Älter Titelthema # 03 März 2013 - Bundeszentrale für politische Bildung
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3 magazin # 03 März 2013 Liebe Leserinnen Inhalt und Leser, hatten Sie auch Probleme beim Entziffern Titelthema: Älter des „Sehtestes“ auf der Titelseite? Dann ging es Ihnen wie mir und wie vielen Menschen 04 Altersbilder im Wandel über 50. Altersweitsichtigkeit ist nur eines 08 Alter in Zahlen von vielen Phänomenen, mit denen das Älter- werden verbunden ist. Doch sollte das Alter(n) 10 Ein Zuhause bis zuletzt – Eine Reportage nicht bloß auf körperliche Einbußen reduziert über unterschiedliche Wohnmodelle werden: „In unserer pluralisierten und differen- 04 13 Arm im Alter zierten Gesellschaft hat man es immer mit ei- ner Vielzahl von Altersbildern zu tun.“ So sind etwa die Wohnformen, die ältere Menschen Bundestagswahl für sich wählen, ganz unterschiedlich. 14 Spielend informieren – Das interaktive Um politischen Pluralismus geht es im Online -Tool Wahl-O-Mat Schwerpunkt zur Bundestagswahl 2013. Die 17 Du bist bpb! Kombination aus „politischer Information und spielerischen Momenten“ ist für den Polito- 18 Der Parteienstaat ist kein Auslaufmodell logen Stefan Marschall der Grund für den Erfolg des Online-Angebots Wahl-O-Mat. Zu- Internet dem erläutert bpb-Beiratsmitglied Everhard Holtmann, warum der „Parteienstaat kein 20 Das Internet verstehen ist wie den Auslaufmodell“ ist. Ozean kennen – Kathrin Passig und „Das Internet verstehen ist wie den Oze- Sascha Lobo im Interview an kennen“, sagt Sascha Lobo im Gemein- 24 „Durchleuchtung“ ist selektiv – Radiologie schaftsinterview mit Kathrin Passig. Lesen und Transparenz Sie mehr über die Sicht der beiden Auto- Betrachtungen zur Netzgesellschaft ren, die mit ihrem Buch einen Beitrag zur Internetdebatte liefern. Der Nachwuchswis- senschaftler Patrick Kilian begreift das Inter- Israel net und die sozialen Netzwerke als „Trans- 28 Ohne Berührungsängste – 50 Jahre parenz-Verstärker“. Sein Text zu „Radiologie bpb-Studienreisen und Transparenz“ entstand im Rahmen ei- nes „Call for Papers“ der APuZ. 31 10 Fragen an: Rudolf W. Sirsch Seit 50 Jahren organisieren wir Studienrei- 32 Wer rückwärts fährt, hat verloren – sen nach Israel. Unter den rund 7.300 Teilneh- Eindrücke von einer Israel-Reise mit der bpb menden war auch der eine oder andere Pro- 34 minente – wie der Artikel von 34 Ein Blick in die Zukunft Israels belegt. Seien Sie gespannt auf seinen Be- richt, die Eindrücke einer Reiseteilnehmerin 26 bpb-Angebote: Älter und Israel 36 Veranstaltungen März bis und das Zukunftsszenario von Grisha Alroi- Oktober 2013 39 Veranstaltungsvorschau 40 Multimedia-Angebote Arloser zu Israel im Jahr 2025. 41 Publikationen 50 AGB 51 Und jetzt Sie! 51 Impressum Eine interessante Lektüre wünscht Thomas Krüger, Präsident der bpb
Altersbilder im Wandel Älter werden wir alle. Die vorherrschenden Altersbilder und Stereotype, seien es individuelle oder kollektive, positive oder negative, haben Einfluss darauf, wie wir mit unserem persönlichen Altern umgehen und wie alternden und alten Menschen in Gesellschaft und Politik begegnet wird. 01 Text Susanne Wurm, Frank Berner, Clemens Tesch-Römer
Titelthema: Älter 5 Die Autoren Susanne Wurm, Frank Berner und Clemens Tesch-Römer forschen und ar- beiten am Deutschen Zentrum für Altersfra- gen (DZA) in Berlin. J ede und jeder von uns hat bestimmte Vor- stellungen vom Älterwerden und Altsein. Häufig wird etwa das Älterwerden mit der Zu- nahme von körperlichen Einbußen, Vergess- lichkeit und sozialen Verlusten verbunden. Verbreitet ist es aber auch, alten Menschen das Attribut der Weisheit zuzuschreiben. Hier sind Altersbilder am Werk, also individuelle und gesellschaftliche Vorstellungen vom Alter (Zustand des Altseins), vom Altern (Prozess des Älterwerdens) und von älteren Menschen (soziale Gruppe älterer Personen). In unserer pluralisierten und differenzierten Gesellschaft hat man es nicht nur mit einem einzigen Al- tersbild, sondern immer mit einer Vielzahl von Altersbildern zu tun. Altersbilder unterschei- den sich nach Lebensbereichen. Sie betonen 02 unterschiedliche Aspekte beziehungsweise Eigenschaften des Altseins, des Älterwer- dens oder älterer Menschen als Gruppe und ein Leben lang (nicht) angehört. Altersstereo- „Da Alter(n)sstereotype sind mal eher positiv, mal eher negativ – je type hingegen beziehen sich auf eine Grup- nach Kontext, in dem sie stehen. pe, der man zunächst nicht angehört, in die zunächst nicht die eigene man aber unweigerlich hineinwächst, wenn Altersgruppe betreffen, Individuelle Altersbilder man nur lange genug lebt. Ältere Menschen werden sie unreflektiert beziehen Altersstereotype deshalb nicht nur angenommen.“ Bevor Menschen Erfahrungen mit ihrem auf andere, sondern auch auf sich selbst. eigenen Älterwerden und Altsein machen, Dadurch kann sich nicht nur das diskriminie- verinnerlichen sie bereits als Kinder die in rende Verhalten anderer auf Ältere auswirken, einer Gesellschaft vorherrschenden Alter(n)s- sondern ebenso das eigene Handeln und stereotype, beispielsweise durch Kinderbü- Denken. Umgekehrt kann die eigene Sicht- cher oder Werbung. Da diese Stereotype weise auch Altersstereotype verändern. zunächst nicht die eigene Altersgruppe be- Wie positive und negative individuelle Al- treffen, werden sie unreflektiert angenommen tersbilder in der Gesellschaft verteilt sind, und bilden später den Hintergrund, vor dem hängt ab von sozio-ökonomischen Faktoren die eigenen Erfahrungen mit dem Älterwer- wie Alter, Bildungsstand, Einkommen oder den gemacht und interpretiert werden. Dies Gesundheitszustand. 01 Menschen, die ein positives Altersbild haben, ist eine Besonderheit von Altersstereotypen, Altersbilder können eine erhebliche Wir- sind meist auch im Alter noch geistig und körperlich aktiv. denn die meisten anderen Stereotype (etwa kung entfalten, sei es direkt (zum Beispiel 02 Nicht nur die eigene Einstellung, sondern auch geschlechtsbezogene) beziehen sich auf über physiologische Stressreaktionen) oder sozio-ökonomische Faktoren prägen Altersbil- Personengruppen, denen man in der Regel indirekt (indem sie gesundheitsrelevante der in der Gesellschaft.
