AVISO - Was geschieht, wenn die Kunst da ist? - Magazin für Kunst und Wissenschaft in Bayern
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Alke Stachler, *1984, studierte Englische und Neuere Deut- sche Literaturwissenschaften sowie Sprachwissen schaften in Augsburg und Swansea/Wales. 2016 erschien der Gedichtband dünner ort (edition mosaik, Salzburg), der in Kooperation mit der bildenden Künstlerin Sarah Oswald entstand, 2019 der zweite Band geliebtes biest, ebenfalls in der edition mosaik, der durch ein Arbeitssti- pendium des Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst gefördert wurde. Alke Stachler ist Preisträgerin der Literaturstiftung Bayern (2014) und wurde mit dem Kunstförderpreis der Stadt Augsburg (2017) sowie dem Bayerischen Kunstförderpreis (2021) ausgezeichnet. Laudatio von Dr. Holger Pils zur Verleihung des Bayerischen Kunstförderpreises: »In dünner ort entwirft Alke Stach- ler Übergangsorte zwischen realen und mythischen Welten, zu denen ihre Gedichte traumähnliche Expeditionen unternehmen. Es sind Orte zwischen Leben und Tod, Dies- seits und Jenseits, die auf rationalem oder logischem Weg nicht erreichbar sind, sondern nur im Gedicht. In geliebtes biest schöpft Alke Stachler aus dem sprach lichen Fundus der Märchen, ob aus der »Kleinen Seejung- frau« von Hans Christian Andersen oder aus keltischen Sagen. Mit der dort gefundenen Sprache reflektiert sie zeitlose weibliche Selbst- und Körpererfahrungen. Alke Stachler schreibt eindringliche Prosagedichte, die durch Assoziationen eigene Sprach- und Bilderwelten schaffen. Feine Klang- und Sprachstrukturen verbinden die Gedichte der einzelnen Bände zu komplexen Zyklen und schaffen ungewöhnliche Bildwelten. Sie entfalten dabei eine sprachmagische Wirkung, der man sich nicht entziehen kann.«
liebes tagebuch, liebes nachtbuch, liebes liebesbuch, bekenntnisse meiner sinnesorgane, wie ich sagte, verzeih, aber das meer war zu laut. die lage des innenohrs im raum, der keiner ist, die dünne haut zwischen zwei zuständen, die dünne haut zwischen weich und wirbeltier. ich schreibe, wie nennst du deinen vater, ich schreibe, irgendwann werden die flutphasen länger, ich schreibe, von so einem ich spreche ich mich frei. — Alke Stachler 3
Künstler im Heft –– Florian Huth In seiner Diplomarbeit With the Fear to Fail I Start to Fake for the Fame kopierte Florian Huth Arbeiten von Künstler*innen, die im Ranking Artfacts auf den Plätzen vor ihm platziert sind. Durch den Akt der Aneignung unterläuft er fundamentale Kategorien wie das Kriterium der Originalität und entlarvt dabei auch die gewandelten kontextuellen und konzeptuellen Bedingungen der Reproduktion. I. Marktgefälle Die (Des-)Informationsflut in Medien, Such- maschinen und sozialen Netzwerken lässt sich als Ergebnis einer medienökonomischen Entwicklung verstehen. – Diese Methode ist wertvolles Werkzeug, das dem Benutzer von artfacts.net ermöglicht, auf- kommende Trends des Marktes zu erfassen. Wir sprechen über die Beziehung von Kunst und Markt, die Beziehung von Kunst zu ei- nem »profanen« numerischen mathemati- schen Ranking, über Qualität und Quantität und natürlich auch über Geld und Ideologie. Man muss strategisch sein, sich positionie- ren. Vernetzung und (Re-)Produktion als Vorzeichen grundlegender Wahrnehmbar- keit der künstlerischen Arbeit. Brave new clickbait. EW HA HA HA – Social Climbing, 2019, ladder, scotch tape, 466,5 × 35 × 6,7 cm 4 Künstler im Heft: Florian Huth
Liebe Leserinnen und Leser, als Kunstminister möchte ich ermöglichen. Im Moment regiert aber wieder einmal Rex Corona, und wieder müssen wir im ge- samten Kunstbereich Einschränkungen hinnehmen, Hygiene- pläne schreiben, Abstand halten. Das fällt schwer, das tut weh. Die Folgen der vierten Welle machen mir wie vielen von Ihnen große Sorgen. Kunst und Kultur sind für uns als demokratische und plurale Gesellschaft ein lebenswichtiges Gut. Kunst in all ihren Erscheinungsformen setzt sich kritisch mit aktuellen ge- sellschaftlichen Themen auseinander, regt zum Nachdenken an. Kunst und Kultur bieten Möglichkeiten zur Selbsterkundung und helfen uns beim Perspektivwechsel. Gerade in so schwierigen Zeiten wie diesen gibt sie uns Orientierung, Halt und Hoffnung. Kunst gibt uns Kraft, schenkt uns kreative Ideen. Kreativität verbindet Kunst und Wissenschaft. Ich bin stolz auf die breite und vielfältige künstlerische Landschaft in Bayern, für die gerade die junge Künstlerinnen und Künstler besondere Impulse geben. Was geschieht, wenn die Kunst da ist, fragt diese Ausgabe von Aviso. Im Moment müssen wir auch fragen: Was muss gesche- hen, was können wir alle dafür tun, damit die Kunst weiterhin da sein kann? Es ist mir auch persönlich ein großes Anliegen, unsere ausdifferenzierte Kunstlandschaft zu bewahren und zu pflegen. Wir haben die laufenden Hilfsprogramme für die Kunstszene ins Jahr 2022 hinein verlängert, um unsere kreativen Köpfe in der Krise zu unterstützen. Neben den Hilfsprogrammen ist es wichtig, Begegnungsräume für Künstlerinnen und Künstler mit ihrem Publikum zu schaffen. Kunst lebt vom Dialog. Digitale For- mate leisten hier einen sehr wertvollen Beitrag. So freut es mich, dass wir vor kurzem wenn auch vor sehr kleinem Publikum in der Theaterakademie August Everding Kunstförderpreise an 17 junge Künstlerinnen und Künstler verleihen konnten. Die Auf- zeichnung der Verleihung finden Sie auf YouTube und in dieser Bernd Sibler, MdL wie in den beiden letzten Ausgaben von Aviso lernen Sie einige Bayerischer der Ausgezeichneten kennen. Es sind Begegnungen wie diese, Staatsminister für Wissenschaft die Hoffnung geben. und Kunst Ihr Bernd Sibler Editorial 5
2 Gedicht 28 Cursed and Sacred: o. T. Die nigerianische Künstlerin Tewa Alke Stachler Barnosa im Iwalewahaus Bayreuth Lena Naumann und 4 Künstler im Heft Felicia Nitsche Florian Huth auch auf S. 14 und 37 30 Kunst wandelt (sich im) öffentlichen Raum 5 Editorial Das Symposion Urbanum Nürnberg Bernd Sibler Simone Schimpf, Ellen Seifermann, Andreas Wissen 8 Hinter den Kulissen Freiheit und Struktur – 36 Philosophisches Aperçu ein Symposium der freien Was ist, wenn die Kunst da ist darstellenden Künste Dominik Bais Jette Büchsenschütz 38 Aviso Einkehr 9 Kolumne Kunst! Du! Gasthof zum Goldenen Löwen in Über, in und um die Künste Kallmünz Nora Gomringer Birgit Angerer 10 Leseempfehlung 42 Avisiert Bayerns beste Independent Kunst und Kultur aktuell Bücher 40 Science Slam 12 Erklärstück Nichts mehr als eine Mär… Eine Bildgeschichte der … sind die herbeifantasierten Künstlerin Atoinet Lubaki Langzeit- und Erbgutschäden Felicia Nitsche und der mRNA-Impfung. Philipp Schramm Jaromir Konecny 15 Was geschieht, wenn 44 Fragen? Antworten! die Kunst da ist? Expressivität bis ans Äußerste Das Thema dieser Ausgabe Wie eine literarische Übersetzung aus dem Finnischen entsteht 16 Bildstrecke Sebastian Guggolz im Gespräch mit Maximiliane Baumgartner Maximilian Murmann 22 Spiegelszenen mit Clowns 46 Geschriebenes Sabine Leucht im Gespräch mit Eine Ahnung Stefan Dreher und Ceren Oran Ulrike Anna Bleier 6 Inhalt
