüdergemeine Das Beispiel Die alte böhmische Brüderkirche, bereits sechzig Jahre Archiv im Böhmischen Dorf vor Luthers Reformation entstanden, erlosch durch die Rekatholisierungspolitik der Habsburger. I 1727 gründete Nikolaus Graf von Zinzendorf mit m Böhmischen Dorf, an der Richardstraße und der mährischen Exilanten die erneuerte Evangelische Brü- Kirchgasse im Berliner Bezirk Neukölln gelegen, le- derkirche - die Herrnhuter. Auch die meisten Rixdorfer ben heute noch Nachfahren jener Böhmen, die im 18. Jahr- Böhmen schlossen sich den Herrnhutern an. Für den hundert wegen ihres evangelischen Glaubens in ihrer inneren Kern ihres Glaubens, den sich die Böhmen be- Heimat verfolgt wurden und daher aus Böhmen geflo- wahrt hatten und nun frei entfalten konnten, steht der hen waren. hussitische Kelch. Er ist heute auch im Wappen Neu- Im damaligen Rixdorf bei Berlin konnten ab 1737 köllns zu finden und bezeugt die Auffassung, dass jeder etwa 300 Flüchtlinge auf Einladung von König Fried- Mensch in gleicher Weise vor Gott steht und seine Ga- rich-Wilhelm I. in fertige Häuser ziehen. Sie bekamen ben von ihm empfängt. So soll er im Abendmahl, an- Gärten und Felder, Gerätschaften, ein Pferd und eine ders als in der damaligen Obrigkeitskirche, neben dem Milchkuh geschenkt. Brot auch den Wein bekommen. Bis heute geht es in Die Böhmen waren weitestgehend selbstverwaltet, der Brüdergemeine darum, ein Miteinander einzuüben, stellten ihren eigenen Dorfschulzen, der das Polizeiwe- das die Einzelnen einbindet und trägt. Die Archivalien sen und die niedere Gerichtsbarkeit inne hatte, und wa- der Brüdergemeine dokumentieren dieses Engagement ren von Abgaben und dem Militärdienst befreit. Sie auf beeindruckende Weise. konnten ihre eigenen Kirchgemeinden gründen wie die böhmisch-lutherische, die böhmisch-reformierte und die Herrnhuter Brüdergemeine. Das Dorf ist in seinen Das Archiv Grundstrukturen noch heute gut erkennbar, seine Ge- bäude stehen unter Denkmalschutz. Das vom Verein geförderte Archiv liefert Zeugnis über 280 Jahre Migrationsgeschichte. Es dokumentiert das Leben der geflüchteten Böhmen und ihrer Nachkom- men in Böhmisch Rixdorf und in anderen Gemeinden des heutigen Berlin. Frühe Schriften sind noch auf böh- Ein Blick in die Bibliothek misch oder tschechisch verfasst. Lebensläufe der Ge- Foto: Axel Hansmann meindemitglieder, aufge- schrieben im 18. Jahr- hundet, liefern Beispiele für die Traditionen und für ein Leben, das lange Zeit stark durch den Glau- ben geprägt war. Zum Archiv gehören eine Bibliothek mit etwa 1.500 Bänden, eine mu- seale Sammlung mit In- strumenten, liturgischen Gegenständen, Trachten, Gemälden und eine große Fotosammlung. Teile un- serer Sammlung sind im Museum im Böhmischen Dorf ausgestellt, mit dem wir eng zusammen arbei- ten. Auch die Berliner Ge-
Berliner Archivrundschau 2017 11 Ansicht des Gemeinhauses in Rixdorf, 1755 meinde in der Wilhelmstraße sowie die nach dem Mau- Orlicí und Prag 5 ihren Ausdruck finden. Völkerver- erbau gegründete Ost-Berliner Gemeinde werden im ständigung und Toleranz sind hierbei oberste Gebote. Archiv dokumentiert. Wir verstehen uns als ein lebendiges Archiv. Im Rückblick auf die preußische Einwanderungspolitik Archiv im Böhmischen Dorf e. V. wollen wir Verständnis für die Flüchtlinge unserer Zeit Donaustraße 67, 12043 Berlin-Neukölln schaffen und Möglichkeiten einer positiven Migrati- Tel: 68 99 97 20 onspolitik aufzeigen. Bürozeiten: Montag, Dienstag und Freitag 9-12 Uhr E-Mail: boehmischesdorf@yahoo.com www.boehmischesdorf.de Der Verein Stefan Butt Mit Hilfe des Vereins „Archiv im Böhmischen Dorf“ kann das Archiv seit Oktober 2015 endlich dauerhaft und regelmäßig betreut werden. Seither sichern, ergän- zen und erweitern wir dessen Bestand kontinuierlich. Der Verein ist gut im Stadtteil vernetzt und bringt sich in dessen Gestaltung als „historisches Gewissen“ ein. Das deutsch-tschechische Verhältnis liegt uns sehr am Herzen. Unterstützt werden soll der Austausch mit anderen Gemeinden böhmischer Flüchtlinge und mit anderen Archiven der Herrnhuter, die als „Moravian Church“ in vielen Ländern der Welt vertreten sind. Fer- ner geht es uns um Kontakte zur ehemaligen tschechi- schen Heimat, welche nie ganz abbrachen und heute durch die Städtepartnerschaften Neuköllns mit Ústí nad