6 Älter 03 Heute sollen Menschen ermutigt werden, ihre Fähigkeiten auch im Alter zu entwickeln und zu nutzen. Die Fürsorge für tatsächlich Pflegebe- dürftige darf darüber aber nicht vernachlässigt werden. 03 „Häufig wird etwa das Älter- Verhaltensweisen beeinflussen). Letzteres beeinträchtigt zumindest eine angemessene wird deutlich anhand von Befunden zur kör- Behandlung von Beschwerden. werden mit der Zunahme perlichen Aktivität. Haben ältere Menschen Im politischen Diskurs hält sich die Vor- von körperlichen Einbußen, ein eher negatives Bild vom Älterwerden, stellung, mit dem fortschreitenden demogra- Vergesslichkeit und sozia- sind sie deutlich seltener körperlich aktiv als fischen Wandel würde die Demokratie zu ei- Personen mit einem positiveren Altersbild. ner „Gerontokratie“. Damit ist gemeint, dass len Verlusten verbunden.“ in einer älter werdenden Gesellschaft die Älteren einen immer größeren Anteil an der Gesellschaftliche Altersbilder Wahlbevölkerung ausmachen und deshalb Neben individuellen Altersbildern gibt es ihre altersgruppenspezifischen Interessen gesellschaftliche Altersbilder. Diese wirken immer besser durchsetzen könnten. Wis- zum Beispiel im Gesundheitswesen, in der senschaftliche Untersuchungen und die po- Arbeitswelt oder in der Politik. Eine poten- litische Praxis bestätigen diese Annahmen ziell unerwünschte Wirkung von kollektiven jedoch nicht. Die Gruppe der älteren Men- Altersbildern entsteht dadurch, dass sie fal- schen ist sehr heterogen, es gibt unter den sche oder pauschalisierende Annahmen über älteren Menschen eine große Vielfalt an Le- ältere Menschen enthalten. Ein verbreitetes benslagen und Lebenssituationen und ent- Altersstereotyp enthält beispielsweise die An- sprechend groß ist die Vielfalt ihrer politisch nahme, dass das Älterwerden zwangsläufig artikulierbaren und artikulierten Interessen. mit gesundheitlichen Einbußen verbunden ist. Altersbilder prägen unser Verhalten ge- Gesundheitliche Beschwerden werden des- genüber älter werdenden und alten Men- halb sowohl von Professionellen im Gesund- schen, sie haben Auswirkungen auf unser heitswesen als auch von älteren Menschen eigenes Selbstbild und auf unsere Entwick- selbst häufig als normale Begleiterscheinung lung, und sie beeinflussen Entscheidungen in des höheren Lebensalters angesehen und Wirtschaft und Politik. Da Altersbilder mögli- damit als behandelbare Krankheiten weni- che Entwicklungspfade im Lebensabschnitt ger ernst genommen. Dies verhindert oder „Alter“ in der Regel aber nur holzschnittartig
7 und nicht selten auch negativ darstellen, können sie Verhaltensweisen anregen, die das zu bestätigen scheinen, was sie vor- hergesagt haben – und auf diese Weise als selbsterfüllende Prophezeiung wirken. Seit einigen Jahren ist ein Wandel im ge- sellschaftlichen Diskurs über das Alter zu be- obachten. Die Leitidee des produktiven und aktiven Alterns soll älter werdende Menschen dazu ermutigen, ihre Möglichkeiten, Ressour- cen und Kompetenzen zu entwickeln, einzu- setzen und zu nutzen. Das Individuum profi- tiere von einer gesteigerten Lebensqualität, gleichzeitig profitiere die Gesellschaft zum Bei- spiel von einer erhöhten Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, von geringeren Gesundheitskosten bei einer gesünderen Lebensführung sowie vom eh- renamtlichen Engagement älterer Menschen. Allerdings: So wichtig es ist, negative Deutungen des Alterns infrage zu stellen und positive Deutungen zu stärken, welche die Potenziale und die Produktivität des Al- ters betonen, so darf dies nicht dazu führen, Wie wollen wir leben? dass solche positiven Deutungen nur auf das „junge“ Alter bezogen und demgegen- Kongress zu Zunkunftsentwürfen für eine über ältere Menschen mit Hilfe- und Pfle- älter werdende Gesellschaft gebedarf als weniger „wertvoll“ angesehen werden. Die Vielfalt von Altern und Alter be- Wir werden alle alt und älter. Deutschland wird älter. Aber inhaltet eben beides: die Bereitschaft und das ist kein Problem, sondern birgt Potenziale. Für jeden das Potenzial für eine aktive Partizipation äl- Einzelnen, die Gesellschaft und die Demokratie. terer Menschen − und die Fürsorge für jene, die Unterstützung, Pflege und Betreuung Der Kongress „Wie wollen wir leben?“ stellt die Potenziale einer älter werdenden Gesellschaft ins Zentrum und fragt benötigen. Das Älterwerden umfasst Verän- nach Entwürfen für ein Deutschland von morgen. Er derungen, die als Gewinn erlebt, wie auch ist ein experimentelles Labor für den Austausch der Gene- Veränderungen, die als Verlust verstanden rationen über neue Bilder vom Alter(n), zukünftige werden. Es sollten deswegen nicht einfach Lebenskonzepte und sich daran dynamisch anpassende negativ konnotierte Altersbilder durch po- Systeme in Politik, Wirtschaft oder auch (politischer) sitiv konnotierte ersetzt werden. Vielmehr Bildung. braucht die Verschiedenartigkeit des Alters Inputs von Experten aus Wissenschaft, Politik und ver- auch differenzierte Altersbilder, welche die schiedenen Praxisfeldern (Bildung, Wirtschaft, Gesundheit, Vielfalt des Alterns so abbilden, dass der ge- IT, Medien, Kunst) sind im Programm genauso zu finden sellschaftliche Diskurs über Altersbilder die wie Methoden und Formate der kulturellen Bildung, die Inklusion aller älteren Menschen befördert. eine kreative und aktionsbetonte Auseinandersetzung mit dem Thema anbieten. APuZ Vom Theaterworkshop bis zum Science Slam ist für Alternde junge wie ältere Menschen etwas dabei. Gesellschaft Den vollständigen Text sowie weitere Beiträge 03. – 04. Juli 2013, Frankfurt am Main zum Thema finden Sie in der APuZ 4 – 5/2013 „Alternde Gesellschaft“ Mehr Informationen unter: www.bpb.de/demografie 2013, Bestell-Nr. 7304 kostenlos
In Deutschland engagieren sich 45% der 65- bis 85-Jährigen in einem von Alter in elf gesellschaftlichen Bereichen: Kirche 15% Freizeit und Geselligkeit 14% Sport 12% Kultur und Musik 12% Gesundheit oder Soziales Zahlen 10% Umwelt 8% Politik 5% außerschulische Jugendarbeit oder 4% Bildungsarbeit für Erwachsene berufliche Interessenvertretung Generali Altersstudie 3% Unfall- oder Rettungsdienst 2013. Wie ältere Menschen 2% leben, denken und sich (freiwillige Feuerwehr) Justiz und Kriminalität engagieren, bpb 2013 2% Ergebnis einer Stichtagsbefragung: Neun von zehn 65- bis 85-Jährigen in Deutschland informieren sich über das aktuelle Geschehen - mehr als in jeder anderen Altersgruppe. 82% im Fernsehen Besonders intensiv verläuft die Alterung der Bevölkerung in Ländern mit den niedrigsten Geburtenraten, darunter in 67% Europa vor allem Deutschland in einer Zeitung sowie die ost- und südeuro- päischen Länder. Frankreich und die nordeuropäischen Län- der verzeichnen die höchsten 37 % Geburtenraten in Europa. im Radio Informationen zur politischen Bildung (Heft 282), Bevölkerungsent- 6% wicklung im Internet 70% der 65- bis 69-Jährigen, 64% der 70- bis 74-Jährigen und nur jeder dritte 80- bis 85-Jährige nutzen ein Handy. Generali Altersstudie 2013. Wie ältere Menschen leben, denken und sich engagieren, bpb 2013 Deutschland verzeichnet heute mit 8,1 Geburten je 1000 Einwohnern die niedrigste Geburtenziffer im Weltvergleich. Deutschlands Bevölkerung gehört zu den am schnellsten alternden Bevölkerungen der Welt. 10 APuZ 4–5/2013, Alternde Gesellschaft Auf einer Skala von 0 bis 10 bewerten Die Zahl der 65-Jährigen und Älteren steigt in 65- bis 85-Jährige in Deutschland die Deutschland bis zum Ende der 2030er-Jahre eigene Lebenszufriedenheit mit einem um über 40%: von ca. 17 Millionen im Jahr durchschnittlichen Wert von 7,4. 2011 auf ca. 24 Millionen. Generali Altersstudie 2013. Wie Datenreport 2011. Ein Sozialbericht für ältere Menschen leben, denken und die Bundesrepublik Deutschland, bpb 2011 sich engagieren, bpb 2013 0
