Auf der Suche nach dem idealen Leben - Bernisches ...
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Begleitpublikation zur Ausstellung «Lebe besser! Auf der Suche nach dem idealen Leben» im Bernischen Historischen Museum (13.2.2020–5.7.2020) 5 Vorwort Damir Skenderovic/Jakob Messerli 9 Spuren der Lebensreformbewegung bis in die Gegenwart Eva Locher Ausstellungspartner: 13 Wege aus der Krise: Lebensreform als Selbstreform Andreas Schwab 17 Die Schweizer Lebensreform bewegung: Anleitungen für ein «besseres Leben» Stefan Rindlisbacher 30 Autorin und Autoren Edition eigenART, Verlag X-Time, Bern, 2020 www.edition-eigenart.ch ISBN 3-909990-33-9 31 Weiterführende Literatur Gestaltung: Luca Hostettler
Vorwort «Lebe besser!», so lautet der Appell und Mahnruf der Lebens- reformbewegung, in der Schweiz wie auch in anderen euro- päischen Ländern. Er ist eine kategorische Aufforderung an die Menschen, sich zu verändern. Er ist auch eine Bekundung von Unmut über herrschende Zustände und eine Warnung vor drohenden Gefahren. Im späten 19. Jahrhundert drücken die Lebensreformerinnen und Lebensreformer damit ihr Unwohl- sein mit der verstärkten Industrialisierung, Technisierung und Urbanisierung aus, ihr Unbehagen mit dem beschleunigten Rhythmus des Alltags und der Globalisierung der Welt. Später fügen sich Missfallen an der Wachstums- und Konsumgesell- schaft, Sorgen um Umweltverschmutzung und Klimawandel hinzu. Konstant bleibt die Krisenempfindung, die zuweilen in Katastrophenszenarien und Endzeitstimmungen mündet, vor allem aber zur Suche nach einem idealen Leben, nach der Ver- besserung der Lebensweisen antreibt. Obschon sich die Krisendeutungen auf die gesamte Gesell- schaft, gar auf den ganzen Planeten beziehen, richtet sich der lebensreformerische Aufruf zur Veränderung an den Einzelnen. Wenn jeder Mensch seine persönliche Lebensweise ändere, finde letztlich auch gesellschaftlicher Wandel statt, so die Über- zeugung der Lebensreformer und Lebensreformerinnen. Nicht soziale Gleichheits- und Gerechtigkeitsideale, emanzipatorische 5
und partizipatorische Ansprüche stehen im Mittelpunkt, vielmehr Solche Ambivalenzen und Schattenseiten kennzeichnen die geht es um die individuelle Selbstgestaltung und das eigene Geschichte der Lebensreformbewegung in der Schweiz, die Wohlbefinden. «Lebe besser!» ist ein Appell an die Selbstverant- bisher wenig Beachtung gefunden hat. Dank einem mehrjäh- wortung, ein Bekenntnis zur Selbstermächtigung. Jeder Einzelne rigen Forschungsprojekt am Departement für Zeitgeschichte ist der Schmied seines eigenen Glückes, wie oft zu hören ist. Es der Universität Freiburg, das der Schweizerische National- erstaunt denn auch wenig, dass im Zuge der forcierten Neolibe- fonds (SNF) unterstützt hat, liegen nun erstmals umfassende ralisierung der postindustriellen Gesellschaft und der damit ver- historische Erkenntnisse vor, die nicht nur die ausserordentli- bundenen individualisierten Ungleichheit seit den 1970er-Jahren che Bedeutung der Schweiz für die transnationale Lebensre- lebensreformerisch inspirierte Praktiken der Persönlichkeitsbil- formbewegung aufzeigen, sondern auch auf die auffallenden dung und Selbstoptimierung einen Boom erleben. Kontinuitäten lebensreformerischer Ideen und Praktiken im Sozial ist die Lebensreform zu Beginn vor allem im bürgerlichen 20. Jahrhundert hinweisen. Milieu der Schweiz verortet. Sie spricht hauptsächlich besser Das Bernische Historische Museum befasst sich seit einigen situierte Bevölkerungskreise an. Lange Zeit können nur jene Jahren in seinen Ausstellungen vermehrt mit Themen der Zeit- ostentativ auf Fleisch verzichten, sich vegetarisch ernähren, geschichte und mit Gegenwartsfragen. Die universitäre For- die sich überhaupt Fleischgerichte zu leisten vermögen. Noch schung dagegen hat den Anspruch, ihre Erkenntnisse einer heute sind Bioprodukte, Vollwertkost und Naturheilpraktiken breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Vor diesem Hin- nicht für alle erschwinglich. Zur Lebensreform als Selbstreform tergrund beschlossen das Bernische Historische Museum und gehört auch die intensive Arbeit am eigenen Körper. Natürlich- das Departement für Zeitgeschichte der Universität Freiburg, keit, Schönheit und Fitness werden als lebensreformerische die Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt zur Geschichte der Leitmotive propagiert. Gesund, schlank und leistungsfähig Lebensreformbewegung in der Schweiz gemeinsam im populä- soll der Körper sein, ganz im Sinne des heutigen Körper- und ren Medium einer Ausstellung einem breiten Publikum zu prä- Fitnesskults. Auf Fleisch, Alkohol und Tabak soll verzichtet sentieren. Dieses Anliegen wurde durch den SNF im Rahmen werden, was auch dem aktuellen Verständnis eines gesund- eines Agora-Projektes finanziell unterstützt. Beide Institutionen heitsbewussten, enthaltsamen Lebens entspricht. Nicht selten haben dabei ihre je spezifischen Kompetenzen eingebracht. basieren solche Vorstellungen vom gesunden, fitten Menschen Das Resultat ist die Ausstellung «Lebe besser! Auf der Suche auf sozialdarwinistischen Ansichten und dienten in der Vergan- nach dem idealen Leben», die vom 13. Februar bis zum 5. Juli genheit dazu, eugenische Massnahmen zu begründen. 2020 im Bernischen Historischen Museum zu sehen ist. Bemerkenswert ist schliesslich, dass die weltweit herumreisen- den Schweizer Lebensreformer zur europäischen Kolonialge- schichte gehören. Ihre Zivilisationskritik und ihre Suche nach naturnahen, idealen Lebens- und Gesellschaftsformen bringt sie dazu, romantisierend und exotisierend über aussereuropäi- Damir Skenderovic sche Bevölkerungen zu berichten und damit zur kolonialen Ima- Professor für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg ginationswelt beizutragen, was wiederum auf das Selbstbild der Lebensreformer und Lebensreformerinnen einwirkt (z.B. indem Jakob Messerli sie sich als «Naturmenschen» inszenieren). Direktor des Bernischen Historischen Museums 6 7