12 Berliner Archivrundschau 2017 Der Tag der Archive 2018 I m nächsten Jahr, am 3. und 4. März 2018, findet wieder ein Tag der Archive statt. Es ist die mittler- weile 10. Auflage des erfolgreichen und deutschland- weit durchgeführten Formats. Viele Archive nutzen diesen Tag der offenen Tür gern, um sich und ihre Bestände, aber auch die Bedeutung der Archive im Allgemeinen, einem breiten Publikum nahezubringen. Die Besucherinnen und Besucher erhalten die Gelegen- heit, mit den Archivarinnen und Archivaren ins Ge- spräch zu kommen und einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Nachdem am 9. Tag der Archive im vergangenen Jahr nur sechs Berliner Archive teilgenommen haben, möchte der Vorstand des Landesverbandes für eine grö- ßere Teilnehmerzahl bei der nächsten Auflage werben. Großer Andrang am Haupteingang des Bundesarchivs Zuletzt hatten das Geheime Staatsarchiv Preußischer Berlin-Lichterfelde beim Tag der Archive 2016 Foto: Bundesarchiv/Fotograf: Karsten Christian Kulturbesitz, das Bundesarchiv und die BStU erfol- greich verschiedene Angebote vorbereitet. Vielleicht lassen sich einige davon durch andere Archive nachnutzen. einen Besuch werben. Auch soll versucht werden, durch einen intensiven Kontakt zu den Medien zu erreichen, dass in den Zeitungen, im Radio oder vielleicht sogar im Fernsehen über den Tag der Archive in Berlin berichtet wird und so potentielle Besucher darauf aufmerksam gemacht werden. Gerade ist die Online-Abstimmung über das Motto des Tages beendet worden. Als Thema des nächsten Tags Man könnte aber auch über neue oder andere Formate der Archive hat eine Mehrheit für das Motto „Demo- nachdenken. So ließen sich vielleicht lokale Schwer- kratie und Bürgerrechte“ gestimmt. Dazu werden in punkte organisieren, durch eine Kooperation von nahe den nächsten Wochen präzisierte Vorschläge von der beieinander liegenden Archiven. Diese könnten bei- Geschäftsstelle des VdA unterbreitet. Aber auch jetzt spielsweise gemeinsame Veranstaltungen durchführen kann man sich schon Gedanken um mögliche Assozia- oder Veranstaltungen, die aufeinander aufbauen oder tionen, geeignete Archivalien und einen möglichen sich ergänzen. So könnte zunächst im Archiv A Teil 1 bzw. gewünschten Berlin-Bezug machen. stattfinden und später im Archiv B Teil 2. In den nächsten Wochen werden die Mitglieder des Ein anderer Vorschlag wäre, dass diese Archive mittels Landesvorstands mit vielen Archiven darüber sprechen. einer Führung von Archiv zu Archiv miteinander Alle sind aber auch aufgerufen, sich direkt an den verbunden werden, durch eine Art Stadtführer. Wäh- Vorstand zu wenden, sei es aus möglichem Interesse rend das Publikum zum nächsten Archiv geführt wird, oder um Ideen vorzustellen. Aber auch der Berliner können zusätzliche Informationen vermittelt werden. Landesarchivtag am 15. November 2017 wird Gele- Auch gibt es die Möglichkeit, dass einige Archive in genheit bieten, darüber ins Gespräch zu kommen. einem anderen zu Gast sind und sich dort präsentieren. Torsten Musial Dies wurde in der Vergangenheit schon vom Landes- archiv praktiziert., welches dabei die Rolle des Gastgebers übernommen hatte. In der Vorbereitung wird eine gemeinsame Öffent- lichkeitsarbeit angestrebt. So soll ein gemeinsames Programm entworfen werden und Flyer und Plakate für