Mittleres Alter * der Bevölkerung in Jahren Afrika 1960 18,5 In Deutschland leben fast zwei 2060 ** 28,4 Drittel der 65- bis 85-Jährigen in Asien Haushalten mit Immobilienbesitz – 1960 20,8 neben der staatlichen Rentenver- 2060 ** 42,8 sicherung die wichtigste Säule der Ozeanien einschließlich Australien finanziellen Alterssicherung. 1960 27,0 Generali Altersstudie 2013. Wie 2060 ** 39,1 ältere Menschen leben, denken und Europa sich engagieren, bpb 2013 1960 30,7 2060 ** 45,5 Lateinamerika und Karibik 1960 19,2 2060 ** 43,4 * Median Nordamerika ** Prognose 1960 29,3 2060 ** 40,8 Informationen zur politischen Bildung Welt 1960 23,0 (Heft 282), Bevölke- 2060 ** 39,1 rungsentwicklung Die wichtigsten Einkommensquellen der ab 65-Jährigen in Deutschland (2008, % des Bruttoeinkommensvolumens) gesetzliche Rentenversicherung 66% andere Alterssicherungssysteme 21 % (zum Beispiel Betriebsrenten, Pensionen) Zinseinnahmen, Einnahmen aus 7% Vermietung, Lebensversicherungen Erwerbstätigkeit 4% www.bpb.de/zahlen- Wohngeld-, Sozialhilfe- oder undfakten, Die wichtigsten 1% Grundsicherungszahlungen Einkommensquellen der Bevölkerung ab 65 Jahren (2008) Prognose der Bevölkerungsent- 39,2% wicklung in Deutschland für den Zeitraum 2011 – 2060: 26,6% 18,2% 15,7% 54% der 65- bis 69-Jährigen und 60% der 80- bis 85-Jährigen in Deutsch- land wünschen sich einen Verbleib in der eigenen Wohnung. 2011 2060 2011 2060 26% der höher gebildeten 65- bis 85-Jährigen sehen die eigene Wohnung unter über in einem Mehrgenerationenhaus als erste Wahl, 18% präferieren eine 20-Jährige 60-Jährige Wohngemeinschaft mit älteren Menschen. 44% der Älteren mit Migrationshintergrund wünschen sich eine eigene Die Folge: Rückgang der Bevölkerungszahl bis Wohnung mit Pflegedienst, 37% möchten zu den Kindern oder Enkeln ziehen. 2060 von derzeit 81,8 auf 70,1 Millionen. Generali Altersstudie 2013. Wie ältere Menschen leben, www.bpb.de/zahlenundfakten, denken und sich engagieren, bpb 2013 Demografischer Wandel (2012)
10 Älter Ein Zuhause bis zuletzt Den Kindern nicht zur Last fallen, selbstständig bleiben und doch ein Zuhause finden, das sich für Alter und Pflege eignet – eine große Herausforderung. Es gibt viele Modelle, vom Vorstadthaus bis zur Rentner-WG. Wir haben uns umgeschaut und stellen drei Menschen vor, die unterschiedliche Wohnformen für ihren letzten Lebensabschnitt gewählt haben. Text Tim Farin, Christian Parth, Fotos Lars Welding F ünf Etagen hinauf geht es, ehe Besu- cher die Wohnungstür des ehemaligen Bundesinnenministers Gerhart Baum errei- chen. An der Tür warnt ein kleiner Aufkleber vor den demokratiegefährdenden Auswir- kungen des Überwachungsstaates. Dann empfängt der 80 Jahre alte Liberale seine Besucher in einer hellen, geräumigen Woh- nung, die er seit anderthalb Jahrzehnten gemeinsam mit seiner Frau bewohnt. „Das ist ein sehr angenehmes Wohnumfeld, ein Altbau mit Flair“, sagt Baum, „ich bin mitten im Leben der Kölner Südstadt.“ Baum hat Platz genommen hinter dem massiven Schreibtisch, der mitten im Raum steht und mit Korrespondenz bedeckt ist. Von hier schaut er in sein Wohnzimmer, auf die reich gefüllte Bücherwand und über die Dächer der Stadt. Er habe sich einmal ge- fragt, ob eine Mischung aus Büro und Pri- vatwohnung wünschenswert sei. „Heute ist mir klar, dass ich auf diese Weise alles habe, 01 was ich für mein Leben brauche.“ Das aktive Leben vor allem in der Südstadt, sagt Baum, rege ihn an. Er engagiert sich für eine kari- tative Organisation gleich in der Nähe, hat Leben in der Stadtwohnung Kontakt zu vielen Menschen. Darauf möchte er nicht verzichten. Gerhart Baum (80) „Wir führen hier ein gemeinsames Leben, wir engagieren uns kulturell“, sagt Baum, Fragen des Alters verdrängt. Eine zusätzliche Dafür ist sein Umfeld wichtig. Und deshalb „unser Ziel ist es, in diesem Umfeld bis zum Wohnung haben sie im Haus gekauft, auch nimmt er nach Möglichkeit auch die Treppe Ende zu bleiben.“ Hier, in der zweigeschos- für den Fall, dass sie dauerhaft auf Pflegeper- hinauf in den 5. Stock. „Körperlich ist das Al- sigen Wohnung, können Baum und seine sonal angewiesen sein sollten. Noch immer ter nicht zu vermeiden, vor allem aber muss Frau ihre Privatsphäre bewahren, ihr eigenes pendelt Baum in seine Berliner Wohnung, man geistig in Bewegung bleiben.“ Leben fortführen. Einen Umzug in ein Seni- nahe beim Savignyplatz. „Auch dort bin ich oren-Wohnprojekt oder gar ein Senioren- aktiver Teilnehmer des politischen und kultu- heim, wie ihn sein einstiger Ministerkollege rellen Lebens – und lebe auch dort in einem 01 Lebhaft im politischen Diskurs: Gerhart Baum an Hans-Jochen Vogel vor Jahren verkündete, Kiez mit eigenem Charakter. Das Pendeln seinem Schreibtisch in seiner Kölner Wohnung. können sie sich nicht vorstellen. „Nur unter zwischen diesen beiden Orten belebt uns.“ 02 Licht und lebenswert: Trude Reibert hat ihre Erdgeschoss-Wohnung mit hellen Möbeln alten Menschen zu leben, wäre mir nicht Er sagt: „Ich möchte so lange wie möglich und Kunstwerken nach ihrem Geschmack angenehm.“ Das heißt nicht, dass Baum die ein selbstständiges Leben aufrechterhalten.“ eingerichtet.
11 Tim Farin, Diplom-Politikwis- senschaftler, arbeitet als freier Journalist im Büro für Stilsi- cherheit, Köln. Er schreibt für Print- und Online-Medien sowie Beiträge zu Radiosendungen. T rude Reibert lässt gern Besucher in ihre „Endstation“. So nennt die 78 Jahre alte Leben im Mehrgenerationenhaus ehemalige Sekretärin ihre 48-Quadratmeter- Wohnung. Seit dem 23. Dezember 1997 lebt sie inmitten ihrer hellen Holz-, Korb- und Polstermöbel in dieser Erdgeschoss-Woh- nung, ruhig gelegen in der Nähe der Kölner Trude Reibert (78) Galopprennbahn. Schon drei Tage nach dem Einzug hatte sie das Gefühl, angekom- men zu sein. Reibert gehört zu den Initiatoren einer Wohnform, die als vorbildlich für das Leben im Alter gilt. Anfang der 1990er-Jahre schloss sie sich dem Kölner Verein „Neues Wohnen im Alter“ an, bald darauf wirkte sie mit an der Planung des „Haus Mobile“, in dem sie nun seit mehr als 15 Jahren lebt. Das „Haus Mo- bile“ schuf als Verein ein Mehrgenerationen- Wohnangebot. Zwei aneinander grenzende Häuser bieten in 36 Wohnungen Raum für alte Menschen und auch jüngere Bewoh- nerinnen und Bewohner. Dank öffentlicher Förderung zogen Alleinerziehende ein, eine Kita liegt direkt gegenüber. Die Architektur ist barrierefrei und umweltschonend. Der Verein achtet darauf, dass die Mischung „stimmt“ – sowohl sozial als auch altersmäßig. Dass mehrere Generationen unter einem Dach leben, fand Trude Reibert schon lange 02 attraktiv. Nach der Flucht aus Köln hatte sie die letzten Kriegsjahre in der Eifel verbracht, wo Alt und Jung aus verschiedenen Schichten Sie gehört zu denen, die das Gemeinsame vergreise. „Aber für mich fängt das Sterben mit miteinander lebten. „Der Zusammenhalt ist für befördern. Sie führt Besucher durch das Haus der Geburt an, und ich möchte meiner Tochter mich wichtig“, sagt sie, „mehr im Du als im Ich und hilft im Nachbarschaftstreff, einem klei- nicht zur Last fallen.“ Also regelte Reibert ihre zu denken.“ Allerdings gibt es Abweichungen nen Café. Gemeinsam mit anderen Seniorin- Dinge frühzeitig und entschloss sich, eine Woh- zwischen Modell und Realität. Die jüngeren nen und Senioren spielt sie dort an Gemein- nung zu beziehen, die für Hochbetagte funkti- Bewohner des Hauses haben kaum Zeit für schaftsabenden Schach oder Streitpatience. oniert. Im „Haus Mobile“ kann sie ihr Leben ehrenamtliches Engagement. Man grüßt sich „Wir wissen immer, wie es den anderen im selbstständig weiterführen, hat neue Bekannt- auf dem Flur und spricht bei Festen – intensiv Haus geht“, sagt sie – und das sei etwas wert. schaften geschlossen und hätte im Zweifelsfall ist das Zusammenleben nicht. Dennoch sei es Dass dies ihre „Endstation“ sein soll, bekräf- einen ambulanten Pflegedienst, mit dem der ein belebendes Umfeld, sagt Reibert. tigt Reibert mehrfach. Das heiße nicht, dass sie Verein eine Zusammenarbeit vereinbart hat.
