Auf dem Weg zu neuen Ufern - Pro Physik
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Überblick C h r i s t i a n H a m b ro c k TEILCHENPHYSIK Auf dem Weg zu neuen Ufern Sterile Neutrinos könnten Fragen aus Teilchenphysik und Kosmologie klären. Marco Drewes 28 Physik Journal 18 (219) Nr. 2 © 2019 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim
Überblick Neutrinos sind die einzigen Elementar- teilchen, die im Standardmodell der Teilchenphysik nur als linkshändige Va- riante vorkommen und masselos sein sollten. Experimente zeigen allerdings, dass sie kleine Massen besitzen. Sollte es „sterile“ rechtshändige Neutrinos ge- ben, könnten diese nicht nur die Neutrino- massen erklären, sondern auch einige der großen Fragen der Kosmologie lösen. M it dem Higgs-Boson wurde 2012 der letzte Baustein des Standardmodells der Teil- chenphysik entdeckt. Zusammen mit der Allgemeinen Relativitätstheorie beschreibt das Mo- dell nahezu alle Phänomene in der Natur auf mi- kroskopischer Ebene. Zwar gibt es von theoretischer Seite einige Fragen, beispielsweise was die Werte der Naturkonstanten bestimmt, ob sich alle Kräfte vereinheitlichen lassen und warum das Higgs- Boson leichter ist als vielfach vorhergesagt. Experimentelle Tests haben das Standard- modell aber immer wieder bestätigt. Tat- sächlich gibt es bisher nur ein einziges im Labor nachgewiesenes Phänomen, das ohne Zweifel eine Erweiterung des Stan- dardmodells erfordert: die Neutrinooszilla- tionen. Darunter versteht man, dass sich die Neutrinos verschiedener Generationen – νe, νμ und ντ – ohne äußere Einflüsse ineinander umwandeln können (Infokasten). Neutrinos sind diejenigen Elementar- teilchen, über die wir bisher am wenigsten wissen, vor allem weil sie sich nur sehr schwer nachweisen lassen. Sie tragen we- der eine elektrische Ladung noch eine Farb- ladung der starken Kernkraft. Abgesehen von der Schwerkraft, die für Elementarteilchen vernachlässigbar ist, spüren sie nur die schwache Kernkraft. Diese führt aber wegen ihrer sehr geringen Reichweite von weniger als einem Femtometer nur selten zu einer Wechsel- wirkung mit normaler Materie. Obwohl pro Sekunde mehr als 60 Milliarden Neutrinos von der Sonne durch jeden Quadratzentime- ter unseres Körpers fliegen, reagiert in einem Das Standardmodell, hier als Festung dargestellt, hält bisher Jahr nur eine Handvoll davon mit unserem Körper. allen experimentellen Tests stand. In den kommenden Jahren Diese geringe Wechselwirkung ist nicht nur für die werden Experimente in zwei Richtungen nach sterilen Neu- trinos suchen: An der „Energy Frontier“ wird nach schweren Teilchenphysik interessant, sondern auch in der Quan- Neutrinos mit größerer Masse M gesucht, an der „Intensity tenmechanik: Neutrinos können aufgrund ihrer seltenen Frontier“ nach solchen mit kleinerem Mischungswinkel θ. Wechselwirkung über astronomische Distanzen kohä- rente Quantenzustände bilden. Doch nicht nur diese Eigenschaften machen Neutri- nos zu sehr speziellen Teilchen. Beispielsweise sind sie die einzigen Fermionen, die ihre eigenen Antiteilchen sein könnten (Majorana-Fermionen). Um dies zu klären, untersuchen unter anderem mehrere Experimente den neutrinolosen doppelten β-Zerfall. Dabei annihilieren die beiden Neutrinos aus aufeinanderfolgenden Zerfällen, © 2019 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Physik Journal 18 (219) Nr. 2 29