Spuren der Lebens reformbewegung bis in die Gegenwart Eva Locher Wir integrieren in unseren Alltag verschiedene Elemente, wel- che auf die Lebensreformbewegung zurückgehen – ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Welche Spuren hat die Lebens- reformbewegung in unserer Gegenwart hinterlassen? Was ist aus ihren Ideen geworden? Und warum beurteilen wir sie auch äusserst ambivalent? Vegetarismus und Veganismus sind heute populär, viele junge Leute bemühen sich um eine ökologisch nachhaltige Lebens- weise und erachten die Abwendung einer Klimakatastrophe für dringlich, alternativmedizinische Verfahren sind aus unse- rem Alltag nicht mehr wegzudenken und nicht wenige arbei- ten in Fitnessstudios unermüdlich an ihrem Körper. Aber wem ist bewusst, dass diese Bestrebungen und Praktiken bereits in der Lebensreformbewegung des ausgehenden 19. Jahrhun- derts populär waren? Während Reformerinnen und Reformer die gesunde Ernährung, natürliche Heilmethoden und Körper- ideale, die um Gesundheit, Natürlichkeit und Schönheit kreisen, damals auf ihre Agenda setzen, verbreiten sie diese Praktiken und Leitbilder danach während des gesamten 20. Jahrhunderts in der Gesellschaft. 9
Die Lebensreformbewegung ist also ein historischer Gegen- stand mit direkter Reichweite bis in die Gegenwart. Noch heute existieren in der Schweiz reformerische Vereine wie der FKK- Verein «Organisation von Naturisten in der Schweiz», der sei- nen Prinzipien aus der Gründungszeit in den 1920er-Jahren mehrheitlich treu geblieben ist. Auch einzelne ursprünglich lebensreformerische Zeitschriften erscheinen unter neuen Namen, zum Beispiel «bisch zwäg», bis in die jüngste Zeit. Aller- dings ist der Begriff «Lebensreform» allmählich in Vergessen- heit geraten: Ähnliche Praktiken, wie sie die Reformerinnen und Reformer propagiert haben, fungieren heute unter neuen Schlagworten wie «Achtsamkeit», «Naturverbundenheit», «Fit- ness» oder «Gesundheitsprävention». Die Natur repräsentiert das wichtigste lebensreformerische Leitbild. Sie dient als Handlungsmaxime für eine «naturge- mässe» und «harmonische» Lebensweise. Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weisen die Lebensreformer und -reformerinnen mit ihrer Kritik an der «Entfremdung des Men- schen von der Natur» darauf hin, dass die Zerstörung der Natur sowohl den Pflanzen und Tieren als auch den Menschen die für Umweltzerstörung sehen. Gerade am Naturideal zeigt sich, Lebensgrundlage entziehe und Umweltkatastrophen bevor- dass die Lebensreformbewegung politisch schwer zu verorten stünden. Sie engagieren sich deshalb von Anfang an in der ist und dass sie ambivalente Kooperationen zulässt. Naturschutzbewegung und setzen sich seit der zweiten Hälfte Als übergeordnetes Ziel der Lebensreformbewegung steht des 20. Jahrhunderts intensiv dafür ein, den Wunsch nach die Gesundheit – ein Idealzustand von Körper, Geist und Seele einem ökologischen Leben zu verwirklichen. Dazu gehört nicht im «Einklang mit den Naturgesetzen». Die «naturgemässe» nur der Kampf gegen die Atomenergie, sondern auch die För- Lebensweise soll Krankheiten vorbeugen, bekämpfen und hei- derung des biologischen Landbaus. len. Viele lebensreformerische Konzepte und Praktiken rich- Die Lebensreformbewegung kann wegen ihres frühen Engage- ten sich direkt oder indirekt an den menschlichen Körper. Mit ments für den Umweltschutz auch als Vorläuferin grün-alterna- der Umstellung der Ernährung, dem Verzicht auf «Genuss- und tiver Bewegungen gesehen werden. Sie gibt hinsichtlich eines Reizmittel», der Gesundheitsbehandlung und den sportlichen ökologisch nachhaltigen Lebensstils gegenkulturellen Akteu- Aktivitäten streben die Reformer und Reformerinnen nach ren in den 1970er-Jahren wichtige Impulse. Gleichzeitig erlaubt einem gesunden und schönen Körper, den insbesondere die sie jedoch nicht nur links stehenden Alternativen Anknüpfungs- Freikörperkultur idealisiert und überhöht. möglichkeiten. Reformer bedienen sich vielmehr auch der Die lebensreformerischen Gesundheitsvorstellungen und Kör- Argumente der ökologischen Neuen Rechten, wenn sie bei- perkonzepte sind stark normativ geprägt. Reformzeitschriften, spielsweise Bevölkerungswachstum und Migration als Grund Bücher und Kurse vermitteln der Anhängerschaft, wie sie ihren 10 Eduard Bilz, «Das Volk im Zukunftsstaat», 1904. 11
Alltag auszugestalten, welchen Idealen sie nachzueifern und an welchem engen Normenset sie sich zu orientieren hat. Gerade das Streben nach einer bestmöglichen Gesundheit und einem Idealkörper bietet ein Einfallstor für eugenische und rassisti- sche Vorstellungen. Zahlreiche Reformer und Reformerinnen Wege aus der Krise: verbreiten solche Ideen mit dem Ziel der «Höherentwicklung» und der Überwindung der «Degeneration» des Menschen. Sol- Lebensreform als che Forderungen nach human enhancement appellieren an Selbstreform die Selbstverantwortung jedes Individuums, beziehen sich Andreas Schwab aber immer auch auf übergeordnete Grössen wie das «Volk». Die Lebensreformbewegung trägt dadurch dazu bei, breite Bevölkerungsschichten für eugenische Ideen empfänglich zu machen. Vor 20 000 Menschen beim Brandenburger Tor in Berlin spricht Die richtige Ernährung – möglichst knapp und möglichst natur- die 16-jährige Greta Thunberg im März 2019 über den Klima- belassen, vegetarisch sowie ohne Alkohol und Nikotin – gehört wandel: «Die älteren Generationen haben dabei versagt, sich zu den Kernelementen der