12 Älter Christian Parth hat Philosophie und Germanistik studiert. Gemeinsam mit Tim Farin arbeitet er im Büro für Stilsicherheit, Köln. Als freier Journalist schreibt er für Magazine, Zeitungen und Online-Medien. E s war der 4. April 2007, der das Leben von Sabahaddin Egin für immer verän- dern sollte. Mitten in der Nacht klagte der stämmige Maschinenschlosser über Übel- keit, dann fiel er um „wie ein Kartoffelsack“. Diagnose: Schlaganfall. Heute sitzt der 69-Jährige im Rollstuhl, linksseitig gelähmt und mit Gedächtnisschwierigkeiten, und lebt im multikulturellen Seniorenzentrum „Haus am Sandberg“ in Duisburg-Homberg: „Hier ist es wie in einem Sporthotel. Viel bes- ser hätte ich es in meiner Lage nicht treffen können“, sagt er. In der Einrichtung im Herzen des Ruhr- gebiets leben 96 pflegebedürftige Senio- rinnen und Senioren, 19 davon haben wie Egin türkische Wurzeln, der Rest setzt sich zusammen aus Spaniern, Italienern, Rus- sen, Serben, Kroaten und hauptsächlich Deutschen. „Hier ist multikulti, das ist ge- nau, was mir gefällt. Ich wollte nicht nur unter Türken sein, auch nicht nur unter 03 Deutschen.“ Egins Tage sind durchgeplant. Türki- sches Frühstück, Singkreis, Gymnastik, Gedächtnistraining, Klönkaffee, Musik mit Leben im multikulturellen Frau Rolfink. Weihnachten und islamisches Opferfest feiern alle gemeinsam. „Es gibt Seniorenzentrum Sabahaddin Egin (69) hier keine religiösen Berührungsängste. Die Menschen respektieren sich. Wir leben wie eine Familie.“ Egin ist Einwanderer der „ersten Gene- de wurde sie schließlich auf das „Haus am Er sei ein glücklicher Mann, auch weil er ein ration“, ein „Schicksalsdeutscher“, wie er Sandberg“ aufmerksam. Inzwischen ist tolles Leben in Deutschland geführt habe. sagt. 1968 kam er aus der Türkei nach Es- auch die 62-Jährige voll in den Alltag inte- Nur eine Sache vermisse er wirklich: die sen. Mehr als 30 Jahre arbeitete er als Ma- griert. Die Leitung des Hauses vermittelte Reisen nach Gran Canaria, die Insel seiner schinenschlosser und Kranführer bei Thys- ihr eine kleine Wohnung direkt gegenüber. Träume. sen, bis kurz nach seiner Pensionierung Seitdem arbeitet sie ehrenamtlich mit, or- der Schlaganfall ihn zum Pflegefall machte. ganisiert Ausflüge und hilft aus. Jedes Wo- Vier Jahre kümmerte sich seine Frau Nasire chenende kommen die beiden Kinder der 03 Fühlt sich wie in einem „Sporthotel“: Sabahaddin zu Hause um ihn, doch dann kam sie nicht Egins zu Besuch. „Viel mehr kann man sich Egin in seinem Zimmer im multikulturellen Senio- mehr zurecht. Durch die türkische Gemein- nicht wünschen“, sagt Sabahaddin Egin. renzentrum „Haus am Sandberg“ in Duisburg.
13 Arm im Alter Sarah Lotz ist Volontärin im Fachbereich Multimedia in Ber- lin. In dem Text „Arm im Alter“ stellt sie einige Kernthemen des Online-Dossiers zur Rentenpo- litik vor. Viele Jahre harter Arbeit bedeuten längst nicht mehr, dass die Rente später reicht. Schon heute leben viele Rentnerinnen und Rentner am Rande des Existenz- minimums oder darunter. Wie groß das Problem der Altersarmut wirklich wird, ist schwer vorherzusagen. Text Sarah Lotz S eit einiger Zeit rückt das Thema Altersarmut verstärkt in den Fokus von Politik und Medien. Dabei ist es nicht leicht, den Überblick zu behalten. Nicht nur, weil die Diskussion von Einzel- interessen und Emotionen geprägt ist, sondern auch, weil sich die Umbrüche in unserer Gesellschaft, die strukturellen Verän- derungen der Arbeitsverhältnisse und der Lebensformen sowie Online-Dossier die leistungsrechtlichen Einschnitte in den Systemen der Alters- sicherung gegenseitig überlagern und verstärken. Rentenpolitik Fest steht aber: Wenn das Nettorentenniveau so sinkt wie von der Bundesregierung angenommen, muss ein Durchschnittsver- diener 32,5 Jahre Beiträge in die staatliche Rentenversicherung einzahlen, damit seine Rente überhaupt das Grundsicherungs- niveau erreicht. Dabei sind lückenlose Erwerbsbiografien längst keine Selbst- verständlichkeit mehr. Immer häufiger ist das Erwerbsleben selbst gut ausgebildeter Menschen unterbrochen von Zeiten der Ar- beitslosigkeit, der Selbstständigkeit oder von geringfügigen Be- schäftigungsverhältnissen. Also von Zeiten, in denen wenig oder gar keine Rentenpunkte gesammelt werden. Gerade bei Frauen Das Online-Dossier zur Rentenpolitik klärt werden Erziehungsjahre und Teilzeitjobs zum Problem, erst recht überparteilich und kritisch über das Sys- dann, wenn die Ehe zerbricht oder der Partner stirbt. Kürzere Er- tem der deutschen Rentenversorgung werbspausen und mehr Frauen in Vollzeitjobs könnten zwar zu- und dessen Reformoptionen auf. Das mindest das Alterseinkommen von Ehepaaren etwas stabilisieren, Basis- und Vertiefungswissen soll die aber die Scheidungsraten sind konstant hoch und Altersarmut Voraussetzung schaffen, aktuelle sowie betrifft auch immer mehr Männer. zukünftige Probleme und Herausforde- Überdies erweist es sich als schwierig zu klären, wann jemand rungen zu verstehen. Es umfasst insge- in unserer wohlhabenden Gesellschaft „arm“ ist. In der Regel samt sieben Kapitel, von denen bislang wird das verfügbare Haushaltseinkommen zur Grundlage für die die ersten fünf abrufbar sind – „Alterssi- Entscheidung, ab wann der durchschnittliche Lebens- und Ein- cherungssysteme in Deutschland“, „Die kommensstandard so weit unterschritten ist, dass man von Ar- Gesetzliche Rentenversicherung: Leis- mut sprechen kann. Doch wird dabei lediglich auf die finanzielle tungen und Finanzierung“, „Rentenbe- Komponente abgezielt, soziale Aspekte bleiben außen vor. Ge- rechnung, Rentenhöhe, Rentenniveau“, rade diese aber sind für ältere Menschen wichtiger als ein neuer „Betriebliche und private Alterssicherung“ Fernseher oder eine neue Inneneinrichtung. sowie „Einkommenslagen und -verteilung Einerseits muss also geklärt werden, was „Armut“ in unserer im Alter“. Weitere Kapitel zu den Themen Gesellschaft und konkret für jeden Einzelnen tatsächlich bedeu- „(Grund-)Probleme der Alterssicherung“ tet. Andererseits müssen die verantwortlichen politischen Akteu- und „Alterssicherung in Europa“ werden re wirkungsvolle Maßnahmen entwickeln, um das Problem des in den nächsten Monaten fertiggestellt. drohenden Anstiegs der Altersarmut in einem reichen Land wie www.bpb.de/rentenpolitik unserem zu bewältigen.