Überblick wenn das Neutrino sein eigenes Antiteilchen ist. Außerdem in den Wellenfunktionen von νe, νμ und ντ. Diese manifestie- kommen Neutrinos nur als linkshändige Teilchen im Stan- ren sich beispielsweise, wenn ein νe sich auf dem Weg von dardmodell vor − alle anderen Teilchen existieren auch als der Sonne zu uns in ein νμ umwandelt und wieder zurück. rechtshändige Version. Die Händigkeit bezieht sich hier auf Viele Experimente belegen diese Neutrinooszillationen und die Chiralität, eine abstrakte mathematische Eigenschaft damit auch, dass die νi unterschiedliche Massen besitzen − der Wellenfunktion in der relativistischen Quantenme- also für mindestens zwei davon mi ≠ 0 gilt. chanik und Quantenfeldtheorie. Für Neutrinos, die sich in Experimenten fast mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, lässt sich dies anschaulich mit der Helizität verknüpfen. Die He- Auf die Wippe, bitte! lizität beschreibt die Orientierung der Projektion des Eigen- Damit stellt sich die Frage, wie die Neutrinos zu ihren Mas- drehimpulses (Spin) auf die Bewegungsrichtung. Bei den sen kommen. Bei allen anderen Elementarteilchen ist dafür bekannten linkshändigen Neutrinos zeigt diese Projektion der Higgs-Mechanismus verantwortlich – sie koppeln an immer entgegen der Bewegungsrichtung, bei Antineutri- das allgegenwärtige Higgs-Feld. Dadurch ändert sich ihre nos immer entlang der Bewegungsrichtung. Rechtshändige Masse, sehr stark vereinfacht betrachtet in ähnlicher Wei- Neutrinos sollten sich genau umgekehrt verhalten. se wie das gefühlte Gewicht von Objekten im Wasser und Darüber hinaus sind Neutrinos mindestens ein paar in der Luft. Dabei koppeln die links- und rechtshändigen Millionen mal leichter als das nächstleichtere Elementar- Partner stets gemeinsam über eine so genannte Yukawa- teilchen, das Elektron. Im Standardmodell sollten sie sogar Kopplung an das Higgs-Feld. Letztlich ist das eine Folge der masselos sein. Die Neutrinooszillationen belegen aber, dass Relativitätstheorie, da die Wellenfunktion linkshändiger sie zumindest eine kleine Masse besitzen. Oszillationen sind Fermionen nicht invariant unter Lorentz-Transformationen nur möglich, wenn die Teilchen νe, νμ und ντ keine wohldefi- ist, sondern erst in Kombination mit dem rechtshändigen nierten Massen haben, sondern kohärente Überlagerungen Partner. Wenn der Higgs-Mechanismus für Neutrinos ge- von Eigenzuständen ν, ν2 und ν mit wohldefinierter Ener- nauso funktionieren soll wie für andere Fermionen, dann gie und Masse sind. Wenn die Massen mi unterschied- wäre das Standardmodell um rechtshändige Neutrinos zu lich sind, besitzen die Wellenfunktionen verschiedener ergänzen – dem widerspricht nichts. νi mit gleichem Impuls p unterschiedliche Frequenzen Allerdings gibt es eine Besonderheit für Neutrinos. Bei ––––––––––––––– ωp,i = √(c p)2 + (mi c2)2 . Konstruktive und destruktive Inter- allen anderen Elementarteilchen legt die mathematische ferenz zwischen den Komponenten νi führt zu Schwebungen Struktur des Standardmodells fest, dass linkshändige und rechtshändige Versionen exakt die gleiche Masse haben müssen. Ursache ist die Eichinvarianz der Wechselwir- Periodensystem der Elementarteilchen kungen, eines der fundamentalen Symmetrieprinzipien des Standardmodells, mit dem auch die Ladungserhaltung Zu den Fermionen gehören die Quarks tronen (e) in der Hülle sowie up- und (rot) und die Leptonen (blau). Sie sind down-Quarks als Konstituenten von zusammenhängt. Rechtshändige Neutrinos unterliegen die- mit einem Eigendrehimpuls von 1/2 Protonen (uud) und Neutronen (udd). sem Prinzip aber nicht, weil sie weder elektrische noch Farb- die Bausteine der Materie. Die Eich- Es ist unklar, warum es dazu jeweils ladungen tragen und die schwache Kernkraft ausschließlich bosonen (grün) besitzen einen Spin zwei weitere Kopien („Generationen“) an linkshändige Teilchen