Lebensreformbewegung. Sie kriti- der grössten Katastrophe zuzuwenden, der sich die Mensch- siert die industrielle Nahrungsmittelproduktion und den Mas- heit je gegenübersah.» Sie fordert die Menschen auf, ihr Ver- senkonsum. Es entstehen vegetarische Restaurants und halten unverzüglich zu ändern und auf die Emission von CO2 Reformhäuser, die sich auf bestimmte Produkte wie Vollkornge- zu verzichten. Denn bislang sei trotz der Proteste der Jugendli- treide, Sojaerzeugnisse oder natürliche Kosmetika spezialisie- chen weltweit noch nichts passiert. In ihrer Rhetorik nimmt die ren. Gleichzeitig erzeugen die reformerische Abgrenzung vom Initiantin der Schülerstreikbewegung «Fridays for Future» Mus- konventionellen Markt, die ihr inhärente Konsumkritik und ihr ter auf, die für die Lebensreformbewegung typisch sind, näm- Anspruch, auf Fleisch, Alkohol und Tabak zu verzichten, neue lich das Bewusstsein, in einer krisenhaften Zeit zu leben und sie Konsumbedürfnisse. In der Folge stellt die Reformwarenindus mit einer individuellen Verhaltensänderung zu überwinden. So trie eigene kapitalistische Konsuminfrastrukturen zur Verfügung lassen sich die Klimaproteste der Jugendlichen 2019 mit ihren und folgt kommerziellen Marktlogiken. So ist die Lebensreform- Katastrophenszenarien der schmelzenden Gletscher und Pol- bewegung trotz des ihr zugeschriebenen Antimodernismus als kappen durchaus in Analogie zu Sorgen von Lebensreformern Teil der Moderne zu sehen. Sie prägt mit ihren Produktions- und Anfang des 20. Jahrhunderts setzen. Vertriebsweisen sowie mit ihren Konsummustern den Lebens- Emblematisch hat Gusto Gräser in seinem Gemälde «Der Liebe mittelmarkt, der heute mit Bioprodukten, glutenfreiem Essen Macht» (1899) diesem lebensreformerischen Grundgefühl und möglichst gesunden Nahrungsmitteln boomt. einen Ausdruck gegeben. Auf der rechten Seite des Gemäldes ist eine Zivilisation in Flammen zu erkennen, die bereits zahl- reiche Tote gefordert hat. Die Menschheit, vertreten durch ein nacktes Paar, kann jedoch durch Umkehr zu einer natürli- chen, gesunden Lebensweise in ein neues Paradies gelangen. 12 13
katastrophen neue Anlässe für ein Krisen- und Katastrophen- bewusstsein. Insbesondere die Verseuchung der Umwelt, die krank machende Luftverschmutzung, die Vergiftung der Nah- rungsmittel, die Zubetonierung der Landschaft und die Gefah- ren der Atomenergie werden angeprangert. 1972 veröffentlicht der einflussreiche Club of Rome einen Bericht, der diese Sor- gen aufnimmt: «Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbe- völkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natür- lichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hun- dert Jahre erreicht.» Doch die Sorgen beziehen sich nie einzig auf die gesellschaft- lichen Umstände. Der Mensch als Individuum sei ebenfalls davon betroffen, er würde unter Entfremdung leiden und hätte Nicht zufällig ist dieses Bild entgegen der traditionellen Lese- Angst vor beruflicher und famili- richtung von rechts nach links zu lesen. Die utopische Welt ärer Orientierungslosigkeit. Die ist durch eine absolute Harmonie von Mensch, Tier und Natur althergebrachten Werte gelten gekennzeichnet. als überholt. In einem Artikel Über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg setzen sich lebens- der schweizerischen FKK-Zeit- reformerische Akteure immer wieder mit zeitspezifischen schrift «Die neue Zeit» steht Problemen auseinander: In den ersten Jahrzehnten prägt die 1969: «Die gewaltigen Fort- Kritik an Industrialisierung, Technisierung, Militarisierung schritte in Technik und Wohl- und Urbanisierung die Themen der Lebensreformbewegung. stand haben den Menschen des Der einflussreiche konservative Architekt und spätere völki- 20. Jahrhunderts seinem natürli- sche Heimatschützer und NSDAP-Reichstagsabgeordnete chen Milieu weiter entfremdet. Paul Schultze-Naumburg veröffentlicht 1906 einen Artikel mit Heute ist der Mensch bewusst dem bezeichnenden Titel «Die Grossstadtkrankheit» in der oder unbewusst Sklave seiner Zeitschrift «Der Kunstwart». In ihm kritisiert er die unerträgli- ‹Überzivilisation› und der damit chen hygienischen Verhältnisse in den Grossstädten und die verbundenen gesundheitlichen «rasende Geschwindigkeit», die in ihnen herrscht. Damit gera- Schäden geworden.» ten einige Exponenten der Lebensreformbewegung in völki- Auch die individuellen Krisensymptome verändern sich im sches Fahrwasser, etwa indem sie ihre Grossstadtkritik mit Laufe der Zeit: Während um 1900 die «Nervosität» von Arbeit- antisemitischen Stereotypen verbinden. nehmenden als Problem gilt und viele sich deswegen in spezi- In der Nachkriegszeit ab 1945 bieten Wirtschaftswachstum, alisierten Kliniken (z.B. in der Klinik «Lebendige Kraft» von Max Aufstieg der Konsumgesellschaft und drohende Umwelt Bircher-Benner) behandeln lassen, ist es heute – ein ebenso 14 Das Bild des Monte-Verità-Mitbegründers Gusto Gräser «Der Liebe Macht» (1899) zeigt den Weg aus der Industriegesellschaft in eine idyllische Natur. Plakat für den Film «Metropolis» von Fritz Lang, 1927. 15