Spielend informieren Der Wahl-O-Mat ist das erfolgreichste Internet-Tool zum Thema Wahlen. Mit wenigen Klicks können Nutzer ermitteln, mit welcher Partei ihre eigene Position am meisten übereinstimmt. 24 Millionen User haben das bereits getan. Experten verraten, was hinter dem Wahl-O-Mat steckt und warum das Wahltool so beliebt ist. Text Robert Domes
Bundestagswahl 15 Robert Domes, freier Autor und Journalist, ist als Dozent in der Aus- und Fortbildung von Kollegin- nen und Kollegen tätig, schreibt für eine Reihe von Medien und arbei- tet an seinem nächsten Roman. W as der Wahl-O-Mat ist und was er kann, das haben Stefan Raab und der Moderator Elton am besten vorgeführt. der Wirtschaft mehr Bedeutung als der Kultur geben, und er kann die Parteien auswählen, die er gerne miteinander vergleichen möchte. „Wir wollen die Leute dazu anregen, dass sie sich In seiner TV-Sendung spielte Raab das On- Am Ende rechnet das System aus, welche Gedanken über die Stand- line-Tool mit Elton durch und dieser landete der Parteien der eigenen Position am nächs- punkte der Parteien am Ende der Klickstrecke bei der Linken. ten steht. Wer sich über das Ergebnis wun- machen.“ – Jochum de Graaf Das Publikum begleitete die Fragen und dert oder nicht zufrieden ist, der kann seine Antworten mit Klatschen und Johlen. Antworten nochmals überprüfen, anders ge- Vor laufender Kamera zeigten die beiden wichten oder erneut spielen. Promis: Der Umgang mit Politik kann Spaß Doch von der simplen Oberfläche sollte machen. Wer sich näher damit beschäftigt, man sich nicht täuschen lassen. Dahinter kann durchaus überrascht werden. Und: steckt eine ausgefeilte Strategie, um das Die Thesen regen zum Nachdenken und Angebot attraktiv und informativ zu machen. Diskutieren an. Und ein dickes Kompendium: Hintergrund- Die Macher des Wahl-O-Mat bei der informationen zu allen Thesen, Begründun- Bundeszentrale für politische Bildung freu- gen der Parteien zu ihren Antworten, Fra- en sich über solch prominente Werbung. gen und Fakten zur Wahl, Kurzprofile der Dabei ist Werbung heute kaum mehr nötig. Parteien. In jahrelanger Entwicklungs- und Der Wahl-O-Mat Rund 24 Millionen Nutzerinnen und Nut- Strategiearbeit wurde ein ganzes Bündel an hat noch mehr zu zer haben das Frage-und-Antwort-Tool in Kontext-Angeboten geschaffen. bieten! den vergangenen zehn Jahren durchge- Pamela Brandt, die das Wahl-O-Mat- Zu jeder Ausgabe des Wahl-O-Mat gehört ei- spielt. Der Wahl-O-Mat findet sich auf den Projekt gemeinsam mit Martin Hetterich ne kompakte Übersicht mit allen wichtigen Internetseiten nahezu aller großen Medien, leitet, nennt das Tool einen „Appetitanreger Fakten zu einer Wahl. Außerdem werden unter er wird in Schulen genutzt, in Betriebskan- für Politik und für die Wahl“. Es soll die unter- www.bpb.de/wer-steht-zur-wahl alle tinen und Redaktionen, und er ist immer schiedlichen Positionen der Parteien zeigen zur Wahl zugelassenen Parteien mit einem Kurzprofil vorgestellt. wieder auch Gegenstand der Berichterstat- und vor allem Jugendliche dazu anregen, Übrigens kann der Wahl-O-Mat auch im Un- tung. Thomas Krüger, Präsident der bpb, über politische Themen nachzudenken und terricht eingesetzt werden und junge Men- ist stolz auf diese „Killer-Applikation“. Sie ist mit anderen darüber zu diskutieren. schen darin unterstützen, sich mit politischen eines der erfolgreichsten Instrumente der Diese Idee der staatsbürgerlichen Bil- Inhalten auseinanderzusetzen, sich zu politischen Bildung. dung stand bereits 1989 im Vordergrund, so Themen zu positionieren und die eigene Wahl- entscheidung zu reflektieren. Arbeitsblätter Das Erfolgsgeheimnis ist die Einfachheit. Jochum de Graaf, Miterfinder des niederlän- und Unterrichtsentwürfe unter: Eine These, vier Antwortbuttons, das ist dischen Internet-Tools StemWijzer, das dem www.wahl-o-mat.de/unterricht alles. Zum Beispiel: Der Besitz von Waffen Wahl-O-Mat als Vorbild diente. „Wir wollen Seit 2011 gibt es den Wahl-O-Mat auch für un- soll besteuert werden: stimme zu – neutral – die Leute dazu anregen, dass sie sich Ge- terwegs – als App für iPhone und Android: stimme nicht zu – These überspringen. 38 danken über die Standpunkte der Parteien www.bpb.de/apps. Die App enthält auch ein Lexikon mit Begriffen rund um die Wahl – von politische Thesen, 38 Klicks, fertig. Der User machen“, sagt de Graaf. Am Anfang habe A wie Abgeordneter bis Z wie Zweitstimme. kann die Thesen auch gewichten, also etwa man das Programm speziell auf Schülerin-
16 Bundestagswahl 02 01 Der Europaabgeordnete Alexander Graf Lambs- dorff testet den Wahl-O-Mat zur Europawahl. 01 02 Ein Nutzer spielt den Wahl-O-Mat zur Bundes- tagswahl 2009. „Der Wahl-O-Mat ist so er- folgreich, weil er es schafft, politische Information mit einem spielerischen Moment zu verbinden.“ – Stefan Marschall nen und Schüler ausgerichtet, inzwischen so genannten WOMster dann mit einem Ex- Universität Düsseldorf, formuliert es so: „Wenn wende sich StemWijzer an alle Wähler. pertenteam, welche Thesen zur Abstimmung man ganz konkret wird und schaut, welche Auch in Deutschland nutzen mittlerweile im- im Wahl-O-Mat infrage kommen. Am Ende Politik wollen die Parteien tatsächlich machen, mer mehr ältere User das Tool. Dennoch sind stehen etwa 85 Thesen, die an die Parteien werden die Unterschiede sehr schnell evident.“ Jugendliche weiterhin die Zielgruppe Nummer zur Beantwortung geschickt werden. Sind Marschall ist seit 2003 im Wahl-O-Mat- eins. Pamela Brandt: „Viele Jugendliche ge- die Antworten zurück, treffen sich die WOMs- Team, er sorgt für die wissenschaftliche Be- hen nicht zur Wahl, interessieren sich nicht für ter erneut und wählen die 38 Thesen aus, die gleitung und Evaluation. Einige Erkenntnisse Politik oder sagen, die Parteien sind doch eh dann in das Internet-Tool gestellt werden. daraus sind: Die User verfügen über eine Bil- alle gleich.“ Diesen Einstellungen könne man Die 21-jährige Musik- und Germanistik- dung und ein Politikinteresse, die über dem mit dem Wahl-O-Mat sehr gut entgegentreten. Studentin Gertje Nemitz aus Vechta hat an Durchschnitt liegen. Mehr als die Hälfte der Deshalb setzt die bpb schon bei der Er- dem Workshop anlässlich der Landtagswahl Befragten gibt an, den Wahl-O-Mat zu nutzen, stellung der Thesen auf den Input junger in Niedersachsen im Januar 2013 teilge- um den eigenen politischen Standpunkt zu Menschen. Bevor ein Wahl-O-Mat zu einer nommen. Sie erzählt: „Es waren drei Tage überprüfen. Mehr als 80 Prozent sagen, die Landtags- oder Bundestagswahl online geht, intensivster Arbeit.“ In kleinen Gruppen und Nutzung des Tools habe Spaß gemacht. Mar- müssen die Inhalte festgelegt werden. Dazu im Plenum wurden aktuelle und kontroverse schall dazu: „Das verrät, warum der Wahl-O- findet jeweils ein Workshop statt, zu dem 18 Themen diskutiert. Als es darum ging, die Mat so erfolgreich ist: Weil er es schafft, po- Jugendliche zwischen 18 und 26 Jahren ein- Zahl der Thesen auf 38 einzudampfen, habe litische Information mit einem spielerischen geladen werden. Die jungen Leute können sich man um jede einzelne These gerungen. „Wir Moment zu verbinden.“ im Internet bewerben. Drei Tage beraten die haben versucht, möglichst die interessantes- Vor allem hat der Wahl-O-Mat eine starke ten und kontroversen Thesen rauszusuchen“, mobilisierende Wirkung. 50 Prozent der Be- so Nemitz. Sie selbst habe dabei nicht nur viel fragten wollen sich nach Nutzung des Tools Kartenspiel über ihre Heimat Niedersachsen gelernt, son- weiter informieren, und mehr als zwei Drittel Wahlzeit! Warum wählen? dern vor allem auch, „dass es gravierende wollen sich mit anderen über das Ergebnis 56 Thesen- und Spielkarten Unterschiede zwischen den Parteien gibt“. unterhalten. „Hier wird politische Information Wahlmuffel? Oder begeisterte Damit spricht die junge Frau einen Kern- und Kommunikation angeregt,“ sagt Stefan Wählerin? Bei diesem Spiel punkt des Tools an: Allgemeine politische Marschall. Durch die Kooperation mit Medi- mit 56 illustrierten Karten und vielen Spielideen kommen alle Phrasen werden auf klar fassbare Thesen he- enpartnern erreiche man mit dem Wahl-O- auf ihre Kosten. runtergebrochen. Professor Stefan Marschall, Mat zudem Menschen, die sonst mit politi- 2009, Bestell-Nr. 1922 1,50 Euro Politikwissenschaftler an der Heinrich-Heine- scher Bildung wenig am Hut haben.