48 Kalender 2022 Impressum Copyright: Bayerisches Staatsministerium für Wissen- 50 Comic schaft und Kunst, Salvatorstraße 2, 80333 München – Work in Progress: ISSN 1432-6299 Rückkehr nach Nürnberg Redaktion: Dr. Elisabeth Donoughue, verantw. von Nathalie Frank Astrid Schein, Adressen und Leserservice Telefon: 089 . 2186 . 2420 Fax: 089. 2186. 2890 E-Mail: Redaktion.Aviso@stmwk.bayern.de Aviso erscheint viermal jährlich, derzeit in loser Folge. E-Paper: stmwk.bayern.de/kunst-und-kultur/ magazin-aviso.html Die kostenlosen Ausgaben sind im Ministerium, an bayerischen Hochschulen oder staatlichen Kultureinrichtungen oder beim Bestellservice der Bayerischen Staatsregierung erhältlich. bestellen.bayern.de Titelbild: Florian Huth: JL The soft object #1, 2019 Art-Direction und Gestaltung: Sabrina Zeltner sabrinazeltner.com Gesamtherstellung: Bonifatius GmbH, Druck-Buch-Verlag Karl- Schurz-Str. 26, 33100 Paderborn bonifatius.de Florian Huths Arbeit With the Fear to Fail I Start to Fake for the Fame finden Sie auf den Seiten 4, 14 und 37 Inhalt 7
Hinter den Kulissen –– Freiheit und Struktur ein Symposium der freien darstellenden Künste Text: Jette Büchsenschütz Welche strukturellen Besonderheiten oder gar Missstände in- giges Arbeiten. Aber der immer noch vorherrschende Fokus nerhalb der freien Szene hat die Pandemie umso deutlicher of- auf Projektförderungen erfordert dringend einen langfristigen fengelegt? Welche Erwartungen und Wünsche folgen daraus? Strategiewechsel hin zur Prozessförderung – um Spielräume Fragen wie diese wurden unter dem Titel Was uns bewegt – Zu- zu ermöglichen, in denen unabhängig von Produktionszwängen kunftsmodelle der Freien Darstellenden Künste im November nicht nur mit neuen künstlerischen Formen und Inhalten, son- 2021 in den Räumen der Bayerischen Akademie der Schönen dern auch mit den eigenen Arbeitsverhältnissen experimentiert Künste in München diskutiert, wo die freie Szene zum ersten werden kann. Mal zu Gast war. Dieses für die freie Szene typische Experimentieren mit den Gerahmt von künstlerisch-performativen Beiträgen der Au- eigenen Arbeitsbedingungen – die »Verwobenheit von Inhalt torin und Regisseurin Sivan Ben Yishai und des Choreografen und Struktur« zu praktizieren, wie Janina Benduski es formu- Moritz Ostruschnjak ermöglichte das Symposium den Aus- liert – wurde anschließend an drei runden Tischen unter den tausch von Wissen und Erfahrungen, die in der freien Szene Aspekten nachhaltiges Produzieren, Arbeiten im ländlichen und in den Gremien des kulturpolitischen Engagements ge- Raum und kollektives Arbeiten weiter vertieft mit den persön- sammelt wurden. lichen Erfahrungen aller Anwesenden. Hier wurde nochmals In der von Axel Tangerding, Gründer und Leiter des Meta deutlich, was die freien darstellenden Künste auszeichnet: ihre Theaters, moderierten Podiumsdiskussion kamen Elisabeth- enorme Vielfalt und ihre fragile Freiheit, die von außen kultur- Marie Leistikow vom ELLE Kollektiv, Helge-Björn Meyer, Ge- politisch gefördert und nach innen durch Teilen von Wissen schäftsführer beim Bundesverband Freie Darstellende Künste weiterhin gefestigt werden muss. Berlin, Janina Benduski, Programmdirektorin des Performing Am 05.05.2022 wird Was uns bewegt – Zukunftsmodelle der Freien Arts Programm Berlin und Sivan Ben Yishai, zwischen Thea- Darstellenden Künste im Rahmen einer zweiten Veranstaltung in der ter und freier Szene unterwegs, ins Gespräch. Einig waren sich Bayerischen Akademie der Schönen Künste fortgesetzt. alle über bereits erreichte Fortschritte in der kulturpolitischen Anerkennung der besonderen Qualität der freien Szene, ihrer Jette Büchsenschütz schreibt und recherchiert über Tanz und Perfor- Strahlkraft auf Theater und Gesellschaft – und den immer noch Foto: Julia Opitz mance – mit einem großen Interesse an kulturpolitischen Themen. erheblichen Verbesserungsbedarf. Zwar ist ein bundesweites Sie hat Sinologie und Tanzwissenschaft in Berlin und China studiert Förderprogramm wie NEUSTART KULTUR ein richtiger und arbeitet heute an der Schnittstelle von Text, Dramaturgie und Schritt in Richtung recherchebasiertes und produktunabhän- Recherche in der freien Szene in Berlin. 8 Hinter den Kulissen
Kunst! Du! Über, in und um die Künste – Nora Gomringer meint Liebe Leserinnen und Leser, man denkt beim Satz »Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit«, Will heißen: Kunst in der Welt ist keine Selbstverständlichkeit. der ja Karl Valentin zugeschrieben wird, fast nur an das Tagwerk Kunst ist und bringt Aufwand, hat und etabliert Wert und teilt des Künstlers. Das Auftreten, Proben, das Kontrabassschleppen und überträgt Werte. Im Luftmuseum in Amberg beispielsweise (dem Patrick Süskind ein Monolog-Denkmal gesetzt hat), das ist der Luft-Begriff so weit, dass er die Physiker enttäuscht, Reisen mit Gepäck, die Abwehr von aufdringlichen Fans, das wenn sie sich die aktuelle Lüftlmalerei-Ausstellung von Flora Leben in oft dauer-prekären Zuständen oder in zeitweiser Eises- Lottner ansehen (noch bis zum Ende des Dezembers) oder die kälte wie von Bildhauerin Lena von Goedeke, wenn sie im ewi- Sonderausstellung in der gotischen Hauskapelle vom Bildhau- gen Eis künstlerische Forschung betreibt. Man denkt seltener erduo Katharina Ganslmeier und Markus Genzwürker (bis zum an den Kummer, den einem eine Sammlung bereiten kann oder 23.1.2022), die eindrücklich die kuratorische Arbeit des Mu- ein einzelnes Kunstwerk, das geschützt oder restauriert werden seums ausweisen. Denn einen oder eine oder eine Gruppe von muss, das man geerbt oder via Ebay erstanden hat. Dass manche Solchen, die sich ausdenken, wie etwas zu etwas anderem passt, Kunstwerke viel an Einfühlungsvermögen bei ihrer Aufbewah- die braucht es auch. »Kunst ist schön, auch weil sie viel Arbeit rung, Platzierung und Präsentation bedürfen, ist oft gar nicht so macht« – möchte ich allen Institutionen und Privatleuten zu- klar. Dass sie schnell einstauben, abbrechen, unerkannterweise rufen, die sich fragen, womit man wie in der Kunst eigentlich für Möbel gehalten werden oder einfach sehr schwer oder winzig Geld verdient. Man verdient es, Geld damit zu verdienen, sich und sehr leicht sein können, ist nicht so oft in den