Berliner Archivrundschau 2017 13 Als die Räder laufen lernten 200 Jahre Zweirad in Berlin Eine kurze Geschichte des Fahrrades in Berlin – und was es dazu im Historischen Archiv der Stiftung Deutsches Technik- museum Berlin zu finden gibt A m 12. Juni 1817 machte der zum Erfinden freige- stellte Forstmeister Karl Drais (1785-1851) seine erste Ausfahrt mit einer Laufmaschine. 15 Kilometer in unter einer Stunde, das war schneller als die Kutsche und eine Sensation. Seine Laufmaschine bestand aus einem leichten Holzgestell auf dem ein Sitz montiert war. Darunter angebracht zwei hintereinander angeord- nete Räder. Das Vordere war lenkbar in einem Dreh- schemel gelagert. So wurde ein Balancieren möglich. Drais ließ sich seine Erfindung patentieren, hatte aber keinen wirtschaftlichen Erfolg damit. 53 Jahre später berichtete „Die Illustrierte Welt“ aus Berlin, dass „nachts auf den breiten menschenleeren Trottoirs unter den Linden einige Jünger des Velocipeds ihre nächtlichen Übungen treiben.“ 1867 waren auf der Weltausstellung in Paris zwei mit Tretkurbeln ausge- Obwohl das normale Fahren mit dem Hochrad bereits ein stattete Maschinen vorgestellt worden. Der folgende Balanceakt war, gab es noch Steigerungsformen europaweite Velociped-Boom ließ ab 1869 auch in Ber- SDTB / Foto: Historisches Archiv lin erste Hersteller auf den Plan treten. Die Räder konnten zunächst nur heimlich auspro- Straßen-Polizei-Reglement von 1867: „Das Rollen von biert werden. Schon in anderen Städten war das Rad- Fässern, Rädern und dergleichen Gegenständen […] fahren verboten worden. In Berlin galt nach dem sowie alle ähnlichen Handlungen, welche geeignet sind, Thiere scheu zu machen, sind auf öffentlicher Straße nicht gestattet.“ Zudem bremsten die schlechten Straßenverhältnisse die frühe Phase der Fahrradpro- duktion in Europa aus. Der nächste Entwicklungsschritt stammt aus Eng- land. 1870 präsentierte James Starley (1831-1881) mit dem Ariel das erste Hochrad. Das größere Antriebsrad Wer Radfahren wollte musste sich registrieren lassen. Diese Radfahrkarte war immer mitzuführen und auf Verlangen vorzuzeigen SDTB / Foto: Historisches Archiv
14 Berliner Archivrundschau 2017 ermöglichte höhere Geschwindigkeiten. Das Hochrad machte schließlich auch im Deutschen Reich das Rad- fahren populär. Viele, die sich diese teuren Maschinen leisteten, gründeten mit Gleichgesinnten Vereine, um zu fachsimpeln und natürlich um gemeinsam zu fahren. Auch in Berlin wurden in den 1880er Jahren Radfahr- Clubs gegründet. Diese Vereine hinterließen viele Ar- chivalien. So sind beispielsweise die Sitzungsprotokol- le des „Berliner Radfahrer Club ‚Wiking’“ im Historisches Archiv der Stiftung Deutsches Technikmu- seum Berlin (SDTB) vorhanden. Seite für Seite säuber- lich handschriftlich in ein gebundenes Buch eingetragen, wer über welches Thema sprach und wer das Bier zahlte. Ein Retuschierbild der Fahrradfirma Rixe aus Bielefeld Das sogenannte Niederrad kam 1884 auf den Markt. SDTB / Historisches Archiv Aufgrund des hohen Schwerpunktes waren Stürze vom Hochrad sehr gefährlich. Das Niederrad ermöglichte nun sicheres Fahren. Durch die Kettenübersetzung kannt wurde, konnten Luftreifen ohne Monopol günstig konnte auch mit den kleinen Rädern die Geschwindig- verkauft werden und fanden schnell Verbreitung. keit der Hochräder erreicht werden. 