koppelt. Daraus ergeben sich zwei von 1 und sind für die Kräfte zwischen schwerer, instabiler Teilchen gibt. Zu wichtige Konsequenzen. Zum einen spüren rechtshändige den Elementarteilchen verantwortlich: jeder Generation gehört auch ein Neutrinos mit Ausnahme der vernachlässigbaren Gravita- das Photon (γ) für den Elektromagne- Neutrino, dessen Bezeichnung sich tismus, die W- und Z-Bosonen für die aus den geladenen Partnern in der je- tion keine der bekannten Naturkräfte, weshalb sie als sterile schwache Kernkraft und die Gluonen weiligen Generation ableitet: Elektron- Neutrinos bekannt sind. Zum anderen müssen rechtshän- (g) für die starke Kernkraft. Das Higgs- Neutrino (νe), Myon-Neutrino (νμ) und dige Neutrinos nicht notwendigerweise die gleiche Masse Boson (schwarz, Spin 0) ist das Quan- Tau-Neutrino (ντ). Im Standardmodell haben wie ihre linkshändigen Pendants. Zusätzlich zu der tum des Higgs-Feldes, welches den fehlen die rechtshändigen Neutrinos – vom Higgs-Mechanismus erzeugten Masse dürfen sie eine anderen Teilchen ihre Masse verleiht. sie lassen sich mit Hilfe des Seesaw- Majorana-Masse besitzen, die auch dafür sorgen würde, Atome bestehen lediglich aus Elek- Mechanismus ergänzen. dass Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen sind. Daraus ergibt sich das als „Seesaw-Mechanismus“ Fermionen Bosonen Brout-Englert-Higgs- Mechanismus (Wippmechanismus) bekannte Szenario [1]. Die linkshän- digen Neutrinos νL sind zunächst wie vom Standardmo- u c t g starke Kernkraft H dell vorhersagt masselos. Dabei steht νL repräsentativ für eines der drei bekannten linkshändigen Neutrinos νe, νμ Quarks schwache Higgs-Boson und ντ. Die rechtshändigen Neutrinos νR haben dagegen d s b W Z Kernkraft eine unbekannte Majorana-Masse M. Beide müssen laut Relativitätstheorie an das Higgs-Feld koppeln und kom- νe νµ ντ γ Elektro- magnetismus men so miteinander in Verbindung: Ihre Quantenzustän- Leptonen de lassen sich durch kohärente Überlagerung mischen. Als physikalische Teilchen treten in der Regel die so genannten e µ τ G Gravitation Massenzustände auf, also jene Überlagerungen der Quan- I II III tenzustände mit wohldefinierter Masse und Energie. Die Massenzustände ν und N nach dem Mischen entsprechen 3 Physik Journal 18 (219) Nr. 2 © 2019 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim
Überblick nicht exakt den rechts- und linkshändigenZuständen νR und νL, sondern sind um einen kleinen Mischungswinkel Masse θ
Überblick meinen Relativitätstheorie aus der beobachteten Verteilung 10–2 sichtbarer Materie ergibt. Das betrifft Objekte aller Größen, indirekt ausgeschlossen ausgeschlossen durch ausgeschlossen durch von einzelnen Sternen in unserer Galaxie bis hin zu den 10–4 Fixed-Target-Experimente Beschleunigerexperimente größten Galaxienhaufen. Keine bekannte Modifikation der Mischungswinkel θ2 mit νμ Gravitationsgesetze vermag es, alle existierenden Daten 10–6 ausgeschlossen gleichzeitig zu erklären. Demnach sollten große Mengen durch primor- LHC diale Nukleo- Dunkler Materie im Universum existieren, deren Schwer- 10–8 synthese (minimales Modell) NA62 kraft die Himmelsmechanik beeinflusst. Bestimmt man die Materieverteilung im Universum mit Hilfe von Micro 10–10 lensing – also über den Effekt, den die Schwerkraft auf das ausgeschlossen durch Neutrinoexperimente Licht hat, das uns von fernen Galaxien erreicht – ergibt sich 10–12 (minimales Modell) die gleiche Schlussfolgerung. Zum anderen reichen die im 0,1 1 10 100 1000 kosmischen Mikrowellenhintergrund beobachteten Dichte- Masse in GeV fluktuationen im frühen Universum nicht aus, um durch den Gravitationskollaps