Gedanken. um die Gedächtnisspeicher und Abbildungen unserer Sorgen, Aber all diese Eigenschaften, die Kunstwerke so begehrenswert Freuden, Hybris und Komplexe zu kümmern. Kunst ist kein für Privatmenschen und Museen machen, verbergen die Mühen abgeschlossener Kosmos für ein paar Eingeweihte. Sie ist poli- hinter ihnen nur spärlich. tische Aussage und ständig sich neu formatierendes Manifest. Spricht man mit Sammlerinnen und Sammlern, geht es sehr Sie macht viel schöne Arbeit. oft um Raum, idealen Raum mit ausgezeichnetem Licht und Weihnachten kündigt sich an, ein neues Jahr. Vielleicht feiern bestem Klima. Auch geht es um Mitarbeiter, die helfen, die Sie mit einer Skulptur für die Lieben, einem Bild, einer Video- Werke zu ordnen, zu katalogisieren, aufzubewahren und alle installation, einer Museumskarte, dem Beitritt zu einem Kunst- Aktionen der Sammler zu bewerben und nach außen zu kom- verein oder Freundeskreis einer Galerie? Feiern Sie ausgelassen munizieren, nach innen zu dokumentieren. Diese Schritte sind und wenn Sie Wasser in den dritten Stock schleppen, denken wichtig, damit sich abbildet, was mit Werken geschieht, mit den Sie: Es könnten Farbtöpfe sein und… der 6. Stock. Vitae der Künstlerinnen und Künstler. Diese Dokumentationen z. B. weisen in der Zukunft das berühmte »X« nach, das landläu- Ihre Nora Gomringer fig die Bestimmung des Wertes der Kunst ausmacht und für die Zahl der Ausstellungen, die Art der Präsentationen, das Prestige der Ankäufe und das Vertretensein in Galerien oder Museen steht. Hast Du kein X – kannst Du Dich der Welt in Länge und Breite vormachen, aber Wertsteigerung, wie sie einen Sammler interessieren könnte, die bleibt ein Traum. Es geht in diesen Ge- sprächen auch um die Presse und die generelle Veränderung der Presselandschaft, das beklagenswerte Ausbleiben der Diskus- sionen um Ausstellungen z. B. Konzerten, Lesungen, Theater- inszenierungen in vielen Tageszeitungen. Fast alle Kunstvereine fragen sich, wie sie mehr Zuspruch finden können, sichtbarer für sich und die ihnen angeschlossenen Mitglieder werden können. Es geht um den Rückzug aus der vertrauten Presselandschaft und die Ansiedlung in den Inselgruppen der Sozialen Medien, um dort langsam aber sicher neue Existenz zu begründen. Wenn Kunst dann mal »da« ist, bedarf es des Publikums, um aufgenommen, verbreitet und wie das Versprechen – das sie ist – erfüllt zu werden. Wie kommt sie zum Publikum? Das ist der Nora-Eugenie Gomringer, Schweizerin und Deutsche, lebt in Bamberg. Foto: Judith Kinitz Weg, den Valentin beschrieb mit seinem Bonmot, muss ihr doch Sie schreibt, vertont, erklärt, souffliert und liebt Gedichte. Alle Mündlichkeit kommt bei ihr aus dem Schriftlichen und dem Erlausch- auch erst der gefährliche Parcours-Lauf aus der Verfasstheit ten. Sie fördert im Auftrag des Freistaates Bayern Künstlerinnen ihres Schöpfers heraus gelingen. Dabei können Selbstzweifel und Künstler internationaler Herkunft. Dies tut sie im Internationalen und erschwerte Arbeitsbedingungen alles gefährden. Künstlerhaus Villa Concordia. Und mit Hingabe. nora-gomringer.de Kunst! Du! 9
Bayerns beste Independent Bücher Mit der Auszeichnung »Bayerns beste Independent Eisele Verlag Bücher« honoriert der Freistaat zehn hervorragen- Clare Chambers de Neuerscheinungen des Jahres 2021 und den Bei- Kleine Freuden trag unabhängiger Verlage zur literarischen Viel- München 2021 falt und gesellschaftlichen Debatte. Das Spektrum Kategorie: Belletristik reicht von Verlagen, die sich bayerischen Themen traditionsbewusst und originell zugleich widmen, Jean Swinney, nicht mehr ganz junge Redakteurin bei ei- Hirschkäfer Verlag über eine spannende Bandbreite an deutschsprachi- ner lokalen Tageszeitung im Südwesten von London, lebt Martin Arz ger und internationaler Gegenwartsliteratur bis hin – es ist 1957 – ein unscheinbares Leben mit ihrer alten, Streetart München zu erzählerischen Zugängen zu Sachthemen, expe- schwierigen Mutter. Als eine junge Frau behauptet, ihre München 2021 rimentellen Formaten und neuen medialen Umset- Tochter sei ohne Zeugung entstanden, wird Jean damit Kategorie: Kunst-/Sachbuch zungen. Bayerns beste Independent Bücher zeigen beauftragt, herauszufinden, ob Gretchen Tilbury der Be- die hohe Professionalität und Vielfalt unabhängiger weis für Parthogenese oder eine Betrügerin ist. Im Zuge München ist die Geburtsstadt der deutschen Graffiti- Verlage in Bayern, deren Mut, besondere Themen der Recherchen kommt Jean der Familie näher... plötz- bewegung: Schon in den 80er-Jahren wurden hier gro- zu fokussieren, sich zu positionieren und nicht zu- lich werden die Dinge kompliziert. Mit diesem Roman ße Wände gestaltet. Der »Reiseführer« ist eine opu- letzt unternehmerisches Wagnis einzugehen. über die Fragilität des Lebensglücks macht der Eisele lente Dokumentation zahlloser Arbeiten aus den Verlag in einer hochwertig gestalteten Hardcoverausga- letzten zehn Jahren und ein praktischer Wegweiser zu be erneut auf eine interessante Stimme der britischen den spannendsten Streetart-Orten der Stadt. Darüber Gegenwartsliteratur aufmerksam. hinaus enthält das Buch einen umfassenden Abriss der Münchner Graffiti-Geschichte von den Anfängen bis heute, Interviews mit Machern und Informationen zu den wichtigsten Künstlern und Crews. Eine großartige Zeitkapsel und Hommage an die Kreativität von Künstlerinnen und Künstler von Street und Urban Art. Passt in jede Jackentasche. h Hagebutte Verlag Slata Roschal Wir tauschen Ansichten und Ängste wie weiche warme Tiere aus Luciana Rangel (fast) alles in Ordnung Exemplar Nummer München 2021 Kategorie: Belletristik August Dreesbach Verlag Barbara Lüth Schicksalhafte Jahre: Eine Journalistin verlässt hochroth München unsichtbar. Frauen gestalten Schrift Deutschland, um in ihrem Heimatland Brasilien an ihr Slata Roschal München 2021 altes Leben anzuknüpfen. Im Grunde macht sie sich auf Wir tauschen Ansichten und Ängste Kategorie: Kunst-/Sachbuch eine innere Reise auf der Suche nach einem Ort, an wie weiche warme Tiere aus dem ihre Sehnsucht zur Ruhe kommt. In der typisch München 2021 Das Buch stellt 20 Schriftgestalterinnen und ihr Wir- brasilianischen Form der Crônicas zeichnen kurze Tex- Kategorie: Lyrik ken anhand einer ausgewählten Schrift illustriert vor. te Bilder aus dem Alltag, leichtfüßig Kritik, Tragik und Ergänzt werden die biografischen Inhalte durch kurze Witz vereinend – wie es nur das Leben kann. Die per- Der zweite Band der Münchner Lyrikerin versammelt Interviews. So wird die beeindruckende Leistung von sönliche Geschichte der Erzählerin zieht sich als roter Gedichte und Prosaminiaturen. Die Texte entwerfen