1888 erfand John Bald schossen die Fahrradfabriken wie Pilze aus Dunlop (1840-1921) den Luftreifen. Weil ihm das Pa- dem Boden. Das Überangebot sorgte dafür, dass die tent aufgrund eines bereits Bestehenden wieder aber- Preise fielen und einige Radhersteller Konkurs gingen. Die dadurch günstigen Maschinen wur- den somit auch für Arbeiter erschwing- lich, die dank Ratenzahlung bald ihren oft kilometerweiten Weg durch Berlin auf zwei Rädern zurücklegen konnten. Bei der Wahl der besten Strecke half ab 1897 „Straube’s Neuer Radfahrer- Plan von Berlin“. In ihm sind nicht nur die verschiedenen, für Radfahrer ge- sperrten Straßen verzeichnet, sondern auch die verschiedenen Straßenbeläge farblich markiert nachgewiesen: blau steht für „Asphalt, Holz (geräuschloses Pflaster)“, gelb für „Gutes Steinpflas- ter“, gelb schraffiert für „Chaussirt“ und nicht farblich gekennzeichnete Straßen für „Minderwertiges Pflaster“. Heraus- geber dieser Karte war Julius Straube. Interessant an ihr ist vor allem der Ver- gleich der verschiedenen Ausgaben, die im Technikmuseum, der Staatsbiblio- thek und im Landesarchiv liegen. Straube hielt sein Kartenwerk aktuell, so ist in der Ausgabe von 1897 der Protokoll einer Vereinssitzung des Berliner Radfahrer Clubs „ Wiking“ SDTB / Historisches Archiv
Berliner Archivrundschau 2017 15 Bereits 1897 konnte man sich die Strecke mit dem besten Straßenbelag anzeigen lassen SDTB / Foto: Historisches Archiv Potsdamer Platz noch schraffiert, in der Ausgabe von Hauptkatalog für Deutschland-Fahrräder und Zube- 1899 vollflächig dargestellt. Allerdings konnte beides hörtheile [sic!] August Stukenbrok Einbeck“ von 1900. den Radfahrern damals egal sein, denn auf dem Platz Der geprägte Einband strahlt gediegene Wertigkeit aus, war das Fahren verboten. auch wenn er etwas gelitten hat. Im Inneren aber über- Auch der Versandhandel mit Fahrrädern blühte um rascht der mehrfarbige Druck – teilweise in Sonderfar- die Jahrhundertwende auf. Im Historischen Archiv der ben – mit seiner Farbbrillanz. Auch großformatige SDTB findet sich so zum Beispiel der: „Illustrierte Plakate, vor allem aus dem französischen Raum sind
16 Berliner Archivrundschau 2017 Ausschnitt aus dem Stukenbrok Fahrradversandkatalog von 1900 SDTB / Foto: Historisches Archiv angezogen. Eine große Gruppe von Archivalien bilden im Historischen Archiv der SDTB daher Rennfahrer- nachlässe mit Autogrammkarten und Fotografien aus dieser Zeit. Eine dieser Biographien wird derzeit in der Ausstellung: „Wüüüste! Erich Wüste“ Hoffmann und der Berliner Radsport 1934-1950“ in der Fotogalerie im Beamtenhaus des Technikmuseums näher beleuchtet. Noch bis zum 15. Oktober 2017 zeigen ausgewählte Einer der zahlreichen Firmenkataloge Fotografien – ein Großteil davon vom Pionier der SDTB / Foto: Historisches Archiv Sportfotografie Max Schirner (1891-1952) – verschie- dene Berliner Radrennorte und verdeutlichen die Po- im Historischen Archiv vorhanden. Werbeplakate, die pularität des Radrennsports in Berlin. Ende des 19. Jahrhunderts ihren Siegeszug antraten, Zum Archivbestand gehören ebenso Firmenpro- hatten oft die Erzeugnisse der ebenfalls gerade in Blüte spekte namhafter Fahrradmarken wie Adler und NSU befindlichen Fahrradindustrie zum Thema. aber auch das in Brandenburg ansässige Brennabor- Die Freilaufnabe, die dafür sorgt, dass sich die Pe- Fahrradwerk ist vertreten. Einen besonderen Bestand dale nicht mehr permanent mit den Rädern mitdrehen, bildet das Firmenfotoarchiv der ehemals in Bielefeld wurde 1900 erfunden. Ihr folgten rasch auch schaltbare ansässigen Marke Rixe. Hier sind vor allem Retuschen Getriebenaben. Im ersten Weltkrieg hatte das Fahrrad von Fahrradfotografien, die seinerzeit für den Katalog- seine erste Bewährungsprobe im Deutschen Heer zu druck erstellt wurden, zu finden. bestehen. Radfahrereinheiten waren schnell und leise unterwegs und konnten mehr Ausrüstung mit sich füh- ren. Als der Krieg sich in einen Stellungskrieg wandel- te, wurden diese Eigenschaften jedoch weitgehend unwichtig. Von den 1920er bis in die 1940er Jahre entwickelte sich der Radsport in Berlin zum Massenphänomen. Tausende Zuschauer wurden von den Veranstaltungen Dienstrad der Gasag. Es wurde von Straßenlampenwärtern benutzt, um von Laterne zu Laterne zu fahren und diese anzu- zünden, wenn die Dämmerung einsetzte, und sie am Morgen wieder zu löschen SDTB / Foto: Benjamin Huth