17 Du bist bpb! 2013 >> Das sagen Multiplikatoren/-innen zu den Wahl-Angeboten der bpb: GrafStat WAHLKAMPF IM INTERNET » „Die Software GrafStat eignet sich für Befragungen zum Thema Wahlen hervorragend, da sie einfach zu verstehen ist, man gut mir ihr arbeiten kann und sie anschauliche Er- gebnisse liefert.“ Lehrerin, 36 Jahre, Marienschule Münster www.bpb.de/Grafstat Wahl-O-Mat-App „Die Wahl-O-Mat-App ist echt super und bietet der ‚jungen‘ Generation eine Möglichkeit, sich schnell über die Par- teien, die zu einem passen, zu informieren.“ Android-User Domi Akreafan www.bpb.de/mobil Wahl-O-Mat-Jugendredaktion „Der Wahl-O-Mat kann die Lücke zwi- schen Wähler und Partei ohne lange Parteiprogramme schließen.“ Karsten Müller, 23, Mitglied der WOM-Jugend- redaktion Niedersachsen www.wahl-o-mat.de W on AIR „W on AIR steht für Wahl Wahlblog der drehscheibe on Air und für ein einmaliges „Früher wollten Lokaljournalisten Projekt. Es setzt auf das Wahlen schnell hinter sich bringen. In- Radio als Wahlhelfer, als Mo- zwischen wird gerade im Lokalen tivator für den Urnengang – mit Phantasie, Leserbeteiligung und und hat hervorragende Erfolge.“ kritischem Geist über das demo- Martin Knabenreich, kratische Hochfest berichtet; das Chefredakteur, Radio Bielefeld ist vor allem ein Verdienst des Lokal- www.bpb.de/Lokaljourna- journalistenprogramms mit seinen listenprogramm Seminaren, Büchern, Ausgaben » WEITERE THEMEN AB JULI IM NEUEN WETTBEWERB! der drehscheibe.“ Paul-Josef Raue, Chefredakteur, Thüringer Allgemeine Zeitung » Was ist der Schülerwettbewerb? http://drehscheibe.org/ Die Schüler2 einer Klasse, eines Kurses oder einer AG führen gemeinsam ein der-wahlenblog.html Weitere Angebote: Unterrichtsprojekt durch. Die erarbeiteten Ergebnisse werden von den Schülern2 Wahlblog auf bpb.de dokumentiert (z. B. als Wandzeitung, Internetseite, Leseheft) und eingesandt. www.bpb.de/wahlen > für alle Klassen 5 bis 11 (eine Aufgabe schon für 4. Klassen) Wahlcommunity in Social Networks > für alle Schulformen www.facebook.de/bpb.de > sorgfältig aufbereitete Aufgaben zu aktuellen Themen Erklärfilme zu den Wahlen > fächerübergreifende Projekte für z.B. www.bpb.de/mediathek Deutsch, Wirtschaft, Informatik, Geschichte, Hanisauland.de Politik, Ethik, Sozialkunde, Philosophie, Kunst, ler Umfrage-Tool „Wer wählt was?“ Schü n Spezial „Wahlen“ Erdkunde, Religion, Recht www.bpb.de/wahlen „Ihr seid so cool und > über 400 Preise e mach cht! ich lerne hier so viel ...“ HanisauLand und ZDF-logo!: > Start: Mit jedem neuen Schuljahr Vanessa, 11 Bundesweiter Schulaktionstag rri > Einsendeschluss: 1. Dezember Unte www.hanisauland.de „Eure Wahl“ am 7. Juni für > Newsletter bestellen (ca. 3 x pro Jahr) .de die Klassen 3 bis 8 werb ettbe unter sw@bpb.de chuelerw www.hanisauland.de ww.s w » Mehr Informationen unter www.schuelerwettbewerb.de
18 Bundestagswahl Der Parteienstaat ist kein Auslaufmodell Sinkende Wahlbeteiligung, Mitgliederschwund, Unzufriedenheit in der Bevölkerung und fehlendes Vertrauen: Bürger und Parteien scheinen sich zunehmend zu entfremden, der Parteienstaat scheint eine ernsthafte Krise zu durchleben. Brauchen wir noch Parteien? Ja, sagt der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann, und zwar aus guten Gründen. Text Everhard Holtmann Prof. Dr. Everhard Holtmann ist Forschungsdirektor des Zentrums für Sozialforschung an der Univer- sität Halle-Wittenberg. Seit 2010 ist er stellv. Vorsitzender des Wis- senschaftlichen Beirats der bpb. P olitische Parteien und Parteipolitiker sind seit jeher beliebte Prügelknaben, auf die sich rasch entfachter Volkszorn vorzugs- weise entlädt. Dazu trägt der politische Betrieb selbst maßgeblich Für das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie ist diese Distanznahme bedenklich, bedarf eine demokratische Ordnung doch stabiler Verankerung in der Gesellschaft. Auch weil politisch mit bei, sei es durch skandalöse Praktiken, etwa in manchen trü- aktive Bürgerinnen und Bürger stets Minderheiten verkörpern und, ben Gewässern der Parteispenden, sei es, wie bei etlichen großen ferner, weil überdies die Zahl der Parteimitglieder seit Längerem öffentlichen Bauvorhaben, durch eine praktizierte Hilflosigkeit, die schrumpft, ist eine stabile ideelle Vertrauensbeziehung zwischen den Verantwortlichen – zu Recht oder zu Unrecht – als schuldhaftes dem Gros der Bevölkerung und dem Parteienstaat für die soziale Politikversagen zugeschrieben wird. Verwurzelung der Demokratie von elementarer Bedeutung. Parteienferne und Parteienschelte haben in Deutschland eine ei- Der demokratische Parteienstaat ist kein Auslaufmodell. Er ist, gene Tradition. Gewöhnlich pflegen viele Angehörige der Macht- und um es mit einem Modewort der Politiksprache zu sagen, „alternativ- Geisteseliten (wieder) ihren Abstand zu politischen Parteien. Aber los“. Denn die politischen Kernaufgaben des Gemeinwesens, die in das Phänomen ist längst europaweit verbreitet. Ein Indikator dafür der Verfassungsgestalt der repräsentativen Idee nach Artikel 21 GG ist das Institutionenvertrauen: Hier belegen Parteien, neben Parla- und Paragraf 1 Parteiengesetz den Parteien zugewiesen werden, mentsabgeordneten, bei Umfragen regelmäßig den letzten Platz. bedürfen des besonderen Organisationsprinzips von Parteien. For- men direkter Demokratie können hier allenfalls ergänzend hinzutre- ten. Die verfassungspolitische Vernunftehe, die Bürger und Parteien Themen und Materialien im Parteienstaat der Bundesrepublik 