Frauen in dem lange von Männern dominierten Be- Faden durch das Buch. Gestaltet mit Illustrationen von und sezieren Szenerien in Vorstädten und Innenstäd- reich der Typografie sichtbar. Das Buch macht deut- Vítor Rocha, ist es von zwei Seiten lesbar, auf Deutsch ten, in Pflegeheimen, Entbindungsstationen und Ge- lich: Heute gängige digitale Schriften sind oft von wie auf Portugiesisch. meinschaftsgärten. Auf eine lakonische, nie aber sar- Frauenhand gestaltet. Mit seinem speziellen Schwer- kastische Weise handeln sie von Familie und punkt Typografie sensibilisiert der August Dreesbach Migration, fragilen Helden und einer mitunter trös- Verlag für den künstlerischen Aspekt von Schrift. Das tenden Trostlosigkeit. Es sind klangschöne Texte, die spiegelt sich konsequent in der Gestaltung: Buchsta- uns Orientierung im Sprachgewirr und Durcheinan- ben werden zu dominanten grafischen Elementen, der dieser Welt geben. Der Tod wird gedacht, gesehen Fotografien sind dezent plaziert. und gehört. Er ist in den Texten präsent, als säße er permanent im Nebenzimmer. Und das ist gleichzeitig eine schlechte und eine gute Nachricht. 10 Leseempfehlung
Susanna Rieder Verlag Susanna und Johannes Rieder, Arinda Crăciun, Carsten Aermes Hunde im Futur München 2021 Kategorie: Kunst-/Sachbuch Diese Grammatik in Bildern fängt dort an, wo die klas- sische Schulgrammatik aufhört. Das originelle Sach- bilderbuch eröffnet einen sinnlich-haptischen Zugang zu grammatikalischen Grundbegriffen wie Kasus, Nu- merus, Nomen oder Adverbien und bietet gleichzeitig eine höchst lustvolle, grafisch überzeugende Annähe- rung an ein vergleichsweise sprödes Thema. Mit sei- lichtung verlag nen spielerischen Klappelementen, einer fein austa- &Töchter Marianne Ach rierten Text-Bild-Gestaltung und seinem inhaltlichen Jennifer Hauwehde, Milena Zwerenz Der Atem deines Landes Ideenreichtum ist den Buchmachern ein ausgefallenes Great Green Thinking – Vielfältige Viechtach 2021 Kindersachbuch gelungen, das nebenbei auch noch in Perspektiven auf ein nachhaltiges Leben Kategorie: Belletristik den bildnerischen Erzählungen gesellschaftliche Di- München 2021 versität spiegelt. Kategorie: Kunst-/Sachbuch Der Grieche Spiros denkt zurück an seine Jugend. Er wollte studieren und nicht wie sein Vater Olivenbauer Nachhaltigkeit ist eines der großen Schlagworte unse- werden. Heimlich lernte er eine fremde Sprache, rer Zeit. Und doch scheint die Debatte über Zero Was- brach mit seinen Eltern und ging nach Deutschland, te, biodynamische Produkte und bewussten Konsum wo er seine verstorbenen Frau Irene kennenlernte. In festgefahren. Was muss passieren, damit ein echter Griechenland bauten sie eine gemeinsame Existenz Wandel stattfindet? Was kann ich allein für unseren auf. Ein Teil seiner Frau blieb ihm aber immer rätsel- Planeten tun, wo stoße ich an meine persönlichen haft. Erst nach ihrem Tod findet Spiros Briefe, die ver- Grenzen? Wann muss ich den Blick auf die Gesell- raten, welche Last Irene mit sich herumgetragen hat. schaft richten? Zwei Nachhaltigkeits-Bloggerinnen Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte, poetisch und und Journalistinnen treffen Visionäre und Vorreiterin- frei von Sentimentalität erzählt. Mentalitätsunter- nen, die entscheidende Veränderungen anstoßen – schiede, kulturelle Verschiedenheit, Dorfleben und und ergründen, wie Klimaschutz mit Klassismus und Tourismus werden ohne in Stereotypen abzugleiten Rassismus zusammenhängt, welche globalen Struktu- thematisiert. ren wir überwinden müssen, um wirksam zu werden. starfruit publications Klaus Waller Paul Abraham - der tragische König der Jazz-Operette Fürth 2021 Kategorie: Kunst-/Sachbuch Ein faszinierender Künstler, ein beeindruckendes Werk, ein zerstörtes Leben: Die Biografie stellt den Komponisten Paul Abraham vor, der den meisten heute unbekannt sein dürfte. Allein seine Wiederent- deckung ist ein großes Verdienst: Mit seinen rebelli- schen Jazz-Operetten gehörte Abraham, der dieses Das Bayerische Staatsministerium für Genre erneuern wollte, zu den Stars der Weimarer Wissenschaft und Kunst vergibt jährlich Aus- Reinhard Weber Fachverlag für Filmliteratur Zeit. Mit seiner Vertreibung aus NS-Deutschland war zeichnungen in Höhe von 50.000 Euro für Dorothea Erber dieses Kapitel deutscher Musiktheatergeschichte ge- unabhängige Verlage in Bayern. Zehn ausge- Come Daybreak waltsam beendet. Der fundiert recherchierte Band zeichnete Titel werden jährlich für die Landshut 2021 vermittelt rare Details über eine schwierige Zeit. star- Empfehlungsliste »Bayerns beste Independent Kategorie: Comic/Graphic Novel fruit publications rückt einmal mehr einen in Verges- Bücher« ausgewählt. Die Auszeichnungen senheit geratenen Künstler wieder in den Fokus. in den Kategorien Belletristik, Lyrik, Kinder- Die Erde ist in Dunkelheit gehüllt, die Zeit steht still. und Jugendliteratur, Comic/Graphic-Novel, Mysteriöse Dinge geschehen. Menschen verschwin- Kunst-/Sachbuch und Bibliophiles würdigen den. Die Heldin der Geschichte scheint die letzte die Leistung von unabhängigen Verlagen. Überlebende zu sein und bricht auf in der Hoffnung, Für ein qualitätvolles Verlagsprogramm und doch noch Schicksalsgenossen zu finden. Ein dichter ein überzeugendes Publikationsvorhaben Nebel, der ein Eigenleben zu haben scheint und ein werden 10 Verlagsprämien in Höhe von jeweils Rudel wilder Hunde verfolgen sie. Ein zahmer Schä- 5.000 Euro vergeben. Bewerben können ferhund wird ihr treuer Begleiter. Schließlich findet sie sich konzernunabhängige Verlage mit einem eine rettende Spur… In atmosphärisch dichten, mono- Firmensitz in Bayern mit einem Umsatz bis chromen Bildern erzählt die Debütantin Dorothea zu 1 Mio. Euro. Erber in ihrer dystopischen Graphic Novel von den stmwk.bayern.de/kunst-und-kultur/literatur/ Schrecken einer aus dem Takt geratenen Welt. Der preise.html Verlag startet mit diesem Titel sein Comic-Programm. literaturportal-bayern.de/bayerns-beste- independent-buecher Bayerns beste Independent Bücher 2021 11