unscharfer Begriff – das «Burnout». Auch Krankheiten, die mit der Über- forderung in einer immer unüber- sichtlicher scheinenden Gesellschaft Die Schweizer in Zusammenhang stehen, nehmen an Bedeutung zu. Lebensreformbewegung: Die Lebensreformbewegung ist eine Antwort auf solche Krisenempfindun- Anleitungen für ein gen, ob sie im Einzelfall nun auf rea- «besseres Leben» len Tatsachen beruhen oder nicht. Stefan Rindlisbacher Der Weg, der aus der Krise führen soll, ist jedoch immer ein individuel- ler. Das bedeutet, dass gemäss dem Credo der Lebensreform die Selbstre- Kehre zur Natur zurück! form der Gesellschaftsreform immer Mit dem Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert greifen vorausgeht. In ihrer Gesamtheit er die Menschen immer stärker in die Natur ein. Sie legen Sümpfe scheint die Lebensreform als eine trocken, roden Wälder und leiten Flüsse um. Neuartige Maschi- Reaktion auf die Moderne, die mit einer vielfältigen Änderung nen und der Einsatz fossiler Brennstoffe wie Kohle und Öl setzen der Lebenswelten von Protagonisten einhergeht. Daher werden gigantische Produktionskräfte frei. Nicht nur die Industriegebiete die Utopien, die in einer «Rückkehr zur Natur» ihren Ausdruck und Landwirtschaftsflächen breiten sich immer stärker aus, finden, immer mit vielfältigen Praktiken verknüpft, die alle ein- auch die Städte verdoppeln, verdreifachen ihre Bevölkerungs- zeln für sich angehen sollen. Diese gehören seit dem ausgehen- zahl innert weniger Jahrzehnte. Der Alltag in den neuen Metropo- den 19. Jahrhundert zum Repertoire der Antworten auf die sich len unterscheidet sich jedoch stark vom bäuerlichen Leben auf beschleunigende moderne Welt. dem Land. Die Menschen arbeiten in Fabriken und Büros, nicht mehr draussen auf dem Feld. Anstatt eigene Lebensmittel anzu- bauen und sich selbst zu versorgen, kaufen sie industriell her- gestellte Nahrungsmittel und Konsumgüter. Im 20. Jahrhundert nimmt nicht nur dieser Massenkonsum kontinuierlich zu, son- dern auch die individuelle Mobilität steigt durch die Benutzung von Eisenbahnen, Automobilen und Flugzeugen immer mehr an. Die Schweiz gehört bereits um 1900 zu den am stärksten indus- trialisierten Ländern der Welt. Je stärker die Menschen in die Natur eingreifen, desto lauter werden die Forderungen nach einem Schutz bedrohter Land- schaften, Pflanzen und Tiere. Erste Naturschutzvereine entste- hen bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. Schon zuvor fordern 16 Plakat «Rettet den Wald» des WWF von Hans Erni, 1983. 17
Naturphilosophen wie Jean-Jacques Rous- Behandlungsmethoden zu legitimieren. Um ihre Forderungen seau oder Henry David Thoreau die Rückkehr möglichst schnell und weiträumig in der Bevölkerung zu ver- zu einer «natürlicheren» Lebensweise. Sie kri- breiten, nutzen sie aufkommende Massenmedien wie Zeit- tisieren das moderne Leben in den wachsen- schriften, Flugblätter und Radiosendungen. Ebenso reiten sie den Städten als ungesund und verklären die mit ihren Aktivitäten auf der ersten Welle der Globalisierung: bäuerlich geprägte Lebensweise auf dem Sie vernetzen sich weit über die Landesgrenzen hinaus, reisen Land als Idealzustand des Menschen. In der um die Welt, lassen sich in tropischen Kolonien nieder oder Schweiz werden die Alpen als Refugium einer verkaufen sogenannte Kolonialwaren wie exotische Früchte in intakten Natur und als urwüchsiges Gesund- den Reformhäusern. Nicht zuletzt beschleunigen sie die Ent- heitsparadies stilisiert. Im Zeitalter des Koloni- stehung der Konsumgesellschaft, indem sie unzählige neue alismus werden die Naturideale aber auch auf Waren und Dienstleistungen wie Bioprodukte, Reformklei- sogenannte Naturvölker ausserhalb Europas der oder Naturheilmittel auf den Markt bringen und damit ein projiziert, die von den Zivilisationsprozessen unberührt geblie- neues, hochpreisiges Segment im Einzelhandel etablieren. ben seien. Die Naturphilosophen tragen damit zum stereotypi- schen und romantisierenden Blick auf die kolonisierte Welt bei. Werde, wer du bist! Die aufkommende Lebensreformbewegung nimmt im Verlauf Nicht durch parteipolitische Arbeit, direktdemokratische Initia- des 19. Jahrhunderts diese Naturideale und die damit verbun- tiven, Demonstrationen oder sogar revolutionäre Umsturzver- dene Zivilisationskritik auf. Sie macht die moderne Lebensweise suche streben die Lebensreformer und Lebensreformerinnen für sogenannte Zivilisationskrankheiten wie Stoffwechsel- und einen gesellschaftlichen Wandel an, sondern mit Aufklärungs- Herzprobleme, Nervosität oder Krebs verantwortlich. Lebens- kampagnen, Erziehungsmassnahmen und individueller Selbst- reformer und Lebensreformerinnen kritisieren den Mangel an reform. Sie veröffentlichen zahlreiche Bücher und Zeitschriften Licht und Luft in den engen Stadtwohnungen, die sitzende mit Anleitungen für das bessere Leben. Darin erläutern sie Tätigkeit in den Büros, künstlich hergestellte Medikamente, die die Vorzüge einer vegetarischen Ernährung, veröffentli- industriell verarbeiteten Nahrungsmittel oder den steigenden chen Rezeptvorschläge oder beschreiben naturheilkundliche Alkohol-, Zucker- und Fleischkonsum. Dagegen propagieren Behandlungsmethoden. In kleiner Runde oder in grossen Kur- sie eine einfachere, möglichst vegetarische Ernährungsweise, sälen debattieren sie über die gesundheitlichen Folgen des arzneilose Behandlungen und körperliche Betätigungen in der Rauchens, indische Atemübungen oder natürliche Düngeme- Freizeit wie Sport, Wandern und Bergsteigen. thoden. Wer sich vertieft mit lebensreformerischen Praktiken Lebensreformer und Lebensreformerinnen streben jedoch auseinandersetzen will, besucht Abendkurse, Ferienlager oder keine Rückkehr zu einer vorindustriellen oder technologie- Volkshochschulen. Dort lernen die Teilnehmenden die Zuberei- feindlichen Gesellschaft an. Vielmehr nutzen sie selbst die tung schmackhafter Rohkostspeisen, werden mit den Schwie- Errungenschaften der Moderne, um ihre Ziele zu verfolgen. rigkeiten des Biolandbaus vertraut gemacht oder vertiefen Sie stützen sich auf die Erkenntnisse naturwissenschaftli- sich in geheimnisvolle Yogapraktiken. An diesen Veranstaltun- cher Disziplinen wie der Ernährungswissenschaft, Evolutions- gen nehmen fast ausschliesslich Menschen aus den bürgerli- biologie oder Physiologie, um ihre Ernährungsratschläge und chen Mittelschichten teil, die über genügend Bildung, Zeit und 18 Das «Lichtgebet» (1913) des Jugendstilmalers Fidus ist eine Ikone der Lebensreformbewegung. . 19