Berliner Archivrundschau 2017 17 „ Wüste“ Hoffmann führt vor Heinrich Schwarzer beim Straßenrennen Rund um Berlin 1946 SDTB, Historisches Archiv / Foto: Max Schirnerloge Ab den 1950er Jahren, als jeder begann vom eige- Verkehrsinfarkten, kann das Fahrrad seine Vorteile ge- nen Automobil zu träumen, verlor das Fahrrad zuse- genüber dem Auto ausspielen. Wenn Sie das Histori- hends an Bedeutung. Mit der Massenmotorisierung der sche Archiv des Technikmuseums besuchen wollen, 1960er und 1970er Jahre wurde es mehr und mehr zum kommen Sie ruhig mit dem Rad. Genug Parkplätze da- Gefährt für Kinder, Jugendliche und die ärmere Bevöl- für gibt es vor dem Haus. kerung. Anders verlief die Entwicklung in der DDR. Hier blieben Autos Mangelware. Anfang der 1970er Weiterführende Literatur zu 200 Jahre Fahrrad: Jahre wurden Falt- und Klappräder gar damit bewor- Dodge, Prior: Faszination Fahrrad – Geschichte, ben, gut in den Kofferraum eines Autos zu passen. Technik, Entwicklung, Kiel 2001. Dennoch blieb das Fahrrad der Einstieg in den Indi- Huth, Benjamin; Drais, Drahtspeichen, Diamant- vidualverkehr. Generationen lernten auf ihm die Ver- rahmen – eine kurze Technikgeschichte des Fahrrades. kehrsregeln kennen und im Alltag anwenden. Groß- In: Bäumer, Mario [Hg.] Das Fahrrad –Kultur | Technik ereignisse, wie die alljährliche Tour de France und ihr |Mobilität, Hamburg 2014,S. 14 ff. sozialistisches Pendant Friedensfahrt, aber auch das Lessing, Hans-Erhard: Automobilität – Karl Drais Berliner 6-Tage-Rennen hielten das Fahrrad als Sport- und die unglaublichen Anfange. Leipzig 2003. gerät im Bewusstsein. Das alltägliche Radfahren wurde Zur Straube-Landkarte: hingegen immer schwieriger. Straßenplanung wurden Huth, Benjamin: Ein Navigationssystem aus dem mehr und mehr ohne – um nicht zu sagen gegen – das Jahre 1897: Straube’s Neuer Radfahrer-Plan von Berlin. Fahrrad betrieben. In: Heinemann, Gerd/ Matschenz, Andreas [Bearb.]: Seit einigen Jahren gewinnt das Fahrrad wieder an Die Pläne mit der Berolina -Kartografische Exkursio- Bedeutung. Nicht nur als Sport- und Freizeitgerät ist es nen mit Julius Straube, Berlin 2014, S. 41ff. beliebt. Gerade im urbanen Raum, mit seinen täglichen Benjamin Huth
18 Berliner Archivrundschau 2017 Es rollt und rollt und rollt Das Fahrrad im Plakat. I n der Nachkriegszeit verhalfen die wirtschaftlichen Umstände dem Fahrrad zu einem rasanten Auf- schwung. Als allgemein erschwingliches Fortbewe- gungsmittel eroberte es bald nicht nur Straßen, sondern als beliebtes Motiv in der Reklame auch die Plakatwände und Litfaßsäulen. In der Plakatsammlung der Akademie der Künste ha- ben sich eine Reihe von einprägsamen und charmanten Plakaten aus der DDR erhalten, die mithilfe des unab- dingbaren Sport- und Freizeitutensils für eine entspannte Ferienzeit werben. Auch auf Reklameplakaten der 1950er und 1960er Jahre spielte das Fahrrad oftmals eine zentra- le Rolle: In der Produktwerbung für vermeintliche Hight- echprodukte wie beispielsweise dem in Trainingsanzügen verwendeten Perlon-Mischgarn kommt es häufig als Mo- bilität und Dynamik suggerierendes Bildmotiv werbe- wirksam zum Einsatz. Auch international, selbst im arabischen Raum wurde für die im MIFA-Werk in Sach- sen Anhalt hergestellten Fahrräder geworben. Ermutigung zur allgemeinen körperlichen Ertüchti- gung wurde durch Plakatwerbung propagiert, die in der Bruno Petersen: VII. Internationale Radfernfahrt für den Bewerbung von Sportveranstaltungen ihren Höhepunkt Frieden, 1954 (AdK, Kunstsammlung, KS-Plakate 18379) fand. Insbesondere für die Plakatkampagnen der Interna- tionalen Friedensfahrt, des berühmtesten Etappenrennens für Radsport-Amateure, das 1948 erstmalig ausgetragen wurde und bis 1989 jährlich in den drei Ländern Polen, DDR und CSSR stattfand, setzte man auf eine