Das Erklärstück –– eine Bildgeschichte der Künstlerin Atoinet Lubaki Felicia Nitsche ist wissenschaft- liche Volontärin am Iwalewahaus. Sie hat an der Universität Bay- reuth Kultur und Gesellschaft Afrikas mit dem Schwerpunkt Wir haben vier Figuren in einem rundum verlaufenden, ge- Kuration und Kunst und Études malten Rahmen, wobei der Rahmen teilweise auch als Land- Francophones studiert. Ihre schaft oder als Raum beschrieben wird, in dem die Bewegung Masterarbeit schrieb sie zum stattfindet. Innerhalb dieses Rahmens sehen wir einen Vogel Werk der kongolesischen Künst- und drei Figuren, eine Figur mit Pfeife und zwei stehende lerin Atoinet Lubaki. Figuren. Ist es eine Geschichte, die uns erzählt wird? Gibt es ein Narrativ? Wie du schon richtig gesagt hast, ist der rundum verlaufende Rahmen wie eine Bühne, auf der die Figuren eine Geschichte erzählen. Beim Betrachten des Bildes fällt auf, dass jede Figur durch ein Attribut charakterisiert ist, welches Auf- schluss über ihre Tätigkeit als auch über ihre Position und Zu- Philipp Schramm ist Kunsthis gehörigkeit gibt. Die Figur in der rechten Bildhälfte zeichnet toriker und wissenschaftlicher sich durch einen grünen Hut, eine Pfeife und eine längere Jacke Mitarbeiter am Iwalewahaus. aus, bei der es sich wahrscheinlich um eine Soutanelle handelt. Hier setzt er sich besonders für inklusive Museums- und Ver- Diese Merkmale geben zu erkennen, dass es sich um die Ab- mittlungsarbeit ein. bildung eines Missionars handelt. Aus historischen Quellen ist bekannt, dass die Darstellung von Missionaren in diesem Kontext – wir befinden uns in der Zeit als die Demokratische Republik Kongo eine belgische Kolonie war – durch eine Sou- tane und eine Pfeife spezifiziert ist. Die Figur links oberhalb des Missionars erscheint wie das Gegenstück zu diesem: die Verwendung der Farben ist hier genau umgekehrt. Als Gegen- stück zu dem Missionar könnte die Figur eine Person aus der kongolesischen Gesellschaft abbilden, die einer indigenen Glaubensgemeinschaft angehört. Diese Figur zeichnet sich durch die im geöffneten Mund erkennbaren Zähne und ihre Philipp Schramm: Wir sehen das Aquarell einer Künstlerin, großen Hände aus. Diese Attribute deuten darauf hin, dass die hat sie oben in der Mitte signiert oder handelt es sich um einen Person den Vogel jagt. Bei dem Vogel könnte es sich in diesem Bildtitel? Kontext um eine Opfergabe handeln. Die Person unten in der Felicia Nitsche: Bei dem Schriftzug oben mittig handelt es Mitte wirkt durch ihre Position auf dem Rahmen etwas vom sich um die Signatur. Allerdings war Atoinet Lubaki wahr- Geschehen distanziert. Als einzige Figur ist bei ihr das Ohr scheinlich Analphabetin, weshalb ich vermute, dass ihr Mann eingezeichnet und auch das mit Bleistift gezeichnete Auge ist Albert Lubaki die Aquarelle für sie signierte. Vergleicht man genauer ausgeführt als bei den anderen Figuren, was auf eine die Signatur – Atoinet – mit der Handschrift auf den Aqua- beobachtende Rolle schließen lässt. rellen ihres Mannes fällt auf, dass sich die Handschrift beider Im Kreis der Figuren spielt sich also in der linken Bildhälfte Signaturen deckt, zu erkennen an den Buchstaben A und i. eine Jagd ab, die, vom unteren Rand aus, mit Aufmerksam- Das Aquarell in der Sammlung des Iwalewahauses sowie sechs keit verfolgt wird, während der Missionar sich indessen in Aquarelle in der Königlichen Bibliothek Belgiens in Brüssel entgegengesetzter Richtung von der Szene entfernt. Die Figu- mit der gleichen Signatur sind aber dem Stil nach eindeutig ren scheinen für unterschiedliche kulturelle Zugehörigkeiten ihr zuzuordnen. und religiöse Überzeugungen zu stehen, beachtet man den 12 Das Erklärstück
Atoinet Lubaki, Titel unbekannt, c. 1926–1936, Bleistift und Wasserfarben auf Papier, 52,3 x 66,3 cm, Sammlung Iwalewahaus, Universität Bayreuth. Kontext, das Leben in der Kolonie Belgisch-Kongo. Dieses an Georges Thiry weitergab. Durch ihn kamen die Werke nach war geprägt durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Belgien zu Gaston-Denys Périer, Mitarbeiter des Kolonial- Kulturen, durch Veränderungen in den sozialen, religiösen und ministeriums in Brüssel, der den Weg zu Ausstellungen und wirtschaftlichen Lebensbereichen der Menschen sowie durch Rezensionen der übermittelten künstlerischen Produktionen neue Einflüsse aus Europa. eröffnete. Atoinet Lubakis Name wird allerdings im Zusam- menhang mit den Ausstellungen und in den Rezensionen nicht Wenn du sagst Belgisch-Kongo, wo befinden wir uns, aus wel- erwähnt. cher Gegend kommt das Blatt? Das Aquarell entstand etwa zwischen Mitte der 1920er- und Mitte der 1930er Jahre in Élisabethville (heute Lubumbashi), in Foto: ©Atoinet Lubaki. Foto: Iwalewahaus, Universi tät Bayreuth der rohstoffreichen Region Katanga im Südosten des Kongos. Atoinet Lubaki ist eine der wenig bekannten kongolesischen Das Iwalewahaus als Teil der Universität Bayreuth ist ein Ort der Pro- Künstlerinnen aus dieser Zeit. Das Repertoire der modernen duktion und Präsentation diskursorientierter, zeitgenössischer und afrikanischen Kunst des 20. Jahrhunderts wird von männli- moderner Kunst und Kultur Afrikas. Es beherbergt eine in Deutschland chen Künstlern dominiert, was zum Teil auf den kolonialen einzigartige Sammlung moderner und zeitgenössischer bildender Kunst Einfluss zurückzuführen ist. Frauen in Zentralafrika fertigten aus Afrika, Asien und dem pazifischen Raum. Das Aquarell von Atoinet Lubaki wurde bereits in der Reihe Objekt des häufig Körperbemalungen, Textilien oder dekorierten Haus- Monats vorgestellt. In dieser Reihe wird monatlich ein Werk aus der und Grundstückswände. Nur wenige wurden beauftragt, ihre Sammlung des Iwalewahauses der Öffentlichkeit präsentiert. Mitarbei- Arbeiten auf Papier zu bringen, und künstlerische Aktivitäten ter:innen, Besucher:innen, (Gast)wissenschaftler:innen und Gast von Frauen wurden von den Kolonialbeamten üblicherweise künstler:innen und alle anderen Interessierten werden dazu eingeladen, als minderwertig angesehen. Der Kolonialbeamte Georges sich ihr Lieblingsstück aus der Sammlung auszuwählen und einen Beitrag dazu zu verfassen. Das Werk von Atoinet Lubaki wurde 2016 Thiry wurde durch eine Wandmalerei auf Albert Lubaki auf- von Sarah van Beurden ausgewählt. iwalewahaus.uni-bayreuth.de/en/ merksam und bat ihn, die Motive auf Papier zu übertragen. collection/object-of-the-month/031/index.html Atoinet Lubaki wurde wahrscheinlich von ihrem Mann in die Dieses Kunstwerk und viele weitere können Sie in der digitalen Aquarellmalerei eingebunden, welcher ihre Werke wiederum Datenbank einsehen: collections.uni-bayreuth.de/detail/19401 Eine Bildgeschichte der Künstlerin Atoinet Lubaki 13