Wanderkleidern formen sie eine unverkennbare Jugendkultur, die ein starkes Gemeinschaftsgefühl unter den Jugendlichen erzeugen soll. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts bilden sich immer wieder neue Jugendgruppen, die sich mit lebensreformerischen Themen beschäftigen. Insbesondere im Umfeld der 1968er- Bewegung ernähren sich erneut viele Jugendliche vegetarisch, stellen konservative Kleidersitten infrage oder leben mit Gleich- gesinnten in Kommunen auf dem Land. Direkten Einfluss auf die Jugend üben Lebensreformer und Lebensreformerinnen durch alternative Bildungsinstitutionen wie Landerziehungsheime aus. Dort werden die Schüler und Schülerinnen in Internaten auf dem Land unterrichtet. Sie sollten fernab der schädlichen Einflüsse der Zivilisation zu einer gesun- den, naturnahen und vernünftigen Lebensweise erzogen wer- den. Zum Unterricht gehören körperliche Aktivitäten wie Sport, Wanderungen und Gartenarbeit im Freien. Auch eine einfache, zum Teil vegetarische Ernährung mit einem strikten Alkoholver- bot ist in vielen Landerziehungsheimen vorgeschrieben. Ebenso Geld verfügen, um sich mit lebensreformerischen Themen zu sind reformpädagogische Ansätze wie eine partnerschaftliche beschäftigen. Arbeiter und Arbeiterinnen mit niedrigem Ein- Beziehung zwischen Lehrpersonen und Schutzbefohlenen kommen sind kaum vertreten. oder sogar ein familiäres Zusammenleben in der sogenannten Die Lebensreformbewegung versucht insbesondere die heran- Schulgemeinschaft verbreitet. Zu den bekanntesten Landerzie- wachsende Generation für sich zu gewinnen, um ihre Gesund- hungsheimen gehören unter anderem die Freie Schulgemeinde heitspraktiken in der Gesellschaft zu verankern. Bereits im Wickersdorf im Thüringer Wald und die Odenwaldschule im ausgehenden 19. Jahrhundert bilden sich in der Schweiz erste hessischen Heppenheim. 1902 wird das erste Landerziehungs- Schüler- und Studentenverbindungen, die sich für einen gesun- heim der Schweiz im Schloss Glarisegg am Bodensee eröffnet. den, alkohol- und drogenabstinenten Lebensstil einsetzen und Schon in den 1920er-Jahren kommen Missbrauchsvorwürfe körperliche Betätigungen in der Freizeit organisieren. Daraus gegen einige Lehrpersonen auf. Der einflussreiche Reformpä- entsteht 1907 der «Schweizer Wandervogel». Im Unterschied dagoge Gustav Wyneken wird 1921 wegen sexueller Handlungen zur gleichzeitig entstehenden Pfadfinderbewegung organi- mit Kindern zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Der Schweizer siert diese erste Jugendbewegung der Schweiz ihre Wanderun- Schriftsteller Friedrich Glauser berichtet später über Misshand- gen, Skiausflüge und Ferienlager weitgehend ohne die Hilfe von lungen durch Lehrpersonen in Glarisegg. Trotzdem greift die Erwachsenen. Die Wandervögel verknüpfen die Gesundheitside- 1968er-Bewegung ein halbes Jahrhundert später viele reformpä- ale der Lebensreformbewegung mit einer aktiven Freizeitgestal- dagogische Ansätze der Landerziehungsheime in ihrem Kampf tung in der Natur. Mit ihren Liedern, Volkstänzen und typischen für eine antiautoritäre Erziehung wieder auf. 20 Eine Gruppe Wandervögel aus Küsnacht bei einem Ausflug im Frühjahr 1913. 21
Halte dich gesund! Das übergeordnete Ziel und der zentrale Leitgedanke der Schon seit dem Mittelalter ist die Schweiz für ihre zahlreichen Lebensreformbewegung ist das Streben nach Gesundheit. Wer Heilbäder wie Leukerbad, Pfäfers oder Baden bekannt. Im bereits durch die moderne Lebensweise in der Industrie- und 19. Jahrhundert breiten sich dann auch die Naturheilmetho- Konsumgesellschaft krank geworden ist, soll durch natürliche den sehr schnell aus. Der Winterthurer Arzt Wilhelm Brunner Behandlungsmethoden wie Kaltwasserbäder, Sonnenlichtku- eröffnet 1839 in Albisbrunn im Kanton Zürich die erste Wasser- ren, Bewegungstherapien oder verschiedenste Diäten geheilt heilanstalt der Schweiz. Einen anderen Schwerpunkt setzt der werden. Die sogenannte Naturheilkunde propagiert die Selbst- deutsche Apotheker Theodor Hahn ab 1854 in seiner Naturheil- heilung des Körpers, indem sie anregt, Gifte aus dem Körper zu anstalt «Auf der Waid» in St. Gallen. Er behandelt seine Patien- entfernen oder mit bestimmten Reizen auf die Haut oder die Ver- ten erstmals mit vegetarischen Diäten. Einen weiteren Ansatz dauung das Gleichgewicht im Organismus wiederherzustellen. verfolgt der medizinische Laie Arnold Rikli, der seinen Kurgäs- Einen anderen Ansatz verfolgt die Homöopathie, die Heilmit- ten das nackte Sonnenbaden als Heilungsmethode verkauft. tel nach dem Ähnlichkeitsprin- Die bekannteste Naturheilanstalt der Schweiz eröffnet Max Bir- zip verabreicht. Beispielsweise cher-Benner 1904 auf dem Zürichberg. Er propagiert in seinem wird gegen Übelkeit ein stark Sanatorium «Lebendige Kraft» für Gutbetuchte eine vegetari- verdünnter Wirkstoff verschrie- sche Vollwertkost, viel Bewegung und einen geordneten Tages- ben, der in hoher Konzentration ablauf. Zu den berühmtesten Gästen gehört Thomas Mann, der bei Gesunden ebenfalls Übel- sich beim strengen Behandlungsprogramm die Inspiration für keit hervorruft. Im Verlauf des seinen «Zauberberg»-Roman holt. 20. Jahrhunderts kommen viele Im ausgehenden 19. Jahrhundert entstehen überall in der weitere Behandlungsmetho- Schweiz Naturheilvereine, die sich 1907 zum «Schweizerischen den wie die Akupunktur, Chiro Verband der Naturheilvereine» (heute: «vitaswiss») zusammen- praktik oder Ayur veda zum schliessen. Bis in die 1950er-Jahre steigt die Mitgliederzahl auf Repertoire der Naturheilme- über 10 000 an. Mit ihren Schrebergartenkolonien