Autoritarismus und Wissenschaft/ universita res Arbeiten in der VR China - Anna L. Ahlers University of Oslo, IKOS-Østasia DAAD Sommeruniversität ...

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Autoritarismus und Wissenschaft/
universitäres Arbeiten in der VR China
                              Anna L. Ahlers
            University of Oslo, IKOS-Østasia
      DAAD Sommeruniversität, 17. Juli 2017
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Gliederung
• Kurzer historischer Aufriss: Verhältnis Wissenschaft/Intellektuelle und
 Politik in China
• Exemplarischer Fall: Geschichte und Sinisierung der
 Sozialwissenschaften in der VR China
• Jüngste Tendenzen: Stärkung der internationalen Konkurrenzfähigkeit
 und der neuen “politischen Disziplin” chinesischer Wissenschaft
• Praktische Implikationen
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Historische Grundlinien
• (Aus)Bildungsideal fest verankert in chinesischer
  Tradition
• engste Verflechtung von Bildungs- und Staats-
  Institutionen seit ersten Kaiserdynastien,
  Beamtenausbildung/-auswahl, Blüte im 7.-13. Jh.
• seit 11. Jh. anonymisierte Aufnahmeprüfungen
➢ kaiserliches Beamtenprüfungswesen: Schlüssel
  für Machtlegitimation und -Ausübung
➢ akademische Ausbildung formalisierter Teil des
  staatlichen Herrschaftssystem (Meritokratie)
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Historische Grundlinien
• anders als in anderen vormodernen Gesellschaften, in denen
  akademische Ausbildung meist an kirchliche Institutionen gebunden
  war und Legitimation religiöser Autorität(en) diente
• gleichzeitig: verhindert intellektuelle Opposition über materielle
  Anreize und (Voll-)Inklusion

  “Only a miniscule proportion of exam takers, generally on the order of 1-5%, were
        actually awarded imperial degrees, but the fact that all males – regardless of
   regional location or class status – were in theory eligible to sit for the civil service
           examinations, endowed the institution with an aura of egalitarianism and
inclusivity. Because examination essays were read blind, the process contributed to
     an impression of fairness rather than favoritism – even though in fact the great
        majority of degree recipients hailed from exceptionally wealthy families (…)”
                                                                        (Perry 2017, 3-4)
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Historische Grundlinien
• spätes 19./ frühes 20. Jh: stärkerer Einfluss ’externer’ Ideen und
  Strukturen, bes. Missionarsschulen, intellektueller Austausch,
  Pluralisierung, Modernisierungsdiskurs
• Abschaffung des konfuzianischen Prüfungssystems löst enge Verbindungen
  zwischen Intelligentia und Staat, Kaiserreich endet

                              • 5.-Mai-Bewegung 1919 verlangt nach
                                “Demokratie und Wissenschaft [science]”
                              • aber auf Basis von 中體西用: Nutzen
                                ‚westlichen‘ Wissens auf chinesischer Basis
                              • Wirren der chinesischen Republikzeit und
                                des Bürgerkrieges behindern Realisierung
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Historische Grundlinien

• 1921: Gründung der KPCh [von Intellektuellen]
• Schaffung neuer Bildungsinstrumente und -institutionen gehörte zum
  Kernprogramm, auch: Mittel zur Mobilisierung und politischen Kontrolle
• Import von Strukturen aus Sovjetunion
• aber viel besser an Bedingungen vor Ort angepasst (sinisiert); schon in
  Bürgerkriegsjahren (v.a. Soviets) zeigt sich Erfolg, anders als in SU von der
  Bevölkerung willkommen
• ab 1949 (Gründung der VR): Auf-/Umbau staatl. Universitätsystems
• Neudefinition des Verhältnisses zw. Intellektuellen und Partei/Staat
  schwierig: “100-Blumen-Bewegung”  “Anti-Rechtsabweichler Kampagne”
  1957
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Historische Grundlinien
• späte 1950er/frühe 60er: zwar enorme Expanison des
  Hochschulsystems
• aber größerer Fokus auf praktischer Anwendung, als auf Forschung
  und akademischer/intellektueller Ausbildung
• Kulturrevolution (1966-76): Universitäten geschlossen

• ab 1977 Wiedereröffnung und Ausbau entsprechend Deng Xiaoping’s
  Reformplänen
• Studium kostenfrei, aber nur ca. 1% eines Jahrgangs tritt ein; System
  der Aufnahmeprüfung (gakao) erhält aber trad. Meritokratie-Narrativ
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Historische Grundlinien