1949 eingegangen sind, ließe Wahlen in der Demokratie Analysen und Prognosen mit der Software für sich nur um den Preis unabsehbarer Kollateralschäden für die De- empirische Umfragen GrafStat mokratie auflösen. In der Unterrichtsreihe werden Grundlagen des Gerade deshalb müssen Politiker, die der Parteipolitik ein erkenn- politischen Systems thematisiert: die Bedeutung bar unterschiedliches Gesicht geben, aber auch die Bürgerinnen von Wahlen, die Rolle der Parteien und Faktoren des Wählerverhaltens. Zudem werden Hinweise und und Bürger selbst sich darum bemühen, die Vertrauenskluft zwi- Instrumente zur Erstellung von Prognosen und Ana- lysen bereitgestellt. Zahlreiche Zusatzmaterialien schen Parteienstaat und Bevölkerung wieder zu schließen. Das ist gibt es auf der beiliegenden CD-ROM. einesteils nicht so einfach, andererseits aber auch nicht unmöglich. Ein Beispiel für strukturell begründete Fremdheit ist das gestör- 2013, Bestell-Nr. 2423 7 Euro (Lieferung mit Präsentationsordner) te Verhältnis der Bürger zu ihren politischen Eliten. Diese werden,
19 häufig befeuert von den Medien, unter den latenten Generalver- dacht einer abgehobenen „politischen Klasse“ gestellt, der es Everhard Holtmann vornehmlich darum gehe, eigene Privilegien und eigennützige Ein- flussinteressen zu sichern. Gewählten Abgeordneten die Gemein- wohlorientierung generell abzusprechen, ist zwar empirisch nicht haltbar, jedoch wird das Misstrauen derer „hier unten“ gegen jene Der Parteien- staat in „da oben“ niemals versiegen, denn wer ein politisches Amt oder Mandat verantwortungsvoll ausübt, eignet sich spezielles Wissen an und setzt dieses ein im Horizont vertraulicher Verhandlungen. Aufgrund solcher exklusiver Merkmale entfernt sich der „Funktio- Deutschland när“ zwangsläufig von der „Basis“. Lassen sich die in der Zivilgesellschaft wachsenden Vorlieben für Direkte Demokratie nutzen, um die Bürger mit dem Parteienregime auszusöhnen? Volksunmittelbare Beteiligungsrechte bieten gewiss Möglichkeiten, lokal und situationsbezogen, thematisch punktuell und locker organisiert politisch mitzubestimmen. Der Einsatz, der Einzelnen dabei abverlangt wird, ist sachlich wie zeitlich begrenzt. Bei repräsentativen Umfragen plädieren regelmäßig klare Mehrhei- ten in Ost- wie Westdeutschland für eine Stärkung direktdemokrati- scher Entscheidungsrechte. Im Übrigen erlaubt es, wie der Publizist Herbert Hönigsberger anmerkt, eine um plebiszitäre Elemente er- gänzte parlamentarische Demokratie „dem Souverän, Repräsen- tanten zu wählen und ihnen zwischenzeitlich eins auszuwischen“. Hinzu kommt eine nicht intendierte, jedoch bedenkliche Neben- folge direkter Demokratie. Wie jüngste Beispiele (Stuttgart 21, Ham- burger Schulstreit) belegen, wiederholt sich bei Volksentscheiden ein Verlaufsmuster sozialer Selektion: Es sind überwiegend einkom- mensstarke, gut gebildete und selbstbewusste Personen, die das Instrument nutzen und damit ihre Interessen durchsetzen. Weni- ger zum Zuge kommen umgekehrt die Bedürfnisse jener, die mit Der Parteienstaat steckt in der Krise: solcherlei Ressourcen schwach ausgerüstet sind. Und dies nährt Sinkende Wahlbeteiligung, Mitglieder- wiederum das gerade im unteren Drittel der Gesellschaft verbreitete schwund, zunehmende Unzufriedenheit Grundgefühl, dass es hierzulande „nicht gerecht zugeht“. innerhalb der Bevölkerung und fehlendes Der demokratische Parteienstaat ist folglich mit einem kollekti- Vertrauen scheinen eine wachsende Ent- ven Ausstiegswunsch („exit option“) von zwei Seiten konfrontiert: fremdung zwischen Bürgern und Parteien Während große Teile der Unterschichten in eine Grundhaltung der anzudeuten. Kritik kommt nicht nur von Politikverweigerung abdriften, bevorzugen sozial gut gestellte und Populisten, sondern auch vonseiten der formal höher gebildete Bürger für ihre politischen Einreden in wach- Wissenschaft und der Medien. Dennoch sender Zahl den plebiszitären Weg neben politischen Parteien. werden aus guten Gründen nach wie vor Was kann getan werden, um der Entfremdung zwischen dem Parteien in modernen Demokratien ge- Volk, das heißt dem „Prinzipal“ der Demokratie, und seinen politi- braucht, so Everhard Holtmann. Im Buch schen „Agenten“ im Parteienstaat, also den Parteien und Parteipoli- untersucht er Strukturen und kulturelle tikern, entgegenzuwirken? Deutungsmuster, Handlungslogik und Zum einen müssen die in politische Ämter und Mandate berufe- historische Vorprägungen des Parteien- nen Akteure den glaubhaften Nachweis erbringen, dass auch und staates in Deutschland. Er zeigt, ob und gerade in Zeiten der Krise wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme inwiefern die Kritik berechtigt ist, geht die privaten Lasten und (knappen) öffentlichen Güter gerecht verteilt Fehlentwicklungen und Missverständ- werden. Zum anderen müssen brachliegende Bildungs- und Qua- nissen nach und erkundet Möglichkeiten, lifizierungsreserven intensiver erschlossen werden, denn alle Daten wie sich die Kluft zwischen Parteien und zeigen, dass fundierte Bildung eine Schlüsselgröße für politisches Zivilgesellschaft wieder schließen lässt. Interesse und soziales Engagement ist. Drittens schließlich geht es nicht ohne die Selbsterkenntnis aufseiten der bereits jetzt – wie es die frühliberale Theorie formulierte – „Verständigeren und Gebilde- 2012, Bestell-Nr. 1289 4,50 Euro ten“, dass der Parteienstaat als institutionelle Grundausrüstung der modernen Demokratie unentbehrlich ist.