PS Ne Travaillez Jamais (Never Work), 2019 Neon, 74.41×29.724 inches (189×75.50 cm) II. Es gäbe keinen Text. Es könnte keinen Text geben. Ideas improve. The meaning of words participates in the improvement. Plagiarism is necessary. Progress implies it. It embraces an author’s phrase, makes use of his expressions, erases a false idea, and replaces it with the right idea. – Guy Debord Keine Werke ohne äußere Einflüsse, kreative Arbeit basiert auf bestehenden Kultur(-transfer)leistungen anderer. So weit, so gut. Künstlerische Kompetenz als Grad produktiver An- eignung und Verbreitung von Formen? Autorschaft und Authentizität. Unverfälscht und unvergleich- lich. Originalität des Konzepts und dessen innovati- ve Wirkung. Formulierungen, Mantren, mit denen innerhalb der Kunst Wahrnehmbarkeit nach außen und Status nach innen kommuniziert und verfestigt wird. Im progressiven Anwachsen beider Größen gewinnt ein Werk schließlich bezifferbar an Wert. »Das Original« ist der inhaltliche Zustand einer Ab- grenzung. Ihm gegenübergestellt: Klassisch die se- rielle Reproduzierbarkeit trivialer und technischer Objekte und Handlungsschemata. Ohne Kopie kein Original. 14 Künstler im Heft: Florian Huth
Was geschieht, wenn die Kunst da ist? Kunst existiert nicht im luftleeren Raum. Kunst ist ein Prozess, entwickelt sich in Spielräumen weiter, agiert mit und reagiert auf die eigenen Arbeitsbedingungen – und wünscht sich dafür Förderung. Themen, die gerade in der freien Szene verstärkt diskutiert werden. In dieser Ausgabe denkt auch Nora Gomringer darüber nach, was das ganz konkret heißt, wenn die Kunst da ist: etwa, dass sie Raum braucht, um gesammelt, geschützt, gezeigt zu werden. Dass Kunst sich bekannt machen muss, um wahrgenommen zu werden und dass Kunst von der Resonanz lebt – im Auge und Ohr der Betrachterin, des Zuhörers, der Leserin, im gedanklichen und emotionalen Nachhall. Dass Kunst auch erworben werden muss, um ihre Wirkung zu entfalten und ihren Preis hat: damit ihre Schöpferinnen und Schöpfer leben können. Weil Literatur gelesen sein will, finden Sie in diesem Heft Empfehlungen für zehn ausgezeichnete Titel unabhängiger Verlage in Bayern. Die Bildstrecken in dieser Ausgabe stellen zwei sehr unterschiedliche Positionen zum Thema dar: Thomas Huth stellt den Begriff der Originalität von Kunstwerken radikal in Frage. Indem er ihn unterläuft: »Ohne Kopie kein Original«, so die seinem Schaffen zugrundliegende These. Maximiliane Baumgartner erkundet Kunstwerke in ihren historischen Kontexten durch eigene künstlerische Annäherung und fin- det so eine eigenwillige Form der Kunstvermittlung. Die libysche Künstlerin Tewa Barnosa erforscht die Verbindungen zwischen Bayreuth, Richard Wagner und dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat. Ein Projekt in Nürnberg macht die Wege sichtbar, die Kunst im öffentlichen Raum und das öffentliche Gespräch darüber in den letzten Jahrzehnten gegangen ist. Ein Gespräch mit den Choreographen Cerem Oran und Stephan Dreher lotet das Potenzial von Tanz aus, zu verwirklichen, was der Maler Georges Braque in diese Worte fasst: »Wenn der Strahl der Poesie auf etwas fällt, wacht man plötzlich auf«. Besser kann man es nicht sagen, was geschieht, wenn die Kunst da ist. Ihre Elisabeth Donoughue Redaktion Aviso Thema dieses Hefts: Was geschieht, wenn die Kunst da ist? 15
Maxmiliane Baumgartner png. Ein Bezug zu den Stimmrechtsfarben der Suffragetten ist anzunehmen. Nein ist Zufall. … Nein ist anzunehmen… 16 Thema Was geschieht, wenn die Kunst da ist?
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Die Wandarbeit png. Ein Bezug zu den Stimmrechtsfarben der Suffragetten ist anzunehmen. Nein ist Zufall. … Nein ist anzunehmen … ist Teil der Werkreihe Auf Fassaden schauen oder Die vierte Wand der dritten Pädagogin, welche in einer Einzelausstellung 2021 im Kunstverein München gezeigt wurde. Frag- mentarisch re-imaginiert die Wandarbeit das Ornament der Jugendstil-Fas- sade des Hof-Ateliers Elvira als »städtische Bühne und Aktionsraum«. 1898 gaben die Frauenrechtsaktivistinnen Anita Augspurg und Sophia Goudstikker die bauliche Gestaltung des Hauses und der Fassade bei August Endell in Auftrag, welches in Folge von den beiden als Fotostudio um die Jahrhun- dertwende in München betrieben wurde. Es entstand ein wichtiger Ort der Frauenbewegung, an dem Frauen als Protagonist*innen das kulturelle so- wie informelle Stadtgeschehen in Form von urbaner widerständiger Praxis mitgestalteten – ein Ort, welcher heute wiederum einen wichtigen Bezugs- punkt innerhalb einer queerfeministischen Stadtgeschichte und der Frage nach solidarischen Handlungsräumen bildet. Als 1937 die »Große Deutsche Kunstausstellung« im Haus der Kunst stattfand und im selben Jahr die von der nationalsozialistischen Partei organisierte Feme-Ausstellung »Entartete Kunst« in den erweiterten Räumen des heutigen Kunstverein München ge- zeigt wurde, zerstörten die Nationalsozialisten als Teil ihrer durchgeführten »Stadtsäuberungen« und Diffamierungen das Ornament gewaltvoll. Ausgehend von Ansätzen queerfeministischer Raumpraxen und Bildpolitiken des Urbanen wird in der mehrteiligen Wandarbeit auch der Frage nachge- gangen, inwieweit eine Solidarisierung mit vergangenen Praxen und Bild- strategien möglich ist; alternative Bildkonzepte und Wissen re-imaginiert werden können, die keinen Eingang in einen breiten Kanon gefunden haben. Die Malereien treten hier in Betrachtung ihres erweiterten Handlungsfelds als Mise-en-scènes auf: Sie zitieren und konstruieren eine »Architektur als Bild«, ein aus dem städtischen Bewusstsein weitestgehend entschwundenen, entkontextualisierten Ort. Die für die Zeit ungewöhnlichen Ursprungsfarben des Fassadenstucks des Hof-Atelier Elvira in Zyklamviolett und Grasgrün* lassen einen Bezug zu den Stimmrechtsfarben der Suffragetten vermuten. Dies ist aber nicht sicher belegt. Dieser Umstand und Auslegungsprozess wird wiederum in der mehrteiligen Wandarbeit aufgenommen. Entgegen der gängigen Lesart des Ornaments als »Drachenfigur« zeichnet diese bewusst den Wellen- und Wasseraspekt als entgrenzende, fluide und selbst-ermäch- tigende Bewegungen nach. Maximiliane Baumgartner siehe auch (unter aktionsraeume.org) den Fußnotenapparat zur Ausstellung und Malerei-Serie Auf Fassaden schauen oder Die vierte Wand der dritten Päd- agogin 2021 im Kunstverein München sowie die dort ebenfalls veröffentlichte Lese-/Literaturliste, auf welche sich die Arbeiten u. a. beziehen. * Eine satirische Bearbeitung von 1898 zur Fassade in einer Kneipzeitung zum Stiftungsfest des akademischen Archi- tektenvereins München (siehe dazu Rudolf Herz, Brigitte Bruns (Hrsg.): Hof-Atelier Elvira 1887–1928. Ästheten, Emanzen, Aristokraten. Ausstellungskatalog Fotomuseum im Münchner Stadtmuseum, München 1985, S. 38) nennt die Farben Grasgrün und Violett. 18 Thema Was geschieht, wenn die Kunst da ist?
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png. Ein Bezug zu den Stimmrechtsfarben der Suffragetten ist anzunehmen. Nein ist Zufall. … Nein ist anzunehmen…, Auskopplung einer Wandarbeit, 2021, Lack auf Alu Dibond, 110 x 80 cm / 95 x 80 cm / 40 x 80 cm, siebenteilig 20 Thema Was geschieht, wenn die Kunst da ist?