und Son- thoden hinzu. Demgegenüber nenbädern erreicht die Naturheilbewegung aber noch deut- behandelt die wissenschaftli- lich mehr Menschen in der Schweiz. Alleine das Sonnenbad che Schulmedizin Krankheiten des Zürcher Naturheilvereins auf dem Zürichberg besuchen im gezielt durch Medikamente und Jahr 1934 über 53 000 Menschen. Die Besucher und Besuche- Operationen oder beugt ihnen rinnen legen sich auf dem umzäunten Gelände auf dem Zürich- durch Impfungen vor. Während berg leicht bekleidet in die Sonne, trainieren an Fitnessgeräten einige Naturheilmethoden wie oder betätigen sich sportlich. Mit diesen Freizeitaktivitäten soll- Massagen, Entspannungsübungen oder bestimmte Kräuter- ten sie ihren Körper abhärten und die Gesundheit stärken, um tinkturen heute als Komplementärmedizin anerkannt sind, ist möglichst nicht mehr krank zu werden. die Wirksamkeit vieler alternativmedizinischer Anwendungen umstritten und wissenschaftlich nicht belegt. 22 In Max Bircher-Benners Naturheilanstalt erhalten die Gäste feuchte Wickel, um den Körper zu entgiften. 23
Stähle deinen Körper! Die Sorge um den Körper steht im Mittelpunkt fast aller lebens- ankommt, während der weibliche Körper elegant wirken muss reformerischen Praktiken. Mit der Umstellung der Ernährung, und auf seine Gebärfähigkeit reduziert wird. Dadurch werden dem Verzicht auf Genussmittel, den Naturheilbehandlungen dualistische Geschlechterstereotype zementiert. Zudem erhöht oder körperlicher Ertüchtigung durch Wandern, Sonnenbaden sich der Druck auf den Einzelnen, ständig am eigenen Körper und Sport wird der Aufbau und die Erhaltung eines gesunden, zu arbeiten und sich zu optimieren. Nicht zufällig treten Ess- fitten und schönen Körpers angestrebt. Viele gesundheitsori- störungen wie Magersucht und Bulimie im Zusammenhang mit entierte Körperpraktiken wie Gymnastik, Yoga, Atemübungen diesen neuen Körperidealen auf. Der Selbstoptimierungsdruck oder Massagen kommen erst mit der Lebensreformbewegung verstärkt sich im Zuge der Fitnessbewegung in den 1980er-Jah- in die Schweiz. Sie werden in Büchern und Zeitschriften oder an ren immer mehr und erreicht heute durch Selbstinszenierun- Vorträgen oder in praktischen Kursen vorgestellt. gen in sozialen Medien einen neuen Höhepunkt. Die Freikörperkulturbewegung macht den menschlichen Kör- Einige lebensreformerische per vollständig sichtbar. Das nackte Baden in Licht und Luft Akteure wie die bekannten wird nicht mehr nur als Behandlungsmethode für Kranke Schweizer Ärzte Auguste Forel genutzt, sondern wird zum Instrument einer «neuen Moral» und Gustav von Bunge begin- und «Natürlichkeit». Seit den 1920er-Jahren betonen Schwei- nen im frühen 20. Jahrhundert zer FKK-Vordenker wie Eduard Fankhauser und Werner Zim- diese Gesundheitsforderungen mermann, dass nicht der nackte Körper sexuell aufreizend sei, auf die gesamte Bevölkerung sondern die modische Kleidung. Möglichst alle Freizeitaktivi- zu übertragen. Der Staat soll die täten – ob Sonnenbaden, Schwimmen, Turnen oder sogar Ski- sogenannte Volksgesundheit fahren – sollen deshalb nackt ausgeübt werden. Die Forderung durch Aufklärungsarbeit und nach einer «natürlichen Nacktheit» lässt sich aber nicht überall Präventionskampagnen, aber durchsetzen. Vor allem nach 1950 verwandeln sich viele FKK- auch durch Zwangsmassnah- Zeitschriften in Erotikmagazine. Mit dem 1928 gegründeten men verbessern. Während die «Schweizer Lichtbund» (heute: «Organisation von Naturisten Gesundheit durch grosse Sport- in der Schweiz») entsteht in der Schweiz eine der langlebigs- anlässe, verbilligte Lebensmittel ten FKK-Organisationen der Welt. In den 1970er-Jahren hat der oder bessere Krankenversor- Verein bereits über 13 000 Mitglieder. Auf dem 1937 eröffne- gung gefördert wird, sollen Alkoholiker, Menschen mit einer ten FKK-Gelände «die neue zeit» in Thielle am Neuenburgersee Behinderung und chronisch Kranke mit Heiratsverboten, gelten bis heute lebensreformerische Grundsätze wie Alkohol- Zwangsversorgungen oder sogar durch Sterilisation und Kas- und Tabakverbot und vegetarisches Essen. tration an der Fortpflanzung gehindert werden. Solche Mass- Die Lebensreformbewegung prägt im 20. Jahrhundert ein neues nahmen basieren auf der sogenannten Eugenik, die in vielen Körperideal. Das Streben nach Gesundheit und Leistungsfähig- demokratischen Ländern, so auch in der Schweiz, in der ers- keit manifestiert sich zunehmend in der Forderung nach einem ten Hälfte des 20. Jahrhunderts weit verbreitet ist. Gerade in schlanken, durchtrainierten Körper. Wobei es beim männli- der Schweizer Lebensreformbewegung erhalten eugenische chen Körper vor allem auf die Stärke und Widerstandsfähigkeit Forderungen viel Unterstützung. Eine grausame Dimension 24 In der Freikörperkultur wird sogar beim Skifahren auf Kleidung verzichtet. 25
erreicht der staatlich verordnete Gesundheitszwang im nati- und 1950 von ca. 15 kg auf über onalsozialistischen Deutschland, wo hunderttausende Men- 50 kg. Neben den gesundheitli- schen Opfer von eugenischen Massnahmen werden. Max chen Argumenten bringen die Bircher-Benner unterhält bis in die 1930er-Jahre einen regen Vegetarier und Vegetarierin- Austausch mit einflussreichen Nationalsozialisten. Sein Sohn nen auch ethische Bedenken Ralph Bircher pflegt diese Kontakte sogar nach 1945 weiter und gegen das Töten von Tieren vor stellt eugenischen Forderungen in seiner Zeitschrift «Wende- und weisen auf die geringeren punkt» weiterhin eine Plattform zur Verfügung. Kosten pflanzlicher Ernährung hin. Ebenso veröffentlichen sie Ernähre dich gesund! volkswirtschaftliche Berech- Bis ins 19. Jahrhundert wüten in der Schweiz immer wieder nungen, die zeigen, dass auf Hungersnöte. In den ärmeren