der normalen Materie in diesen Abb. 2 Laborexperimente und kosmologische Schranken schließen einige Strukturen Galaxienhaufen und Galaxien zu bilden. Dies Kombinationen von Masse M und Mischungswinkel θ 2 aus (farbig). Die CERN- erfordert nicht nur zusätzliche Materie, sondern insbeson- Experimente NA62 am Super Proton Synchrotron sowie die Experimente am Large Hadron Collider können diese schon jetzt erweitern. Teilchenbeschleuniger mit dere Materie, die nicht aus bekannten Elementarteilchen noch höheren Kollisionsenergien könnten in Zukunft erlauben, Neutrinos mit noch besteht. Denn geladene Teilchen wären im frühen Univer- größeren Massen und kleineren Mischungswinkeln zu finden. sum elektromagnetisch mit den Photonen in Wechselwir- kung getreten, und der daraus resultierende Strahlungs- Eine Möglichkeit besteht darin, dass schwere instabile druck hätte sie an einem frühen Kollaps gehindert. Im Stan- Teilchen im frühen Universum entstanden, die vorzugs- dardmodell könnten einzig die linkshändigen Neutrinos weise in Materie zerfallen. Solche Phänomene sind grund- dieses Problem umgehen. Sie sind aber zu leicht: Wenn sie sätzlich bekannt. Während elektromagnetische Wechsel- die Dunkle Materie bildeten, würden sie wegen ihrer hohen wirkung und Schwerkraft nicht zwischen Materie und thermischen Geschwindigkeiten im frühen Universum die Antimaterie unterscheiden, verletzt die schwache Kernkraft Strukturen auswaschen, aus denen sich Galaxien gebildet die CP-Symmetrie. Das zeigt sich beispielsweise beim Zer- haben, und das Universum sähe anders aus. fall von Mesonen. Experimente zu Neutrinooszillationen Als einfachste Erklärung all dieser Phänomene bietet weisen darauf hin, dass eine solche CP-Verletzung auch sich an, mindestens ein zusätzliches massives und elektrisch für Neutrinos existiert. Diese Hinweise sollen das DUNE- neutrales Elementarteilchen zu postulieren. Dieses muss Experiment am Fermilab in den USA und das Experiment entweder stabil sein oder eine Halbwertszeit besitzen, die Hyper-Kamiokande in Japan in den kommenden Jahren deutlich über dem Alter des Universums von 14 Milliarden verifizieren. Falls die bekannten Neutrinos ν tatsächlich un- Jahren liegt. Da die uns bekannten Neutrinos bis auf ihre terschiedlich mit Materie und Antimaterie wechselwirken, Masse all diese Eigenschaften besitzen, drängen sich die liegt es nahe, dass dies auch für ihre schweren Partner N schweren Neutrinos als minimaler Ausweg geradezu auf gilt. Tatsächlich haben theoretische Studien ergeben, dass [5]. Allerdings gilt es, einige wichtige Faktoren gut aufein die schweren Neutrinos aus dem Seesaw-Mechanismus ander abzustimmen. Sterile Neutrinos sind instabil mit genau die richtigen Eigenschaften hätten, um die Materie- einer Lebensdauer, die proportional zu 1 / (θ2 M5) ist. Damit Antimaterie-Asymmetrie zu erklären [3]. sie mehr als 14 Milliarden Jahre lang existieren können, Dieser Vorgang heißt Leptogenese. Mit einigen Unter- dürfen sie weder zu schwer sein noch zu stark mit den nor- schieden in den technischen Details funktioniert er sowohl malen Neutrinos mischen. Noch strengere Obergrenzen an für die schweren Neutrinos mit sehr großen Massen M, θ und M lassen sich aus dem Zerfall der sterilen Neutrinos die innerhalb von Theorien zur Großen Vereinheitlichung ableiten, bei dem monochromatische Photonen entstehen auftreten, als auch in Szenarien mit leichteren Teilchen. Die sollten. In allen Galaxien müsste demnach eine monochro- Sensitivität einiger Experimente ist heute schon so hoch, matische Emissionslinie beobachtbar sein, deren Intensität um letztere zu finden (Abb. 