einpräg- same visuelle Gestaltung. Dass auch bei diesem Rennen nicht nur sportliche Erfolge und Rekorde, sondern – wie bei dem Großteil der in der DDR ausgerichteten Sport- veranstaltungen – ein gemeinsames Streben nach Frieden propagiert wurde, wird auch in der Plakatwerbung deut- lich: Erst bei genauem Hinsehen erkennt man, dass die emblematische Friedenstaube auf dem Plakat für die Austragung des Rennens im Jahr 1962 aus vielen Rad- sportlern zusammengesetzt ist, die, so zumindest die Idee, nicht nur im sportlichen Wettkampf gegeneinander, son- dern auch in höherer Mission gemeinsam in die Pedale treten sollten. Die Plakatsammlung der Akademie der Künste ist teilerschlossen und kann in der Archivdatenbank ein- gesehen werden. Zudem besteht die Möglichkeit, sich die Originale nach Anmeldung im Studiensaal in der Luisenstraße in Betlin-Mitte vorlegen zu lassen. Anna Schultz A. Weber: Berlin. Prag. Warschau. XV. Internationale Friedensfahrt, 1962 (AdK, Kunstsammlung, KS-Plakate 18283)
Berliner Archivrundschau 2017 19 Unbekannter Künstler: Diamant, MIFA [Mitteldeutsche Fahrradwerke]; Generalvertretung für Ägypten und Persien in Kairo: Ibrahim Mustafa und Söhne, 1967 (AdK, KS-Plakate 17978)
20 Berliner Archivrundschau 2017 Räder für die Kunst Schauspielers und Sängers Ernst Busch, der Tänzerin U Gret Palucca, die damals in Dreden gerade versuchte, nmittelbar nach der Besetzung Berlins durch die ihre Tanzschule wieder zu eröffnen, oder des Architek- Rote Armee wurden vielen Einwohnern Uhren, ten Hubert Hoffmann sind entsprechende Bescheini- Schmuck und andere Wertgegenstände weggenommen. gungen überliefert. Nach dem SMA-Befehl zum Verbot der Entnahme von Welche Räder sie damals fuhren und was aus diesen Gegenständen aus privatem Besitz vom 31. Oktober wurde, ist leider nicht überliefert. Im Archiv der Aka- 1945 verringerte sich die Anzahl der Übergriffe durch demie de Künste befinden sie sich jedenfalls nicht. Le- einzelne Rotarmisten oder kleine Trupps merklich. An- diglich von Palucca ist bekannt, dass sie ihr Rad noch dererseits organisierten die Kommandanturen nun im lange besaß und immer dann, wenn sie in ihrem Haus großen Stil die Requirierung bzw. Konfiszierung von auf Hiddensee war, damit über die Insel fuhr. Denn, so Radios, Schreibmaschinen und Fahrrädern. sagte sie: „Von dem trenne ich mich bis ans Ende mei- Doch im Sommer 1945 fuhren viele Verkehrsmittel ner Tage nicht, es ist mein wertvollstes Andenken.“ noch nicht wieder oder nicht regelmäßig. Deutsche Zi- Torsten Musial vilisten, die bei ihrer Arbeit daher auf ein Fahrrad ange- wiesen waren, konnten sich nur vor einer überraschen- den Beschlagnahme schützen, indem sie sich von den Nächste Seite: Stadtverwaltungen, in Abstimmung mit den sowjeti- Ausweis für Ernst Busch schen Kommandanturen, bestätigen ließen, dass sie das (AdK, Ernst-Busch-Archiv, 1392) Rad für die Ausübung ihres Berufes benötigten. Des- halb wurden diese Dokumente auch generell zweispra- chig, in russisch und deutsch, abgefasst. In den Nachlässen mehrerer Künstler, die im Archiv Bescheinigung für Palucca der Akademie der Künste bewahrt werden, wie dem des (AdK, Gret-Palucca-Archiv, 6828)
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22 Berliner Archivrundschau 2017 Fahrradhandel in Berlin Berko-Werke Quast & Eichert Eine Stichprobe D Als Fritz Eichert 70 Jahre alt wurde, stand er auf as Berlin-Brandenburgische Wirtschaftsarchiv den Trümmern seines Unternehmens, das in diesem besitzt mit dem Bestand der IHK-Mitgliedsakten Jahr 1953 noch immer nicht wieder auf einen grünen (K 1/1) einen einzigartigen Quellenkorpus, der über al- Zweig gekommen war. Die Betriebsstätten und Pro- le unter das Gesetz über die IHK-Mitgliedschaft fallen- duktionsmittel lagen im Berliner Osten, waren von den Unternehmen (West-)Berlins ab 1949 bis 1996 