Bevölkerungsschichten bleibt der gleichen Anbaufläche viel die Nahrungsmittelversorgung bis in die 1950er-Jahre prekär. mehr pflanzliche als tierische Jedoch wird die landwirtschaftliche Produktion durch neue Kalorien erzeugt werden kön- Anbaumethoden, den Einsatz landwirtschaftlicher Maschinen, nen. Vor allem nach 1950 füh- neuer Düngemittel und Pestizide massiv erhöht. Durch die ren Umweltschutzkreise Argumente gegen die zunehmende Intensivierung der Viehwirtschaft und die Industrialisierung der Massentierhaltung und die industrielle Landwirtschaft an. In Schlacht- und Molkereibetriebe steigt in der Schweiz insbeson- die Kritik gerät insbesondere der steigende Pestizideinsatz. dere die Fleisch- und Milchproduktion. Davon profitieren Unter- In der Lebensreformbewegung tritt eine ambivalente Hal- nehmen wie Nestlé, Maggi und Cailler, die im ausgehenden tung zwischen Konsum und Verzicht zutage. Die Kritik am stei- 19. Jahrhundert erste Fertigprodukte wie Milchpulver, Fleisch- genden Fleisch-, Alkohol- und Tabakkonsum, an industriell extrakt und Schokolade verkaufen. Nicht zuletzt ermöglicht hergestellten Nahrungsmitteln oder der intensivierten Land- der rasant anwachsende Aussenhandel den Import immer wirtschaft fördert nicht nur den Verzicht, sondern erzeugt grösserer Mengen an Genussmitteln wie Zucker, Kaffee und auch neue Konsumbedürfnisse. Als Ersatz für Wein, Bier und Tabak. Diese Entwicklungen führen dazu, dass vor allem in Schnaps propagieren Lebensreformer und Lebensreformerin- den städtischen Mittel- und Oberschichten seit dem frühen nen alkoholfreie Getränke wie Fruchtsäfte, Limonaden und 20. Jahrhundert weniger Getreide und frisches Gemüse, aber Mineralwässer. Gegen das industriell verarbeitete Weissbrot dafür mehr Fleisch, Milch, Zucker, Kaffee, Alkohol, Tabak und werben sie für eigene Sorten wie Grahambrot, Steinmetzbrot industriell verarbeitete Produkte konsumiert werden. oder Vollkornbrot. Auf die industrialisierte Landwirtschaft In diesen sozialen Milieus beginnt die Lebensreformbewegung reagieren sie mit der Entwicklung des sogenannten Bioland- die veränderte Ernährungsweise zu kritisieren und macht sie baus, der auf künstliche Pflanzenschutzmittel verzichtet. Um für verschiedenste Erkrankungen verantwortlich. Im ausgehen- 1900 entstehen erste Reformhäuser in der Schweiz, in denen den 19. Jahrhundert bekämpft sie vor allem den im internationa- eine breite Palette an Nahrungsmitteln, die Gesundheit und len Vergleich hohen Alkoholkonsum in der Schweiz. Im Fokus Nachhaltigkeit versprechen, zur Auswahl steht. Gleichzei- der ersten Vegetariervereine steht der wachsende Fleischver- tig breiten sich in allen grossen Städten vegetarische und brauch. Der jährliche Pro-Kopf-Konsum steigt zwischen 1850 alkoholfreie Restaurants, Pensionen und Hotels aus. Seit den 26 Anzeige für «Fritini»-Bratplätzli, 1970. Mit der Lebensreformbewegung kommen immer mehr vegetarische Produkte auf den Markt. 27
1980er-Jahren dringen diese Nischenprodukte zunehmend auf Einige Lebensreformer und Lebensreformerinnen versuchen den Massenmarkt vor und gehören heute zu den am schnells- sich noch stärker von der Gesellschaft abzuwenden, um ihre ten wachsenden Produktlinien der Schweizer Grossverteiler. Ideale einer natürlichen, gesunden Lebensweise zu verwirkli- chen. Im Jahr 1900 gründen die deutsche Pianistin Ida Hofmann, Finde Gleichgesinnte! der Belgier Henri Oedenkoven und der österreichische Offizier Um 1800 leben knapp 10% der Schweizer Bevölkerung in Städ- Karl Gräser in Ascona am Lago Maggiore die Vegetarierkolo- ten. Nur in Bern, Basel, Zürich und Genf wohnen mehr als 10 000 nie Monte Verità. Sie wohnen in selbstgebauten Häusern und Menschen. Ein Jahrhundert später überschreiten diese Städte versorgen sich mit den Lebensmitteln aus dem eigenen Gar- bereits die Marke von 100 000 ten. Um ihre finanzielle Situation zu verbessern, eröffnen sie ein Einwohnern und Einwohnerin- Naturheilsanatorium für Sonnenkuren und vegetarische Diäten. nen. Der Ausbau der Infrastruk- In den Folgejahren entwickelt sich der Monte Verità zu einem tur hinkt jedoch dem rasanten internationalen Anziehungspunkt für Intellektuelle, Künstlerin- Wachstum hinterher. Vor allem nen und Anarchisten wie Hermann Hesse, Sophie Täuber-Arp für Arbeiter und Arbeiterinnen und Erich Mühsam. Die Gründungsmitglieder verlassen 1920 fehlen um 1900 bezahlbare Woh- Ascona und beginnen ein neues Siedlungsprojekt in Brasilien. nungen. Aber auch die neuen Auch andere Lebensreformer und Lebensreformerinnen versu- Mittelschichten können sich chen im kolonialen Raum ihr Glück zu finden und sind so Teil der oft nur kleine, dunkle Zimmer in Geschichte des europäischen Kolonialismus. Sie bauen in Mit- eng bebauten Quartieren leis- telamerika landwirtschaftliche Betriebe auf, begeben sich auf ten. Aus verschiedenen sozialen spirituelle Reisen durch Asien oder lassen sich auf tropischen Milieus und politischen Richtungen kommen deshalb Forderun- Inseln nieder, um von Sonnenlicht und Kokosnüssen zu leben. gen nach mehr und besserem Wohnraum auf. Ähnliche Landkommunen, Aussteigersiedlungen und selbst- Die Lebensreformbewegung reagiert mit verschiedenen Ansät- verwaltete Betriebe entstehen im Verlauf des 20. Jahrhunderts zen auf die Wohnungsnot. Einerseits setzen sich Lebensre- überall auf der Welt. Vor allem im Zuge der 1968er-Bewegung former und Lebensreformerinnen für den Bau sogenannter ziehen wieder mehr Menschen aufs Land, um der urbanen Gartenstädte ein. Diese Einfamilienhaussiedlungen an den Lebensweise in der Konsumgesellschaft zu entfliehen. Unter Stadträndern sollen den urbanen Raum mit dem Landleben anderem verbringen zwischen 1971 und 1973 bis zu 1000 verbinden. Dazu