• Anfangsjahre von Reform und Öffnungs-Ära: Offenheit für Einflüsse,
  Pluralität, relative Laxheit der Kontrolle, liberale Stimmung
➢ “Demokratiemauer” ‘78, Studentenposteste ab ‘86
• steigende Studentenzahlen bei sich nicht verbessernder Ausstattung
  und fehlende Beschäftigungschancen nähren Unmut
• 1989 Forderungen protestierender Studenten werden umfassender,
  andere Gruppen schließen sich an  blutige Niederschlagung der
  Prosteste im Zentrum Beiijings und anderen Städten; Weltereignisse

 Verhaftungen und Verfolgungen; viele Exilanten/Dissidenten;
massiver (Wieder-)Ausbau von Kontrollmechanismen auf dem Campus
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• heute: während Protestneigung und -Ereignisse in allen anderen
  gesellschaftlichen Gruppen und Bereichen explosionsartig zunehmen,
  bleibt es auf dem chin. Universitätscampus absolut ruhig
• strukturelle Ursachen:
   • politische Kontrolle, Mobilisierungs- und Disziplinierungsmaßmahmen
   • im Vergleich zu pre-1989 aber: extremer Anstieg der staatlichen Mittel für das
     Universitätswesen, Förderprogramme jeglicher Art, komplexes Evaluierungs-
     und Reward-System
   ➢ E. Perry: “repaired nexus between state and scholar, thereby restoring a central
     pillar of authoritarian resilience” (2015, 13)
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Historische Grundlinien

• Hochschulreformen 1998 (“Projekt 985”, Jiang Zemin): massiver Ausbau
  von Studienplätzen und Einführung von Studiengebühren, großangelegte
  “Exzellenzinitiative”

• “state’s massification strategy” (Perry 2015)
➢ Zukunft ungewiss: hohe Akademiker-Arbeitslosigkeit
Quelle: OECD

WEF 2017
Geschichte der Sozialwissenschaften in der
VR China – zwischen Bann und Sinisierung
  Domestizierung (“indigenization”, “nationalization”)
                          vs.
               Universalität von Theorie
Sozialwissenschaften in der VR China
• spätes 19. Jh.: steigendes Interesse an ’westlicher’ Wissenschaft
  (sciences); Übersetzungen (Liang Qichao, Kang Youwei, Yan Fu, et al.)
• Etablierung akademischer Disziplinen bes. in den 1920/30ern:
  “there   was
  Soziologie      no Chinese
             (社会学),              social(人类学),
                        Anthropologie    science/    social science
                                                  Psychologie (心理学),in
  Politikwissenschaft
  China previous (政治学),          Jura imports
                       to ‘foreign    (法学); undininthe
                                                     geringerem Umfang
                                                         organization
  Wirtschaftslehre (经济学)                               th century”
      of  knowledge      to China’    in the late   19
• nach 1949: marxistische Theorie, Klassenkampf als offizielle und
                          (A. Dirlik 2012, 1)
  ’nicht anzuzweifelnde’ Doktrin
• 1952: Anthropologie u. Soziologie werden als reaktionär, dekadent,
  und als imperialistische Werkzeuge (帝国主义的工具) gebrandmarkt
Sozialwissenschaften in der VR China
Sozialwissenschafts-Bann von ca. 1952-1978:
• nur soz.-wiss. Projekte mit klarem politischen Zweck erlaubt:
   • z.B., in speziellen ethnischen Studien (民族学) und zum Zweck der ethnischen
     Klassifizierung (民族识别) Mitte der 1950er
   o soziale Evolution ethnischer Gruppen (L. H. Morgan, F. Engels) + Marxist
     studies
   • spätere Institutionalisierung in “Minority institutes” (民族学院)
• social engineering