Bombenangriffen zerstört bzw. von den Sowjets ent- Auskunft geben kann. In den etwa 360.000 Einzelakten eignet worden, so dass der Neuanfang am Wilhelmsru- befinden sich neben handelsregisterlichen Unterlagen her Damm 1949 mutig gewesen ist. oft Korrespondenz, Kataloge, Personalanzeigen und Eichert hatte als Ingenieur den ersten brauchbaren Zeitungsartikel in unterschiedlichen Umfängen. Fahrrad-Lichtdynamo erfunden und gemeinsam mit Der Bestand ist mit einer nach Firmennamen geord- dem Werkmeister Friedrich Quast und einem Koburger neten Kartei erschlossen. Diese Kartei wurde in den Vertriebsfachmann 1908 die Firma Berko (Berlin/Ko- 1990er Jahren mikroverfilmt und in den letzten zwei burg) gegründet. 1910 begann die industrielle Fertigung Jahren durch das Wirtschaftsarchiv digitalisiert. Das mit zunächst 15 Mitarbeitern und der Wettbewerb mit Projekt ist noch nicht abgeschlossen, weshalb derzeit der herkömmlichen Azetylen-Beleuchtung. Es dauerte weiterhin nur nach Firmennamen recherchiert werden Jahre, bis die Berko-Leuchten weltweit zum Gattungs- kann – also erst, wenn man weiß, unter welchem Na- begriff für elektrische Fahrradbeleuchtung wurden. men ein Unternehmen firmiert, kann es aufgefunden Im Zuge des Ersten Weltkriegs begann die Ferti- werden. gung von Fahrradlampen auch anderswo, namentlich in Mit Ablauf des Jahres 2017 aber wird der Bestand England, so dass Berko erhebliche Konkurrenz erhielt. in der Datenbank vollständig zu durchsuchen sein; Dennoch fertigten vor dem Zweiten Weltkrieg 500-600 dann genügen auch Namenbestandteile, Adressen, In- Arbeitskräfte Dynamos und Lampengehäuse. haber oder Branche. Mit der Einbindung in die Kriegsrüstung wurde die Vor Ende des Projektes kann ein Überblick über Produktion auf Spezialzünder, Speziallager, Gelenk- Fahrradhandel und -produktion in Berlin den Stichpro- und Kardanlager umgestellt. Nach den oben beschrie- bencharakter nicht ablegen, der sich aus den Suchwor- benen Kriegszerstörungen und Enteignungen konnte ten „Fahrrad“, „Velo“ oder „Zweirad“ im Firmenna- Eichert 1950 erfolgreich einen ERP-Kredit für den menanfang ergibt. Neuanfang erhalten. Günstige Prognosen gab es für die Eingeschränkt wird die Trefferreichweite im Wirt- 200-250 Mitarbeiter durch die Beleuchtungsvorschrif- schaftsarchiv auch dadurch, dass viele Betreiber einer ten in der neuen Straßenverkehrsordnung sowie die Er- Fahrradwerkstatt nicht unter das IHK-Gesetz fallen, weiterung des Herstellungsprogramms um Motorrad- sondern vielmehr als Handwerker, nämlich „Mechani- leuchten. ker“ bzw. „Fahrradmechaniker“, gelten und deshalb ge- Dennoch erwies sich die Kapitaldecke als zu dünn: mäß Handwerksordnung der Handwerkskammer zu- Schon im Januar 1955 konnte Berko Lieferaufträge geordnet sind. Erst ab einer gewissen Größe müssen nicht ausführen, und im November wurde das Kon- Fahrradwerkstätten, so sie ihr Geschäft auch auf Han- kursverfahren eröffnet. Der Duisburger Magnetzuliefe- del und Vertrieb ausdehnen, auch Mitglied der IHK rer Tigges & Co. übernahm 1956 die Berko-Werke und werden und schlagen sich im Archiv der IHK nieder. speckte auf 150 Mitarbeiter ab. Als Tigges-Eigentümer Im Branchenteil des Stadtadressbuchs von 1951 fin- Helmuth Söding Berko 1964 an ein niederländisches den sich unter dem Stichwort „Fahrradfabrikation“ Unternehmen verkaufte und die Firma Berko gelöscht neun Einträge, zum „Großhandel“ 35 Einträge, zum wurde, arbeiteten noch 137 Mitarbeiter am Wilhelms- „Einzelhandel“ 179 Einträge und unter „Reparaturen“ ruher Damm, ehe 1972 die Produktion ganz eingestellt 81 Einträge. Viele Geschäfte boten alles an, so dass es wurde. Überschneidungen gibt. Sechs Einträge stehen unter „Fahrradteile und -zubehör". Aus diesen sollen im Folgenden fünf Fallbeispiele herausgegriffenwerden, deren IHK-Mitgliedsakten aus- gewertet wurden.