2). Sollte dies tatsächlich in den proportional zur Dichte der Dunklen Materie ist. Tatsäch- kommenden Jahren gelingen, könnte ein genaues Vermes- lich ist 2014 im Röntgenbereich eine solche Linie gefunden sen der Eigenschaften dieser Teilchen die Frage nach dem worden [6], allerdings ist umstritten, ob sie tatsächlich aus Ursprung der Materie im Universum beantworten [4]. dem Zerfall schwerer Neutrinos stammt. Das japanische Röntgenteleskop XARM und die europäische ATHENA- Mission sollen zentral dazu beitragen, diese Frage zu klären. Sterile Neutrinos als Dunkle Materie Ihre sehr gute spektrale Auflösung erleichtert es, das Signal Ein weiteres wichtiges Problem der Kosmologie ist die Zu- von möglichen Hintergrundlinien zu unterscheiden. sammensetzung und Herkunft der Dunklen Materie. Viele Als Kandidaten für die Dunkle Materie müssen die Beobachtungen deuten darauf hin, dass etwa 80 Prozent schweren Neutrinos jedoch nicht nur alle aktuellen Beob der Masse im Universum nicht aus bekannten Elementar- achtungen erklären, sondern auch irgendwie entstanden teilchen besteht. Zum einen lässt darauf die Bewegung von sein. Als vermutlich einfachster Mechanismus kommen Himmelskörpern schließen, die sich nicht mit der Allge- Teilchenkollisionen mit normalen Neutrinos in dem hei- 32 Physik Journal 18 (2019) Nr. 2 © 2019 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim
Überblick ßen Plasma infrage, als das Universum auf etwa eine Billion aus [7] Grad abgekühlt war. Damit über ihre Mischung θ genug 10–6 Dunkle Materie entsteht, darf der Winkel aber nicht zu Sensitivität KATRIN/TRISTAN klein sein. Damit liegt für θ sowohl eine obere als auch eine verletzt Pauli-Prinzip 10–8 untere Grenze bei gegebener Masse M vor. Darüber hinaus Mischungswinkel θ2 Sensitivität ATHENA führt dieser Mechanismus zu einer nicht-thermischen Im- zu viel Dunkle Materie pulsverteilung der schweren Neutrinos. Ihre Bewegungen 10–10 Emission vom im frühen Universum sollten eine charakteristische Signa- zu wenig Struktur Zerfall wäre schon auf galaktischen Skalen beobachtet tur in der Materieverteilung im Universum hinterlassen, die 10–12 (minimales Modell) sich beispielsweise in der heutigen Verteilung galaktischer zu wenig Dunkle Materie Sub-Halos zeigt. Daraus lässt sich eine Untergrenze für M (minimales Modell) 10–14 ableiten. Allerdings ist die theoretische Vorhersage dieses nichtlinearen Effekts ebenso schwierig wie seine astrono- 0,5 1 5 10 50 mische Beobachtung, denn es gilt, vergleichsweise kleine Masse in keV Strukturen über kosmische Distanzen zu ermitteln. Derzeit ist die Untergrenze noch mit erheblichen systematischen Abb. 3 Auch in Bezug auf ihre Rolle bezüglich der Dunklen Materie ergeben sich Unsicherheiten belastet. Dennoch ergeben sich aus ver- für Masse und Mischungswinkel der schweren Neutrinos Einschränkungen. Der schiedenen kosmologischen Überlegungen und astrono- erlaubte Parameterbereich (weiß) überlappt nicht vollständig mit den Werten, die sich aus Neutrinooszillationen und Leptogenese ergeben. mischen Beobachtungen wichtige Schranken (Abb. 3). Die experimentelle Suche nach solchen schweren Neu- trinos im Labor gestaltet sich schwierig, weil sie aufgrund Collider in Japan höhere Sensitivitäten erreichen. Dagegen ihres extrem kleinen Mischungswinkels nur sehr selten mit treiben Fixed-target-Experimente die „Intensity Frontier“ Materie wechselwirken. Ein vielversprechendes Experiment voran. Über NA62 hinaus könnte am CERN zukünftig das für die Suche nach schweren und gleichzeitig selten wech- SHiP-Experiment eine zentrale Rolle spielen. Experimente selwirkenden Neutrinos