Foto Installationsansicht: Constanza Meléndez, Repro-Fotos Baumgartner: Johannes Bendzulla , Foto Hofatelier Elvira: Stadtarchiv München DE-1992-FS-STR-0411 Maximiliane Baumgartner (*1986 in Lindenberg im Allgäu, lebt und arbeitet in Düsseldorf) ist Bildende Künstlerin und Kunstpädagogin und entwickelt Werkserien im Medium der Malerei sowie in wechselnden Kollaborationen künstlerische Aktionsräume vor dem Hintergrund der künstlerischen Forschung. Unter Einbeziehung pädagogischer Modelle und urbaner Kontexte, in denen sich Konzepte von Bildung und Stadtplanung widerspiegeln, verhandelt sie darin den öffent- lichen Raum. So arbeitet sie mit pädagogischen Spielsettings und Archiven, recherchiert deren historische Vorläufer und forscht in einem künstlerischen Prozess nach den emanzipa- torischen Möglichkeiten kritischer und feministischer Pädagogik und performativen Lernformen. Dabei interessiert sie der Einsatz von Malerei als erweitertes soziales Hand- lungsfeld. Sie erhielt Einzelausstellungen u. a. im Kunstverein München, München (2021), im Kunstverein Harburger Bahnhof, Hamburg (2021), der Stadtgalerie Bern, Schweiz (2019), dem Neuen Essener Kunstverein, Essen (2019), der Loggia, München (2018) und dem Studio for Artistic Research, Düsseldorf (2017). Von 2015 – 2019 initiierte und co-programmierte sie das Kunst- projekt und den Aktionsraum Der Fahrende Raum (Kultur und Spielraum e.V.) in München. Zudem waren ihre Arbeiten in Gruppenausstellungen vertreten, unter anderem bei der Galerie kaufmann repetto in Mailand und New York (2021), der Galerie Kirchgasse, Schweiz (2021), MAP, Düsseldorf (2018) und bei Okey Dokey, Galerie Drei, Köln (2017). Maximiliane Baumgartner forscht und lehrt seit 2019 als künstlerisch- wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department Kunst und Musik der Universität zu Köln, sowie als guest lecturer 2021 Das Hofatelier Elvira von Anita Augspurg und Sophia Goudstikker in der an der Züricher Hochschule der Künste im Master Fine Arts. Von-der-Tannstr. 15 nach 1898 www.aktionsraeume.org Maximiliane Baumgartner 21
Spiegelszenen mit Clowns Sabine Leucht im Gespräch mit Stefan Dreher und Ceren Oran 22 Thema Was geschieht, wenn die Kunst da ist?
Nach dem Lockdown! In The Urge fluten Ceren Orans Tänzer den Stadtraum von Köln, Berlin und München mit ihrer Tanzlust Mit der Wahrnehmung von Tanz-Performances ist man als Zuschauer oder Kritikerin ja oft beschäftigt. Warum aber reißt einen die eine Vorstellung mit, während die andere kalt lässt? Kann man beschreiben, was sich zwi- schen Performern und Publikum im Idealfall ereignet? Und wie nimmt der Tanzende sich selbst im Tanz wahr? Ceren Oran und Stefan Dreher haben mit mehrtägigen Tanzmarathons im öffentlichen Raum für Tänzer wie Zuschauer besondere Wahrnehmungs-Situationen ge- schaffen. Sabine Leucht sprach mit ihnen über Chancen und Tücken dieses herausfordernden Settings und was Foto: Elli Stelzer es uns über die Tanzrezeption im Allgemeinen verrät. Spiegelszenen mit Clowns 23
Sabine Leucht: Stefan Dreher, die Idee zu einem Tanz- trolliert gesehen werden« hat es einer der Tänzer ge- marathon geht auf die zwanziger Jahre zurück, als sich nannt. Wir haben Who is Frau Troffea? jeden Tag an in Amerika ein Wettbewerb zu einem Geschäftsmodell einem anderen Ort in München gezeigt. Einige Pas- auswuchs. Wer am längsten durchhielt, bekam viel Geld. santen sind einfach vorbeigegangen, andere haben Was für eine Wahrnehmungssituation haben diese Ver- Fragen gestellt – und manche Leute kamen mehrfach anstaltungen kreiert? wieder, um zu sehen, wie das Stück anderswo wirkt. Stefan Dreher: Tanzmarathons waren damals etwa das, was Wir hatten ein Gästebuch ausliegen, in das jemand heute Reality Shows sind. Da ging es hauptsächlich geschrieben hat »Ich will Kinder von euch!« oder »Es darum, Leute an ihre Grenzen gehen und ihre Conte- wäre toller, wenn es Hip-Hop wäre!«. Bei einer Vor- nance verlieren zu sehen. Das wurde auch künstlich stellung im Hasenbergl konnte eine Dame um die 60 provoziert. Menschen wurden extra aus dem Gefäng- nicht verstehen, dass sie kein Eintrittsgeld bezahlen nis geholt, um mitzutanzen – und Zeitungen haben muss. Die ungewohnte Situation macht transparent, täglich über neue Skandale und Zusammenbrüche was Zuschauer von einer Performance erwarten. geschrieben. SL Es sind dabei ja auch einige Kommunikationskanä- SL Der Ausgangspunkt Ihrer seit 2013 unter dem Titel le offen, die sonst geschlossen sind. Kam es auch zu er- Dancing Days entwickelten Performancereihe war aber wünschten und unerwünschten Grenzüberschreitungen? gerade nicht das Spektakel? CO Die zwölf Kapitel der Troffea-Performances waren SD Ich hatte gehofft, etwas loszutreten, wonach Leute unterschiedlich einladend für Interventionen des Pu- süchtig werden und einen Tanz zu entwickeln, den blikums, und die letzte halbe Stunde war die Tanz- man endlos weitertanzen kann. Deshalb habe ich fläche für alle offen. Auf dem Karlsplatz haben wir zunächst privat versucht, 24 Stunden lang zu tan- im Regen vor ganz wenigen Leuten gespielt, aber alle zen und es mir dabei nicht so schwer gemacht. Der haben am Ende mitgetanzt. Vor dem Neuperlacher »Tanz« bestand daraus, immer drei Schritte vorwärts PEP sind ein paar Betrunkene in die tranceartigen und drei Schritte rückwärts zu gehen. Und nach drei »Individual-Loops« mit eingestiegen, und einmal Viertelstunden gab es eine Viertelstunde Pause. hatten wir eine unangenehme Situation mit einem SL Beim Festival DANCE 2015 fand die längste öffent- männlichen Zuschauer, der zwei Tage lang nur starrte. liche Aufführung der Dancing Days 11 Tage lang für je SD Bei uns hat jemand an einem Tag ein Antikunstwerk sechs Stunden auf dem Celibidacheforum vor dem Gas- performt, sich eine Maske aufgesetzt und die Tänzer teig statt. Hat sie den gewünschten Sog entwickelt? Und attackiert. Wir haben richtig Angst bekommen. Eine hat er sich auch auf die Zuschauer übertragen? Frau hat geschimpft: »Was ihr macht, kann ja jeder!« SD An festen Punkten auf dem Platz haben Tänzer und Und manchmal kam abends ein Symphonieorches- Tänzerinnen Bewegungen kreiert, die andere dort ter-Publikum in Abendkleidung dazu. Das war allein von ihnen lernen mussten. Der Tanzzwang war wich- als Bild schon sehr schön. tig – und die festen Formen, ohne die man keinen SL Wie lange kann man am Stück tanzen und wie neh- Marathon tanzen kann. Die Bewegungen verschiede- men sich die Tänzer dabei selbst wahr? ner Gruppen zusammen haben dann eine Choreogra- SD Meine Hoffnung, dass die Bewegung durch die Er- fie gebildet. Ich habe als DJ dazu Musik gemacht und müdung immer ökonomischer würde, hat sich leider das hatte durchaus manchmal eine Trance-Qualität. nicht bewahrheitet. Gehen könnte man theoretisch Gegen Ende haben auch Zuschauer*innen Lust be- sein ganzes Leben lang. Aber laufen nicht. Und tan- kommen, mitzulernen und mitzutanzen. zen wohl auch nur, wenn man sich mit dem tänze- SL Ceren Oran, wie wichtig war es für Ihre erste Dura- rischen Gehen, mit dem ich privat experimentiert tional Performance Who is Frau Troffea?, dass das Pu- habe, begnügt. Das war eine sehr luxuriöse Erfah- blikum keine vorher ausgewählte Aufführung besucht, rung: Hat man seinen Rhythmus gefunden und setzt sondern meist zufällig vorbeikommt und individuell ent- die Füße ein bisschen voreinander, geht man wie John scheidet, wie lange es bleibt? Travolta. Schließt man die Augen und hebt die Arme, Ceren Oran: Für mich war die Begegnung mit Zuschauern, ist man bei Pina Bausch. Es ist so eine einfache Form die bislang oft noch keine Berührung mit zeitgenös- und man kann doch so viel darin erleben. Und schon sischem Tanz hatten, der Hauptgrund, warum ich die kleinsten Verschiebungen führen zu einem ganz in den öffentlichen Raum gegangen bin. »Unkon anderen Ganzkörpergefühl. 24 Thema Was geschieht, wenn die Kunst da ist?