erhalten alle Wohnhäuser einen grosszügigen Jugendliche den Sommer in den Walliser Alpen, um sich mit Garten zur Selbstversorgung. Viele dieser Gartenstadtsiedlun- der Natur verbunden zu fühlen. Die sogenannten Bärglütli leben gen wie das 1919 südlich von Basel gebaute Freidorf Muttenz in einfachen Zelten, tragen nur wenig Kleidung und ernähren sind genossenschaftlich aufgebaut. Das Freidorf betreibt ein sich vegetarisch. Sie erhalten tatkräftige Unterstützung durch eigenes Lebensmittelgeschäft und ein alkoholfreies Restau- Lebensreformer und Lebensreformerinnen der ersten Genera- rant, übernimmt Bildungsaufgaben und organisiert kulturelle tion. Die Jugendlichen erhalten Einblicke in die Ernährungsre- Anlässe. Zwischenzeitlich gibt es sogar eine eigene Komple- form, den Biolandbau oder die Naturheilkunde und führen in der mentärwährung, die nur in der Siedlung gültig ist. Folge die seit dem 19. Jahrhundert praktizierte Lebensreform unter anderer Bezeichnung fort. 28 In Siedlungsprojekten wie dem Monte Verità in Ascona versuchen Lebensreformer und Lebensreformerinnen naturnaher zu leben. 29
Autorin und Autoren Weiterführende Literatur Eva Locher, Historikerin M.A. In der öffentlichen Verwal- tung, bei NGOs und in Museen für verschiedene Projekte ver- Eva Barlösius, Naturgemässe Lebensführung. Andreas Schwab, Monte Verità. Sanatorium Zur Geschichte der Lebensreform um die der Sehnsucht, Zürich 2003. antwortlich. Seit 2014 Lehrbeauftragte am Departement für Jahrhundertwende, Frankfurt, New York 1997. Zeitgeschichte an der Universität Freiburg; Dissertation zur Detlef Siegfried; David Templin (Hg.), Lebensreformbewegung in der Schweiz im Zeitraum von 1950 Arnaud Baubérot, Histoire du naturisme. Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu Le mythe du retour à la nature, Rennes 2004. um 1980. Kontinuitäten und Brüche in Milieus bis 1980 im Rahmen des SNF-Forschungsprojekts «Die Lebens- der gesellschaftlichen Selbstreflexion im frühen reformbewegung in der Schweiz im 20. Jahrhundert». Kuratorin Kai Buchholz et al. (Hg.), Die Lebensreform. und späten 20. Jahrhundert, Göttingen 2019. der Ausstellung «Lebe besser! Auf der Suche nach dem idealen Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., Darmstadt 2001. Corinna Treitel, Eating Nature in Modern Leben» im Bernischen Historischen Museum. Germany. Food, Agriculture, and Environment, Marc Cluet; Catherine Repussard (Hg.), c. 1870 to 2000, Cambridge 2017. Stefan Rindlisbacher, Historiker M.A. Seit 2014 Diplom «Lebensreform». Die soziale Dynamik der politischen Ohnmacht = la dynamique sociale Bernd Wedemeyer-Kolwe, Aufbruch. assistent, Lehrbeauftragter und Doktorand am Departement de l’impuissance politique, Tübingen 2013. Die Lebensreform in Deutschland, für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg; Dissertation zur Darmstadt 2017. Lebensreformbewegung in der Schweiz im Zeitraum von 1850 Florentine Fritzen, Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert, Eberhard Wolff (Hg.), Lebendige Kraft. bis 1950 im Rahmen des SNF-Forschungsprojekts «Die Lebens- Stuttgart 2006. Max Bircher-Benner und sein Sanatorium reformbewegung in der Schweiz im 20. Jahrhundert». Kurator im historischen Kontext, Baden 2010. der Ausstellung «Lebe besser! Auf der Suche nach dem idea- Diethard Kerbs; Jürgen Reulecke (Hg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen len Leben» im Bernischen Historischen Museum. 1880–1933, Wuppertal 1998. Andreas Schwab, Historiker Dr. phil. Seine Dissertation Wolfgang Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale «Monte Verità – Sanatorium der Sehnsucht» ist 2003 erschie- einer sozialreformerischen Bewegung im nen. 2013 erschien «Landkooperativen Longomaï. Pioniere Deutschland der Industrialisierungsperiode, einer gelebten Utopie» (Rotpunkt-Verlag Zürich). Er kuratierte Göttingen 1974. zahlreiche Ausstellungen, u.a. «Die 68er. Kurzer Sommer – Eva Locher, Wider den «Irrsinn in der Welt». Bildnachweise lange Wirkung» im Historischen Museum Frankfurt am Main Die Lebensreform in der Nachkriegsschweiz, Titelbild: (2008), «Die Utopie der Widerspenstigen. 40 Jahre Longomaï» Dissertation Universität Freiburg 2019. Sigurd Leeder in Ascona, 1925. (Foto Roland Opitz) (2013) und war Projektleiter der neuen Dauerausstellung auf Kaj Noschis, Monte Verità. Ascona S. 11, 15, 18: Wikimedia Commons dem Monte Verità (2017). Seit 2017 Lehrbeauftragter für Public et le génie du lieu, Lausanne 2011. S. 14, 28: Fondazione Monte Verità, Ascona History am Departement für Zeitgeschichte an der Universität S. 16, 20: Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich Stefan Rindlisbacher, Die Lebensreform in der S. 22: Archiv für Medizingeschichte, Zürich Freiburg. Kurator der Ausstellung «Lebe besser! Auf der Suche Schweiz (1850–1950), Dissertation Universität S. 25: Die neue Zeit, Jg. 2, Heft 2, 1929, S. 28 nach dem idealen Leben» im Bernischen Historischen Museum. Freiburg, erscheint 2021. S. 27: Volksgesundheit, Jg. 63, Heft 2, 1970, S. 15 30 31
Auf der Suche nach dem idealen Leben Vor hundert Jahren streben in der Schweiz immer mehr Menschen einen gesunden Lebensstil an, der sich an der Natur orientiert. Sie achten auf die Ernährung, verzichten auf Alkohol und trainieren ihren Körper. Es entstehen Naturheilanstalten, vegetarische Restaurants und Reformhäuser. Die Begleitbroschüre zur Ausstellung «Lebe bes- ser! Auf der Suche nach dem idealen Leben» beleuchtet diese Entwicklungen, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts Gesellschaft, Wirtschaft und Politik prägen und bis heute einen grossen Einfluss auf unser tägliches Leben haben. ISBN 3-909990-33-9
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