• ausländische soz.-wiss. Forschung zu (bzw. “in”) China eingeschränkt
  bis unmöglich = Taiwan, Hong Kong; meist indirekte
  Interviewforschung (e.g. by S. Harrell, A. Walder, D. Solinger, T.
  Bernstein, et al.)
Sozialwissenschaften in der VR China
Nach Ende des Banns, Reform- und Öffnungsperiode 1980er Jahre,
graduell…
• Öffnung und internationale Kooperation
• insbesondere Soziologie als Disziplin wird wieder-eingerichtet, aber –
  nahezu allen Soz.-Wiss. gemeinsam – fortan noch stärkerer
  Eigenbezug, bzw. ‘nationale’ Anwendung/Empirie
• angewandte Forschung = Chance aber auch große Beschränkung
   • Bsp. Politikwissenschaft, z.B. sehr oft nur bestehend aus den Teilbereichen
     “Öffentliche Verwaltung” (public administration, 公共管理学), und
     “Marxismus-Studien” (马克思主义)
Indigenization soz.-wiss. Theorie
• verschiedene Zyklen der indigenization
  der Sozialwissenschaften in der VR China
       Domestizierung –> Beitrag zu universeller Theorie
       –> erneute Restriktionen und Politisierung
   jüngst z.B. illustriert durch:
   • Chinesische Theorie der Internationalen Beziehungen, seit den frühen
     2000ern
   • Einschränkung der Verwendung ausländischer Lehrmaterialien (die “westliche
     Werte”) beinhalten, besonders seit Ende 2014
Chinese Sociology & Anthropology, jetzt:
Chinese Sociological Review
homepage
• Auszug aus About this journal:
“CSR will publish high-quality original works from sociologists and other
social scientists in the mainland, Hong Kong, Taiwan, and abroad. The
mission of the journal is to advance the understanding                 of
contemporary Chinese society and contribute to general knowledge in
the discipline of sociology. (…) The journal is intended for an
international readership.”
Publish or perish mit chin. Besonderheiten
Journal of Chinese Political Science (Springer), seit 1995, Journal of Chinese Governance
(Routledge), seit 2015, ähnlich (teils herausgegeben durch die CASS): Chinese Political
Science Review, The Journal of Chinese Sociology, u.v.m.

▪ ‘originär chinesische’ Forschung wird sichtbarer, besser zugänglich und
  dialogfähiger
▪ Nomen es omen?: chinesischer ‘Tunnelblick’; problematische Nische zwischen den
  Disziplinen (Area Studies?)
▪ mildert nicht den Umstand, dass chinesische Wissenschaftler immer noch nicht
  signifikant zu internationalen soz.-wiss. Debatten oder Theoriebildung beitragen
➢ Paradoxie: entspricht nicht den aktuellen Leistungskriterien
➢ Wie verträgt sich dies mit den (neuen) Förderzielen der Regierung?
Jüngste Reformen, 2010er Jahre
• World Class Universities with Chinese Characteristics, Xi Jinping 2014:
“the world has only one Harvard (…) but China can have its own Peking,
                   Tsinghua, Fudan, Nanjing and Zhejiang Universities“

 weniger Imitation, als eigenes aber eher unspezifisches Modell

• interessantes Problem, seit 2016: Quotenreform - mehr Studenten
  aus ärmeren Regionen (140.000) sollen Plätze in Universitäten der
  Ostküste bekommen (6.5% Zuwachs)  massiver Protest der
  Lokalbevölkerung
Seit 2016: massive ‘ideologische’ Zugriffe
                   • seit 2014 Aufrufe zu verstärkter
                     politischer Kontrolle
                   • Dez. 2016: höchste Führungsgremien
                     verabschieden neuste Kampagne zu “Re-
                     Ideologisierung”, inkl. Stärkung der
                     Führung durch die Partei (“strongholds”)
                      • Re-intensivierung der Beobachtung
                        politischer Disziplin unter Lehrenden und
                        Studierenden
                      • massive Ausweitung traditioneller Ideologie-
                        Kurse
                      • Screening von Unterrichtsmaterial, Lehre
                    Xinhua, 09.12.2016
Praktische Implikationen
• sehr unterschiedliche Implementierung
• Verstärkung durch intensivierte Anti-Korruptions-Kampagne
• Resourcenbindung
• Paralyse

• internationale Kooperationen sollen reduziert werden, zumindest die
  mit Funding aus dem Ausland
• paradoxe Entwicklung; Folgen noch nicht eindeutig abzusehen
Zusammenfassung
• “Revival” unter autoritären Regimes: Setzen auf wettbewerbsfähigen,
  hochklassigen Bildungs-/Wissenschaftssektor
• Fall China (erfolgreicher): historisch großer Wert, kann auf lange
  Tradition und teilweise konstante Instituionen setzen
• Verknüpfung von Wissen und Macht/Politik hat lange Geschichte,
  wenn nicht gar Gründungslegende – Legitimationsgrundlage
• “Meritokratie”, “Politisierung”/Ideologisierung
• durchaus sehr unterschiedliche Phasen
• politische Stabilisierungsseffekte, aber gesamtgesellschaftlich
  problematisch (Arbeitsmarkt, Autonomie: Qualität, Innovation,
  Stratifizierung, …); derzeit offene Entwicklung
“Love science, learn science, use science!”
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