Berliner Archivrundschau 2017 23 Fahrradbüro Crellestraße Verkauf- und Verlags GmbH Über dieses alternative Fahrradprojekt kann man zwei Geschichten erzählen: die des „Projektes“ in der Szenelandschaft West-Berlins in den 1980er Jahren und eine Chronologie der Daten aus Handelsregister und IHK-Mitgliederbestand. 1979 wurde das Fahrradbüro Crellestraße als Kollektiv aus einer Verkehrsbürgerin- itiative heraus ins Leben gerufen, das zunächst dem Einzelhandel mit „Trödel, Fahrrädern und Fahrradzu- behör“ diente. 1981 wurde daraus eine GmbH mit dem Unternehmensgegenstand „Handel mit Fahrrädern, mit sämtlichem Zubehör sowie Literatur zum Thema ‚Fahr- Mercedes Damenrad. Mercedes in Marienfelde fertigte rad‘“ sowie „das Verlegen von Fachliteratur“. Alle Ge- zwischen 1923 und 1930 auch Fahrräder. Etwa 27.000 Stück sellschafter waren studiert, und der gesellschafts- wurden hergestellt. Sie sind heute rare Sammlerstücke. Ihr politische Hintergrund lässt sich auch in den Publika- spitzes Steuerrohr zieren gleich zwei Mercedes Sterne. SDTB / Foto: Benjamin Huth tionen dieses Jahres erkennen: „Stadtverkehr mit dem Fahrrad oder Mobilität ohne Schaden – ein Beitrag zur prinzipiellen Verkehrsberuhigung“ und „Vorfahrt fürs Ein ähnliches Projekt, bloß mit Moabiter Boden- Fahrrad – eine Befragung von Lesern der Zeitschrift ständigkeit und weniger Schöneberger Kiezgeruch, ‚Brigitte‘“. wurde am 6.1.1986 in der Jagowstraße gegründet: Die Die Alternativbewegung wählte sich das Fahrradbü- Velophil Fahrradhandel GmbH hatte sich in ihrem ro als ihren alternativen Fahrradladen, der sozusagen Gründungsprotokoll einen fast gleichlautenden Unter- „das politische Fahrrad“ lieferte, denn Fahrradfahren nehmenszweck gegeben. Noch heute existiert Velophil konnte in den 1980er Jahren ein politisches Statement in Moabit und berichtet in seiner Selbstbeschreibung: darstellen. Im Handelsregister wird der Unternehmens- „Grenzenlose Fahrradbegeisterung, Radsport und gegenstand 1983 erweitert, nun gilt es „eine am Wohl Radreisen, die grünen Radler auf der Suche nach einer des Menschen orientierte Verkehrspolitik, insbesondere Alternative zur Autogesellschaft, Teilnahme an der le- das Fahrrad als Beförderungs- und Transportmittel, zu gendären Protestfahrt auf der Fernstraße 5 von Berlin fördern, um so einen notwendigen Beitrag zur Gesund- nach Lauenburg durch die DDR, die Unzufriedenheit heit und zum Umweltschutz zu leisten“. mit der schlechten Qualität der auf dem Markt angebo- Dieser Zweck soll erreicht werden durch Beratung tenen Alltagsräder waren der Urschlamm, aus dem ve- und Verkauf von Fahrrädern sowie Zubehör, den Auf- lophil entstand.“ bau einer Bibliothek und der Herausgabe von Publika- tionen sowie der „Unterstützung von Initiativen, die den Fußgänger- und Fahrradverkehr fördern“. Versu- che, in der Gesellschaft in der Folge auch neue Modelle Fahrrad-Motorrad-Haus Erich Jeserich zu entwickeln, scheiterte an der Gewerbeordnung: Die Handwerkskammer Berlin verlangte hierfür einen or- dentlichen Mechaniker zur Eintragung in die Hand- Eines der kurzlebigen Beispiele von Aus- und werksrolle, der dem Unternehmen aber nicht angehörte. Überdehnung eines Fahrradladens gibt das Fahrrad- Dreißig Jahre existierte das Fahrradbüro und erwei- Motorrad-Haus Jeserich. Am 5. Mai 1948 erteilte das terte seine Geschäftsräume durchgehend von der Crel- Bezirksamt Wilmersdorf dem 36-jährigen Erich Jese- lestraße 48 bis in die Hauptstraße 146 und behandelte rich die Gewerbeerlaubnis zur Einrichtung eines La- das Produkt Fahrrad als robusten lebenslangen Beglei- dens mit dem Zweck „Einzelhandel mit Fahrrädern, ter und weniger als Erscheinung der Wegwerfgesell- Nähmaschinen und Kinderwagen nebst Zubehör, ein- schaft. Nachdem es 2012 schloss, war drei Jahre lang schlägigen Sportartikeln und Reparaturwerkstatt“ in eine Galerie in den Geschäftsräumen beheimatet, die Halensee. Schon vier Jahre später expandiert Jeserich unter dem Ladenschild „FahrradBüro“ Kunst ausstellte. in den Wedding und eröffnet einen Laden auf dem Vor-
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