Fotos: Biljana Golubovic & Dragan Dragin oben: Stefan Drehers Dancing Days beim Festival DANCE als 66-stündige Installation vor dem Gasteig unten: 20. Januar 2015 – Dancing Days in Antwerpen: 8 Stunden Tanzmarathon im Rahmen vom Dag van de Cultuureducatie Spiegelszenen mit Clowns 25
Die Spielfläche ist mit der Frage »Who is Frau Troffea?« begrenzt und verweist damit Zuschauer und Passanten auf die Website whoisfrautroffea.com, wo die Antwort auf diese Frage zu finden ist CO In der Vorbereitung für Frau Troffea habe ich einmal SL Es gibt diese Theorie von den Spiegelneuronen, die versucht, so lange wie möglich alleine am Stück zu dafür sorgen, dass das Nervensystem von Zuschauern die tanzen. Nach knapp fünf Stunden musste ich auf- gleiche elektrische Aktivität aufweist wie das der Tan- hören. Und zwar nicht aus Müdigkeit, sondern aus zenden, die sie beobachten. Gehirn und Muskeln tanzen Langeweile. Danach habe ich ein paar Leute eingela- praktisch innerlich mit, damit wird der immobile Körper den, mit mir gemeinsam 24 Stunden lang zu tanzen. dem tanzenden ein Stück weit ähnlicher. Wie würden Sie Dabei hatte ich auch das Gefühl von Luxus, das Ste- als Tanzprofis diesen Vorgang beschreiben? fan beschrieben hat: Eine Bewegung für mich selbst SD Wenn ich in einem stehenden Zug sitze und am Ne- so oft ich will wiederholen zu können, ohne mich bengleis fährt ein anderer Zug an, durchzuckt mich darum kümmern zu müssen, was sie repräsentiert! das Gefühl, dass ich selbst mich bewege. Richtig Ich habe aber auch gemerkt, dass das nicht das ist, tolle Tänzer können ein ähnliches Gefühl in einem was ich tun möchte. Der Performer, der diese Erfah- erzeugen. Der Maler Georges Braque hat es so aus- rung macht, ist auf einem Trip, auf dem irgendwann gedrückt: »Wenn der Strahl der Poesie auf etwas fällt, der körperliche Schmerz und die Schlaflosigkeit die wacht man plötzlich auf«. Die meiste Zeit schlafen Regie über das Bewegungsmaterial übernehmen. wir alle, und plötzlich merken wir mit dem ganzen Ein Publikum, das nicht die ganze Zeit bei diesem Körper, dass wir nicht allein sind. Da entsteht plötz- Trip dabei ist, kann keinen Zugang zu mir finden, die lich eine spirituelle, erotische und auch ekstatische ich komplett lost und mit Rückenschmerzen tanze. Ebene. Leider passiert das selten, aber diese Fähig- Foto: Dieter Hartwig Um sein Interesse wachzuhalten und auch selbst keit hat Tanz zumindest generell. immer wieder Energie tanken zu können, haben CO Wenn ein Tänzer in einer authentischen Beziehung wir uns auf sieben Stunden Tanz und wechselnde zu seinem Tanz und seinen Bewegungen ist, bringt Locations geeinigt. mich das manchmal sogar zum Weinen. Violet von 26 Thema Was geschieht, wenn die Kunst da ist?
Meg Stuart ist eine meiner Lieblings-Tanzperfor- Weiterführende Links: mances, weil ich mit diesen Tänzern gemeinsam 1 dancingdays.de durch alle geistigen und emotionalen Abgründe ge- 2 whoisfrautroffea.com hen kann. Ein großartiger Tänzer zeichnet sich für mich nicht durch seine technischen Fähigkeiten aus, 3 cerenoran.com sondern weil er mir so einen Trip ermöglicht. In mei- nem eigenen Stück The Urge hat eine Tänzerin ein Solo getanzt, bei dem ich gespürt habe, genau so wür- de ich es auch tanzen wollen. Ich habe geweint vor Glück. Ob das mit den Spiegelneuronen zu tun hat, damit, dass ich vom Fach oder weil ich ein Mensch bin, weiß wohl niemand. SL Gilt eigentlich auch eine Art von Spiegelprinzip für die Wahrnehmung des Performers von sich selbst? SD Ich habe eine wichtige Entdeckung in einem Clowns- workshop gemacht: Ein Clown ist definiert als je- mand, der erst existiert, wenn er gesehen wird und sich deshalb auch dauernd vergewissern muss, dass die Leute ihn anschauen. Wenn er jemanden beim Nichtzusehen ertappt, muss er schnell etwas tun, damit sich das ändert. Eine Ansammlung solcher Clowns, die dauernd aufpassen, dass man sie auch sieht, hat für mich etwas sehr Menschliches und Be- rührendes. Es erfordert Mut zu zeigen, dass man gesehen und geliebt werden möchte. Wenn das der Fall ist, ist der Clown entspannt. Er macht eine Bewe- Stefan Dreher hat lange selbst getanzt, bevor er sich der gung, auf die das Publikum reagiert – und immer so Choreografie widmete und ist heute Dramaturg und Referent weiter. Das ist für mich das Ideal von Bühnenpräsenz, beim Tanztheater Wuppertal Pina Bausch. Er liebt alles darauf baut die Beziehung der Performer zueinander Widersprüchliche und es ist ihm ein großes Anliegen, die neuen Prozesse individueller künstlerischer Suche im und der Kontakt zum Publikum auf. Und da ist es Tanztheater zu unterstützen. Es geht ihm um persönliche natürlich hart, wenn das Publikum einschläft. Wir Eigenheiten, den Facettenreichtum von Tänzer*innen und die haben viel über dieses Ideal der Präsenz gesprochen Kunst, sich immer wieder neu zu erfinden und trotzdem treu und theoretisch ist das auch alles wahr, aber praktisch zu bleiben. passiert es beim Tanz extrem oft – auch bei meinen eigenen Perfomances –, dass die Verbindung nicht klappt und das Publikum abdriftet. CO Dazu habe ich eine Anekdote: Während der Proben zu Frau Troffea habe ich den Salzburger Choreogra- fen Tomaž Simatović zu einem Vortrag eingeladen. Damals hielt ich sehr an der Struktur fest und die Tänzer wollten mehr Freiheiten. Da erzählte Tomaž von einer Journalistin, die ihn nach einem Solo ge- Foto Ceren Oran: Jean Marc Turmes, Foto Stefan Dreher: Irina Pasdarca fragt hatte, wie er sich so alleine tanzend gefühlt ha- be. Seine Antwort war: »I executed a choreographic structure. It doesn´t mean that I danced.« Das war wie eine Ohrfeige für mich und ich habe von da an nur Ceren Oran, * 1984 in Istanbul, studierte am SEAD Salzburg noch darüber nachgedacht, dass ich meinen Tänzern modernen Tanz. Seitdem arbeitet sie als freiberufliche die Freiheit geben muss, mit jeder ihrer Bewegungen Tänzerin für internationale Choreografen und Ensembles, in Verbindung kommen zu können. Denn es stimmt Choreografin und Soundpainterin in München. Zusammen- arbeit mit mehreren interdisziplinären Künstlern an eigenen ja: Eine choreografische Struktur auszuführen be- Produktionen, seit 2010 auch für junges Publikum. Mit ihren deutet noch nicht, dass wir tanzen! Stücken wie The Urge, Schön Anders, Fliegende Wörter und Elefant aus dem Ei ist sie weltweit auf Tourneen unterwegs. Sabine Leucht schreibt als freie Tanz- und Theaterkritikerin in München für die Süddeutsche Zeitung, taz, Theater der Zeit, Münchner Feuilleton und nachtkritik.de. Diverse Jury- tätigkeiten, aktuell für den Bayerischen Landesverband für zeitgenössischen Tanz (BLZT), das Berliner Theatertreffen und den Theaterpreis Berlin. Spiegelszenen mit Clowns 27
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