Das Internet verstehen ist wie den Ozean kennen Datenschutz, Informationsflut, Transparenz, Medienkrise, politische Partizipation – Schlagworte in den umfangreichen Diskussionen zum Thema Internet. Die einen sehen das Netz als Ursache einer zerfasernden Gesellschaft, die anderen hingegen als Segen. Kathrin Passig und Sascha Lobo liefern mit ihrem Buch einen facettenreichen Beitrag zur Debatte um das Netz. Interview Daniel Fiene
Internet 21 I hr Buch fragt „Internet – Segen oder Fluch“. Wenn wir daraus „Internet – Segen und Fluch“ machen, hätten wir doch eigentlich gitaler Daten. Also zum Beispiel bei einer Reihe Kulturgüter und den sie umgeben- den Industrien. Mindestens ebenso welt- „Technologie kann soziale Prozesse ermöglichen, die schon die Antwort. verändernd sind die neuen Formen der vormals zu aufwendig, zu KP/SL: Ja, aber das wäre ja dann ein Öffentlichkeit: Wir haben erstmals Diskus- teuer, zu ineffektiv oder zu Tweet, kein Buch. Dafür gibt niemand Geld sionen zwischen einer weit größeren Zahl kompliziert waren.“ aus. Wir beschreiben ja außerdem, warum von Menschen, wie sie etwa an einen das Internet Segen und Fluch ist. Auf diese Kneipentisch oder auch in ein Parlaments- Art ist mindestens ein Drittel des Buchs für gebäude passen. Und es gibt heute den diejenigen informativ, die das Internet für ei- Medien-Rückkanal, den sich schon Brecht nen reinen Segen halten, ein anderes Drit- gewünscht hat. tel für diejenigen, die es als reinen Fluch be- trachten. Und das dritte Drittel beschreibt SL: Die sozialen Veränderungen sind bei be- die inneren Widersprüche und den unlogi- stimmten gesellschaftlichen Gruppen eben- schen, falschen, verworfenen Quatschteil falls recht groß, aber was genau das mittel- der Debatte um das Internet. und langfristig bedeutet, lässt sich bisher nur schwer sagen. Vor allem auch deshalb, Wenn es einen Teil der Gesellschaft gibt, weil neue soziale Instrumente, wie zum Bei- der das Internet als „reinen Segen“ wahr- spiel Partnerbörsen, eine Anfangsfaszinati- nimmt, und einen Teil, der es als lästigen on für die Nutzer mitbringen, die es schwer Fluch sieht, welcher Teil hat denn das Inter- macht, die tatsächlichen Veränderungen ab- net verstanden? zuschätzen. SL: Das Internet verstehen, das ist wie den Ozean kennen. Die eine oder andere Grup- An das Internet richtet sich die Erwartung, pe mag sehr punktuell mehr temporäres ein wirksames Instrument für die politische Sind Sie Netz-Skeptiker oder Netz-Optimist? Wissen angehäuft haben, eine tiefe, um- Begeisterung und Partizipation der Bürger Und wenn ja, warum? Hat das Netz unsere fassende Kenntnis ist kaum möglich. darstellen zu können. Warum wird ange- Gesellschaft grundlegend verändert? Disku- nommen, dass dieses Medium etwas errei- tieren Sie unter bpb.de/interviewmag zu diesen und anderen Fragen des Interviews. Wo hat das Netz die Gesellschaft bisher chen soll, was die Politik bisher nicht aus am stärksten verändert? eigener Kraft selbst geschafft hat? Auf Ihr Feedback freuen wir uns auch unter: KP/SL: Wahrscheinlich überall dort, wo KP/SL: Diese Annahme hat einen Grund: www.bpb.de/dialog www.facebook.com/bpb.de die Bewegung physischer Güter ersetzt Technologie kann soziale Prozesse ermög- www.twitter.com/bpb_de werden konnte durch die Übermittlung di- lichen, die vormals zu aufwendig, zu teu-
22 Internet er, zu ineffektiv oder zu kompliziert waren. Viele Menschen geben viele Informationen Der Alltagsempfindung nach ist das sogar von sich im Internet preis, sei es in sozialen eher die Regel. Spontane Verabredungen? Netzwerken, auf Dating-Plattformen oder Inzwischen ist das mit dem Handy bes- bei Online-Versandhäusern. Gleichzeitig wird ser möglich als je zuvor. Der Umgang mit von der Politik Datenschutz gefordert. Ist hier Hard- und Software gelingt nicht mehr nur nicht auch der Einzelne in der Pflicht, besser Fachleuten in weißen Kitteln, sondern auch auf seine Daten aufzupassen? Kindern, wenn sie etwa das iPad benutzen. KP: Aufforderungen an den Einzelnen, mehr Einen ähnlich eindrucksvollen, als Verbes- aufzupassen, sind aufwendig und nur mä- serung empfundenen Effekt erwartet man ßig wirksam – selbst da, wo es wirklich um 01 von der digitalen Vernetzung eben auch in Leben und Gesundheit geht, etwa in der 01 Kathrin Passig studierte Anglistik und Germanis- der Politik. HIV-Prophylaxe, braucht man groß ange- tik. Sie arbeitet als Journalistin, Schriftstellerin legte und teure Aufklärungskampagnen, um und Webentwicklerin. Das Internet hat die Plattenfirmen kalt er- Verhaltensänderungen wenigstens bei ei- Sascha Lobo studierte Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität wischt, heute kämpfen Fernsehsender und nem Teil der Bevölkerung zu bewirken. Man der Künste in Berlin. Er arbeitet als Autor und die Print-Branche um ihre Geschäftsmo- kann die individuelle Preisgabe von Daten Strategieberater mit den Schwerpunkten Inter- delle. Warum scheinen sich die „alten“ Me- ja schwerlich verbieten. Etwas machbarer net und Markenkommunikation. dien mit dem Internet so wenig arrangieren erscheint es, zu kontrollieren, wie die Unter- zu können? nehmen die Daten nutzen. KP: Warum kann sich der Baum so wenig mit dem Waldbrand arrangieren? Wandel SL: Abgesehen davon ist die Preisgabe ist nicht angenehm, wenn die eigene Posi- von Daten nichts grundsätzlich Schlechtes, tion schon gefestigt ist. Jede Veränderung sondern kann, im Gegenteil, je nach Situation ist dann ziemlich sicher eine zum Schlech- große Vorteile mit sich bringen. Der Glaube, teren; auf jeden Fall aber ist sie mühsam. dass die Veröffentlichung privater Daten im- Dass man dem Internet aufgeschlossen mer eine Gefahr oder ein Übel darstellt, ist ei- gegenübersteht, ist wahrscheinlicher, wenn ne falsche und leider oft sogar nachteilige man sich davon Vorteile verspricht, also Annahme. Gerade, was den Schutz der Pri- zum Beispiel, wenn jemand noch am An- vatsphäre angeht, scheint es aber keine ein- „Die Preisgabe von Daten fang seiner beruflichen Laufbahn steht. fache, globale Lösung zu geben. Schon des- ist nichts grundsätzlich halb wäre es sinnvoll, mehr Verantwortung und Schlechtes, sondern kann, Gehen wir einmal auf die persönliche Ebe- Entscheidungsgewalt in die Hände der Nutzer ne: Viele Menschen fühlen sich von der In- zu geben, dazu braucht es mehr Transparenz im Gegenteil, je nach formationsflut im Netz bedroht, ein Gang vonseiten der Unternehmen, mehr Kontrolle Situation große Vorteile durch die Bibliothek oder durch den Zeit- für den Nutzer und ein Umdenken der Daten- mit sich bringen.“ schriftenladen am Bahnhof dagegen löst schützer, die sich vielleicht in Richtung Daten- keinen Stress aus. Ist es also eine Frage souveränität bewegen sollten. der Zeit, bis wir Menschen auch mit der di- APuZ Digitale Demokratie gitalen Informationsflut umgehen können? Der Nutzer scheint sich aber bisher kaum Die interaktiven digitalen SL: Die Menge der Informationen ist schon für die Kontrolle seiner Daten zu interessie- Medien sind heute ein fester Bestandteil vieler Alltags- seit vielen Jahrhunderten zu groß, um ren. Wenn wir uns das aktuelle Verfahren zu bereiche, entsprechend ist auch nur annähernd beherrschbar zu er- einem einheitlichen Datenschutz in der EU „Netzpolitik“ seit einigen Jahren verstärkt in den scheinen: Dafür gibt es schon länger Fil- anschauen, dann wird der Prozess vor al- öffentlichen Fokus gerückt. ter wie Lexikon- und Zeitungsredaktionen lem von den großen Konzernen beeinflusst. 2012, Bestell-Nr. 7207 kostenlos oder Fernsehsender, die meisten Leute ha- Müssen also die Nutzer stärker die eigenen ben sich daran gewöhnt. Vermutlich wer- Interessen vertreten? den die zum Zeitpunkt der Mediensoziali- KP: Im Moment spüren Nutzer vor allem die Digitale Bildung sierung gängigen Filtermechanismen als konkreten Vorteile, die sich im Alltag aus der werkstatt.bpb.de ist Feedbackkanal, Dialog und Feldforschung. Typenoffen und konstruktiv widmet sich entspannt anwendbar erlebt. Neue Filter Mitteilung privater Daten ergeben. Dass ih- das Projekt der zeitgemäßen Vermittlung von Politik und Geschichte in Schulen sowie der außerschulischen für neue Informationskanäle dagegen er- nen in Einzelfällen und langfristig womöglich Bildung vor dem Hintergrund aktueller Herausforderun- fordern neu zu erlernendes Wissen und auch Nachteile daraus entstehen können, ist gen wie Migration und Digitalisierung. Mühe. Konkret heißt das: Schwierig ist im- ein eher abstraktes Konzept. In anderen Situ- pb21.de liefert Anleitungen, Tipps und Tricks sowie Hintergründe zu Web-2.0-Werkzeugen in der Praxis mer nur die neue Anpassung und Feinjus- ationen, in denen die kurzfristigen Interessen politischer Bildung. Als lernendes Projekt ist es offen für tierung der Filter, egal um welches Medi- der Bürger nicht so ganz zu ihren langfristi- Diskussionen und Erfahrungen. pb21.de ist ein Koope- rationsprojekt der bpb und des DGB-Bildungswerks. um, um welchen Kanal es sich handelt. gen passen wollen, trägt der Staat dem ja
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