als Kandidaten für die Dunkle mit den Protonenstrahlen von T2K in Japan und LBNF Materie wird derzeit am Max-Planck-Institut für Physik in am Fermilab, USA, sind ebenfalls denkbar. Detektoren München geplant. TRISTAN soll am Karlsruher Institut für wie MATHUSLA würden dies auch am High-Luminosity Technologie als Upgrade des KATRIN-Experiments den Ef- LHC ermöglichen. fekt solcher schwerer Neutrinos auf das Spektrum der Elek- tronen messen, die beim β-Zerfall von Tritium entstehen. Literatur [1] P. Minkowski, Phys. Lett. B 67, 421 (1977); M. Gell-Mann, P. Ramond und R. Slansky, Conf. Proc. C 790927, 315 (1979); R. N. Mohapatra Eins, zwei oder drei? und G. Senjanovic, Phys. Rev. Lett. 44, 912 (1980); T. Yanagida, Prog. Theo. Phys. 64, 1103 (1980); J. Schechter und J. W. F. Valle, Dunkle Materie, Leptogenese und die geringe Masse der Phys. Rev. D 22, 2227 (1980) linkshändigen Neutrinos lassen sich nicht mit denselben [2] M. Drewes, Int. J. Mod. Phys. E 22, 1330019 (2013) schweren Neutrinos erklären (Abb. 2 und 3). Das ist aller- [3] M. Fukugita und T. Yanagida, Phys. Lett. B 174, 45 (1986) [4] B. Garbrecht et al., Int. J. Mod. Phys. A 33, Ausgabe 05n06, (2018) dings kein grundsätzliches Problem. Einerseits wäre es [5] S. Dodelson und L. M. Widrow, Phys. Rev. Lett. 72, 17 (1994) bereits ein großer Erfolg, auch nur eines dieser Mysterien [6] E. Bulbul et al., ApJ 789, 13 (2014); A. Boyarsky et al., Phys. Rev. zu erklären. Andererseits gibt es auch von den bekannten Lett. 113, 251301 (2014) Neutrinos drei Generationen νe, νμ und ντ. Wenn jedes da- [7] A. Boyarsky et al., Prog. Part. Nucl. Phys. 104, 1 (2019) [8] T. Asaka, S. Blanchet und M. Shaposhnikov, Phys. Lett. B 631, 151 von einen schweren Partner hat, könnte einer davon die (2005); T. Asaka und M. Shaposhnikov, Phys. Lett. B 620, 17 (2005) Dunkle Materie bilden, während die beiden anderen ge- [9] K. N. Abazajian et al., arXiv:1204.5379 [hep-ph] meinsam erklären, wie die Neutrinooszillationen und die Materie-Antimaterie-Asymmetrie zustande kommen [8]. Auch für andere bisher unverstandene Beobachtungen Der Autor kommen sterile Neutrinos als Lösung infrage. Besitzen sie beispielsweise ähnliche Massen wie die gewöhnlichen Marco Drewes hat Physik in Hamburg Neutrinos, könnten sie einige Anomalien in Neutrino und Sydney studiert und am DESY in experimenten an Kernreaktoren oder Teilchenbeschleuni- theoretischer Teilchenphysik promo- viert. Stationen als wissenschaftlicher gern erklären. Die Eigenschaften solcher leichten sterilen Mitarbeiter führten ihn an die EPF Neutrinos würden sich allerdings deutlich von den hier Lausanne, die RWTH Aachen und die diskutierten Szenarien unterscheiden [9]. Zudem ließ sich TU München. Seit 2017 ist er Dozent bisher keine dieser Anomalien so untermauern, dass sie das an der Université catholique de Lou- Standardmodell vom Thron stoßen könnte. vain in Belgien. Er forscht im Grenzbereich zwischen Teilchen- Aus theoretischer Sicht gibt es sehr gute Gründe für die physik und Kosmologie. In seiner Freizeit bereist er die Welt mit dem Rucksack, in jüngerer Zeit mit der ganzen Familie. Existenz schwerer steriler Neutrinos. Experimentell su- chen die LHC-Experimente an der „Energy Frontier“. In Prof. Dr. Marco Drewes Centre for Cosmology, Particle Physics and Phenomenology, Université catholique de Louvain, Louvain-la-Neuve Zukunft könnten der Future Circular Collider am CERN, B-1348, Belgium CEPC und SPPC in China sowie der International Linear © 2019 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Physik Journal 18 (2019) Nr. 2 33
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